Inhaltsverzeichnis

I
II
III
IV
V
José Maria Eça de Queiroz

Die Reliquie

Ein Schelmenroman


Übersetzer: Richard A. Bermann



e-artnow, 2015
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ISBN 978-80-268-4397-9

I

Inhaltsverzeichnis

Meines Vaters Pate war der Pater Rufino da Conceição, Lizentiat der Theologie, Autor eines frommen »Lebens der heiligen Philomena« und Prior des Klosters Amendoeirinha. Mein Vater hieß nach seiner Patronin, Unserer Lieben Frau von der Himmelfahrt, Rufino da Assumpção Raposo und lebte in Evora mit meiner Großmutter, Philomena Raposo, die man auch »die Fette« zu nennen pflegte; sie besaß eine Konditorei in der Rua do Lagar dos Dizimos. Der Papa hatte eine Anstellung bei der Post und schrieb zu seinem Vergnügen Artikel für den »Leuchtturm von Atemtejo«.

Im Jahre 1853 zu Johannis besuchte ein hervorragender Geistlicher, Dom Gaspar de Lorena, Bischof von Chorazin (in Galiläa), das Haus des Kanonikus Pitta in Evora, wohin der Papa oftmals des Abends kam, um Violine zu spielen. Aus Höflichkeit gegen die beiden Priester veröffentlichte der Papa im »Leuchtturm« eine Notiz, sorgsam aus dem »Handbuch für Prediger« geschöpft, in der er Evora zu dem Glück gratulierte, »in seinen Mauern den hervorragenden Prälaten Dom Gaspar zu beherbergen, dieses strahlende Licht der Kirche, diesen Hort der Heiligkeit«. Der Bischof von Chorazin schnitt sich dieses Stück aus dem »Leuchtturm« aus, um es zwischen die Blätter seines Breviers zu legen, und alles an Papa begann ihm zu gefallen: die Sauberkeit seiner Wäsche und sogar die weinerliche Anmut, mit der er, sich auf der Violine begleitend, die Romanze vom Grafen Ordonho sang. Aber als er erfuhr, daß dieser brünette sympathische Rufino da Assumpção das leibliche Patenkind seines alten Rufino da Conceição war, seines Studiengefährten im guten Seminar Sankt Josef und auf den theologischen Pfaden der Universität, wurde seine Vorliebe für den Papa ganz übertrieben. Bevor er von Evora schied, schenkte er ihm eine silberne Uhr; und durch seinen Einfluß wurde der Papa, nachdem er einige Monate als Aspirant im Zollhaus von Porto herumgefaulenzt hatte, skandalöserweise zum Direktor des Zollamtes von Vianna ernannt.

Die Apfelbäume bedeckten sich mit Blüten, als der Papa in den milden Ebenen der Provinz Entre-Minho-e-Lima ankam; und im folgenden Juli lernte er einen Edelmann aus Lissabon kennen, den Komtur G. Godinho, der mit seinen beiden Nichten den Sommer in einem Landhaus am Flußufer verbrachte; es wurde »Mosteiro«, Kloster, genannt und war einst der Sitz der Grafen von Lindoso gewesen. Die ältere dieser Damen, Dona Maria do Patrocinio, trug eine dunkle Brille und ritt, von einem Diener in Livree begleitet, täglich auf einem kleinen Esel zur Stadt, um in Sant' Anna die Messe zu hören. Die andere, Dona Rosa, rundlich und brünett, spielte die Harfe, konnte die Verse von »Melancholie und Liebe« auswendig und verbrachte Stunden am Ufer des Flusses unter den Erlen; ihr weißes Kleid streifte über den Rasen, und sie band Sträuße aus Wiesenblumen.

Der Papa begann im Mosteiro zu verkehren. Ein Zollwächter trug ihm die Geige hin; und wenn der Komtur und ein anderer Freund des Hauses, der Gerichtsadjunkt Dr. Margaride, sich in eine Partie Tricktrack vertieft hatten und Dona Maria oben den Rosenkranz betete – dann ließ auf der Veranda der Papa neben Dona Rosa im Schein des Mondes, der rund und weiß über dem Fluß stand, die Saiten durch die Stille seufzen und sang von der Trauer des Grafen Ordonho. Manchmal spielte er die Tricktrack-Partie mit; dann saß Dona Rosa zu Väterchens Füßen, mit einer Blume im Haar, und mein Papa fühlte, während er die Würfel schüttelte, die verheißungsvolle Liebe in ihren langbewimperten Augen.

Sie heirateten. Ich wurde am Nachmittag eines Karfreitags geboren; und die Mama starb am Morgen darauf, als eben die fröhlichen Halleluja-Raketen abgebrannt wurden. Sie ruht unter den Levkojen auf dem Friedhof von Vianna an einem Weg neben der Mauer, der feucht daliegt im Schatten der Trauerweiden. Sie pflegte an Frühlingsabenden gern dort spazierenzugehen, weiß gekleidet, mit ihrem langhaarigen Hündchen, das Traviata hieß.

Der Komtur und Dona Maria kamen nicht wieder ins Mosteiro. Ich wuchs heran, bekam die Masern; der Papa wurde dick; und seine Violine schlief in der Salonecke, in einem Überzug aus grünem Flanell. An einem sehr heißen Julitag zog mir meine Kinderfrau Gervasia einen schweren schwarzen Plüschanzug an; Papa legte einen Flor um seinen Strohhut: das war die Trauer um den Komtur G. Godinho, den der Papa öfter zwischen den Zähnen »den Schuft« nannte.

Dann, in einer Nacht des Karnevals, starb der Papa plötzlich am Schlagfluß, als er, im Kostüm eines Bären, die Steintreppe unseres Hauses hinabging, um sich auf den Ball der Damen Macedos zu begeben.

Ich war damals sieben Jahre alt; und ich erinnere mich, tags darauf in unserem Hof eine große dicke Dame in einer prächtigen Mantille aus schwarzer Seide gesehen zu haben; sie schluchzte vor den Flecken von Papas Blut, die noch niemand fortgewischt hatte und die auf den Stufen eingetrocknet waren. In ihren Tuchmantel gehüllt, betete am Tor eine wartende Alte.

Die Vorderfenster des Hauses waren geschlossen; in dem dunklen Korridor stand auf einer Bank ein Leuchter aus Messing und spendete ein rauchiges, flackerndes Kapellenlicht. Es stürmte und regnete draußen. Während die Marianna unter vielen Tränen das Herdfeuer anfachte, sah ich durch das Küchenfenster auf dem Platz draußen den Mann vorbeigehen, der den Sarg für meinen Papa trug. Gegenüber auf dem Berg schimmerte die kleine Kapelle Unserer Lieben Frau von der Agonie mit ihrem schwarzen Kreuz noch trauriger als sonst weiß und kahl zwischen den Pinien, gleichsam im Nebel verschwimmend; und in der Ferne, vor den Klippen, grollte und rollte ohne Unterlaß eine hohe winterliche See.

Am Abend, im Bügelzimmer, setzte meine Kinderfrau mich auf den Boden, nachdem sie mich in einen Mantel gehüllt hatte. Von Zeit zu Zeit knarrten im Korridor die Stiefel Joãos, des Zollwächters, der kam, um mit Lavendel zu räuchern. Die Köchin brachte mir ein Stück Zwieback. Ich schlief ein; und bald fand ich mich am Ufer eines klaren Flusses dahingehen, wo die Pappeln, die schon sehr alt waren, eine Seele zu haben schienen und seufzten, und an meiner Seite schritt ein nackter Mann mit zwei Wunden an den Füßen und zwei Wunden an den Händen, das war Unser Heiland Jesus Christus.

Tage vergingen; man weckte mich an einem Morgen, da das Fenster meines Zimmers wundersam in den Strahlen der Sonne funkelte, wie als Verheißung eines heiligen Ereignisses. Neben meinem Bett kitzelte ein lustiger dicker Mensch zärtlich meine Füße und nannte mich »kleiner Strolch«. Die Gervasia sagte mir, das wäre der Senhor Mathias, der mich sehr weit wegbringen werde, ins Haus der Tante Patrocinio. Und der Senhor Mathias, seine Prise zwischen den Fingern, sah entsetzt auf die zerrissenen Strümpfe, die mir Gervasia angezogen hatte. Sie hüllten mich in das graue Plaid des Papas, und der Zollwächter João trug mich auf seinem Rücken bis zum Haustor, wo eine Sänfte mit Vorhängen aus Wachstuch stand.

Wir begannen nun unsern Weg über endlose Straßen. Halb im Schlaf hörte ich die trägen Glöckchen der Tragtiere; und der Senhor Mathias mir gegenüber streichelte von Zeit zu Zeit mein Gesicht und sagte: »Jetzt reisen wir hin!« An einem Abend, in der Dämmerung, hielten wir plötzlich an einer einsamen Stelle an, mitten in einem Morast. Der Maultiertreiber fluchte wütend und schwang eine brennende Fackel. Ringsum rauschte schwarz und klagend ein Föhrenwald. Senhor Mathias hatte Angst, er zog die Uhr aus der Tasche und verbarg sie in seinem Stiefelschaft.

Eines Abends kamen wir durch eine Stadt, deren Straßenlaternen ein freundliches Licht warfen, spärlich und doch so hell, wie ich es noch nie gesehen hatte, in der Form einer geöffneten Tulpe. In dem Wirtshaus, wo wir abstiegen, kannte der Kellner, der Gonçalves hieß, den Senhor Mathias, und nachdem er uns unsere Beefsteaks gebracht hatte, blieb er vertraulich am Tische sitzen, seine Serviette über der Schulter, und erzählte Geschichten vom Herrn Baron und von der Engländerin des Herrn Barons. Als wir uns dann in unser Zimmer zurückzogen und Gonçalves uns leuchtete, stürzte auf dem Korridor plötzlich eine große weiße Dame seiderauschend und Moschusgeruch verbreitend an uns vorbei. Es war die Engländerin des Herrn Barons. In meinem Eisenbett, wachgehalten durch den Lärm der vorbeirollenden Wagen, dachte ich an sie, während ich Ave-Marias betete. Nie hatte ich einen so schönen Leib gestreift, von dem ein so durchdringender Wohlgeruch ausging: sie war voll von Gnade, der Herr war mit ihr, und sie ging vorbei, gesegnet unter den Weibern, mit einem Rauschen von heller Seide …

Dann reisten wir in einer großen Kutsche weiter, die das Wappen des Königs trug und im lärmenden schweren Trott von vier dicken Pferden eine schnurgerade glatte Straße entlangrollte. Der Senhor Mathias, mit Pantoffeln an den Füßen und seine Prise schnupfend, sagte mir hie und da den Namen einer Ortschaft, die in der Frische eines Tales um eine alte Kirche nistete. Am trüben Abend funkelten manchmal die Fenster eines stillen Gehöfts wie frisch geprägtes, schimmerndes Gold. Die Kutsche fuhr vorbei; das Haus schlief zwischen den Bäumen; durch das trübe Kutschenfenster sah ich den Stern Venus scheinen. Tief in der Nacht ertönte ein Horn, und über das Pflaster ratternd, kamen wir in eine schlafende Stadt. Vor dem Tor des Gasthofs bewegten sich lautlos Totenlaternen. Oben, in einem gemütlichen Saal, auf einem mit Tellern überfüllten Tisch, dampften die Terrinen; die fröstelnden Gäste gähnten, zogen die dicken Wollhandschuhe aus. Und ich, schlaftrunken und willenlos, aß meine Hühnersuppe an der Seite des Senhor Mathias, der immer irgendeinen Kellner kannte, sich nach dem Amtsarzt erkundigte oder wissen wollte, wie die Arbeiten des Kreisgerichts fortschritten.

Endlich, an einem Sonntagmorgen, es begann eben zu tröpfeln, kamen wir zu einem riesenhaften Gebäude auf einem schmutzigen Platz. Der Senhor Mathias sagte mir, das sei Lissabon; er wickelte mich in mein Plaid und setzte mich auf eine Bank im Hintergrund einer feuchten Halle, wo Gepäck und große eiserne Wagen herumstanden. Ein sanftes Läuten rief zur Messe; vor dem Tor zog eine Kompanie Soldaten vorbei, mit Waffen unter ihren Wachstuchumhängen. Ein Mann trug unsere Koffer; wir setzten uns in eine Droschke, und auf dem Schoß des Senhor Mathias schlief ich ein. Als er mich zu Boden setzte, hielten wir in einem düsteren Hof mit Mosaikpflaster und schwarz gestrichenen Bänken; und auf der Treppe zischelte ein dickes Dienstmädchen mit einem Mann in einem langen roten Mantel, der eine Almosenbüchse um den Hals zu hängen hatte.

Es war die Vicencia, das Mädchen der Tante Patrocinio. Der Senhor Mathias stieg im Gespräch mit ihr die Stufen empor und führte mich zärtlich an der Hand. In einem dunkel tapezierten Salon fanden wir eine sehr hohe, dürre Dame, schwarz gekleidet, mit einer goldenen Kette auf der Brust; düster umhüllte ihren Kopf ein violettes Tuch, und tief in seinem Schatten funkelten zwei schwarze beschlagene Brillengläser. Hinter ihr an der Wand blickte ein Bild Unserer Lieben Frau von den Schmerzen zu mir herüber, die Brust von Schwertern durchbohrt.

»Das ist Tantchen«, sagte der Senhor Mathias. »Du mußt Tantchen sehr gern haben … du mußt immer ›ja‹ zu Tantchen sagen …«

Langsam, widerwillig senkte sie das hagere grünliche Gesicht. Ich spürte einen vagen, steinkalten Kuß, und dann trat Tantchen entrüstet einen Schritt zurück: »Ich glaube gar, Vicencia … Wie entsetzlich! Ich sehe, daß man ihm die Haare mit Öl eingefettet hat!«

Furchtsam, schon mit einem Zucken im kleinen Gesicht, erhob ich meine Augen zu ihr und murmelte: »Ja, Tantchen.«

Unterdessen rühmte der Senhor Mathias meine Klugheit, mein braves Betragen in der Sänfte, die Reinlichkeit, mit der ich an den Wirtshaustafeln meine Suppe gegessen hatte.

»Schon gut«, schnarrte Tantchen trocken. »Es hätte noch gefehlt, daß er sich schlecht aufführte; er weiß doch, was ich für ihn tue … Gehen Sie, Vicencia, bringen Sie ihn hinein. Waschen Sie ihm die Pomade ab; sehen Sie zu, ob er das Zeichen des Kreuzes zu machen versteht …«

Der Senhor Mathias gab mir zwei schallende Küsse. Vicencia brachte mich in die Küche.

Am Abend zog man mir meinen Plüschanzug an, und Vicencia, ernsthaft, mit einer reinen Schürze, zog mich an der Hand in einen Salon, wo scharlachrote Vorhänge hingen und die Tischbeine vergoldet waren wie die Säulen eines Altars. Tantchen saß in der Mitte des Kanapees, in schwarze Seide gekleidet, mit einem Kopfputz aus schwarzer Seide und die Finger von Ringen funkelnd. Neben ihr, auf gleichfalls vergoldeten Stühlen, saßen plaudernd zwei Geistliche. Der eine, lustig und fett, mit krausem, schon weißem Haar, öffnete mir väterlich die Arme. Der andere, dunkelhaarig und melancholisch, schnarrte nur: »Guten Abend!« Und vom Tische her, wo es in einem großen Bilderalbum geblättert hatte, nickte verlegen ein Männchen mit glattrasiertem Gesicht und riesigen Vatermördern, wobei ihm die Lorgnette von der Nase glitt.

Jeder von ihnen gab mir zögernd einen Kuß. Der traurige Pater fragte mich nach meinem Namen, den ich »Tedrico« aussprach. Der andere, der liebenswürdige, zeigte seine blanken Zähne, riet mir, die Silben zu trennen und zu sagen: The-o-do-ri-co. Dann fanden sie, ich sähe um die Augen der Mama ähnlich. Tantchen seufzte; lobte Gott, daß ich nichts vom Raposo an mir hätte. Und der Mensch mit den Vatermördern schloß das Buch, schloß die Lorgnette und fragte schüchtern, ob ich Heimweh nach Vianna hätte. Ich murmelte verstört: »Ja, Tantchen.«

Unterdessen hatte der alte fette Pater mich auf seine Knie gesetzt; er empfahl mir, gottesfürchtig zu sein, mäuschenstill im Hause, immer gehorsam gegen Tantchen …

»Der Theodorico hat niemand auf der Welt als Tantchen … Er muß immer ›ja‹ zu Tantchen sagen.«

Ich wiederholte zaghaft: »Ja, Tantchen!«

Tantchen befahl mir sehr streng, den Finger aus dem Mund zu nehmen. Dann sagte sie mir, ich möge zur Vicencia in die Küche zurückgehen, immer den Korridor entlang …

»Und wenn Er am Oratorium vorbeikommt, wo das Licht und der grüne Vorhang ist, knie Er nieder, mache Er sein kleines Kreuz …«

Ich machte das Zeichen des Kreuzes nicht. Aber ich schlug den Vorhang zurück; und Tantchens Oratorium blendete mich wundersam. Der Raum war ganz mit roter Seide ausgeschlagen; an den Wänden hingen rührende Bilder in geblümten Rahmen, die Leiden des Herrn darstellend; die Spitzen der Altardecke berührten den teppichbelegten Boden; die Heiligen aus Elfenbein und aus Holz, mit glänzenden Heiligenscheinen, lebten in einem Wald von Veilchen und roten Kamelien. Das Licht der Wachskerzen ließ zwei edle Silberplatten funkeln, die an die Wand gelehnt ruhten wie Schilde der Heiligkeit; und hoch an einem Kreuz von Ebenholz unter einem Baldachin hing Unser Heiland Jesus Christus, ganz aus Gold, und schimmerte.

Ich schlich mich langsam bis zu dem Betstuhl aus grünem Samt, der vor dem Altar stand, ausgehöhlt von Tantchens frommen Knien. Auf den gekreuzigten Jesus richtete ich meine hübschen schwarzen Augen. Und ich dachte, daß im Himmel die Engel, die Heiligen, Unsere Liebe Frau und Unser Aller Vater so sein mußten, aus Gold, vielleicht mit Edelsteinen besetzt; ihr Glanz bildete das Tageslicht; und die Sterne waren die funkelnden Spitzen des kostbaren Metalls, durchscheinend durch die schwarzen Schleier, in welche die Nacht die seligen Lieblinge der Menschen einhüllte, damit sie Schlaf fanden.

Nach dem Tee brachte Vicencia mich in einem kleinen Alkoven neben ihrer Kammer zu Bett. Sie ließ mich im Hemd niederknien, faltete mir die Hände, richtete mein Gesicht himmelwärts und sprach mir die Vaterunser vor, die ich für das Seelenheil Tantchens zu beten hatte, für die ewige Ruhe der Mama und für die Seele eines Komturs, der sehr gut, sehr heilig und sehr reich gewesen sei und Godinho heiße.

Kaum war ich neun Jahre alt geworden, ließ mir Tantchen Hemden und einen schwarzen Anzug machen und gab mich als Internen ins Gymnasium der Senhores Isidoro, damals zu Santa Isabel.

Schon in den ersten Wochen schloß ich mich innig einem Jungen namens Chrispim an; er war größer als ich und Sohn der Firma Telles, Chrispim & Co., der eine Spinnerei in Pampulha gehörte. Chrispim ministrierte sonntags bei der Messe; und wenn er auf den Knien lag, erinnerte er mit seinen dichten blonden Haaren an einen holdseligen Engel. Manchmal erwischte er mich im Korridor und bedeckte mein weiches und weibisches Gesicht mit saugenden Küssen; und abends, im Studiersaal, wenn wir in den einschläfernden Wörterbüchern blätterten, schob er mir mit Bleistift geschriebene Briefchen zu, nannte mich darin seinen »Angebeteten« und versprach mir Stahlfederschachteln.

Der Freitag war der unangenehmste Tag, an dem wir uns die Füße waschen mußten. Und dreimal wöchentlich kam, die Zigarre im Mund, der schmierige Pater Soares, um uns in der Christenlehre zu prüfen und uns das Leben des Herrn zu erzählen.

»Also, sodann ergriffen sie ihn und schleppten ihn in das Haus des Kaiphas … Heda, du da an der Ecke der Bank, wer war Kaiphas? … Falsch! … Wieder falsch! … Nein, auch nicht … Zum Kuckuck, ihr Dummköpfe! … Kaiphas war ein Jude, und einer von der schlimmsten Sorte … Nun heißt es, daß es dort in einer sehr häßlichen Gegend Judäas einen Dornenbaum gibt, ein schauderhaftes Gewächs …«

Das Pausenglöckchen klingelte, mit einem gemeinsamen Ruck und Knall schlossen wir alle die Hefte.

Der trübselige, mit Kies bestreute Schulhof roch wegen der Nähe der Latrinen schlecht; ein Fest für die Größten war es, einen Zug aus der Zigarette zu tun, versteckt in einem Saal des Erdgeschosses, in dem des Sonntags der alte Tanzmeister Cavinetti, mit wohlgekräuseltem Haar und in ausgeschnittenen Schuhen, uns Mazurka beibrachte.

Jeden Monat einmal kam Vicencia in Mantel und Kopftuch mich nach der Messe abholen, damit ich einen Sonntag mit Tantchen verbrächte. Isidoro junior untersuchte, bevor ich ging, immer meine Ohren und Nägel; sehr oft seifte er mich wütend in seinem eigenen Waschbecken ab und nannte mich leise »Schmutzfink«. Dann brachte er mich bis zur Tür, liebkoste mich, behandelte mich als seinen »lieben jungen Freund« und entbot durch die Vicencia der Senhora Dona Patrocinio das Neves seinen Respekt.

Wir wohnen am Campo de Sant' Anna. Wenn wir den Chiado hinuntergingen, blieb ich stets vor einem Bildergeschäft stehen, vor dem schmachtenden Bild einer blonden Frau mit nackten Brüsten, die auf einem Tigerfell lag und in ihren Fingern, die feiner waren als die Chrispims, eine schwere Perlenschnur hielt. Der helle Schein dieser Nacktheit ließ mich an die Engländerin des Herrn Barons denken; und jener Duft, der mich im Korridor des Gasthofes so aufgeregt hatte, ich atmete ihn wieder ein, wie er sich fast unmerklich über die besonnte Straße verbreitete: aus den seidenen Kleidern der Damen, die würdig und geschnürt zur Messe in die Loretokirche gingen.

Daheim streckte Tantchen mir die Hand zum Kusse hin, und den ganzen Vormittag verbrachte ich damit, in ihrem Boudoir Bände des »Weltpanoramas« zu durchblättern; es gab dort ein gestreiftes Sofa, einen prunkvollen Ebenholzschrank und kolorierte Lithographien mit rührenden Szenen aus dem allerreinsten Leben ihres Lieblingsheiligen, des Patriarchen Sankt Josef. Tantchen, mit dem schweren violetten Tuch um den Kopf, saß am Fenster, hatte die Füße in eine Decke gewickelt und prüfte sorgsam ein großes Heft mit Rechnungen.

Um drei Uhr schloß sie das Heft; und tief im Schatten des Kopftuches begann sie mir Fragen aus der Christenlehre zu stellen. Während ich das Credo sprach, die Zehn Gebote aufsagte, atmete ich, gesenkten Blicks, den scharfen, süßlichen Schnupftabakgeruch ein, der von ihr ausging.

Am Sonntag kamen die beiden Geistlichen zum Essen. Der Kraushaarige war der Pater Casimiro, Tantchens Bevollmächtigter; er gab mir schallende Küsse, lud mich ein zu deklinieren: »Arbor, arboris, currus, curri«; erklärte mich liebevoll für einen talentierten Jungen. Und der andere Geistliche lobte das Gymnasium der Senhores Isidoro, die schönste Erziehungsanstalt, wie es nicht einmal in Belgien eine gab. Jedesmal schien er mir dunkler und trauriger. Sooft er an einem Spiegel vorbeiging, steckte er die Zunge heraus und blieb entsetzt und niedergeschmettert stehen, um sie noch länger zu ziehen und zu studieren.

Beim Essen freute sich Pater Casimiro, meinen Appetit zu sehen.

»Noch einen Bissen Kalbsragout? Knaben sieht man gern lustig und gut genährt! …«

Und Pater Pinheiro betastete seinen Magen: »Glückliche Jugend! Glückliche Jugend, in der man noch eine zweite Portion Kalbfleisch essen kann!«

Er und Tantchen sprachen dann von ihren Krankheiten. Pater Casimiro, hübsch gerötet, die Serviette am Hals, mit vollem Teller, vollem Glas, lächelte selig.

Wenn auf dem Platz zwischen den Bäumen die Gaslaternen zu leuchten begannen, nahm die Vicencia ihren alten karierten Schal um und brachte mich ins Gymnasium zurück. Um diese Stunde erschien an den Sonntagen der kleine glattrasierte Mann mit den Vatermördern, Senhor Jose Justino, Sekretär der Bruderschaft Sankt Josef und Tantchens Notar, vom Grundbuchamt zu São Paulo. Im Hof schon zog er den Paletot aus, streichelte mein Gesicht und fragte die Vicencia nach der Gesundheit der Senhora Dona Patrocinio. Und ich atmete glücklich auf, denn mich stimmte dieses große Haus mit seinem roten Damast, seinen unzähligen Heiligen und seinem Kapellengeruch traurig.

Auf dem Weg erzählte die Vicencia mir von Tantchen, die sie vor sechs Jahren aus dem Waisenhaus geholt hatte. So erfuhr ich, daß Tantchen leberleidend war; sie hatte immer viel Goldgeld in einer grünseidenen Börse; und der Komtur Godinho, ihr Onkel und der meiner Mama, hatte ihr zweimalhunderttausend Milreis hinterlassen in Grundbesitz und Papieren, das Landgut Mosteiro unterhalb Vianna und Silberzeug und feines Porzellan … So reich war Tantchen! Ich sollte brav sein, Tantchen immer zufriedenstellen!

Am Tor des Gymnasiums sagte die Vicencia: »Adieu, Liebling!« und gab mir einen Kuß. Sehr oft in der Nacht umarmte ich mein Kissen, dachte an die Vicencia und an ihre Arme, die ich ärmellos, fett und milchweiß vor mir sah. Und so entstand züchtig in meinem Herzen eine Leidenschaft für die Vicencia.

Eines Tages nannte mich ein Junge, der schon einen Milchbart hatte, im Speisesaal »Zierpuppe«. Ich forderte ihn auf, mit mir auf den Abort zu gehen, und schlug ihm mit einem bestialischen Faustschlag sein ganzes Gesicht blutig. Man fürchtete mich. Ich rauchte Zigarren. Chrispim verließ das Gymnasium; ich hatte den Ehrgeiz, fechten zu lernen. Und meine große Liebe zur Vicencia verschwand eines Tages, unmerklich, wie man auf der Straße eine Blume verliert.

Und so verflossen die Jahre. An den Weihnachtsabenden entzündete man im Speisesaal ein Kohlenbecken; ich zog meinen flanellgefütterten Wintermantel an, den ein Astrachankragen zierte; dann kehrten die Schwalben zu unseren Dachrinnen zurück, und in Tantchens Oratorium dufteten an Stelle der Kamelien die ersten Sträuße roter Nelken zu den goldenen Füßen Christi; dann kam die Zeit der Seebäder, und der Pater Casimiro schickte Tantchen einen Korb Trauben von seinem Landhaus in Torres … Ich begann Rhetorik zu studieren.

Eines Tages sagte mir unser guter Geschäftsführer, ich würde nicht mehr zu den Isidoros zurückkehren, sondern meine Vorstudien in Coimbra beenden, im Hause des Dr. Roxo, Dozenten der Theologie. Wäsche wurde für mich genäht. Tantchen gab mir auf einem Papierblatt das Gebet, das ich täglich an Sankt Ludwig Gonzaga richten sollte, den Patron der studierenden Jugend, damit er meinem Körper die Frische der Keuschheit erhielte und meiner Seele die Furcht des Herrn. Der Pater Casimiro brachte mich in die liebliche Universitätsstadt, wo Minerva schläft.

Ich haßte Dr. Roxo. In seinem Hause führte ich ein hartes, klösterliches Leben; und es bereitete mir eine unsägliche Freude, als in meinem ersten juridischen Studienjahr der unangenehme Geistliche jämmerlich an einem Geschwür starb. Jetzt übersiedelte ich in die lustige Studentenherberge Pimentas – und lernte nun, ohne Maß, alle Freiheit kennen und die starken Wonnen des Lebens. Nie mehr leierte ich das zerfetzte Gebet an Sankt Ludwig Gonzaga herunter, nie mehr beugte ich mein Männerknie vor irgendeinem geweihten Bild mit einem Heiligenschein im Nacken; ich besoff mich lärmend bei Camellas; bewies meine Kraft, indem ich einen Oberkellner vom Café Trony blutig prügelte; sättigte meine fleischlichen Gelüste mit saftiger Liebe am Grasplatz; machte Mondscheinspaziergänge und sang aus voller Kehle Fados; trank schwarzen Kaffee; und da der Bart mir dicht und schwarz wuchs, nahm ich mit Stolz den Spitznamen »Schwarzer Raposo« an. Alle vierzehn Tage indessen schrieb ich in meiner guten Schrift Tantchen einen demütigen und frommen Brief, schilderte ihr darin die Strenge meiner Studien und die Zucht meiner Lebensgewohnheiten, die Fülle der Gebete und die harten Fasten, die Predigten, von denen ich mich nährte, die süßen Ergießungen in das Herz Jesu, des Abends, in der Kathedrale, und die Andachtsübungen, mit denen ich an stillen Feiertagen meine Seele in der Heiligenkreuzkirche tröstete …

Die Sommermonate in Lissabon waren dann trübselig. Ich konnte nicht einmal zum Haarschneiden ausgehen, ohne von Tantchen knechtisch die Erlaubnis zu erbitten. Ich wagte im Café nicht zu rauchen. Ich mußte keusch am frühen Abend daheim sein; und vor dem Schlafengehen mußte ich mit der Alten im Oratorium einen langen Rosenkranz beten. Ich verurteilte mich geradezu zu dieser abscheulichen Frömmelei!

»Pflegst du dort an der Universität deinen Rosenkranz zu beten?« hatte Tantchen mich mit Härte gefragt.

Und ich, mit einem verworfenen Lächeln: »Aber, aber! Ich kann doch nicht einmal einschlafen, ohne meinen lieben Rosenkranz gebetet zu haben! …«

An den Sonntagen ging die Geselligkeit weiter. Der Pater Pinheiro, der immer trauriger wurde, klagte jetzt über sein Herz und auch ein wenig über die Blase. Und es gab einen neuen Tischgenossen, den alten Freund des Komturs Godinho, den treuen Besucher der Familie das Neves: Dr. Margaride, der erst Adjunkt in Vianna gewesen war, dann Richter in Mangualde. Durch den Tod seines Bruders Abel, des Kammersekretärs des Patriarchen, reich geworden, setzte der Doktor sich zur Ruhe, da er der Akten müde war, lebte in Frieden und las die Zeitungen in seinem Haus auf der Praça da Figueira. Da er den Papa gekannt und unzählige Male ins Mosteiro begleitet hatte, behandelte er mich jetzt mit Autorität und per du.

Er war ein beleibter, ernsthafter Mann, schon kahl, mit einem fahlen Gesicht, aus dem die zusammengewachsenen dichten und kohlschwarzen Augenbrauen hervorstachen. Selten kam er in Tantchens Salon, ohne schon von der Tür aus eine Unglücksnachricht hereinzurufen: »Was, Sie wissen noch nichts? Ein schrecklicher Brand in der Unterstadt!« Es war höchstens ein Rauchfeuer in einem Kamin. Aber der gute Margaride hatte als junger Mensch in einem dunklen Anfall von Phantasie zwei Tragödien gedichtet, und daher war ihm die krankhafte Lust geblieben, zu übertreiben und Eindruck zu machen. »Niemand hat eine solche Freude am Grandiosen wie ich«, sagte er. Und während er Tantchen und die Priester erschreckte, nahm er jedesmal gravitätisch eine Prise.

Mir gefiel der Dr. Margaride. Ein Freund des Papas in Vianna, hatte er ihn oftmals die Romanze vom Grafen Ordonho zur Geige singen hören. – Lange Abende war er poetisch mit ihm im Mosteiro am Wasser gelustwandelt, während die Mama im Schatten der Erlen Wiesenblumen zum Strauße band. Und er hatte mir, kaum war ich an jenem Spätnachmittag am Karsamstag geboren, ein Taufgeschenk geschickt. Außerdem rühmte er, selbst in meiner Gegenwart, freimütig vor Tantchen meine Intelligenz und meine bedachtsame Art. »Unser Theodorico, Dona Patrocinio, ist ein Junge, der Ihnen Freude machen muß. Sie haben da, meine verehrteste Freundin, einen wahren Telemach!«

Bescheiden errötete ich.

Als ich einmal an einem Augusttag mit ihm auf dem Rocio spazierenging, lernte ich einen unserer entfernten Verwandten kennen, einen Vetter des Komturs G. Godinho. Dr. Margaride stellte mir ihn vor, sagte so leichthin: »Dein Vetter Xavier, ein sehr begabter Junge.« Es war ein unsauber gekleideter Mensch mit blondem Backenbart; er war leichtsinnig gewesen und hatte mit Schwung dreißigtausend Milreis durchgebracht, die Erbschaft von seinem Vater, dem Besitzer eines Seilerwarengeschäftes in Alcantara. Einige Monate, bevor er an einer Lungenentzündung starb, hatte der Komtur G. Godinho ihn aus Barmherzigkeit in der Justizkanzlei angestellt, mit zwanzig Milreis monatlich. Und nun lebte der Xavier mit einer Spanierin namens Carmen und ihren drei Kindern in einem Häuschen der Rua da Fé.

Eines Sonntags ging ich hin. Es gab fast keine Möbel; das Waschbecken, das einzige, war in den zerrissenen Strohsitz eines Sessels versenkt. Xavier hatte den ganzen Vormittag Blut gespuckt. Und die ungekämmte Carmen, in Pantoffeln, einen Barchentschlafrock mit Weinflecken nachschleppend, wiegte verdrossen ein in einen Lappen gewickeltes Kind, dessen Köpfchen von wunden Stellen bedeckt war.

Sofort sprach Xavier, der mich gleich duzte, von der Tante Patrocinio … Sie war seine Hoffnung in diesem finsteren Elend, die Tante Patrocinio! … Als eine Dienerin Christi, als Besitzerin so vieler Güter konnte sie doch einen Verwandten, einen Godinho nicht in dieser Hütte krepieren lassen, ohne Leintücher, ohne Tabak, umgeben von den zerlumpten Kindern, die nach Brot jammerten. Was konnte es der Tante Patrocinio ausmachen, ihm, wie es schon der Staat getan, ein kleines Monatsgeld von zwanzig Milreis auszusetzen?

»Du solltest mit ihr sprechen, Theodorico, du! … Du solltest ihr sagen: Schau dir diese Kinder an, nicht einmal Strümpfe haben sie … Komm her, Rodrigo, sag es hier deinem Onkel Theodorico! Was hast du heute zum Frühstück gegessen? … Ein Stück trockenes Brot! Und ohne Butter, ohne alles! Das ist unser Leben, Theodorico. Siehst du, so was ist bitter, mein Junge!«

Gerührt versprach ich, mit Tantchen zu sprechen.

Mit Tantchen sprechen! Ich würde nicht einmal wagen, Tantchen zu erzählen, daß ich Xavier kannte und daß ich in dieser unreinen Hütte gewesen sei, wo es eine Spanierin gab, abgemagert in der Sünde.

Damit sie nicht meine unedle Angst vor Tantchen bemerkten, ließ ich mich nie wieder in der Rua da Fé blicken.

Mitte September, am Tage Mariä Geburt, erfuhr ich durch den Dr. Barroso, daß der Vetter Xavier, der schon fast im Sterben liege, mich unter vier Augen zu sprechen wünsche.

Ungern ging ich nachmittags hin. Auf der Stiege roch es nach Fieber. In der Küche unterhielt sich Carmen unter lautem Schluchzen mit einer anderen Spanierin, einem mageren kleinen Wesen in einer schwarzen Mantille und einer tristen Bluse aus kirschfarbigem Satin. Die Kleinen saßen auf dem Fußboden und kratzten einen Suppentopf aus. Und im Alkoven hustete schwer und stoßweise Xavier, in eine Decke eingehüllt. Neben ihm stand das Waschbecken, voll von blutigem Auswurf.

»Du, mein Junge?«

»Aber Xavier, was bedeutet denn das?«

Er sprach mit einem obszönen Ausdruck aus, daß er verloren sei. Und auf dem Rücken liegend, mit einem fiebrigen Glanz in den Augen, erzählte er dann von Tantchen. Er hatte ihr einen schönen, herzbewegenden Brief geschrieben; die Bestie hatte nicht geantwortet. Aber nun wollte er im »Jornal de Noticias« ein Inserat veröffentlichen, eine Bitte um ein Almosen, gezeichnet: »Xavier Godinho, Vetter des reichen Komturs G. Godinho.« Er wollte doch sehen, ob Dona Patrocinio das Neves einen Verwandten, einen Godinho, derartig öffentlich auf einem Zeitungsblatt betteln lassen würde.

»Aber du mußt mir unbedingt helfen, mein Junge, du mußt sie erweichen! Wenn sie das Inserat liest, erzähle ihr von unserem Elend! Erwecke ihr Ehrgefühl! Sag ihr, daß es eine Schande ist, wenn ein Verwandter, ein Godinho, verlassen stirbt. Sag ihr, daß man es schon herumerzählt! Schau, wenn ich heute eine Suppe essen konnte, verdanke ich es nur dem Mädchen dort, der Lolita, die im Bordell der Benta Bexigosa arbeitet; sie hat uns vier Kronentaler gebracht … Siehst du, wohin ich gelangt bin?«

Ich erhob mich bewegt. »Rechne auf mich, Xavier.«

»Höre, wenn du fünf Testonen entbehren könntest, gib sie der Carmen.«

Ich gab ihr das Geld und ging, nachdem ich feierlichst geschworen hatte, im Namen der Godinhos und in Jesu Namen, ich würde mit Tantchen sprechen.

Am anderen Tag nach dem Frühstück entfaltete Tantchen gemächlich, den Zahnstocher im Munde, das »Jornal de Noticias«. Und sicher entdeckte sie sogleich das Inserat Xaviers, denn sie starrte lange die Ecke der dritten Seite an, wo es prangte, betrüblich, beschämend, erschreckend.

Unterdessen erschienen mir, aus dem nackten Grunde der Hütte auf mich gerichtet, die Augen Xaviers, das gelbe Gesicht Carmens, von Tränen gebadet, die armen Händchen der Kleinen, nach einer Brotkruste ausgestreckt … Und alle diese Unglücklichen bangten um die Worte, die ich zu Tantchen sagen würde, rührende Worte, die sie retten und ihnen in diesem Sommer des Elends das erste Stück Fleisch geben sollten. Ich öffnete die Lippen. Aber schon krächzte Tantchen, in den Sessel zurückgelehnt, mit einem grausamen Lächeln: »Jetzt hat er es! … Das geschieht, wenn einer Gott nicht fürchtet und mit dem Trinken anfängt … Hätte er nicht alles mit seinen Verhältnissen verpraßt! … Denn für mich ist ein Mensch erledigt, der sich durch die Unterröcke ins Verderben bringt, der den Unterröcken nachrennt … Er hat Gottes Verzeihung nicht und meine nicht! Mag er leiden, denn auch Unser Herr Jesus Christus hat gelitten!«

Ich senkte das Haupt und murmelte: »Ja, wir leiden alle noch nicht genug … Tantchen hat ganz recht … Hätte er nicht mit den Unterröcken angefangen.«

Sie stand auf, sprach ein Dankgebet zum Herrn. Ich ging auf mein Zimmer, schloß mich ein; ich zitterte, ich hörte noch immer die eisigen drohenden Worte Tantchens, für die Männer »erledigt« waren, die sich »mit Unterröcken« einließen. Auch ich hatte mich mit Unterröcken eingelassen, in Coimbra, am Grasplatz! Dort in meinem Koffer hatte ich Dokumente meiner Sünde, die Photographie der Theresa dos Quinze, ein seidenes Band und einen ihrer Briefe, den liebsten, in dem sie mich die einzige Neigung ihrer Seele nannte und von mir dreieinhalb Milreis verlangte! Ich hatte diese Reliquien ins Futter einer Tuchweste genäht, eingedenk der fortwährenden Nachforschungen Tantchens in meinen intimsten Besitztümern. Aber da waren sie, in dem Koffer, dessen Schlüssel sie bewahrte, im Futter der Weste, erzeugten dort eine Pappendeckelsteifheit, die ihre mißtrauischen Finger jeden Tag betasten konnten … Und dann war ich für Tantchen erledigt!

Leise öffnete ich den Koffer, trennte das Futter auf, zog Theresas entzückenden Brief hervor, das Band, das den Geruch ihrer Haut bewahrt hatte, und ihre Photographie in der Mantilla … Im Kamin der Veranda verbrannte ich ohne Gnade alles, Liebeswürdigkeiten und Gesichtszüge, und streute verzweifelt die Asche meiner Zärtlichkeit in den Lichthof.

In dieser Woche wagte ich nicht, in die Rua da Fé zurückzukehren. Dann, an einem regnerischen Tag, ging ich in der Dämmerung hin, geduckt unter meinem Regenschirm. Ein Nachbar sah mich von fern die schwarzen, toten Fenster der Hütte anstarren und sagte mir, daß der Senhor Godinho, der Ärmste, auf einer Bahre ins Hospital gebracht worden sei.

Betrübt stieg ich die Stufen zur Promenade hinab. In der feuchten Dämmerung streifte ich einen anderen Regenschirm, und auf einmal hörte ich jemand laut meinen Namen aus den Tagen von Coimbra rufen: »Schwarzer Raposo!«

Es war Silverio, der den Spitznamen »der Rettich« trug, mein Mitschüler und Gefährte im Haus Pimentas. Er verbrachte diesen Monat in Alemtejo, bei seinem Onkel, dem berühmten Millionär Baron Alconchel, und kam manchmal herüber, um eine gewisse Ernestina zu sehen, ein blondes Mädelchen, das im Vorort Salitre wohnte, in einem rosenfarbenen Haus mit Rosenstöcken an den Fenstern.

»Möchtest du nicht mitkommen, Schwarzer Raposo? Es ist dort noch ein anderes hübsches Mädel, die Adelia … Du kennst die Adelia nicht? Dann, zum Teufel, komm dir die Adelia ansehen … Das ist dir ein Weib!«

Es war ein Sonntag, Tantchens Gesellschaftsabend, ich mußte hübsch fromm um acht Uhr zu Hause sein. Ich zupfte unentschlossen an meinem Bart. Der Rettich sprach von Adelias weißen Armen; und ich begann neben dem Rettich einherzugehen.

Mit einer Tüte voll Zuckerwerk und einer Flasche Madeira versehen, trafen wir Ernestina an, wie sie an ihre tuchenen Halbschuhe ein Gummiband annähte. Und Adelia, in einer Nachtjacke und im weißen Unterrock – ihre Pantoffeln waren neben ihr auf den Teppich gefallen –, lag lang auf dem Sofa, rauchte lässig eine Zigarette. Ich setzte mich neben sie, bewegt und langweilig, mit meinem Regenschirm zwischen den Knien.

Erst als Silverio und Ernestina Arm in Arm in die Küche gelaufen waren, um Gläser für den Madeira zu suchen, wagte ich errötend Adelia zu fragen: »Und woher sind Sie, kleines Fräulein?«

Sie war aus Lamego. Und ich, von neuem eingeschüchtert, konnte nur noch stottern, wie traurig dieses Regenwetter sei. Sie bat mich um eine andere Zigarette, indem sie mich höflich »der Herr« anredete. – Ich wußte diese Manieren zu schätzen. Die weiten Ärmel ihrer Nachtjacke hatten sich verschoben und entblößten so weiße und weiche Arme, daß zwischen ihnen noch der Tod eine Wonne sein mußte.

Ich war es, der ihr den Teller anbot, auf den Ernestina das Zuckerwerk gelegt hatte. Sie wollte meinen Namen wissen. Sie hatte einen Vetter, der gleichfalls Theodorico hieß; und das war wie ein feiner, starker Faden, der sich von ihrem Herzen um das meine schlang.

»Warum stellt der Herr seinen Regenschirm nicht in die Ecke?« sagte sie lachend zu mir.

Der pikante Schimmer ihrer kleinen weißen Zähne ließ in mir die Blüte eines galanten Kompliments aufknospen: »Damit ich mich auch nicht den kleinsten Augenblick von diesem Platz zu den Füßen des kleinen Fräuleins entfernen muß.«

Sie kitzelte mich leicht am Nacken. Ich trank, vor Freude gereift, den Rest des Madeiras, den sie im Spitzglas gelassen hatte.

Ernestina, sehr poetisch aufgelegt und einen Gassenhauer trällernd, ließ sich auf den Knien des Rettichs nieder. Nun drehte sich Adelia schmachtend zu mir hin, hielt mir ihr Gesicht entgegen – und meine Lippen begegneten den ihren in dem ernstesten, längsten, gefühlvollsten Kuß, der bis dahin mein Wesen in Aufruhr versetzt hatte.

In diesem süßen Augenblick begann eine abscheuliche Uhr mit einer Mondscheibe als Zifferblatt, die mich auf der Marmorplatte eines Mahagonitisches zwischen zwei Vasen ohne Blumen zu belauern schien, ironisch und phlegmatisch zehn Uhr zu schlagen.

Herrje! Das war die Teestunde in Tantchens Haus!

Mit welchem Schrecken im Herzen rannte ich, ohne auch nur den Regenschirm zu öffnen, durch die dunklen und endlosen Gäßchen, die zum Campo de Sant' Anna führen! Zu Hause zog ich nicht einmal die kotigen Schuhe aus. Ich schoß auf den Salon zu; und dort im Hintergrund, auf dem Damastsofa, sah ich die Brille meiner Tante, schwärzer denn je, zornfunkelnd und Blitze sprühend auf mich warten. Ich stammelte noch: »Tantchen! …«

Aber schon schrie sie, grün vor Zorn, mit geballten Fäusten: »So eine Wirtschaft in meinem Hause dulde ich nicht! Wer hier leben will, hat zu den Stunden da zu sein, die ich festgesetzt habe. Ausschweifungen und Schweinereien nicht, solange ich lebe! Und wem es nicht paßt, auf die Straße!«

Unter dem schrilltönenden Entrüstungssturm der Senhora Dona Patrocinio hatten Pater Pinheiro und der Notar Justino verlegen das Haupt gesenkt. Um meine Schuld gewissenhaft zu ermessen, hatte Dr. Margaride seine schwere goldene Uhr gezogen. Und nur der gute Casimiro vermittelte, als Priester und Bevollmächtigter, geschmeidig und überzeugend: »Dona Patrocinio hat recht, hat tausendmal recht, wenn sie Ordnung in ihrem Hause will … Aber vielleicht ist unser Theodorico ein bißchen länger im Café geblieben, hat von seinen Studien gesprochen, von den Lehrbüchern …«

Ich rief bitter: »Keineswegs, Pater Casimiro! Ich war nicht einmal im Café. Wissen Sie, wo ich gewesen bin? Ich war im Kloster der Karmeliterinnen. Dort bin ich einem meiner Mitschüler begegnet, der seine Schwester abholen wollte. Da aber heute Feiertag ist, war die Schwester nicht da, sie hatte den Tag mit ihrer Tante verbracht, der Frau eines Komturs. Wir warteten auf sie, gingen im Hof auf und ab … Die Schwester soll heiraten, er fängt an, mir von dem Bräutigam zu erzählen, und von der Aussteuer, und wie verliebt er ist … Ich sterbe vor Verlangen, mich aus dem Staube zu machen, muß aber höflich gegen den Burschen sein, er ist ein Neffe des Barons Alconchel … Und er, tritschtratsch, spricht weiter von der Schwester und dem Liebhaber und seinen Briefen …

Die Tante Patrocinio heulte vor Wut.

»Siehst du, was für eine Konversation! Was für eine Schweinerei von einer Konversation! Was für eine unpassende Konversation für den Hof eines Klosters! Schweig, verlorene Seele, du solltest dich jetzt noch schämen! … Und versteh Er mich wohl: wenn Er mir ein andermal zu solchen Stunden kommt, kommt Er mir nicht ins Haus herein. Auf der Gasse bleibt Er, wie ein Hund …«

Da streckte Dr. Margaride eine feierliche und zum Frieden mahnende Hand aus: »Alles hat sich aufgeklärt! Unser Theodorico war unvorsichtig, aber der Ort, an dem er war, ist achtungswert … Ich kenne den Baron Alconchel. Er ist ein sehr einsichtsvoller Kavalier und einer der größten Grundbesitzer in Alemtejo, vielleicht einer der reichsten Grundbesitzer Portugals … Der reichste, möchte ich sagen … Sogar im Ausland wird es kaum einen Großgrundbesitz geben, der größer ist. Kein Vergleich damit! Allein die Schweine! Allein der Kork! Dutzende von Millionen! Millionen!«

Er war aufgestanden; seine aufgeblasene Baßstimme rollte über ganze goldene Berge. Und der gute Casimiro flüsterte sanft an meiner Seite: »Trinken Sie Ihren guten Tee, Theodorico, trinken Sie nur den Tee. Und glauben Sie, die Tante hat keinen Wunsch als nur Ihr Bestes …«

Ich ergriff mit bebender Hand die Teetasse; während ich halb ohnmächtig den Zucker umrührte, dachte ich daran, für immer das Haus dieser schrecklichen Alten zu verlassen, die mich vor Justiz und Klerus beschimpfte, ohne Rücksicht auf den Bart, der mir zu sprießen begann, stark, respektabel, schwarz.

An den Sonntagen wurde der Tee in dem Silberservice des Komturs Godinho serviert. Ich sah es vor mir, massiv und blank; die große Kanne, die in einen Entenschnabel auslief; die Zuckerdose, deren Henkel die Form einer zornigen Natter hatte; und das hübsche Salzfaß in Gestalt eines Maulesels, der unter seinen Säcken einhertrottet. Und das alles gehörte Tantchen. Wie reich war Tantchen! Man mußte gut sein, Tantchen immer zufriedenstellen! …

Als sie nachher ins Oratorium eintrat, um den Rosenkranz abzubeten, lag ich daher schon ächzend auf den Knien, schlug mir auf die Brust und bat den goldenen Christus, er möge mir verzeihen, daß ich Tantchen gekränkt hatte.

Eines Tages kam ich nach Lissabon mit meinem Doktordiplom zurück, das in einer Blechrolle steckte. Tantchen sah es ehrfurchtsvoll an, entdeckte einen kirchlichen Geschmack in den lateinischen Zeilen, den paramentartigen roten Bändern, dem in seiner Kapsel ruhenden Siegel.

»Gut«, sagte sie, »nun bist du Doktor, Gott, unserem Herrn, verdankst du es, sieh zu, daß du ihm treu bleibst …«

Mit der Rolle in der Hand lief ich gleich ins Oratorium, um Christus für meinen glorreichen Doktortitel zu danken.

Am folgenden Morgen stand ich vor dem Spiegel, um mir den jetzt schon dichten schwarzen Bart zu kämmen, da trat der Pater Casimiro in mein Zimmer. Er rieb sich mit einem freundlichen Lachen die Hände.

»Eine gute Neuigkeit für Sie, Herr Dr. Theodorico!«

Und nachdem er mich nach seiner liebreichen Gewohnheit mit seiner weichen Patschhand getätschelt hatte, erklärte der fromme Bevollmächtigte mir, daß Tantchen, von meiner Aufführung befriedigt, mir ein Pferd zu kaufen wünsche, damit ich sittsame Spazierritte machen und in Lissabon Luft schöpfen könne.

»Ein Pferd! Oh, Pater Casimiro!«

Ein Pferd. Und überdies, da sie nicht wolle, daß ihr Neffe, der ja bereits ein bärtiger Gelehrter sei, sich geniert fühlen müsse, wenn ihm hier und da ein wenig Kleingeld für den Opferstock Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz fehlen sollte, setzte Tantchen mir ein monatliches Taschengeld von drei Moedas aus.

Ich umarmte den Pater Casimiro wärmstens. Und ich wollte wissen, ob es Tantchens liebenswürdige Absicht sei, daß ich keine andere Beschäftigung haben sollte, als durch Lissabon zu reiten und Kleingeld in den Opferstock Unserer Lieben Frau zu werfen.

»Schauen Sie, Theodorico, es kommt mir vor, als ob Tantchen nicht wünscht, Sie möchten einen anderen Beruf haben als den, Gott zu fürchten … Ich kann Ihnen sagen, lieber Freund, Sie werden es gut und üppig haben … Und jetzt gehen Sie, gehen Sie hinein, sich bedanken; und sagen Sie ihr etwas Hübsches.«

In dem Boudoir, an dessen Wänden die frommen Taten des Patriarchen Sankt Josef prangten, saß Tantchen in einer Ecke des gestreiften Sofas, ihren Tongkingschal um die Schultern, und strickte Strümpfe.

»Tantchen«, sagte ich demütig, »ich komme, mich zu bedanken …«

»Es ist gut, geh mit Gott.«

Ich küßte ihr mit Inbrunst die Fransen ihres Schals. Tantchen gefiel das. Ich ging mit Gott.

So begann nun meine üppige, bequeme Existenz als Neffe der Senhora Dona Patrocinio das Neves. Punkt acht Uhr ging ich, schwarz gekleidet, mit Tantchen in die Kirche Sant' Anna, die Messe des Paters Pinheiro zu hören. Wenn das Frühstück beendet war und ich Tantchen um Erlaubnis gebeten und im Oratorium drei Gloria Patri gegen die Versuchungen gebetet hatte, stieg ich, blank gestiefelt, zu Pferde. Fast immer gab Tantchen mir irgendeinen heiligen Auftrag mit: bei Sankt Domingos vorbeizuschauen und das Gebet für die drei heiligen Märtyrer in Japan zu sagen; in die alte Empfängniskirche einzutreten und dem Heiligen Herzen Jesu zu beichten …

Und ich fürchtete so sehr, ihr zu mißfallen, daß ich nie unterließ, diese frommen Grüße zu bestellen, die sie ins Haus des Herrn sandte.

Aber es war der unangenehme Augenblick des Tages. Manchmal, wenn ich verstohlen aus dem Kirchentor treten wollte, stieß ich mit irgendeinem republikanischen Kollegen zusammen, mit einem von denen, in deren Gesellschaft ich in Coimbra an Prozessionstagen Witze über den »Heiland vom grünen Rohr« gerissen hatte.

»Aber, Schwarzer Raposo! Jetzt auch du?«

Ärgerlich wehrte ich ab: »Aber, aber! Das fehlte mir noch! Ich bin nur aus scheinheiligen Gründen da … Ich bin wegen eines Mädels eingetreten … Adieu, mein Pferd wartet.«

Ich stieg aufs Pferd, schwarz behandschuht, die Schenkel fest an den Sattel gepreßt, eine Kamelienknospe an der Brust, und tänzelte müßig und luxuriös bis zum Largo do Loreto. Ein andermal ließ ich das Pferd am Triumphbogen und genoß einen angenehmen Vormittag am Billard im Café Montanha. Vor dem Mittagessen richtete ich, in Pantoffeln, im Oratorium mit Tantchen ein Stoßgebet an Sankt Josef, Jesu Pflegevater, Mariens Hüter, den liebevollen Patriarchen. Am Mittagstisch, den höchstens Schalen mit Eingemachtem rings um eine Platte süßer Nudeln zierten, erzählte ich Tantchen von meinem Spazierritt, von den Kirchen, in denen ich mich ergötzt hatte, und welche Altäre illuminiert gewesen waren. Vicencia hörte gottergeben zu, an ihrem gewöhnlichen Platz zwischen den beiden Fenstern stehend, wo ein Bildnis unseres Heiligen Vaters Pius IX. den Streifen grüner Tapete ausfüllte; darunter hing an einer Seidenschnur ein altes Fernrohr, eine Reliquie des Komturs G. Godinho.

Nach dem Kaffee kreuzte Tantchen langsam die Arme, und ihr schlafendes, schweres Gesicht verlor sich im Schatten des violetten Kopftuchs.

Ich ging mir die Schuhe anziehen; und nun hatte ich ihre Erlaubnis, mich bis halb zehn außerhalb des Hauses zu vergnügen. Ich rannte zum Ausgang der Rua da Magdalena, unterhalb des Largo dos Caldas, und hier trat ich vorsichtig, mit aufgeschlagenem Rockkragen, an die Mauer gedrückt, als wäre die Gaslaterne dort Tantchens unerbittliches Auge, voller Verlangen in Adelias engen Hausflur …