Inhalt

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. Zitat
  7. Der Erste Teil: In dem ein Geist Diamanten begehrt
    1. 1. Kapitel: Der Mann aus Messing
    2. 2. Kapitel: Ein Entwurf für Utopia
    3. 3. Kapitel: Die Augen und der Fluch
    4. 4. Kapitel: Geister
    5. 5. Kapitel: Der Anspruchsteller
  8. Der zweite Teil: In dem sich die Dampfgeister erheben
    1. 6. Kapitel: Aufruhr am Speakers’ Corner
    2. 7. Kapitel: Das Tollhaus
    3. 8. Kapitel: London brennt
    4. 9. Kapitel: Die Séance
    5. 10. Kapitel: Die Rettung
  9. Der dritte Teil: In dem eine grosse Täuschung aufgedeckt wird
    1. 11. Kapitel: »Mein Name ist Arthur Orton!«
    2. 12. Kapitel: Der Kriegsrat
    3. 13. Kapitel: Die Strand-Schlacht
    4. 14. Kapitel: Das Auge
    5. 15. Kapitel: Die Zukunft ist nicht mehr, was sie einmal war
  10. Anhang: Währenddessen im Viktorianischen Zeitalter …
  11. Danksagung

Über den Autor

Mark Hodder stammt von John Angell ab, einem Piraten, der mit Captain Kidd gesegelt ist. Laut Familienlegende investierte Angell einen Großteil seiner unrechtmäßig erworbenen Einkünfte in Land, insbesondere in Angell Town in der Nähe von Brixton in London. Wer den unwiderlegbaren Beweis vorlegen kann, dass er von Angell abstammt, erbt den Landbesitz, der auf einen Wert von mindestens 64000000 Pfund geschätzt wird. Im Verlauf der Generationen haben Mitglieder der Familie schon ganze Vermögen beim Versuch verloren, die Abstammung zu beweisen, und etliche Menschen, die in keinerlei Verbindung zur Familie stehen, haben den Namen angenommen, um Anspruch auf das Erbe zu erheben. Infolgedessen ist der Familienstammbaum ausgesprochen verworren, und es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmöglich, eine rechtlichen Anforderungen genügende Verbindung zum Schatz des Piraten nachzuweisen.

Marks Urgroßvater war Doktor Albert Leigh, der zusammen mit Sir Arthur Conan Doyle die medizinische Fakultät besucht hat. Die beiden Männer waren eng befreundet und traten zusammen den Freimaurern bei. Sir Arthur schenkte Albert einen vollständigen Satz der Erstausgaben von Sherlock Holmes, alle mit der Widmung: Für den lieben Leigh, von deinem Freund Doyle. Bei einer Auktion würden die Bücher heute ein Vermögen erzielen. Leider hat sich bei Leighs Tod im Jahre 1944 seine Haushälterin, eine Schauspielerin, mit den Bänden davongemacht.

Somit entziehen sich Mark Hodder gleich zwei große Vermögen.

Mark, dem leicht verdienter Reichtum und der Luxus, der Müßiggang und die Genüsse, die damit einhergehen würden, verwehrt bleiben, lebt in Spanien, unterrichtet Englisch als Fremdsprache und schreibt Romane. Sein erstes Abenteuer von Burton und Swinburne – Der kuriose Fall des Spring Heeled Jack – wurde 2010 veröffentlicht.

MARK HODDER

präsentiert
Burton & Swinburne in:

Der wundersame Fall des
UHRWERK
MANNES

Sternchen

Aus dem Englischen
von Michael Krug

BASTEI ENTERTAINMENT

Für Yolanda Lerma

Des einen Bosheit bringt schnell alle in Verruf.

PUBLILIUS SYRUS

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In dem ein Geist
Diamanten begehrt

»Sir Roger Tichborne ist mein Name,

Auf Ruhm und Reichtum bin ich erpicht.

Man sagt, ich wär auf See verschollen,

Ich aber sage: »Oh nein, ich doch nicht.«

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Der Mann aus Messing

Eine stattliche Belohnung erhält jede Person, die Auskünfte bereitstellen kann, die zur Klärung des Verbleibs von Roger Charles Tichborne beitragen. Er stach am 20. April 1854 mit dem Schiff La Bella von Rio de Janeiro aus in See. Seitdem wurde nichts mehr von ihm gehört, doch in England traf eine Nachricht ein, die zu berichten wusste, dass ein Teil der Besatzung und der Passagiere eines Schiffes desselben Namens von einem anderen Schiff gerettet wurde, das, so wird vermutet, unterwegs nach Melbourne in Australien war. Es ist nicht bekannt, ob sich besagter Roger Charles Tichborne unter den Ertrunkenen oder unter den Geborgenen befand. Er wäre heute etwa zweiunddreißig Jahre alt, ist von schmächtiger Gestalt und groß gewachsen und hat sehr hellbraunes Haar und blaue Augen. Mr Tichborne ist der Sohn des mittlerweile verstorbenen Sir James Tichborne und Erbe von dessen gesamtem Besitz.

ANZEIGE IN ALLEN ZEITUNGEN WELTWEIT, 1861

Sir Richard Francis Burton war tot.

Er lag in der Eingangshalle der Royal Geographical Society ausgestreckt auf dem Rücken am Fuße der prachtvollen Treppe. Über seiner Brust kauerte ein zierlicher, rothaariger Dichter.

Algernon Charles Swinburne, über dessen Wangen Tränen liefen und dem der Alkohol die Sinne vernebelte, verfasste im Geiste rasch eine Elegie. Schließlich war es am besten, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war.

Er hob den Kopf, sodass sein Haar im Schein des Gaslichts feurig schimmerte, und verkündete mit seiner hohen Stimme:

»Wissest du nicht, wen England, wen die Welt betrauert?

Denn die Welt, deren wildeste Wege er betrat,

Deren Gefahren er trotzte und der’s nie hat bedauert,

Sie kennt ihn fortan mehr als Gott denn als Mann.«

Er hickste. Unter seiner Hand fühlte er in Burtons Tasche eine flachmannförmige Ausbuchtung. Verstohlen begann er, sich durch die Stoffschichten des feinen Anzugs vorzuarbeiten.

»Unser Halbgott der Waghalsigkeit, mit scharfem Blick«, fuhr er schniefend fort, »besah er die tiefsten …«

»Abscheulich!«, wetterte da eine Stimme von oben.

Swinburne ließ seinen tränenverhangenen Blick die Treppe hinaufgleiten.

Sir Roderick Murchison stand gebieterisch am Absatz.

»Behalte deine Hände bei dir, Algy«, ertönte in diesem Moment ein Flüstern.

Swinburne schaute nach unten.

Burtons Augen hatten sich geöffnet.

»Ein abscheuliches Verhalten!«, donnerte Murchison erneut.

Der Präsident der Royal Geographical Society stieg würdevoll und erhaben mit kerzengeradem Rücken die Stufen hinab. Sein kahler Kopf schimmerte. Er passierte die Porträts großer Entdecker: James Cook, Sir Walter Raleigh, John Franklin, Sir Francis Drake – dessen Gemälde schief hing, da es von Burtons vorbeisausendem Fuß getroffen worden war –, William Hovell, Mungo Park und andere.

»Ein solches Verhalten dulde ich nicht, Burton! Dies ist eine ehrbare wissenschaftliche Einrichtung, keine verruchte Kneipe im East End!«

Swinburne taumelte zurück, als sich sein Freund, der ehemalige Soldat, Entdecker und Spion – der Linguist, Gelehrte, Schriftsteller, Fechter, Geograf und Agent des Königs – auf die Beine rappelte, schwankend dastand und Murchison, seinen einstigen Sponsor, mit finsterer Miene ansah.

»Du lebst?«, murmelte der Dichter und musterte seinen Kameraden verwirrt.

Burton maß eins neunundsiebzig, wirkte jedoch durch die Breite seiner Schultern, den Umfang seiner Brust und seinen schlanken muskulösen Körperbau größer. Obwohl er gerade so betrunken war, strahlte er Macht aus. Seine Augen waren schwarz und hypnotisch, seine Wangenknochen markant. Sein Mund bildete eine angriffslustige Linie. Er hatte kurzes schwarzes Haar, das er zurückgekämmt trug, und einen dichten Schnurr- und Kinnbart, gegabelt und wild. Eine tiefe Narbe verunstaltete seine linke Wange und zog die untere Hälfte des Augenlids leicht nach unten. Auf der rechten Wange befand sich ein kleineres Gegenstück der Verunstaltung. Beide zusammen erinnerten an den Somali-Speer, der Burton bei einer katastrophalen Expedition nach Berbera in das Gesicht gestoßen worden war.

»Sie sind ein verfluchter Trunkenbold!«, beschuldigte ihn Murchison, als er die unterste Stufe erreichte. Dann wurden die Züge des Mannes plötzlich sanfter. »Sind Sie verletzt?«

Burtons Erwiderung ertönte knurrend. »Es bedarf mehr als eines Sturzes über eine verfluchte Treppe, um mich zu brechen!«

Swinburne mühte sich vom Boden auf. Er war mit nur einem Meter siebenundfünfzig von kleinem Wuchs und hatte schmale Schultern. Da sein Kopf auf einem so winzigen Körper ruhte, wirkte er, auch dank des Schopfs karottenroter Haare, überdimensioniert und gewaltig. Swinburne hatte hellgrüne Augen und war glatt rasiert. Er sah erheblich jünger als die vierundzwanzig Jahre aus, die er angeblich zählte.

»Vermaledeit!«, quiekte er. »Jetzt muss ich die Elegie für jemand anderen verwenden. Wer ist unlängst gestorben? Irgendeine denkwürdige Persönlichkeit? Hat sie dir gefallen, Richard? Die Zeile ›Denn die Welt, deren wildeste Wege er betrat‹ fand ich besonders passend.«

»Schweigen Sie still, Swinburne«, herrschte Murchison ihn an. »Burton, ich versuche nicht, Sie zu brechen, falls Sie das andeuten wollten. Henry Stanley war mit besseren finanziellen Mitteln als Sie ausgestattet, um die Nil-Frage zu klären. Ich hatte kaum eine andere Wahl, als die Unterstützung der Society jenem Budget hinzuzufügen, das er von seiner Zeitung erhält.«

»Und jetzt ist er verschollen!«, stieß Burton knurrend hervor. »Wie viele Flugmaschinen müssen noch über Afrikas Seenregion verschwinden, bevor Sie erkennen, dass die einzige Möglichkeit dorthin ein Fußmarsch ist?«

»Mir ist das Problem durchaus bewusst, Sir, und Sie sollen wissen, dass ich Stanley gewarnt habe. Seine Zeitung bestand darauf, dass er Rotorstühle verwenden soll!«

»Pah! Ich kenne das Gebiet besser als jeder andere im britischen Empire, aber Sie hielten es ja für angebracht, einen verdammten Journalisten an meiner Statt hinzuschicken! Wer kommt als Nächstes, Murchison? Vielleicht ein Tanzensemble aus dem Varietétheater?«

Sir Roderick erstarrte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte frostig: »Samuel Baker will ebenso wie John Petherick eine Rettungsmission unternehmen, aber wen auch immer ich entsenden werde, Sie werden es nicht sein, darauf können Sie Gift nehmen! Ihre Tage als Geograf sind gezählt. Mir scheint jedoch, das gilt nicht für Ihre Tage als Trinker!«

Burton biss die Zähne zusammen, zupfte seine Jacke zurecht, holte tief Luft, hielt den Atem an und blies ihn anschließend unverrichteter Dinge aus. Alle Streitlust fiel von ihm ab. In gedämpftem Tonfall sagte er: »Sam und John sind gute Männer. Kompetent. Sie wissen, wie man mit den Eingeborenen umgeht. Verzeihung, Sir Roderick, es fällt mir schwer, loszulassen. Ich habe immer noch das Gefühl, es läge an mir, die Nil-Frage zu beantworten, obwohl ich mittlerweile eine neue und völlig andere Rolle zu spielen habe.«

»Ach ja. Ich habe das Gerücht gehört, Palmerston hätte Sie in seinen Dienst genommen. Ist es wahr?«

Burton nickte. »Ja.«

»Als was?«

»Das ist schwer zu sagen. Mein Titel lautet ›Agent des Königs‹. Es handelt sich gewissermaßen um eine ermittlerische Tätigkeit.«

»Dann würde ich meinen, dass Sie bestens dafür geeignet sind.«

»Mag sein. Dennoch hege ich weiterhin ein Interesse an … Nun ja, Sir, falls Sie etwas hören …«

»Lasse ich es Sie wissen«, unterbrach ihn Murchison barsch. »Und jetzt gehen Sie! Trinken Sie Kaffee. Werden Sie nüchtern. Zeigen Sie etwas Selbstachtung, Mann!«

Damit wandte sich der Präsident ab, stapfte die Treppe zurück hinauf und rückte unterwegs Drakes Porträt gerade.

Ein Diener brachte Burton und Swinburne ihre Mäntel, Hüte und Stöcke, und die beiden Männer gingen auf wackligen Beinen durch die Eingangshalle und die Doppeltür hinaus.

Der Abend präsentierte sich dunkel und feucht. Nach den Regenschauern des Tages glitzerte die Umgebung von den Reflexionen der Wassertropfen. Ein kalter Wind zerrte an ihren Kleidern.

»Kaffee im Hotel Venetia?«, schlug Burton vor und knöpfte seinen schwarzen Mantel zu.

»Oder noch einen Brandy und ein paar Streicheleinheiten?«, gab Swinburne zurück. »Die Verbena Lodge ist nicht weit von hier.«

»Verbena Lodge?«

»Das ist ein verrufenes Haus, in dem die Züchtigungen …«

»Kaffee!«, beharrte Burton.

Sie liefen die Whitehall Place entlang, bogen nach rechts in die Northumberland Avenue und hielten auf den Trafalgar Square zu. Swinburne begann, ein von ihm verfasstes Lied zu singen:

»Wärst du die Königin der Freud,

Und ich der König der Pein,

Liebe würden wir suchen heut’,

Peitschen diese Füß’ so fein.

Federgekitzel, ich wär’s nicht gereut,

Und Zügel in den Mund hinein,

Wärst du die Königin der Freud,

Und ich der König der Pein.«

Sein verhaltener, hoher Gesang zog missbilligende Blicke von Passanten auf sich. Trotz des schlechten Wetters und der späten Stunde waren noch reichlich Menschen unterwegs, vorwiegend Herren, die zwischen den Restaurants und Klubs der Stadt hin- und herschlenderten.

»Oh Mist!«, fluchte der Dichter plötzlich. »Ich glaube, ich habe gerade die letzte Strophe zuerst gesungen. Jetzt muss ich noch mal von vorne anfangen.«

»Bitte, mach dir meinetwegen nur keine Umstände«, murmelte Burton.

Ein Veloziped – oder »Hochrad«, wie ein Scherzbold die Fahrzeuge getauft hatte – ratterte vorbei und blies Dampf aus seinem hohen Schlot in die bereits stickige Atmosphäre Londons.

»Hal-lo!«, rief der Fahrer, als er an ihnen vorbeituckerte. Seine Stimme klang abgehackt, weil das riesige gummierte Vorderrad des Velozipeds jede Unebenheit der kopfsteingepflasterten Straße an das Rückgrat des bemitleidenswerten Fahrers weitergab. »W-was i-ist denn a-auf dem P-platz los?«

Burton spähte nach vorn und kniff die Augen zusammen. Dort vorne herrschte tatsächlich ein Tumult. Eine Menschenmenge hatte sich gebildet, und er konnte die Helme von Police Constables sehen, die sich zwischen den Zylindern bewegten.

Er packte Swinburne am Arm. »Komm mit«, drängte er seinen Freund. »Lass uns nachsehen, was das Spektakel zu bedeuten hat.«

»Um Himmels willen, mach langsam!«, beschwerte sich sein Gefährte, der für jeden Schritt Burtons zwei seiner eigenen aufwenden musste, wenn er mithalten wollte. »Bei der Geschwindigkeit sorgst du noch dafür, dass ich grauenhaft nüchtern werde!«

»Nebenbei bemerkt, Algy, vielleicht solltest du für den Fall meines unwahrscheinlichen Ablebens etwas mehr Zurückhaltung bezüglich der Anspielungen auf Gott und Himmel zeigen«, brummte Burton.

»Ha! Was für ein widersprüchlicher Bursche du doch bist! Einerseits scheinst du regelrecht besessen von Religionen zu sein, andererseits schrecken sie dich ab.«

»Pah! Heutzutage bin ich eher am Warum als an der Religion als solches interessiert – an den Gründen, weshalb ein Mensch bereit ist, sich von einem Gott leiten zu lassen, dessen Existenz bestenfalls unmöglich zu beweisen und schlimmstenfalls eine offensichtliche Erfindung ist. Mir scheint, dass in diesen Zeiten rasanter wissenschaftlicher und industrieller Fortschritte die Aneignung von Wissen eine zu erdrückende Vorstellung für den Durchschnittsmenschen geworden ist, weshalb er sie zugunsten des Glaubens gänzlich meidet. Glaube erfordert lediglich blinde Gefolgschaft, während Wissen die laufende Erfassung eines sich stetig ausweitenden Informationsgefüges verlangt. Durch Glauben kann man zumindest Anspruch auf Wissen erheben, ohne die harte Arbeit verrichten zu müssen, es sich anzueignen.«

»Hört, hört!«, rief Swinburne. »Gut gesprochen, alter Freund! Gut gesprochen! Du hast kaum ein Wort gelallt. Du bist überaus verwerflich!«

»Du meinst verständlich

»Ich weiß schon, was ich meine. Aber Richard, durch Darwins natürliche Evolution ist Gott doch unbestreitbar tot, oder?«

»Zweifellos. Was die Frage aufwirft: Welcher Unwahrheit werden sich die ungebildeten Massen als Nächstes bereitwillig verschreiben?«

Sie marschierten vor sich hin, schwangen ihre Stöcke und trugen die Hüte in verwegenem Winkel auf den Köpfen. Trotz der belebenden Kühle der Luft verspürte Burton einsetzende Kopfschmerzen. Er beschloss, einen Brandy zu seinem Kaffee einzunehmen – vielleicht könnte er damit das leichte Pochen in seiner Schläfe betäuben.

Als sie den Trafalgar Square erreichten, tauchte der berühmte Entdecker in die Menschenmenge ein und bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg hindurch. Swinburne folgte ihm auf dem Fuß. Ein Constable trat mit erhobener Hand vor sie.

»Bitte, meine Herren, bleiben Sie zurück!«

Burton zog seine Brieftasche hervor und entnahm ihr eine gedruckte Karte. Er zeigte sie dem Polizisten, der sofort salutierte und beiseitetrat.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir.«

»Hier drüben, Captain!«, rief eine tiefe, etwas rauchige Stimme. Burton erblickte seinen Freund Detective Inspector William Trounce von Scotland Yard, der am Fuß der Nelson-Säule stand. Zwei Personen standen bei ihm – ein junger dunkelhäutiger Constable und jemand, der merkwürdigerweise völlig reglos an Ort und Stelle verharrte, von Kopf bis Fuß in eine Decke gehüllt.

Trounce begrüßte sie mit einem warmen Händedruck. Er war ein stämmiger, aber liebenswert aussehender Bursche, kurz, aber breit, mit dicken Gliedmaßen und kräftiger Brust, funkelnden blauen Augen und einem buschigen, nach oben gezwirbelten braunen Schnurrbart. Sein kantiges Kinn wies treffenderweise auf eine Spur von Dickköpfigkeit hin. Er trug einen dunklen Kammgarnanzug und einen Bowler.

»Hallo, Männer!«, sagte er vergnügt. »Wohl einen heben gewesen, was?«

»Ist das so offensichtlich?«, murmelte Burton.

»Sie beide haben den Platz nicht unbedingt in gerader Linie überquert.«

»Wir sind unterwegs zum Venetia, um Kaffee zu trinken.«

»Sehr klug. Stark, schwarz, mit reichlich Zucker. Das ist Constable Bhatti.«

Der Polizist, der neben Trounce stand, salutierte zackig. Er war schlank, jung und ziemlich gut aussehend.

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Sir«, verriet er überschwänglich und mit leichtem indischen Akzent. »Mein Vetter, Commander Krishnamurthy, hat Ihnen im Gefecht von Old Ford gedient.«

Er bezog sich damit auf die Schlacht, die Burton, Swinburne und etliche Männer von Scotland Yard gegen die Technokraten und Aufrührer ausgetragen hatten. Die beiden eigentlich gegnerischen Gruppen – die eine hatte sich wissenschaftlichem Fortschritt verschrieben, die andere anarchistischer Revolution – hatten sich damals zusammengetan, um zu versuchen, eines Mannes aus der Zukunft habhaft zu werden, der als Spring Heeled Jack bekannt geworden war. Burton hatte die Gruppierung besiegt und das Objekt ihrer Begierde getötet.

»Krishnamurthy ist ein durch und durch guter Mann«, merkte Swinburne an. »Aber Commander? Ist er befördert worden?«

»Ja, Sir. Es ist ein neuer Rang bei der Polizei.«

Trounce fügte hinzu: »Man hat ihn zum Leiter der neu gegründeten Flugeinsatzgruppe gemacht, und das aus gutem Grund. Ich kenne niemanden, der so mit einem Rotorstuhl umgehen kann wie Krishnamurthy.«

Burton nickte zustimmend und betrachtete neugierig die reglose Decke, die bislang stumm geblieben war.

»Also, was geht hier vor, Trounce?«

Der Detective Inspector wandte sich an seinen Untergebenen. »Würden Sie es bitte erklären, Constable?«

»Gewiss, Sir.« Der junge Polizist sah Burton und Swinburne an, und seine dunklen Augen schimmerten vor Aufregung. »Es ist fabelhaft! Ein waschechtes Wunder! Praktisch ein Kunstwerk! Ich habe noch nie etwas so Komplexes oder …«

»Bitte nur die Fakten, Junge«, warf Trounce ein.

»Ja, Sir. Tut mir leid, Sir. Wissen Sie, Captain Burton, das hier ist mein Revier, und auf meinen Kontrollgängen passiere ich etwa alle fünfzig Minuten den Platz. Heute Abend war es recht still. Ich habe wie üblich meine Runden gedreht, und es gab wenig zu berichten, abgesehen von den üblichen Prostituierten und Trunkenbolden … äh … das heißt …«

Er verstummte, räusperte sich erst einmal, dann noch einmal und warf einen Hilfe suchenden Blick zu seinem Vorgesetzten.

William Trounce lachte. »Keine Sorge, mein Junge, Captain Burton und Mr Swinburne haben gefeiert, das ist alles. Richtig, meine Herren?«

»Genau«, bestätigte Burton etwas verlegen.

»Und ich hätte nichts dagegen, weiterzufeiern!«, verkündete Swinburne.

Burton verdrehte die Augen.

Trounce wandte sich an Bhatti: »Also war alles wie sonst?«

Der Constable nickte. »Ja. Ich habe den Dienst heute Abend um sieben Uhr angetreten und bin dreimal ohne Zwischenfälle hier vorbeigekommen. Beim vierten Mal fiel mir eine Menschenmenge auf, die sich hier versammelte, wo wir gerade stehen. Ich kam her, um der Sache auf den Grund zu gehen, und fand das …« Er deutete auf die verhüllte Gestalt.

Trounce streckte die Hand aus und zog die Decke weg.

Burton und Swinburne sogen scharf die Luft ein.

»Wunderschön, nicht wahr?«, rief Bhatti.

Vor ihnen stand ein mechanischer Mann. Er bestand aus poliertem Messing, war schmal und etwa einen Meter fünfundsechzig groß. Der Kopf wies die Form einer Blechbüchse auf, oben und unten flach und ohne besondere Merkmale, abgesehen von drei runden vertikal an der Vorderseite angeordneten Aussparungen, durch die man in das Innere des mechanischen Wunderwerkes sehen konnte. Das oberste kleine Fensterchen glich dem winzigen glasgeschützten Bullauge eines Schiffes, durch das man zahlreiche bewegungslose Rädchen sehen konnte, so klein, komplex und präzise gearbeitet wie das Innenleben einer Taschenuhr. Der mittlere Kreis verfügte über ein schützendes Drahtnetzgitter, und beim Untersten handelte es sich um ein einfaches Loch, aus dem drei sehr dünne, etwa zehn Zentimeter lange Drähte ragten. Sie waren gerade und vibrierten leicht in der Brise.

Der Hals setzte sich aus dünnen Wellen und Kabeln, Drehgelenken und Angeln zusammen. Ein schmaler Zylinder bildete den Rumpf des mechanischen Mannes. Aussparungen und kleine Fenster darin offenbarten Zahnräder und Federn, zierliche kleine Kurbelwellen, Gyroskope, Schwungscheiben und ein Pendel im Inneren. Die dünnen, aber kräftig wirkenden Arme endeten in Händen mit drei Fingern, die robusten und röhrenförmigen Beine in ovalen, leicht gewölbten Füßen.

»Eine wahre Pracht, nicht wahr?«, hauchte Constable Bhatti. »Schauen Sie, hier auf dem Rücken. Sehen Sie dieses Loch? Hier wird der Schlüssel angesetzt.«

»Der Schlüssel?«, fragte Burton ungläubig.

»Ja! Zum Aufziehen! Es ist ein Federantrieb, wie bei einer mechanischen Uhr.«

»Bhatti ist Scotland Yards Amateur-Technokrat«, warf Trounce ein. »Er ist von allen Polizisten Londons zweifellos genau der Richtige, um auf diese Gerätschaft zu stoßen.«

»Ein glücklicher Zufall für den Constable«, meinte Swinburne anerkennend.

»Das ist mein Steckenpferd«, erklärte der junge Polizist begeistert. »Ich bin Mitglied in einem Geselligkeitsverein. Wir befassen uns mit Geräten – versuchen, sie schneller zu machen oder auf verschiedenste Weise anzupassen. Gütiger Himmel, die anderen wären außer sich, wenn ich mit diesem Exemplar auftauchte!«

Burton, der begonnen hatte, die Messinggestalt mit einer Lupe zu untersuchen, erkundigte sich gedankenverloren bei dem Polizisten, was er nach der Entdeckung des mechanischen Mannes getan hatte.

»Die Menschenmenge wurde immer größer – Sie wissen ja, dass sich der Londoner um alles schart, was ungewöhnlich ist –, deshalb pfiff ich um Hilfe. Nachdem einige Constables eingetroffen waren, untersuchte ich den Mechanismus gründlich. Ich muss zugeben, dass ich mich darin ein wenig verlor, weshalb ich Scotland Yard vielleicht nicht so rasch verständigt habe, wie ich es hätte tun sollen.« Er blickte verlegen zu Trounce. »Tut mir leid, Sir.«

»Und was meinen Sie, was ist die Geschichte unseres Metallfreundes?«, fragte Burton.

»Wie ich schon sagte, Captain, in seinem Inneren ist ein mechanisches Uhrwerk. Ich vermute, dass es abgelaufen ist. Warum das Ding überhaupt durch die Straßen lief, kann ich mir aber nicht erklären.«

»Wenn er durch die Straßen gelaufen ist, muss er doch schon Aufmerksamkeit erregt haben, bevor er hier ankam. Hat ihn irgendjemand kommen sehen?«

»Wir haben Erkundigungen angestellt«, meldete sich Trounce zu Wort. »Bisher haben wir vierzehn Personen ausfindig gemacht, die ihn beim Überqueren des Platzes beobachtet haben, aber niemanden, der ihn davor gesehen hat.«

»Also ist es möglich – vielleicht sogar wahrscheinlich –, dass er in einem Fahrzeug zum Rand des Platzes gebracht wurde«, stellte Burton fest.

»Ja, durchaus, Captain. Ich würde sagen, das ist sogar sehr wahrscheinlich«, pflichtete ihm der Detective Inspector bei.

»Er könnte sich aber auch den Weg durch die Straßen gebahnt haben«, warf Bhatti ein. »Ich will nicht behaupten, dass es so war – ich meine damit nur, dass die Gerätschaft zu einer solchen Navigation grundsätzlich in der Lage ist. Sehen Sie das hier?« Er tippte mit einem Finger an das obere Bullauge vorne am Kopf der Maschine. »Das da drin ist ein Babbage. Können Sie das glauben? Ich hätte nie gedacht, dass ich tatsächlich mal eines zu sehen bekommen würde! Stellen Sie sich nur vor, was dieses Ding kostet!«

»Ein Babbage, Constable?«, fragte Trounce.

»Ein Babbage«, wiederholte Bhatti. »Eine Vorrichtung außerordentlicher Komplexität. Sie berechnet Wahrscheinlichkeiten und handelt dann je nach Ergebnissen. Kein je geschaffenes Gebilde kommt dem menschlichen Gehirn näher, aber das Geheimnis seiner Bauweise ist nur einem Menschen bekannt – seinem Erfinder, Sir Charles Babbage.«

»Er ist ein Einsiedler, nicht wahr?«, fragte Swinburne.

»Ja, Sir, und ein exzentrischer Misanthrop. Er hat eine Abneigung gegen das, was er als ›die gemeinen Horden‹ bezeichnet, und insbesondere gegen den Lärm, den sie veranstalten, deshalb zieht er es vor, für sich zu bleiben. Er baut diese Rechenmaschinen von Hand und versieht sie mit versteckten Sprengladungen, um zu verhindern, dass jemand herausfindet, wie sie funktionieren. Jeder Versuch, sie zu zerlegen, führt zu einer Explosion.«

»Gegen so etwas sollte es ein Gesetz geben!«, brummte Trounce.

»Worauf ich hinauswill, ist: Wenn dieser Messingmann aufgezogen ist, besitzt er vermutlich die Fähigkeit, grundlegende Entscheidungen zu treffen. Und das hier«, Bhatti zeigte auf die mittlere Öffnung im Kopf der Vorrichtung, die mit dem Drahtnetzgitter, »ist meiner Ansicht nach ein mechanisches Ohr. Ich glaube, man kann dieser Gerätschaft Sprachbefehle erteilen. Und ich würde sagen, hierbei«, er schnippte die hervorstehenden Drähte an, »handelt es sich um eine Art Taster, vergleichbar mit den Fühlern einer Motte.«

Trounce nahm seinen Bowler ab und kratzte sich am Kopf.

»Also, halten wir fest: Jemand setzt diesen mechanischen Mann am Rand des Platzes ab. Er marschiert bis zur Nelson-Säule, dann läuft das Uhrwerk ab, und er bleibt stehen. Eine Menschenmenge findet sich ein. Den Leuten zufolge, mit denen wir gesprochen haben, ist die Maschine nur etwa fünf Minuten vor Ihrem Eintreffen angekommen, Constable. Und Sie sind schon wie lange hier?«

»Inzwischen rund eine Stunde, Sir.«

»Rund eine Stunde. Dann frage ich mich, warum sich der Besitzer noch nicht gemeldet hat, um sein Eigentum zurückzufordern.«

»Genau!«, blies Bhatti ins selbe Horn. »Allein ein Babbage ist Hunderte Pfund wert. Warum wurde der Messingmann hiergelassen?«

»Ein gescheitertes Experiment?«, schlug Swinburne vor. »Vielleicht wollte der Besitzer den Heimkehrinstinkt der Maschine testen. Er hat sie hier abgesetzt, ist zu seinem Haus, seiner Werkstatt, seinem Labor oder wohin auch immer zurückgekehrt und wartet darauf, dass sie den Weg zurück dorthin findet. Nur hat er das Ding nicht richtig aufgezogen!«

Burton schnaubte. »Lächerlich! Hättest du etwas so Kostspieliges in deinem Besitz – oder hättest du es erfunden –, würdest du es bestimmt nicht in der Hoffnung zurücklassen, dass es dich findet, wenn auch nur die entfernteste Möglichkeit eines Misserfolgs bestünde!«

Vereinzelte Regentropfen begannen zu fallen. Trounce schaute ungeduldig zum schwarzen sternenlosen Himmel empor.

»Constable Hoare!«, brüllte er. Ein Polizist mit buschigen Brauen und dichtem Schnurrbart löste sich von der Menschenmenge und kam herüber.

»Sir?«

»Gehen Sie zum Saint-Martin-Revier und spannen Sie ein Pferd vor einen Wagen. Kommen Sie damit her. Und zwar im Eiltempo!«

»Ja, Sir!«

Der Constable brach auf, und Trounce wandte sich wieder an Burton.

»Ich lasse das Ding zu Scotland Yard befördern. Natürlich haben Sie uneingeschränkten Zugang dazu.«

Der Agent des Königs zog sich den Kragen enger um den Hals. Die Temperaturen fielen, und ihn schauderte.

»Danke, Detective Inspector«, sagte er. »Aber wir sind nur zufällig vorbeigekommen. Ich denke nicht, dass es sich hierbei um etwas handelt, das wir untersuchen müssen. Allerdings ist die ganze Angelegenheit schon eigenartig, das gebe ich zu. Würden Sie mir wohl Bescheid geben, wenn sich jemand meldet, um das Ding zurückzufordern?«

»Gewiss.«

»Dann sehen wir uns später. Komm, Algy, lass uns zum Venetia gehen. Ich brauche Kaffee!«

Der kräftig gebaute Entdecker und der zu kurz geratene Dichter verließen die Polizeibeamten, bahnten sich den Weg durch den Menschenauflauf und hielten auf das Ende der Strand zu. Als sie auf die berühmte Verkehrsader traten, wurde aus dem Nieselregen ein Schauer. Die Tropfen prasselten rhythmisch auf ihre Hüte und ergossen sich bald schon als kleine Rinnsale über die Krempen.

Burtons Kopfschmerzen wurden schlimmer, und er begann allmählich, sich müde und unpässlich zu fühlen. Ein Veloziped fuhr vorbei und zischte laut, als der Regen auf den heißen Ofen traf. Irgendwo in der Ferne heulte eine Sirene – die Warnung einer Müll-Krabbe, die im Begriff war, die Straße mit heißen Dampfstrahlen zu desinfizieren. Bei einem solchen Wetter kam dies zwar einer Verschwendung gleich, aber die Krabben liefen automatisch und wuselten jede Nacht durch London, unabhängig von den Witterungsbedingungen.

»Gut, dass Messing nicht rostet«, meinte Swinburne. »Sonst würde dieses Wetter den Tod des Uhrwerkmanns bedeuten!«

Burton blieb stehen.

»Was ist?«, fragte sein Assistent.

»Du hast recht!«

»Natürlich hab ich recht. Immerhin ist es eine Legierung aus Kupfer und Zink.«

»Nein, nein! Damit, dass es ein Zufall ist!«

Swinburne hüpfte auf und ab. »Was? Was? Richard, können wir bitte zusehen, dass wir aus dem verfluchten Regen kommen?«

»Ein zu großer Zufall!«

Burton machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück in Richtung des Trafalgar Square.

»Es ist wahrscheinlich schon zu spät!«, rief er über die Schulter.

Swinburne eilte hinter ihm her, fiel jedoch rasch zurück.

»Was meinst du damit? Zu spät wofür?«

Er erhielt keine Antwort.

Sie rannten auf den Trafalgar Square und zurück zu Trounce und Bhatti. Letzterem war es gelungen, das oberste Fensterchen im Kopf der Maschine zu öffnen und zu dem Babbage hineinzuspähen.

»Oh, Sie sind zurück! Sehen Sie sich das an, Captain!«, rief er, als Burton neben ihm eintraf. »Entlang der Innenseite dieser Öffnung befinden sich acht winzige Schalter. Vermutlich passen sie das Verhalten der Maschine auf irgendeine Weise an. Jeder hat eine obere und eine untere Position, also wie viele Kombinationen ergeben sich dara…«

»Vergessen Sie das mal!«, schnitt der Agent des Königs ihm das Wort ab. »Beschreiben Sie mir die Route ihres Rundgangs, Constable!«

»Meines Rundgangs?« Bhatti schaute verwirrt drein.

»Was ist denn los?«, wollte Trounce wissen.

Burton schenkte dem Detective Inspector keine Beachtung. Seine Augen funkelten eindringlich.

»Ihr Rundgang, Mann! Spucken Sie’s schon aus!«

Der Constable schob seinen Helm zurück. Regenwasser lief ihm über den Rücken der Uniform hinab. »Also gut«, sagte er. »Von hier aus folge ich der Cockspur Street und biege in die Whitcomb Street. Die gehe ich bis zur Kreuzung mit der Orange Street entlang, dann wende ich mich nach rechts und laufe weiter, bis ich die Mildew Street erreiche. An der Werkanlage, wo der unterirdische Fluss eingedämmt wird, biege ich wieder nach rechts ab, betrete die Saint Martin’s Lane und kehre zum Platz zurück.«

»Und das dauert fünfzig Minuten?«, hakte Burton nach.

»Wenn man all die Gassen berücksichtigt, in die ich meine Nase stecke, all die Ladentüren, die überprüft werden müssen und so weiter, dann schon, ja.«

»Und gibt es entlang der Strecke irgendwelche Besonderheiten? Orte, die Sie mit größerer Sorgfalt überprüfen?«

»Was hat das zu bedeuten, Captain Burton?«

»Beantworten Sie einfach die verdammte Frage, Mann!«

»Tun Sie, was er sagt, Junge«, befahl Trounce.

»Also gut. An der Ecke der Cockspur Street befindet sich die Hauptniederlassung der Bright Empire Bank. In der Whitcomb Street ist die Satyagraha Bank, in der Orange Street Treadwells Postamt, gleich gegenüber die ASSL …«

»ASSL?«

»Die Ausbildungszentrale für Schwäne, Sittiche und Läufer.«

»Ah. Bitte fahren Sie fort.«

»Der Herrenklub der Henochischen Liga ist an der Ecke der Mildew Street, auf der anderen Straßenseite liegt das Werksgelände. In der Saint Martin’s Lane befinden sich die Scrannington Bank, Boyds Antiquitäten und der Kunsthändler Goddard. Das wär’s. Natürlich gibt es noch jede Menge anderer Geschäfte, aber das sind jene, die ich besonders sorgfältig überprüfe.«

»Trounce, folgen Sie der Route zusammen mit Bhatti von der Cockspur Street aus«, verlangte Burton. »Algy und ich gehen über die Saint Martin’s Lane in die entgegengesetzte Richtung.«

Trounce runzelte die Stirn, streckte schulterzuckend die Hände aus und fragte: »Aber warum? Wonach suchen wir?«

»Verstehen Sie denn nicht?«, rief Burton. »Dieses verfluchte Ding«, er klopfte unter lautem Scheppern mit seinem Stock gegen die Messinggestalt, »ist nichts weiter als ein Köder! Wer immer den mechanischen Mann auf dem Platz abgesetzt hat, wusste, dass er Bhatti faszinieren würde, wusste, dass er ihn wie besessen untersuchen würde, bevor er Hilfe von Scotland Yard riefe, und wusste, dass einige Zeit verstreichen würde, bevor er sich wieder seinen Rundgängen zuwenden würde!«

»Herrjemine!«, stieß Trounce hervor. »Sie meinen, es wird gerade ein Verbrechen verübt? Kommen Sie mit, Constable!«

Er stieß die Umstehenden beiseite, befahl einem Polizeiwachtmeister in der Nähe, auf den Metallmann aufzupassen, und rannte mit Bhatti in Richtung der Cockspur Street los. Sir Richard Francis Burton und Algernon Swinburne bahnten sich den Weg zum Rand des Platzes und eilten durch den Regen weiter zur Saint Martin’s Lane.

Adrenalin hatte die beiden nüchtern werden lassen, aber Burtons Kopfschmerzen wurden schlimmer, und ein vertrauter Schüttelfrost – ein Relikt aus Afrika – begann, sich in seinen Gliedern auszubreiten. Es handelte sich um die ersten Anzeichen für einen einsetzenden Malariaanfall, und wenn er nicht bald in seine Wohnung zurückkam, um ihn mit einer Dosis Chinin zu unterdrücken, würde er für die nächsten Tage außer Gefecht gesetzt sein.

Sie passierten das Polizeirevier und nickten Constable Hoare zu, der am Straßenrand ein erbärmlich aussehendes Pferd vor einen Wagen spannte. Entlang der gesamten Straße waren die Gaslampen erloschen, weil ihre Abdeckungen dem Regenguss nicht standhielten. Nur wenige brannten noch, und die tiefen Schatten sowie der strömende Regen verringerten die Sicht auf wenige Meter. Ein Stück weiter erreichten die beiden Männer Goddards Galerie und spähten durch das Schaufenster und das Schutzgitter, das die ausgestellten Kunstwerke nach Ladenschluss vor Einbrechern schützen sollte, in den Raum dahinter.

»Grundgütiger!«, platzte Swinburne aufgeregt hervor. »Da drin ist ein Rossetti, und ich habe dafür Modell gestanden! Das muss ich Dante erzählen. Er wird hin und weg sein!«

Dante Gabriel Rossetti war Gründungsmitglied der Wahren Libertins, der idealistischsten Fraktion der Kaste der Libertins und zugleich ein Gegengewicht zu den berüchtigten Aufrührern. Außerdem gehörte der Maler der »Präraphaelitischen Brüderschaft« an, einer Gemeinschaft von Künstlern, deren erklärtes Ziel darin bestand, Werke hervorzubringen, die auf »spiritueller« Ebene mit Normalbürgern kommunizierten; eine direkte Herausforderung des aktuellen Trends der Propaganda. Nur wenige Menschen bewunderten sie. Von der Presse wurden Rossetti und seine Gefährten verhöhnt und ins Lächerliche gezogen – ihr zufolge produzierten die Kunstschaffenden für den luftleeren Raum, da Normalbürger – die Arbeiterklassen – nichts besaßen, das einem einigermaßen entwickelten Empfinden der eigenen Spiritualität auch nur nahekam.

Swinburne pflegte oft gesellschaftlichen Umgang mit der Gruppierung und hatte bei zahlreichen Gelegenheiten für ihre Gemälde posiert. Ihn überraschte, dass Goddard es wagte, das kleine, mit mittelalterlichem Motiv auf Leinwand gebannte Werk auszustellen, das den Dichter als Ritter mit flammend rotem Haar auf einem kraftvollen Ross zeigte, eine Lanze in der Hand. Allerdings musste man einräumen, dass sich das Bild halb hinter einem kommerzielleren Porträt des verstorbenen Francis Galton verbarg, der mit einer Spritze im Anschlag dargestellt war und breit unter den Worten lächelte: Weiterentwicklung! Tut gar nicht weh!

Die Galerie präsentierte sich still und dunkel, die Tür sicher verschlossen, die Auslagen unversehrt.

»Gehen wir weiter«, sagte Burton. »Niemand würde einen Rossetti stehlen.«

Eine altmodische, von einem Pferd gezogene Brougham-Kutsche – die Fahrzeuge traf man nach wie vor häufig an – ratterte an ihnen vorbei, spritzte ihnen Wasser auf die Hosenbeine und verschwand in der Dunkelheit. Merkwürdigerweise dauerte das Geräusch der Pferdehufe an und wirkte im Verhältnis zur Größe des Tieres überproportional laut.

»Ein Mega-Zugpferd«, kommentierte Swinburne, und Burton erkannte, dass sein Assistent recht hatte; das schwere Klappern stammte gar nicht vom Tier des Einspänners, sondern von einem der riesigen von den Eugenikern (dem biologischen Zweig der Technokraten-Kaste) entwickelten Zugpferde. Offensichtlich befand sich eines in der Nähe, wenngleich das Geräusch in der Ferne verhallte, noch während Burton der Gedanke durch den Kopf ging.

Boyds Antiquitätenladen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag, erwies sich wie Goddards Galerie als verriegelt und unangetastet.

»Hier geht nichts vor sich«, stellte Swinburne fest, als sie weitermarschierten. »Gütiger Himmel, Richard, wir sind in arger Not – wir sind beide triefnass und ohne Alkohol!«

»Gut«, gab Burton zurück. »Ich dachte, ich hätte dir das Trinken abgewöhnt.«

»Hattest du, aber dann hast du mich wieder dazu verleitet. Seit dem Theater um Spring Heeled Jack bist du nicht mehr als zwei Tage am Stück nüchtern gewesen.«

»Wofür ich mich entschuldige. Ich glaube, meine Frustration wegen der nach wie vor unbeantworteten Nil-Frage hat mich überwältigt.«

»Gib’s auf, Richard. Afrika geht dich nichts mehr an.«

»Ich weiß, ich weiß. Es ist nur so, dass … Ich bedaure die Fehler, die ich während meiner Expedition begangen habe. Ich wünschte, ich könnte zurückkehren und sie wiedergutmachen.«

Ein Mann eilte an ihnen vorbei und stieß wilde Kraftausdrücke aus, als der zunehmende Wind seinen Regenschirm von innen nach außen kehrte.

Swinburne bedachte seinen Freund mit einem Seitenblick. »Was meinst du? Physisch nach Afrika zurückkehren oder die Zeit zurückdrehen? Was um alles in der Welt ist nur in dich gefahren? Du benimmst dich in letzter Zeit wie ein Bär mit einer wunden Tatze.«

Burton schürzte die Lippen, schob seinen Stock in die Beuge seines Ellbogens und steckte die Hände in die Taschen.

»Montague Penniforth.«

»Wer?«

»Er war ein Kutscher – und ein grundanständiger Mensch. Er kannte seinen Platz in der Gesellschaft, und obwohl der schlecht und der Lohn karg waren, führte er sein Leben, ohne sich zu beklagen.«

»Und?«

»Ich habe ihn aus seiner Welt in meine geschleift. Er wurde umgebracht, und es war meine Schuld.« Burton sah seinen Gefährten mit hartem Blick und verkniffener Miene an. »William Stroyan, 1854, Berbera. Damals habe ich die Eingeborenen unterschätzt. Ich hätte nicht gedacht, dass sie unser Lager angreifen würden. Doch das haben sie. Er wurde getötet. John Hanning Speke. Vergangenes Jahr hat er sich lieber in den Kopf geschossen, als sich mir in einer Debatte zu stellen. Jetzt ist die Hälfte seines Gehirns eine Maschine, und seine Gedanken sind nicht mehr die seinen. Edward Oxford …«

»Der Mann, der aus der Zukunft hierher sprang.«

»Ja. Und der versehentlich die Vergangenheit verändert hat. Er wollte das wieder in Ordnung bringen, und ich habe ihn umgebracht.«

»Er war Spring Heeled Jack. Der Mann war wahnsinnig!«

»Meine Beweggründe waren selbstsüchtig. Er hat mir offenbart, in welche Richtung mein Leben verlaufen würde. Ich habe ihm das Genick gebrochen, um die Gefahr zu bannen, dass er seine Mission erfolgreich beenden könnte. Ich wollte nicht der Mann werden, der in seiner Geschichtsschreibung vorkam.«

Sie trotteten weiter durch nassen Unrat und Tierausscheidungen. Seltsamerweise war dieses Ende der Saint Martin’s Lane noch nicht von einer Müll-Krabbe aufgesucht worden.

»Hätte er weitergelebt, Richard«, meinte Swinburne, »hätten die Technokraten und die Aufrührer ihn für ihre Zwecke eingesetzt. Wir hätten die Kontrolle über unser Schicksal verloren.«

»Verweigert uns das Schicksal nicht allein durch seine Natur jede Kontrolle?«, konterte Burton.

Swinburne lächelte. »Tut es das? Wenn dem so ist, dann liegt die Verantwortung für Mr Penniforths Tod – und die anderen Unglücksfälle, die du erwähnt hast – beim Schicksal, nicht bei dir.«

»Wodurch ich zu dessen Werkzeug würde. Bismillah! Das hat mir grade noch gefehlt!«

Burton blieb stehen und deutete auf eine Ladenfront. »Hier ist Pride-Manushi, das Velozipedgeschäft.«

Sie überprüften die Türen und Fenster der Anlage. Keine Lichter brannten. Alles war gesichert. Sie spähten durch die Lücken im metallenen Rollgitter und erkannten keine Bewegung. Alles schien in Ordnung zu sein.

»Brundleweed kommt als Nächstes«, murmelte Burton.

»Gütiger Himmel!«, fluchte Swinburne und zog seinen Mantelkragen enger zusammen. »Ich kann dir wahrlich keinen Vorwurf machen, dass du dir wünschst, du wärst wieder auf dem Schwarzen Kontinent. Dort ist es wenigstens warm. Tausendfach verflucht sei dieser Regen!«

Sie überquerten die Straße wieder. Als sie auf den Gehweg stiegen, trat ein Bettler aus einem schattigen Hauseingang. Er war ungepflegt und trug schäbige Kleidung. Wild wucherndes ergrauendes Haar umrahmte sein Gesicht. Es war ziemlich offensichtlich, dass er weder mit Kamm noch mit Seife allzu vertraut war.

»Hab meine Arbeit verloren, meine Herren«, sagte er schnaufend, hob zum Gruß seine Tellermütze und entblößte darunter einen kahlen Schädel. »Und recht geschieht’s mir obendrein. Ich frag’ Sie, warum in Dreiteufelsnamen hab ich mich entschieden, ’n verflixter Philosoph zu werden, obwohl mein Geist fast immer durcheinander is’? Können Sie drei Pence erübrigen?«

Swinburne kramte eine Münze aus der Tasche und warf sie dem Stadtstreicher zu. »Bitteschön, alter Freund. Sie waren Philosoph?«

»Verbindlichsten Dank. Aye, war ich, mein Junge. Und hier kommt ein Rat als Gegenleistung für Ihr Geld: Das Leben dreht sich ums Überleben des Tauglichsten, und ’n kluger Mann denkt immer dran, dass er zwar wohl ein Spross der Vergangenheit, aber auch ein Vater der Zukunft ist. Wie dem auch sein mag …« Er biss auf das Drei-Pence-Stück und steckte es in die Tasche. »Spencer heiß ich, und ich bin recht erfreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Schönen Abend, die Herren!«

Er hob erneut die Mütze an und zog sich auf seine Eingangsstufe zurück, wo ihn der Regen nicht erreichen konnte.

Burton und Swinburne setzten ihren Kontrollgang fort.

»Was für ein außergewöhnlicher Bursche!«, meinte Swinburne nachträglich. »Hier ist Brundleweeds. Sieht ruhig aus.«

So war es in der Tat. Auch die Gitter vor diesem Laden waren heruntergelassen, das Schaufenster unversehrt, das Licht ausgeschaltet.

»Ich frage mich, wie Trounce und Bhatti vorankommen«, sagte Burton und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie rührte sich nicht. »Sieht in Ordnung aus. Gehen wir zur Scrannington Bank.«

Der kalte Wind zerrte an ihnen, und der Regenguss peitschte ihnen in die Gesichter. Sie zogen die Krempen ihrer Hüte tief ins Gesicht und die Krägen ihrer Mäntel hoch, doch es war vergebliche Liebesmüh. Burton zitterte unkontrollierbar. Er wusste, dass er am nächsten Tag in übler Verfassung sein würde.

Vor ihnen tauchte die Bank auf, ein großes schmutziges, unheilvoll anmutendes Gebäude. Das Wasser hatte graue Rinnen in die Rußschicht gegraben.

Swinburne lief leichtfüßig die Stufen hinauf, um die Türen zu überprüfen. Sie erwiesen sich als verrammelt und verriegelt. Er kam wieder zurück. Auch die Läden aller Fenster waren geschlossen.

»Das ist alles andere als inspirierend. Ich glaube, wir gehen hier einem sinnlosen Unterfangen nach«, beschwerte er sich. »Wie spät ist es?«

»Bald Mitternacht, würde ich schätzen.«

»Sieh dich um, Richard. Alle sind verschwunden. Wir haben seit einiger Zeit nicht mal ein automatisiertes Geschöpf gesehen. Mann, Frau und Tier sind längst in ihren warmen trockenen Betten! Und die Verbrecher genauso!«

»Wahrscheinlich hast du recht«, räumte Burton mürrisch ein. »Trotzdem sollten wir weitergehen, bis wir auf Trounce stoßen.«

»Na gut, na gut. Wenn du es sagst …«, erwiderte Swinburne und warf verzweifelt die Arme in die Höhe. »Aber bitte denk daran, falls sich in Zukunft eine ähnliche Gelegenheit auftut: Nass bis auf die Knochen und durchfroren bis ins Mark zu sein, gehört definitiv nicht zu der Art von Schmerzen, die ich genieße. Das Brennen eines harten Stocks – ja! Das Brennen eiskalter Regentropfen – nein! Was ist das?« Er deutete über die Straße zu einem umzäunten Bereich neben einer Kreuzung. Hinter der niedrigen Absperrung herrschte pechschwarze Finsternis.

»Das ist die Mildew Street«, antwortete Burton. »Sehen wir mal nach. Das ist das Werksgelände, wo der unterirdische Fluss eingedämmt wird.«

Sie überquerten die Saint Martin’s Lane erneut und beugten sich über die hüfthohe Absperrung aus Holz, konnten jedoch nicht das Geringste erkennen.

Der königliche Agent griff in seine Manteltasche, zog eine Aufziehlaterne heraus und drehte den Schlüssel ein paar Mal. Ein schwaches Licht flackerte in der Dunkelheit auf, und von den Seiten des Geräts strahlte kurz darauf Licht in den Regen hinaus. Burton hielt die Laterne über den Zaun und erhellte eine schlammige Grube. Der durchtränkte Boden verlief bis zur Öffnung eines Schachts, aus dem der obere Rand einer Leiter ragte. Ströme von Wasser flossen gurgelnd den Hang hinunter und verschwanden in dem breiten Loch.

»Sieh nur!«, rief er und deutete auf einen Bereich des Schlamms im oberen Abschnitt des Abhangs, unmittelbar unter einem eingefallenen Teil der Umzäunung auf der Seite der Mildew Street.

»Du meinst die Fußabdrücke?« Swinburne zuckte mit den Schultern. »Na und?«

»Sei kein Narr!«, gab Burton knurrend zurück. »Wie lange halten sich schlammige Fußabdrücke bei diesem Wetter wohl?«