Mark Hodder wurde in Southampton in England geboren, lebte jedoch viele Jahre in London. Er ist ehemaliger Werbetexter, Web-Producer der BBC, Journalist und Redakteur. Nach zu vielen Jahren im erbarmungslosen Existenzkampf warf er das Handtuch und zog nach Valencia in Spanien, weil er Lebensqualität statt Einkommensquantität wollte. Nach ein paar Monaten als Lehrer für Englisch als Fremdsprache schrieb er seinen ersten Roman, Der kuriose Fall des Spring Heeled Jack, der 2010 den Philip K. Dick Award gewann. Danach gab es kein Zurück mehr. Mittlerweile arbeitet Mark als hauptberuflicher Romanautor und erfüllt sich damit seine kühnsten Träume, die etwa im Alter von elf Jahren damit begonnen hatten, dass er Michael Moorcock, Robert E. Howard, Edgar Rice Burroughs, Fritz Leiber, Jack Vance, Philip K. Dick, P. G. Wodehouse und Sir Arthur Conan Doyle las. Neben Fantastik und Kriminalliteratur interessiert er sich für Buddhismus, Transzendentalismus, alle ITC-TV-Programme der 1960er und 1970er Jahre sowie für die neuesten technischen Spielereien.
präsentiert
Burton & Swinburne in:
Auf der Suche nach dem
Auge von Naga
Aus dem Englischen
von Michael Krug
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2011 by Pyr, an imprint of Prometheus Books
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Expedition to the Mountains of the Moon«
Originalverlag: Pyr/Prometheus Books, NY
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Wolfgang Neuhaus, Oberhausen
Lektorat: Ruggero Leò
Titelillustration: © Geoffrey Ernault
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-4616-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Rebeca Camara
»Zeit entdeckt Wahrheit«
SENECA
Zu den erhebendsten Augenblicken im Leben eines Menschen gehört, so finde ich, der Aufbruch zu einer Fernreise in unbekannte Gefilde. Mit einem Schlag schüttelt man die mächtigen Fesseln der Gewohnheit, das bleierne Gewicht der Routine, den Mantel vieler Sorgen und die Ketten der Sklaverei der Heimat ab, und man fühlt sich wieder glücklich. Das Blut gerät in die rege Wallung der Jugend … man wird zurückversetzt in den Morgen des Lebens …
SIR RICHARD FRANCIS BURTONS TAGEBUCH,
2. DEZEMBER 1858
Die Zukunft beeinflusst die Gegenwart
genauso wie die Vergangenheit.
FRIEDRICH NIETZSCHE
Sir Richard Francis Burton robbte unter einen Strauch am Rand eines Dickichts im oberen westlichen Teil des Green Parks in London und schalt sich einen Narren. Ihm hätte klar sein müssen, dass er die Besinnung verlieren würde. Er hätte früher eintreffen müssen. Nun war die gesamte Mission gefährdet.
Einen Moment lag er ruhig da, bis sich die Schmerzen in seiner Seite legten, dann brachte er sein Gewehr in Anschlag, stützte sich auf die Ellbogen und zielte mit der Waffe auf die Menschenmenge unter ihm. Er betrachtete die Inschrift auf dem Schaft: Lee-Enfield Mk III. Hergestellt in Tabora, Afrika, 1918.
Mit zusammengekniffenem Auge spähte er durch das Zielfernrohr und musterte die Gesichter der Menschen, die sich auf den Pfad am Fuß des Hanges einfanden.
Wo war seine Zielperson?
Sein Blick wurde trüb. Er schüttelte leicht den Kopf und versuchte, eine merkwürdige Zerrissenheit abzuschütteln, das schreckliche Gefühl, in zwei Persönlichkeiten gespalten zu sein. Zum ersten Mal hatte er dies während eines Malariafiebers im Jahr 1857 in Afrika erlebt, dann noch einmal vier Jahre später, als er zum Agenten des Königs ernannt worden war. Burton war der Meinung gewesen, diese Anfälle besiegt zu haben, und vielleicht war es ja auch so. Schließlich gab es tatsächlich zwei Fassungen von ihm.
Es war der Nachmittag des 10. Juni 1840 gewesen. Ein wesentlich jüngerer Richard Burton war gerade von Italien aus durch Europa gereist, unterwegs zum Trinity College in Oxford, um sich dort einzuschreiben.
Als er nun an den eigensinnigen, rechthaberischen und undisziplinierten Jungspund zurückdachte, der er damals gewesen war, flüsterte er: »Die Zeit hat mich verändert, dem Himmel sei Dank. Die Frage ist nur: Kann ich den Gefallen erwidern?«
Er nahm ein Gesicht nach dem anderen ins Visier, suchte nach dem Mann, den zu erschießen er hergekommen war.
Es war ein milder Tag. Die Herren trugen leichte Jacken, Zylinder und Spazierstöcke. Die Damen schmückten sich mit Schutenhüten, zarten Handschuhen und Sonnenschirmen. Alle warteten darauf, Königin Victoria in ihrer Kutsche vorbeifahren zu sehen.
Burton richtete das Fadenkreuz auf eine Person nach der anderen. Der junge Edward Oxford befand sich irgendwo in der Menge, ein wahnsinniger Achtzehnjähriger mit zwei Steinschlosspistolen unter dem Bratenrock und Mord im Sinn. Aber Burton war nicht gekommen, um den angehenden Attentäter der Königin zu erschießen.
»Verdammt und zugenäht!« Seine Hände zitterten. Solchermaßen ausgestreckt auf dem Boden zu liegen wäre für jeden Mann seines Alters – er war siebenundvierzig – unbequem gewesen, doch verschlimmert wurde es durch die zwei gebrochenen Rippen, die er dem Untergebenen des Premierministers, Gregory Hare, zu verdanken hatte. Sie bohrten sich wie ein Messer in seine Seite. Vorsichtig verlagerte er das Gewicht und versuchte, den Strauch dabei nicht in Bewegung zu versetzen. Dass er verborgen blieb, war von entscheidender Bedeutung.
Ein Gesicht erregte seine Aufmerksamkeit. Es war rund, mit dichtem Schnurrbart, und besaß eine geradezu greifbare Ausstrahlung von Arroganz. Burton hatte den Mann nie zuvor gesehen – zumindest nicht in dieser Erscheinung –, trotzdem kannte er ihn: Henry de La Poer Beresford, dritter Marquis von Waterford, von vielen »der irre Marquis« genannt. Der Mann galt als Gründer der Libertins, einer einflussreichen Bewegung, die Freiheit von gesellschaftlichen Fesseln predigte und sich entschieden gegen technologischen Fortschritt aussprach. In drei Jahren würde Beresford eine radikale Splittergruppe anführen, die Aufrührer, deren anarchistische Philosophie die gesellschaftlichen Konventionen in Frage stellen würde. Der Marquis vertrat die Ansicht, die menschliche Spezies schränke ihre eigene Weiterentwicklung ein, und jeder besäße das Potenzial, ein die natürlichen Grenzen überschreitender Mensch zu werden, ein Geschöpf, frei von Beschränkungen, ohne Gewissen oder Selbstzweifel, ein Wesen, das tun konnte, was immer es wollte und wann immer es wollte. Es war eine gefährliche Idee – das hatte Burton der Weltkrieg vor Augen geführt –, aber in diesem besonderen Augenblick ging es ihm nicht darum.
»Um dich kümmere ich mich in einundzwanzig Jahren«, murmelte er.
Ferner Jubel hallte durch den Park. Die Tore des Buckingham Palace hatten sich geöffnet, und die königliche Kutsche rollte auf den Weg.
»Komm schon!«, flüsterte Burton. »Wo steckst du?«
Wo war der Mann, den zu töten er gekommen war?
Wo war Spring Heeled Jack?
Er spähte durch das Periskop. Die Szene, die er durch die Linse sah, war unfassbar. Formen, Bewegungen, Schatten, satte Farben – sie weigerten sich, zu etwas Begreifbarem zusammenzuwachsen. Die Welt war zerschmettert, und er lag zersplittert inmitten des Gerölls.
Tot. Offensichtlich war er tot.
Nein. Aufhören. So geht das nicht. Lass dich nicht davon unterkriegen. Nicht schon wieder.
Er schloss die Augen, bohrte die Fingernägel in die Handflächen und zog die Lippen über die Zähne zurück. Mit enormer Willensanstrengung suchte er die versprengten Teile seiner selbst, fügte sie zusammen, bis:
Frank Baker. Mein Name ist Frank Baker.
Gut. Das fühlte sich vertraut an.
Er roch Schießpulver. Lärm bestürmte seine Ohren. Die Luft war heiß.
Frank Baker. Ja. Der Name war ihm als Reaktion auf die Frage des Sanitäters über die Lippen geglitten.
»Und was sind Sie, Mr. Baker?«
Eine merkwürdige Frage.
»Ein Beobachter.«
Eine gleichermaßen merkwürdige Antwort. Wie der Name war sie aus dem Nichts aufgetaucht, aber der überlastete Sanitäter zeigte sich zufrieden damit.
Es folgten Anflüge von Leere. Fieberschübe. Wahnvorstellungen. Dann die Genesung. Man war davon ausgegangen, dass er dem zivilen Beobachterkorps angehörte, und hatte ihn der Obhut des kleinen Mannes mit der Fistelstimme unterstellt, der im Augenblick neben ihm stand.
Was noch? Was noch? Was war es, das ich mir angesehen habe?
Er schlug die Augen auf. Es herrschte wenig Licht.
Ihm wurde bewusst, dass er etwas mit der Faust umklammerte. Er öffnete die Hand und stellte fest, dass er eine rote Mohnblume hielt. Sie fühlte sich bedeutsam an, wichtig. Weshalb, wusste er nicht. Er steckte sie in die Tasche.
Dann schob er seinen Blechhelm hoch, wischte sich Schweiß von der Stirn, schob die Oberkante des Periskops wieder über den Rand des Schützengrabens und spähte erneut durch das Objektiv. Zu seiner Linken verschmolz die Kuppe einer aufgedunsenen Sonne mit einem Horizont, der vor Hitze flimmerte, und geradeaus bahnten sich in der zunehmenden Düsternis sieben hoch aufragende, langbeinige Spinnentiere einen Weg durch das rote Unkraut, das im Niemandsland wucherte. Dampf wallte aus ihren Ablufttrichtern und zeichnete sich weiß vor dem dunkler werdenden, violetten Himmel ab.
Weberknechte, ging es ihm durch den Kopf. Diese Kreaturen sind Weberknechte, die von der Eugenikerfraktion der Technokraten zu gewaltiger Größe herangezüchtet werden. Nein, halt, nicht Eugeniker – das ist der Feind –, bei uns heißen sie Genetiker. Die Spinnentiere werden herangezüchtet, getötet und ausgeweidet. Anschließend bauen Techniker dampfbetriebene Maschinen in ihre Schalen ein.
Er betrachtete die Gerätschaften eingehender und stellte fest, dass bestimmte Dinge ihm anders vorkamen. Zum Beispiel hatte man unter ihren kleinen Körpern Gatling-Repetiergeschütze angebracht, wo Baker eigentlich Frachtnetze erwartet hätte. Die Waffen schwenkten hin und her, funkelten und blitzten, als sie eine Kugelsalve in die deutschen Schützengräben feuerten. Das metallische Prasseln der Geschosse übertönte beinah das Tuckern der Motoren. Zudem verfügten die Weberknechte über eine Panzerung, und die Fahrer saßen auf einer Art Sattel obenauf statt auf einem Sitz im Innern des ausgehöhlten Körpers, was darauf schließen ließ, dass die Schale mit größeren, mächtigeren Maschinen gefüllt war als … als …
Womit vergleiche ich sie eigentlich?
»Ziemlich beeindruckender Anblick, was?«, ertönte eine hohe Stimme.
Baker räusperte sich. Er fühlte sich nicht bereit für eine Unterhaltung, obwohl er den vagen Verdacht hegte, dass er sich bereits unterhalten hatte – dass er und der kleine Mann neben ihm erst vor wenigen Minuten miteinander geplaudert hatten.
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sein Gefährte fuhr fort: »Wäre ich ein Dichter, könnte ich ihnen vielleicht gerecht werden, aber für einen bloßen Journalisten ist die Herausforderung zu groß. Wie soll ich eine dermaßen unnatürliche Szene beschreiben? Jeder, der sie nicht mit eigenen Augen gesehen hat, würde denken, ich hätte eine wissenschaftliche Fantasieerzählung verfasst. Vielleicht würde man mich als neuen Jules Verne bezeichnen.«
Denk nach! Mach schon! Füge die Worte des Mannes zusammen. Entschlüssle die Sprache. Erkenne die Bedeutung darin.
Er holte tief Luft, als eine Erinnerung in ihm aufstieg. Er lag in einem Bett im Feldlazarett, hielt eine Zeitung in den Händen und las einen Bericht, der von diesem kleinen, molligen Burschen geschrieben worden war.
Ja, genau. Und jetzt sprich, Baker. Mach den Mund auf und sprich!
»Sie schaffen das schon«, sagte er. »Ich habe kürzlich einen Ihrer Artikel gelesen. Sie besitzen ein seltenes Talent. Wer ist Jules Verne?«
Er sah, dass der kleine Mann die Augen verengte und ihn im Zwielicht prüfend musterte, als versuche er, seine Züge auszumachen.
»Ein französischer Romanautor. Er kam ums Leben, als Paris fiel. Sie haben noch nie von ihm gehört?«
»Doch, vielleicht«, antwortete Baker. »Aber ich muss gestehen, ich erinnere mich im Augenblick an so wenig, dass ich kaum funktioniere.«
»Ah, natürlich. Ein keineswegs seltenes Symptom von Kriegsneurose oder Fieber, und Sie haben nach allem, was man so hört, unter beidem schwer gelitten. Wissen Sie noch, warum Sie in der Seenregion waren?«
Die Seenregion? Die ist … die ist in Afrika! Das hier ist nicht Afrika!
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Meine erste Erinnerung ist, dass man mich auf einer Bahre getragen hat. Dann weiß ich nur noch, dass ich hier war und von Sanitätern untersucht wurde.«
Der Journalist grunzte. »Ich habe mich ein wenig umgehört«, sagte er. »Die Männer vom Landvermessungskorps haben Sie am Ukerewesee gefunden, in der Nähe des Westufers, am Rand des Blutdschungels. Ein gefährlicher Ort – dort treiben sich viele Deutsche herum. Sie waren unbewaffnet und haben wirres Zeug geredet wie ein Verrückter. Und diese seltsame, glitzernde Hieroglyphe schien frisch in Ihren Kopf tätowiert gewesen zu sein.«
Hieroglyphe?
Baker fasste nach oben, schob die Hand unter den Helm und fuhr mit den Fingern durch sein kurzes Haar. An seiner Kopfhaut stieß er auf harte Erhebungen.
»Ich erinnere mich an nichts von alledem.«
Ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich nicht.
»Die Landvermesser wollten Sie nach Tabora bringen, aber auf der Route nach Süden wimmelt es von Schnappern, deshalb sind sie stattdessen nach Osten gegangen, bis sie zu den dort versammelten Bataillonen stießen. Unterwegs waren Sie abwechselnd besinnungslos und bei Bewusstsein, aber nie bei klarem Verstand, um eine Erklärung abzugeben.«
Plötzlich wurde der Korrespondent vom an- und abschwellenden Geheul einer Sirene unterbrochen. Es handelte sich um einen Weberknecht, der in eine Notlage geraten war. Der Journalist wandte die Aufmerksamkeit wieder seinem Periskop zu. Baker tat es ihm gleich.
Eines der gigantischen Fahrzeuge hatte sich verheddert. Scharlachrote Ranken wanden sich um die stelzenartigen Beine und schlängelten sich zum hoch über dem Boden kauernden Fahrer empor. Der Mann riss verzweifelt an den Bedienhebeln und versuchte, die emporkletternden Pflanzen von der Maschine abzuschütteln. Es gelang ihm nicht. Der Weberknecht krängte immer weiter nach links. Dann kippte er um, zu Boden gezogen vom fleischfressenden Unkraut. Die Sirene gurgelte und verstummte. Der Fahrer rollte aus dem Sattel und wollte aufspringen, doch es war zu spät. Er kreischte, als Pflanzenschoten unter seinem Gewicht zerplatzten und ihn mit Säure bespritzten. Seine Uniform fing Flammen, sein Fleisch löste sich blubbernd und zischend von den Knochen. Das Unkraut brauchte weniger als eine Minute, um den Mann in ein blankes Skelett zu verwandeln.
»Armer Teufel«, murmelte der kleine Berichterstatter. Er senkte sein Beobachtungsinstrument und schüttelte sich Staub von der rechten Hand. »Haben Sie gesehen, wie gestern das Unkraut eingetroffen ist? Ich hab’s verpasst. Hab geschlafen.«
»Ich habe es auch nicht gesehen.«
»Anscheinend wurde eine dünne Wolkenranke, die wie eine Schlange aussah, vom Meer hereingeweht und hat die Samen herabregnen lassen. Die Pflanzen haben über Nacht gekeimt und wuchern seither. Das Gebiet sieht unpassierbar aus. Ich sage Ihnen, Baker, wenn es um das Wetter und um Pflanzen geht, kennen sich diese vermaledeiten Hexer der Krautfresser wirklich aus. Darum gelingt es ihnen immer noch, Hunderttausende Afrikaner mehr als wir zum Militär zu holen. Die Stämme sind dermaßen abergläubisch, dass sie alles tun, was man sagt, wenn sie glauben, man könne Regen heraufbeschwören und ihnen eine gute Ernte bescheren. Colonel Crowley hat schwer mit ihnen zu kämpfen – mit den Hexern, meine ich.«
Baker hatte Mühe, das alles zu verarbeiten. Hexer? Pflanzen? Kontrolle über das Wetter?
»Crowley?«, fragte er.
Der kleinere Mann zog die Augenbrauen hoch. »Du meine Güte, Ihr Gehirn ist ja wirklich wie ein Nudelsieb! Colonel Aleister Crowley. Unser Hauptmedium. Der größte aller Zauberer!«
Baker erwiderte nichts.
Der Berichterstatter zuckte verdutzt mit den Schultern und presste sich gegen die Seite des Schützengrabens, als sich eine Kolonne von Soldaten vorbeidrängte. Er kicherte, als ein Sergeant grinsend und augenzwinkernd meinte: »Köpfe unten lassen, meine Herren. Ich will keine Löcher in den teuren Helmen.« Anschließend wandte sich der kleine Mann wieder seinem Periskop zu. Baker beobachtete all das und versuchte verzweifelt, sein Gefühl der Fremdheit zu überwinden.
Ich gehöre nicht hierher. Ich verstehe das alles nicht.
Er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund – die Atmosphäre strotzte vor Luftfeuchtigkeit, weshalb er heftig schwitzte –, dann setzte er das Auge am Objektiv seines Periskops an.
Zwei weitere Weberknechte wurden in die sich windende Flora hinuntergezerrt. »Wie viele Männer müssen noch sterben, bevor jemand den Befehl zum Rückzug der verdammten Fahrzeuge erteilt?«
»Wir werden uns nicht zurückziehen«, lautete die Antwort. »Das ist unsere letzte Chance. Wenn es uns gelingt, deutsche Ressourcen in Afrika in die Hände zu bekommen, sind wir vielleicht in der Lage, in Europa einen Gegenangriff zu starten. Wenn nicht, sind wir erledigt. Also werden wir tun, was nötig ist, auch wenn das bedeutet, vergeblichen Hoffnungen nachzujagen. Sehen Sie nur! Schon wieder ist einer gefallen!«
Die drei verbliebenen Weberknechte ließen ihre Sirenen aufheulen: »Uuuaaa! Uuuaaa! Uuuaaa! Uuuaaa!«
Der Berichterstatter sprach weiter. »Ein fürchterlicher Radau. Man könnte meinen, die verfluchten Spinnen sind am Leben und haben Todesangst.«
Baker schüttelte leicht den Kopf. »Streng genommen sind es keine Spinnen. Spinnen gehören der Ordnung der Araneae an, Weberknechte hingegen sind Opiliones.«
Woher weiß ich das?
Der Kriegsberichterstatter schnaubte verächtlich. »Sie gehören gar keiner Ordnung mehr an – nicht mehr, seit unsere Technokraten sie ausgekratzt haben.«
Überall in den britischen Schützengräben begannen Männer, in Pfeifen zu blasen.
»Verflixt! Da kommt unsere tägliche Sporendosis. Setzen Sie Ihre Maske auf.«
Baker bewegte sich, ohne darüber nachzudenken. Seine Hände wanderten zu seinem Gürtel, öffneten ein Behältnis aus Segeltuch und zogen eine dicke Gummimaske daraus hervor, die er sich übers Gesicht stülpte. Sein Gefährte und er sahen einander durch runde Augenöffnungen aus Glas an.
»Ich hasse den Geruch dieser Dinger«, meinte der kleinere Mann mit dumpfer Stimme. »Und sie machen mir Platzangst. In diesem höllischen Klima sind sie beinahe erstickend. Was halten Sie davon, zum Unterstand zurückzukehren und etwas zu trinken? Hier wird es ohnehin zu dunkel, um noch viel zu erkennen. Zeit für ein Tässchen Tee. Kommen Sie!«
Baker warf einen letzten Blick durch das Periskop. Durch die Augengläser der Maske sah er die Szene verschwommen, und die rasch hereinbrechende afrikanische Nacht verdunkelte sie zusätzlich, aber er konnte erkennen, dass auf der anderen Seite des Unkrautfelds eine dichte gelbe Wolke vorrückte, die vor dem pechschwarzen Himmel zu leuchten schien. Schaudernd wandte er sich ab und folgte dem anderen Mann durch den Frontschützengraben zu einem Kommunikationsgraben und weiter in einen der Unterstände. Dabei kamen sie an maskierten Soldaten vorbei – vorwiegend Askari, afrikanische Rekruten, viele davon kaum dem Kindesalter entwachsen –, die bedrückt dasaßen und darauf warteten, ins Gefecht geschickt zu werden.
Die beiden Männer erreichten einen Durchgang, schoben einen schweren Vorhang beiseite und traten ein. Sie nahmen die Helme und die Gesichtsmasken ab.
»Achten Sie darauf, dass der Vorhang ordentlich geschlossen ist, er hält die Sporen ab. Ich besorge uns Licht«, sagte der Journalist.
Augenblicke später erhellte eine Sturmlaterne den kleinen unterirdischen Bunker, der spärlich eingerichtet war mit zwei Holzbetten, zwei Tischen, drei Stühlen und ein paar Truhen.
»Pfui Teufel!«, stieß Baker hervor. »Ratten!«
»Gegen die kann man nichts machen. Die Quälgeister sind überall. Aber die sind Ihr geringstes Problem. In ein paar Tagen wird Ihre schöne, saubere Uniform von Läusen verseucht sein, und Sie werden das Gefühl haben, bei lebendigem Leib gefressen zu werden. Wo ist nur der verflixte Teekessel? Ah, hier!«
Der kleine Mann machte sich an einem Kocher zu schaffen. Das Licht offenbarte, dass er strahlend blaue Augen besaß.
Baker trat an den kleineren der beiden Tische, der an der Wand stand. Darauf befand sich eine Waschschüssel. An einem Nagel unmittelbar darüber hing ein Spiegel. Baker wollte sich darin betrachten, doch aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht konzentrieren. Entweder ließen seine Augen nicht zu, dass er sich sah, oder er war nicht wirklich hier.
Er ging zum anderen Tisch in die Mitte des Unterstands und setzte sich.
»Diese Sporen«, sagte er. »Was sind sie? Woher kommen sie?«
»Streng genommen heißen sie A-Sporen. Die Deutschen züchten riesige Pilze, eine eugenisch veränderte Form der gemeinhin als Knollenblätterpilz bekannten Art, oder auch Amanita bisporigera, falls Sie lateinische Fachausdrücke bevorzugen. Die Pilze sind tödlich, und dasselbe gilt für ihre Sporen. Atmet man sie ein, wird man binnen Sekunden von Erbrechen, Krämpfen, Wahnvorstellungen, Zuckungen und Durchfall heimgesucht. In weniger als zehn Minuten ist man tot.«
»Botanische Waffen? Erst das Unkraut, dann noch Pilzsporen. Wie grauenhaft erfindungsreich!«
Der andere Mann musterte Baker mit verwirrter Miene. »Aber es ist doch allgemein bekannt, dass die Deutschen vorwiegend Rüstung auf botanischer Grundlage betreiben. Und gelegentlich mit mutierten Tieren.«
»Tatsächlich? Tut mir leid. Wie gesagt, ich leide unter nahezu völligem Gedächtnisverlust. Sie haben zuvor etwas namens Schnapper erwähnt …«
»Oh. Hm. Ja. Fleischfressende Pflanzen. Sie gehören zu den ersten von den Deutschen entwickelten Waffen. Ursprünglich waren es Kampffahrzeuge, die in ganz Afrika eingesetzt wurden. Eines Tages sind sie spontan mutiert und haben ihre Fahrer verschlungen, was irgendwie dazu geführt hat, dass sie rudimentäre Intelligenz erlangt haben. Danach haben sie sich rasant ausgebreitet und sind mittlerweile für beide Seiten eine Gefahr. Wenn Sie einen Schnapper sehen und keinen Flammenwerfer zur Hand haben, dann rennen Sie um Ihr Leben. Besonders in der Seenregion, wo man Sie gefunden hat, sind sie weit verbreitet.« Der Journalist verstummte kurz, dann fügte er hinzu: »Mir war nicht bewusst, dass Ihr Gedächtnis so völlig versagt. Wie geht es Ihnen körperlich? Wie fühlen Sie sich?«
»Schwach, aber es wird besser, und die Augenentzündung hat sich gelegt. Als ich im Lazarett das Bewusstsein erlangt habe, war ich halb blind. Dieses vermaledeite Gebrechen plagt mich seit Indien immer wieder mal.«
»Sie sind in Indien gewesen?«
Baker runzelte die Stirn und rieb sich das Kinn. »Ich weiß es nicht. Das ist gerade aus dem Nichts in meinem Kopf aufgetaucht. Aber ja, es fühlt sich so an, als wäre ich dort gewesen.«
»Indien, du meine Güte! Sie hätten dort bleiben sollen. Könnte durchaus sein, dass sich dieses Land noch als die letzte Bastion der Zivilisation des gesamten Planeten erweist! Sind Sie dem Korps dort beigetreten?«
»Ich glaube schon …«
In der Ferne ertönte ein Donnerschlag, dann noch einer und noch einer. Der Boden erzitterte. Der Berichterstatter blickte zur Decke.
»Artillerie. Erbsenmörser. Feuern vom Stadtrand von Daressalam aus.«
»Abgeleitet von bandar es-salaam, soviel ich weiß«, murmelte Baker. »Das bedeutet Hafen des Friedens. Welch eine Ironie.« Lauter sagte er: »Die Landschaft und das Klima sind mir irgendwie vertraut. Sind wir südlich von Sansibar? Liegt in der Umgebung ein Dorf namens Mzizima?«
»Ha! Mzizima und Daressalam sind ein und dasselbe, Baker! Unglaublich, dass der Tod des britischen Empires seinen Ursprung an einem so unbedeutenden kleinen Ort genommen hat, nicht wahr? Und jetzt sind wir wieder hier.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es wird allgemein vermutet, dass es der Ort ist, an dem der Weltkrieg begonnen hat. Haben Sie sogar das vergessen?«
»Ja, ich fürchte, das habe ich. Er hat in Mzizima begonnen? Wie ist das möglich? Wie Sie richtig sagen, ist es ein kleiner, unbedeutender Ort.«
»Also erinnern Sie sich zumindest noch daran, wie Daressalam früher gewesen ist?«
»Ich erinnere mich daran, dass die Ortschaft früher kaum mehr als eine Ansammlung von Bienenkorbhütten war.«
»Völlig richtig. Aber diese Ansammlung wurde vor etwas mehr als fünfzig Jahren von einer Gruppe deutscher Landvermesser besucht. Niemand weiß, warum sie dort waren oder was sich zugetragen hat, aber aus irgendeinem Grund brachen Kampfhandlungen zwischen ihnen und Al-Manat aus.«
»Der präislamischen Göttin des Schicksals?«
»Meiner Treu, na so was! Nicht die, alter Freund. Al-Manat war die Anführerin einer Bande weiblicher Guerillakrieger. Gerüchten zufolge war sie Britin, aber ihre wahre Identität ist geheimnisumwittert. Sie gilt als eines der großen Rätsel der Geschichte. Jedenfalls eskalierten die Kampfhandlungen. Sowohl Briten als auch Deutsche schickten immer mehr Truppen hin, und Mzizima wurde zum Bollwerk der Deutschen Ostafrikagesellschaft. Die Schutztruppe wurde dort vor rund vierzig Jahren gebildet und hat die Siedlung rasch erweitert. Sie wurde in Daressalam umgetauft und blüht und gedeiht seither prächtig. Was unsere Leute dieses Wochenende ändern werden.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich meine damit, dass am Samstag die Luftschiffe Pegasus und die Astraea die Stadt in Schutt und Asche bomben werden.«
Draußen ertönten dumpf weitere Explosionen. Die Häufigkeit der Einschläge nahm zu. Alles bebte. Baker sah sich gehetzt um.
»Grüne Erbsen«, erklärte sein Gefährte.
»Das hören Sie allein am Klang?«
»Ja. Direkte Einschläge wie bei großen Kanonenkugeln. Die gelbe Art explodiert beim Aufschlag und verspritzt giftige Splitter. In Europa sind damit Millionen unserer Leute getötet worden, aber zum Glück gedeihen die Pflanzen in Afrika nicht.«
Bakers Finger umklammerten die Tischkante. Der andere Mann bemerkte es und beruhigte ihn. »Uns passiert nichts. Sie brauchen ewig, um die Weite richtig einzustellen. Außerdem gehören wir nicht den kämpfenden Truppen an und dürfen im Gegensatz zu den Soldaten hier Schutz suchen. Wir sind in Sicherheit, solange nicht eine dieser Plagen direkt auf uns landet, und die Chancen dafür sind äußerst gering.«
Er setzte den Kessel auf. Dann saßen sie stumm da und lauschten dem Bombardement, bis das Wasser kochte. Schließlich löffelte der Journalist Teeblätter in eine Kanne und meinte: »Die Rationen sind ziemlich knapp.«
Baker bemerkte, dass sein Gefährte immer wieder Blicke auf ihn warf. Er verspürte das unerklärliche Verlangen, sich aus dem Licht wegzuducken, aber das ging nicht. Hilflos beobachtete er, wie plötzlich eine Abfolge verschiedener Emotionen über die Züge des anderen Mannes huschte: Neugier, Verwirrung, Erkennen, Ungläubigkeit, Schock.
Der kleinere Mann blieb stumm, bis der Tee gekocht war. Dann füllte er zwei Blechtassen, gab Milch und Zucker dazu, reichte eine der Tassen Baker, setzte sich, blies Dampf von seinem Getränk und erhob die Stimme über den Lärm der Geschosseinschläge. »Sagen Sie, alter Freund, wann haben Sie sich zuletzt rasiert?«
Baker seufzte. »Ich wünschte, ich hätte eine Zigarre.« Dann schob er eine Hand in die Tasche, zog die Mohnblume daraus hervor, starrte sie an und hakte abwesend nach: »Was?«
»Ihre letzte Rasur. Wann war die?«
»Keine Ahnung. Vielleicht vor drei Tagen. Warum fragen Sie?«
»Weil die Stoppeln Ihre Tarnung völlig ruinieren, lieber Freund. Mit Bart oder Schnurrbart werden Ihre Züge sofort erkennbar. Sie sind genauso ausdrucksstark, wie man es berichtet, unbarmherzig und gebieterisch. Herrje, diese düsteren Augen! Diese eisenharte Kieferpartie! Die Narbe auf Ihrer Wange!«
»Was schwafeln Sie da?«, herrschte Baker ihn an.
»Ich rede von etwas, das vollkommen unmöglich und gänzlich unglaublich ist – aber zugleich absolut offensichtlich und unbestreitbar!« Der Journalist grinste. Mittlerweile musste er brüllen – das Bombardement bestürmte ihre Ohren unbarmherzig. »Lassen Sie’s gut sein. Leugnen hat keinen Zweck, Sir. Ich bin kein Narr. Es steht außer Frage, dass Sie jemand anderer sein könnten, obwohl es keinerlei Sinn ergibt, dass Sie sind, wer Sie sind.«
Baker starrte ihn finster an.
Der andere Mann rief: »Würden Sie es mir erklären? Ich versichere Ihnen, ich bin außergewöhnlich aufgeschlossen und kann ein Geheimnis bewahren, falls Sie es mir als Bedingung auferlegen. Mein Redakteur würde mir ohnehin kein Wort glauben.«
In unmittelbarer Nähe ihres Unterstands erfolgte ein Einschlag. Ein Ruck durchlief den Raum. Der Tee schwappte über. Baker zuckte zusammen, erlangte die Fassung wieder und sagte laut: »Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden.«
»Dann lassen Sie es mich klarstellen. Frank Baker ist ganz sicher nicht Ihr Name.«
»Nicht?«
»Ha! Also geben Sie zu, dass Sie unter Umständen nicht der sind, als der Sie sich ausgeben?«
»Der Name kam mir in den Sinn, als ich gefragt wurde, aber ich bin keineswegs überzeugt davon, dass er stimmt.«
Wieder zuckte Baker zusammen, als ein weiterer Einschlag den Raum erschütterte.
»Na schön«, brüllte der Journalist. »Dann lassen Sie uns einander richtig kennenlernen. Ich wurde Ihnen als Mr. Wells vorgestellt. Vergessen Sie das. Solche Förmlichkeiten sind überflüssig. Mein Name ist Herbert. Herbert George. Kriegsberichterstatter für die Tabora Times. Die meisten Menschen nennen mich Bertie, Sie können es ruhig auch so halten. Jedenfalls, ich bin sehr froh, Ihnen zu begegnen.« Damit streckte er die Hand aus, die ergriffen und geschüttelt wurde. »Ehrlich, machen Sie sich wegen des Beschusses keine Sorgen, wir sind hier sicherer, als es den Anschein hat. Die deutsche Artillerie hat es eher auf die Versorgungsgräben als auf die Frontlinie abgesehen. Indem sie unsere Vorräte zerstören, gewinnen sie mehr als durch den Tod einiger Askaris.«
Baker nickte knapp. Einen Moment lang bewegten sich stumm seine Lippen. Immer wieder blickte er auf die Mohnblume in seiner Hand, dann räusperte er sich und sagte: »Also kennen Sie mich? Meinen richtigen Namen?«
»Ja, ich kenne Sie«, erwiderte Wells. »Ich habe die Biografien gelesen. Ich habe die Fotos gesehen. Ich weiß alles über Sie. Sie sind Sir Richard Francis Burton, der berühmte Entdecker und Gelehrte. Ich kann mich unmöglich irren.« Er trank einen Schluck Tee. »Nur ergibt das keinen Sinn.«
»Warum nicht?«
»Weil Sie mir Mitte vierzig zu sein scheinen, mein lieber Freund. Allerdings haben wir 1914, und zufällig weiß ich, dass Sie 1890 an Altersschwäche gestorben sind.«
Baker – Burton – schüttelte den Kopf. »Dann kann ich nicht derjenige sein, für den Sie mich halten«, gab er zurück. »Denn ich bin weder alt noch tot.«
In diesem Augenblick endete die Welt mit einer entsetzlichen Erschütterung.
Für Thomas Bendyshe endete die Welt am Neujahrstag 1863. Er war als Sensenmann verkleidet, als er starb. Als unverblümter und überzeugter Atheist lauteten seine letzten Worte: »O Gott! O lieber Herr Jesus! Bitte, Maria Muttergottes, rette mich!«
Die anderen Mitglieder des Cannibal Clubs schrieben diesen untypischen Gefühlsausbruch dem Umstand zu, dass eine Strychninvergiftung ein ausgesprochen qualvoller Weg ins Jenseits ist.
Sie hatten sich in Fryston versammelt – Richard Monckton Milnes’ Gutshaus in Yorkshire –, um eine kombinierte Neujahrs- und Abschiedsfeier mit Kostümierung zu begehen. Der Abschied war nicht für Bendyshe gedacht – sein Dahinscheiden kam völlig unerwartet –, sondern für Sir Richard Francis Burton und seine Expedition, die noch in derselben Woche nach Afrika aufbrechen sollten.
Das Gutshaus Fryston, das aus dem elisabethanischen Zeitalter stammte, besaß keinen Ballsaal, dafür verbargen sich hinter den Steinkreuzfenstern zahlreiche geräumige, eichenholzgetäfelte Zimmer, erwärmt von Kaminecken. Kostümierte Gäste füllten die Räume. Unter ihnen befanden sich präraffaelitische Künstler, führende Technokraten, Schriftsteller, Dichter und Schauspieler, Minister der Regierung, Beamte von Scotland Yard sowie Mitglieder der Royal Geographical Society. Auch eine Reihe hochrangiger Offiziere vom Luftschiff Orpheus Seiner Majestät gab sich die Ehre, und zur weiblichen Prominenz zählten Miss Isabella Mayson, Schwester Sadhvi Raghavendra, Mrs. Iris Angell und die berühmte Eugenikerin – mittlerweile Genetikerin – Florence Nightingale. Zusammen sorgten sie für eine gut besuchte Soiree, wofür Monckton Milnes bekannt war.
Im Raucherzimmer verbrachte Bendyshe mit schwarzem Kapuzenumhang und Totenkopfmaske die letzten Minuten vor seinem Tod damit, vergnügt den griechischen Gott Apollo zu hänseln. Bei dem kleinen Olympbewohner mit den flammenroten Haaren handelte es sich in Wirklichkeit um den Dichter Algernon Charles Swinburne in einer Toga, mit einem Lorbeerkranz auf der Stirn und einem Eros-Pfeil mit goldener Spitze im Hosenbund. Er stand in der Nähe eines Erkerfensters bei Perserkönig Shahryār, Oliver Cromwell, dem Harlekin und einem Ritter; mit anderen Worten bei Sir Richard Francis Burton, Kriegsminister Sir George Cornewall Lewis, Monckton Milnes und dem Technokratenkapitän der Orpheus, Nathaniel Lawless.
Swinburne hatte soeben ein volles Glas Brandy von einem vorbeigehenden Kellner erhalten, der wie das gesamte Personal das venezianische Kostüm Medico Della Peste samt Vogelmaske mit langem Schnabel trug. Der Dichter trank einen Schluck, stellte das Glas auf einem kleinen Tisch neben ihm ab und wandte sich wieder an Kapitän Lawless. »Aber ist das nicht eine ziemlich große Besatzung? Ich hatte den Eindruck, Rotorschiffe würden von sieben oder acht Mann geflogen, nicht von … wie viel noch mal?«
»Mich mitgerechnet«, erwiderte der Kapitän, »sind es sechsundzwanzig, und das ist noch nicht die volle Besatzung.«
»Meiner Treu! Wie um alles in der Welt vertreiben Sie sich bei so vielen Leuten die Zeit?«
Lawless lachte. Seine hellgrauen Augen funkelten, seine ebenmäßigen Zähne präsentierten sich noch weißer als sein milchiger, kurz gestutzter Bart. »Ich glaube, Ihnen ist die Größe der Orpheus nicht ganz bewusst«, meinte er. »Sie ist Mr. Brunels größte Flugmaschine. Ein veritabler Koloss. Ich wette, es verschlägt Ihnen den Atem, wenn Sie das Schiff morgen sehen.«
Der Technokrat Daniel Gooch schloss sich der Gruppe an. Wie immer trug er ein Geschirr, an dem zwei zusätzliche mechanische Arme befestigt waren. Swinburne hatte bereits seiner Meinung Ausdruck verliehen, der Techniker hätte sich als riesiges Insekt verkleiden sollen. Tatsächlich hatte Gooch sich als russischer Kosak kostümiert. Nun ergriff der Ingenieur das Wort. »Sie ist überwältigend, Mr. Swinburne. Und luxuriös. Für Passagierreisen entworfen. Das Schiff wird die Expedition, die Vorräte sowie Ihre beiden Fahrzeuge befördern und noch reichlich Reserveraum übrig haben.«
Bendyshe stand unmittelbar hinter dem Dichter mit dem Rücken zu ihm und unterhielt sich mit Charles Bradlaugh, der als Dick Turpin kostümiert war. Dabei stibitzte er heimlich das Glas Brandy vom Tisch, schob es unter seine Maske, leerte es in einem Zug, stellte es zurück und zwinkerte Bradlaugh durch das rechte Augenloch der Maske zu.
»Sind denn schon alle Mannschaftspositionen besetzt, Käpt’n?«, erkundigte sich Burton. »Wie ich hörte, hatten Sie Probleme.«
Lawless nickte. »Die beiden Schlotschrubber, die uns die Kaminkehrervereinigung geschickt hat, haben sich als zu jung und undiszipliniert für die Aufgabe erwiesen. Sie haben in den Lüftungsrohren Schabernack getrieben und beträchtlichen Schaden angerichtet. Ich habe sie auf der Stelle entlassen.« Er wandte sich an Gooch, der an Bord des Luftschiffes als leitender Techniker diente. »Nach meinem Wissensstand stoßen die Ersatzleute in Battersea zu uns, richtig?«
»Ja, Sir, und sie bringen ein neues Rohr von der Kaminkehrervereinigung mit.« Eine seiner mechanischen Hände tauchte in seine Jackentasche hinab und zog ein Notizbuch hervor. Er las darin nach und fügte hinzu: »Sie heißen William Cornish und Tobias Threadneedle.«
»Dreikäsehochs?«
»Cornish ist noch ein Junge, Sir. Anscheinend ist Mr. Threadneedle deutlich älter, wenngleich ich vermute, dass er mit derselben zierlichen Statur wie alle Männer seines Berufsstandes aufwarten wird.«
Gooch konnte nicht anders, als dabei einen Blick zu Swinburne zu werfen, der ihm zur Erwiderung die Zunge zeigte.
»Bestimmt ein Meisterkehrer«, warf Burton ein. »Ich glaube, der Käfer versucht, deren Bruderschaft in die Kaminkehrervereinigung zu integrieren.« Er verstummte kurz, dann fügte er hinzu: »Wo habe ich den Namen William Cornish schon mal gehört?«
»Von mir«, antwortete Swinburne mit hoher Piepsstimme. »Ich kenne ihn. Er ist ein anständiger junger Rabauke, wenngleich ein bisschen zu sehr darauf bedacht, seine Abende damit zu verbringen, auf Friedhöfen Fallen zu stellen in der Hoffnung, den einen oder anderen Leichenräuber zu fangen.« Er griff nach seinem Glas, hob es an die Lippen, weitete verdutzt die Augen, betrachtete es bedauernd und murmelte: »Verflixt!« Er gab einem Kellner ein Zeichen.
»Leichenräuber? Der Käfer? Rohre? Wovon in Gottes Namen reden wir hier?«, rief Cornewall Lewis.
Burton antwortete: »Der Käfer ist das geheimnisumwobene Oberhaupt der Organisation der Kaminkehrer. Ein Junge. Ausgesprochen intelligent und belesen. Er lebt in einem Fabrikschornstein.«
»Grundgütiger!«
Swinburne nahm sich vom Kellner ein weiteres Glas Brandy, nippte daran und stellte es auf dem Tisch ab.
»Ich bin dem Käfer nie begegnet«, sagte er, »aber ich habe mit Willy Cornish zusammengearbeitet, als ich unter einem Meisterkehrer namens Vincent Sneed gedient habe, während Richard in der Spring-Heeled-Jack-Sache ermittelt hat. Sneed ist ein boshafter Rüpel mit einem großen Zinken. Zu meinem Pech bin ich ihm bei den Aufständen vergangenen Sommer erneut über den Weg gelaufen. Damals habe ich dem Mistkerl eins verpasst.«
»Du bist auf ihn draufgefallen«, berichtigte ihn Burton.
Bendyshe ergriff unbeobachtet das Glas des Dichters, trank es beinah leer und stellte es unauffällig zurück.
Bradlaugh flüsterte ihm zu: »Bist du sicher, dass das klug ist, alter Freund? Wenn du nicht aufpasst, endest du stockbesoffen.«
»Unschinn«, lallte Bendyshe. »Ich bin sch… stocknüchtern.«
Monckton Milnes wandte sich an Lawless. »Was genau macht ein Schlotschrubber?«
»Normalerweise sind Schlotschrubber an Landeplätzen stationiert«, erklärte der Luftschiffkapitän, »und dafür verantwortlich, dass die Rauch- und Dampfabzüge eines Schiffes sauber und frei von Verstopfungen bleiben. Bei den größeren Schiffen jedoch, die höher fliegen, zirkuliert warme Luft durch ein umfangreiches internes Rohrsystem, um zu gewährleisten, dass in jeder Kabine eine angenehme Temperatur gewahrt bleibt. Die Rohre sind so breit, dass ein kleiner Junge hindurchkriechen kann. Nun, die Aufgabe eines Schlotschrubbers besteht darin, genau das zu tun, um den Staub und die Feuchtigkeit zu beseitigen, die sich in den Rohren ansammeln.«
»Klingt nach einer ungeheuer heißen und unbequemen Arbeit!«
»Stimmt. Aber nicht im Vergleich zum Reinigen von Kaminen.« Lawless richtete das Wort an Swinburne. »Wie Sie offensichtlich aus eigener Erfahrung wissen, führen Kaminkehrer ein erbärmliches Leben. Diejenigen, die Arbeit als Schlotschrubber finden, zählen zu den wenigen Glücklichen.«
»Ich glaube kaum, dass eine solche Beförderung die Bezeichnung ›glücklich‹ rechtfertigt«, warf Burton ein. »Auch Schlotschrubber sind emotional und körperlich zernarbt von den Jahren der Armut und Grausamkeit. Der Käfer tut, was er kann, um seine Leute zu schützen, aber die gesellschaftliche Ordnung kann auch er nicht ändern. Um das Leben von Kaminkehrern zu verbessern, müssten wir eine grundlegende Umverteilung des Wohlstands ins Rollen bringen. Wir müssten die breite Masse aus dem klebrigen Matsch der Armut zerren, in den die Grundfesten des Empires versunken sind.«
Bei diesen Worten blickte er Cornewall Lewis an, der nur mit den Schultern zuckte und meinte: »Ich bin der Kriegsminister, Sir Richard. Meine Aufgabe besteht darin, das Empire zu beschützen, und nicht, seine Unzulänglichkeiten zu bereinigen.«
»Es zu beschützen oder es zusammen mit seinen Ungerechtigkeiten auszuweiten, Sir?«
Monckton Milnes räusperte sich. »Aber, aber, Richard«, sagte er leise. »Das ist kaum der passende Rahmen für so etwas.«
Burton biss sich auf die Lippe und nickte. »Verzeihung, Sir George – das war unpassend. Seit den Tichborne-Aufständen bin ich bei solchen Dingen ein wenig empfindlich.«
Cornewall Lewis öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, wurde jedoch von Swinburne unterbrochen, der plötzlich aufschrie: »Was? Was? Ist die Welt jetzt völlig verrückt geworden? Wie kann ich meine Gläser nur mit solcher Geschwindigkeit leeren? Ich schwöre, ich hab kaum einen Tropfen von dem Glas gekostet!«
Burton blickte stirnrunzelnd auf seinen Gehilfen hinunter. »Algy, bitte denk daran, dass du Apollo und nicht Dionysos bist«, mahnte er ihn. »Versuch, deinen Alkoholgenuss auf ein geregeltes Maß zu bringen.«
»Ein geregeltes Maß? Wovon zum Kuckuck redest du da, Richard? Niemand trinkt regelmäßiger als ich!«
Der Dichter betrachtete sein leeres Glas mit nachdenklicher Miene, dann gab er einem weiteren Kellner ein Zeichen. Hinter ihm hatten Bendyshe und Bradlaugh Mühe, ihr Kichern zu unterdrücken.
»Wie dem auch sei«, meldete Gooch sich zu Wort, »sobald die Schrubber eintreffen, ist die Besatzung vollzählig.« Er zog zwischen den Seiten des Notizbuchs ein Blatt Papier hervor. »Ich habe die vollständige Namensliste hier, Sir.«
Lawless ergriff den Zettel, las ihn und nickte billigend.
»Darf ich mal sehen, Käpt’n?«, fragte Burton.
»Gewiss.«
Der Agent des Königs nahm die Liste an sich und betrachtete sie eingehend. Er las:
Befehlshabender Offizier: Kapitän Nathaniel Lawless
Erster Offizier: William Samuel Henson
Zweiter Offizier: Wordsworth Pryce
Steuermann: Francis H. Wenham
Steuermannsmaat: Walter D’Aubigny
Navigator: Cedric Playfair
Meteorologe: Arthur Bingham
Erster Maschinist: Daniel Gooch
Maschinist: Harold Bloodmann
Maschinist: Charles Henderson
Maschinist: Cyril Goodenough
Maschinist: James Bolling
Erster Takler: Gordon Champion
Takler: Alexander Priestley
Takler: Winford Doe
Heizer: Walter Gerrard
Heizer: Peter Etheridge
Schürer: Thomas Beadle
Schürer: Gwyn Reece-Jones
Schlotschrubber: Ronald Welbergen William Cornish
Schlotschrubber: Michael Drake Tobias Threadneedle
Flugbegleiter/Arzt: Doktor Barnaby Quaint
Flugbegleiter-/Arzthelferin: Schwester Sadhvi Raghavendra
Quartiermeister: Frederick Butler
Quartiermeisterhelferin: Isabella Mayson
Schiffsjunge: Oscar Wilde
»Wird der junge Quips meiner Empfehlung gerecht?«, erkundigte sich Burton beim Kapitän.
»Quips?«
»Der junge Master Wilde.«
»Ah. Ein treffender Spitzname – er ist ein ausgesprochen geistreicher junger Mann. Wie alt ist er? Um die zwölf?«
»Er hat vor einigen Monaten seinen neunten Geburtstag gefeiert.«
»Heiliger Himmel! So jung? Und ein Waisenknabe?«
»Ja. Er hat seine gesamte Familie durch die Hungersnot in Irland verloren. Hat sich als blinder Passagier an Bord eines Schiffes nach Liverpool geschmuggelt, sich nach London durchgeschlagen und arbeitet dort seither als Zeitungsjunge.«
»Nun, ich muss schon sagen, dass mich sein Fleiß beeindruckt. Mit der Führung eines Rotorschiffes geht ein ganzer Berg an Bürokratie einher, und der Bursche hat sich im Nu über den Papierkram hergemacht. Er hält ihn besser geordnet und auf dem letzten Stand, als ich es je könnte. Und wann immer ich zu ihm sage: ›Tu dies oder das‹ – dann hat er es bereits erledigt. Würde mich keineswegs überraschen, wenn Oscar Wilde eines Tages Kapitän seines eigenen Schiffes wird.« Lawless fuhr sich mit den Fingern über den Bart. »Sir Richard, was ist mit diesen jungen Damen? Dass Frauen als Besatzungsmitglieder dienen, hat es zwar durchaus schon gegeben, aber sind Sie sicher, dass es klug ist, die Krankenschwester auf Ihre Expedition mitzunehmen? Afrika ist schon für einen Mann rau genug, finden Sie nicht? Und was ist mit dem vermaledeiten Kannibalismus? Wird man die Frau nicht als zu verlockenden Leckerbissen betrachten, um der Versuchung zu widerstehen?«
»Es ist in der Tat eine grausame Umgebung, wie ich aus eigener leidlicher Erfahrung weiß«, antwortete Burton. »Allerdings stammt Schwester Raghavendra aus Indien und besitzt eine natürliche Immunität gegen viele der Krankheiten, die einen Europäer in Afrika befallen. Darüber hinaus verfügt sie über außergewöhnliche medizinische Fähigkeiten. Ich wünschte, sie wäre bei meinen früheren Reisen bei mir gewesen. Seien Sie versichert, dass man sich den ganzen Weg bis nach Kazeh gut um sie kümmern wird, wo sie bei unseren arabischen Gastgebern bleibt, während wir anderen den Marsch nach Norden antreten werden, wo angeblich die Mondberge liegen.«
»Und die Kannibalen?«
Burtons Mundwinkel zuckten leicht. »Die wenigen Stämme, die Menschenfleisch verzehren, tun es auf rituelle Weise, um ihren Sieg in einer Schlacht zu feiern. Es ist kein so häufig auftretendes Phänomen, wie Bilderbücher einen glauben machen wollen. Für tägliche Mahlzeiten, die aus Armen oder Beinen bestehen, müsste man schon auf die andere Seite der Welt nach Koluwai reisen, eine kleine Insel südöstlich von Papua-Neuguinea. Dort hat man gerne europäische Besucher zum Abendessen – und ich meine nicht als Gäste. Anscheinend schmecken wir wie Schwein.«
»Puh! Mir sind Lammkoteletts entschieden lieber«, gab Lawless zurück.
Cornewall Lewis mischte sich ins Gespräch. »Sie lassen die Frau bei Arabern? Kann man denen wirklich eine Vertreterin des schönen Geschlechts anvertrauen?«
Ungeduldig schnalzte Burton mit der Zunge. »Sir, wenn Sie die von Ihrer eigenen Regierung verbreiteten Lügen glauben möchten, ist das Ihre Sache, aber ungeachtet der Verleumdungen, die im Parlament kursieren, habe ich die arabische Rasse nie anders als außerordentlich gütig, höflich und durch und durch ehrenhaft kennengelernt.«
»Ich wollte lediglich andeuten, dass es ein Risiko sein könnte, eine Frau aus dem Empire in unchristlichen Händen zu lassen, Sir Richard.«