Lluís, Trini, Soleràs und Cruells sind voller Unruhe, auf der Suche nach etwas, an das sie glauben könnten und das ihren leidenschaftlichen Einsatz wert wäre. Lluís, Atheist, ehemaliger Anarchist und Skeptiker, verlässt seine Frau, um in den Bergen Aragoniens mit den Republikanern zu kämpfen. Doch es ist eine »tote Front« ohne Kampfhandlungen, wo zuvor die Anarchisten Klöster verwüstet und Zivilisten hingerichtet haben. Lluís ist entsetzt, aber er steht selbst davor, die Grenze der Moral zu überschreiten. Er sucht Antworten auf seine Fragen nachdem Ursprung des Bösen, nach Gott und der Liebe. Im Dorf, wo seine Brigade stationiert ist, trifft er auf die geheimnisvolle Burgherrin Olivela, eine Witwe, die ihn um einen heiklen Gefallen bittet. In der Zwischenzeit kümmert sich Trini im belagerten Barcelona alleine um den gemeinsamen Sohn. Ihr einziger Trost in der Einsamkeit sind die Briefe von der Front und ihre intensive Freundschaft zu Soleràs, einem Jugendfreund ihres Mannes, der immer dort aufzutauchen scheint, woman ihn am wenigsten vermutet. Doch auf einmal spitzt sich die Situation in der Stadt zu und mitten im Winter bricht Trini auf, um Lluís in den Bergen aufzusuchen.
Hanser E-Book
Flüchtiger
Glanz
Roman
Aus dem Katalanischen von
Kirsten Brandt
Mit einem Nachwort von
Eberhard Geisler
Carl Hanser Verlag
Die katalanische Erstausgabe erschien in zensierter Fassung erstmals 1956 unter dem Titel Incerta Glòria bei Editorial Aymà. Die vollständige und unzensierte Ausgabe erschien 1971 bei Club Editor in Barcelona.
Die vorliegende Übersetzung wurde gefördert vom Institut Ramon Llull.
Das Motto auf Seite 5 aus Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, wird zitiert in der Übersetzung von Hans Rochol, Meiner Verlag, Hamburg 1984.
ISBN 978-3-446-25008-6
© Heirs of Joan Sales
First edition © 1971 by Club Editor
Published by special arrangement with The Ella Sher Literary Agency
working in conjunction with Club Editor
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2015
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München
© Condé Nast Archive/CORBIS
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Vor allem muss man hier die Vorsicht einhalten, die die Ärzte anwenden, indem sie den Puls immer nur so abnehmen, dass sie sicher sind, nicht den eigenen statt den des Patienten wahrzunehmen.
Vigilius Haufniensis (Kopenhagen, 1844)
Geständnis des Autors
Flüchtiger Glanz
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Nachwort
The uncertain glory of an April day … Jeder, der sich für Shakespeare begeistert, kennt diese Worte – und sollte ich meinen Roman in einer einzigen Zeile zusammenfassen, so wäre es diese.
Es gibt einen Moment im Leben, da ist es, als erwache man aus einem Traum. Man ist nicht länger jung. Es war abzusehen, dass man nicht ewig jung bleiben würde; und was war das überhaupt – jung sein? Ma jeunesse ne fut qu’un ténébreux orage, sagt Baudelaire: »Meine Jugend war nur ein düsteres Gewitter«; und vielleicht gilt das für jede Jugend, früher, heute und in künftigen Zeiten. Ein düsteres Gewitter, durchzuckt von glänzenden Blitzen – flüchtigem Glanz – ein Apriltag …
In diesen stürmischen, schwierigen Jahren sind wir von einem dunklen Eifer getrieben; wir suchen, bewusst oder unbewusst, nach einem Glanz, einem Ruhm, den wir nicht definieren könnten. Wir suchen ihn in vielen Dingen, vor allem in der Liebe – und im Krieg, wenn dieser unseren Weg kreuzt, wie das bei meiner Generation der Fall war.
Der Durst nach diesem Glanz macht sich in bestimmten Augenblicken des Lebens besonders schmerzhaft bemerkbar, und je größer der Durst, desto flüchtiger – und damit meine ich, desto rätselhafter – ist der Glanz, nach dem wir dürsten. Mein Roman versucht gerade dies: einige dieser Augenblicke in einigen seiner Figuren zu erhaschen. Mit welchem Ergebnis? Das müssen andere als ich beurteilen.
Aber ich weiß, dass man dem, der viel liebt, viel verzeiht. Früher verehrten die Menschen den heiligen Dismas und die heilige Maria Magdalena; sie waren nicht so neunmalklug wie heute und versuchten nicht, die Leidenschaft, die tief in uns allen schlummert, unter Doktorarbeiten und abstrakten Aussagen und Theorien zu verstecken.
Wir sind Sünder, die nach Glanz dürsten. Denn der Glanz ist unsere Bestimmung.
Barcelona, Dezember 1956
Was seht Ihr? Ich sehe, sagte Andrenio, dass die gleichen Bürgerkriege wie vor nunmehr zweihundert Jahren …
Gracián, Criticón
Cito uolat, aeterne pungit.
Ich erfreue mich bester Gesundheit, bin aber wehleidig wie ein kränkelndes Kind.
Ich will Dir nicht erzählen, wie sehr ich unter dem Dienst in einer Division gelitten habe, die mir verhasst war. Schließlich habe ich es geschafft, mich versetzen zu lassen, komme voller Vorfreude hier an … und wieder bricht alles über mich herein.
Eigentlich hatte ich gehofft, Juli Soleràs hier zu finden. Man hatte mir gesagt, er sei im Feldlazarett, ob verwundet oder krank, weiß ich nicht; doch jetzt hat sich herausgestellt, dass er bereits entlassen wurde. Unter all den vielen Gesichtern, die seit Kriegsbeginn wie in einem wirren Fiebertraum vor meinen Augen vorübergezogen sind, habe ich nicht ein bekanntes entdeckt.
Der Oberstleutnant der Ersten Brigade hat mich scharf über den Grund für meine Verspätung befragt. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, wie viele Tage zwischen dem Einberufungsbefehl und meinem Eintreffen bei der Brigade liegen, aber er hat sich mit der schlichten Erklärung »Angina« zufriedengegeben. Und doch hat mich diese erste Begegnung gekränkt. Hatte ich etwa erwartet, mit offenen Armen empfangen zu werden? Wir wissen nichts von den anderen und wollen nichts von ihnen wissen; gleichzeitig erwarten wir, dass die anderen tief in uns hineinblicken. Unser Verlangen, verstanden zu werden, ist nur mit unserer Unlust vergleichbar, die anderen zu verstehen.
Denn, das will ich Dir nicht verhehlen, die Leute hier um mich herum sind mir zutiefst gleichgültig. Wenn sie mir wenigstens unsympathisch wären!
Genau genommen hatte der Oberstleutnant allen Grund, mir zu misstrauen. Ein Leutnant, der sich von einer Kampfeinheit in eine andere, neu gebildete Einheit versetzen lässt, sodass er für Wochen, vielleicht Monate weit weg von der Front ist, könnte für böses Gerede sorgen. In diesen regulären Brigaden kann niemand sich vorstellen, was für eine Hölle jene improvisierten sind, welche aus Männern bestehen, die aus den Straf- und Irrenanstalten entkommen sind und von erleuchteten Spinnern angeführt werden. Das weiß nur, wer es wie ich elf Monate lang erlebt hat.
Ich komme mir vor wie eines jener Maultiere, die von Wunden und vom Zaumzeug verursachten Druckstellen übersät sind, die Maultiere der Zigeuner, deren ungeheure Schicksalsergebenheit in gewisser Weise an die Schwermut des Abendhimmels erinnert. Tag um Tag ziehen sie das fahrende Volk auf endlosen Wegen, ohne die Hoffnung, jemals Gerechtigkeit zu erlangen. Wer würde einem Maultier schon Gerechtigkeit widerfahren lassen? Die Nachwelt?
Das Leben reibt uns auf wie das Geschirr die Haut des Maultiers. Manchmal frage ich mich voller Entsetzen, ob die Wunden, die das Leben uns schlägt, nicht bis ans Ende unseres Lebens schwären werden – oder darüber hinaus. Diese elf Monate in der Hölle …
Wie es scheint, werde ich dem Vierten Bataillon zugeteilt, das noch völlig neu aufgestellt werden muss. So lange werde ich in diesem trostlosen Kaff meine Zeit totschlagen müssen; und ich habe Dir so viel zu berichten! In den Briefen an Dich kann ich mich aussprechen, auch wenn sie Dich nie erreichen werden. Gib’s zu, unsere Familie hat Dich ebenso angewidert wie mich, und Du bist aus demselben Grund dem Orden von Sant Joan de Déu beigetreten, aus dem ich Anarchist geworden bin. In dieser Hinsicht hatte unser Onkel recht.
Als ich heute aufgestanden bin, erschien mir das Leben wieder lebenswert, und das einzig und allein, weil ich ein Eckchen für mich alleine habe. Ich bin auf dem Dachboden eines Bauernhauses einquartiert, dessen Galerie auf den Obstgarten hinausgeht. Durch den Garten fließt glitzernd der Parral. Ich wohne direkt unter dem Dach; vom Bett aus sehe ich die rötlichen, krummen Dachbalken – aus Pinie oder Wacholder – und die Schilfmatten; durch die Schilfmatten hindurch lassen sich die Dachziegel erahnen. Der Boden ist nicht gefliest und bebt, wenn man darüber geht. An den Wänden haben sich viele der anderen Offiziere verewigt, die im Laufe dieses Kriegsjahres vor mir hier einquartiert waren. Hir giebts hübsche Medchen steht mit Bleistift auf das Kopfteil des Bettes gekritzelt. Eine tiefschürfende Betrachtung; ich hatte noch keine Zeit, mich zu vergewissern, ob sie ebenso wahr wie tiefschürfend ist. Daneben gibt es zahlreiche weitere Inschriften, alle bezogen auf die weibliche Dorfbevölkerung, aber weitaus weniger lapidar. Einige von ihnen sind mit Zeichnungen versehen, die so schematisch sind, dass sie an Einsatzpläne erinnern.
Nichts von Bedeutung also. Jeden Morgen dringt die Junisonne durch die Galerie bis in den hintersten Winkel meiner Schlafkammer und verwandelt alles; mit der Sonne strömen die Düfte des Gartens nach gemähtem Süßklee, frischem Mist und anderem, schwer zu Bestimmendem herein. Mein Dachboden besitzt sein eigenes Aroma; in besseren Zeiten hat er als Kaninchenstall gedient. Mich stört der immer noch in der Luft hängende Gestank nicht, im Gegenteil: Mir leistet er Gesellschaft.
Heute bin ich nach Parral del Río spaziert, wo ich, wie man mir sagte, Juli Soleràs finden könne.
Der Ort ist vom Krieg zerstört und völlig verlassen. Unweit davon liegt eine durch einen Schützengraben und mehrere Maschinengewehrnester aus Stahlbeton gesicherte Stellung, die Soleràs’ Kompanie beherbergt. Aber er war nicht da; stattdessen nahm mich ein Leutnant in Empfang, der als Kompaniehauptmann fungiert: ein Kerl Ende vierzig mit protzigen Jagdstiefeln und schleppendem Gang, der ständig eine s-förmige Pfeife im Mund hat. Seine pechschwarzen, mandelförmigen Augen mustern einen mit ungeheurer Durchtriebenheit, während ihr Besitzer in aller Unschuld seine Pfeife schmaucht, als ob nichts wäre.
»Bist du ein Freund von ihm?«
»Wir kennen uns seit vielen Jahren. Wir haben zusammen die Oberschule besucht und dann studiert.«
»Ich lege großen Wert auf Bildung, musst du wissen« – seine S-Laute zischen eigenartig, vermutlich trägt er ein Gebiss – »und habe was übrig für studierte Männer. Deshalb bin ich Hausmeister an der Naturwissenschaftlichen Fakultät geworden; die Wissenschaft hat mich schon immer interessiert. Ich war fünfunddreißig und damit zu alt, um weiter in der Fremdenlegion zu dienen. Das ist was für die Jungen, die sich von Mutters Rockzipfel lösen wollen. Was mich betrifft, tut es mir immer noch leid, dass ich nicht mehr dabei bin … in Afrika gibt’s Mädchen, die hinterlassen eine bleibende Erinnerung … aber man soll bescheiden sein und nicht immer von sich selbst reden. Offen gesagt: Afrika ist ein Schweinestall, die kennen dort weder Sauberkeit noch Bildung! Da ist ein Lehrstuhl als Hausmeister besser, das kannst du mir glauben.«
Ungelogen: Er sagt tatsächlich »Lehrstuhl«, mit stolzgeschwellter Brust und ohne mit der Wimper zu zucken. Das Wort zischt wunderbar zwischen seinen falschen Zähnen hervor, mit einem Laut, wie ihn der Schnabel eines sprachbegabten Wasservogels hervorbringen könnte. Anscheinend fühlte er sich, kaum dass er den Lehrstuhl als Hausmeister innehatte, bemüßigt, eine »Landpartie« (wie er es nannte) bis zum letzten Dorf des Vall d’Aran zu unternehmen, um eine erste Liebe zu finden – und die Soutane an den Nagel zu hängen, denn dieses mustergültige Leben hatte natürlich im Priesterseminar seinen Anfang genommen. Vor nunmehr sieben Jahren hatte der gute Mann also festen Schrittes den Weg der Bildung und des heiligen Bunds der Ehe eingeschlagen. Aber ich war ja nach Parral del Río gekommen, um Neues von Soleràs zu hören, und nicht, um alles über das Leben und die Heldentaten des Leutnant Picó zu erfahren.
»Soleràs? Das ist eine lange Geschichte. Nicht, dass er degradiert worden wäre, aber er ist ein so merkwürdiger Kerl, dass man ihn mit keiner offiziellen Aufgabe betrauen kann. Also lasse ich ihn die Buchhaltung der Kompanie erledigen.«
»Die Buchhaltung?«
»Komm mit mir zum Bad, dann erzähle ich dir unterwegs das Geheimnis. Du würdest es früher oder später sowieso von den anderen erfahren; in der gesamten Brigade ist nicht einer, der die Geschichte von Rolands Hörnern nicht kennt.«
Während wir sprachen, gingen wir zum Parral hinunter, der zwischen drei, vier Reihen jahrhundertealter Pappeln dahinfließt. Oberstleutnant Picó, der, wie wir bereits wissen, auf Sauberkeit ebenso großen Wert legt wie auf Bildung, hat dort mit lehmgefüllten Säcken eine Staumauer errichten lassen. Das Wasser sammelt sich in einem recht großen, etwa zwei Armlängen tiefen Becken. Das ist, um Picó wörtlich zu zitieren, die Badeanstalt. Etwa zwei Dutzend Soldaten lagen splitterfasernackt in der Sonne; bei unserer Ankunft sprangen sie auf und standen stramm, je vier Mann hintereinander, ein überraschender und – offen gestanden – grotesker Anblick. Picó ließ mit ernster Miene durchzählen. Einer fehlte, und auf die Frage, warum, hieß es: »Im Sanitätszelt der Brigade zur Magenspülung.« (Diese Maschinengewehr-Kompanie gehört keinem Bataillon an und muss deshalb zum Brigadearzt.)
»Weggetreten!« Bei diesem Ruf des Oberstleutnants stürzten sich die zwei Dutzend Männer im Adamskostüm ohne Feigenblatt gleichzeitig ins Becken.
»Wenn ich nicht unerbittlich hinterher wäre, würden sich viele von ihnen nicht ein Mal in ihrem ganzen versauten Leben baden. Ich könnte dir die Kandidaten auswendig aufzählen. Immer runter mit den Sachen« – er war schon dabei, sich auszuziehen – »hier gibt’s keine Lendenschurze, ganz im Gegenteil; glaub mir, wenn wir unsere Schamteile nicht hätten, wäre das noch viel peinlicher. Ich will den Filzläusen und den Schmuddelromanen den Garaus machen, den beiden Plagen des Krieges, wie schon Napoleon sagte.«
Als wir im Gras in der Sonne lagen, erzählte er mir Soleràs’ Geschichte:
»Ein äußerst gebildeter junger Mann – deshalb wollte ich ihn in meiner Kompanie haben –, aber er stinkt wie ein Fuchs. Ich kann mich nicht erinnern, dass er auch nur ein einziges Mal gebadet hätte, seit er bei mir ist. Drohungen fruchten bei ihm nicht, und man weiß nie, mit welcher Ausrede er einem kommt. Er hatte das Kommando über ein Nest, das etwas abseits von den anderen lag, und weil er ein Schlamper ist, hatte er keine Glöckchen an den Stacheldraht gehängt. In einer nebligen Nacht haben die anderen den Stacheldraht mit einer Gartenschere durchtrennt und im Morgengrauen einen Überraschungsangriff gestartet. Die Soldaten sind in panischer Angst auseinandergestoben, und Soleràs ist allein zurückgeblieben. Du musst wissen, er ist kurzsichtig, aber wild wie ein Tiger, wenn’s ans Schießen geht. Er hat sich also an eines der Maschinengewehre gesetzt und Faschisten abgeknallt, dass es eine Freude war.«
»Er ganz allein?«
»Mit seinem Helfer und den beiden MG-Schützen. Die verstreuten Soldaten kommen nach und nach zurück, die Lage beruhigt sich, und ich bin gerade dabei, ein Schreiben aufzusetzen, um seine Beförderung zum Leutnant vorzuschlagen. Und jetzt halt dich fest: Es kommt ein zweiter Angriff, die Soldaten halten stand – und diesmal ist es Soleràs, der sie im Stich lässt!«
»Wie meinst du das?«
»Nach stundenlanger Suche haben sie ihn schließlich versteckt in einer Höhle gefunden, wo er in einem pornographisches Büchlein las. Als er sie sah, hat er es schnell weggesteckt.«
»Und woher weiß man dann, dass es pornographisch war?«
»Wegen des Heiligen. Der Heiligenfigur auf dem Umschlag. Es ist ein Buch mit Heiligen. Außerdem kennt es jeder Soldat in dieser Brigade: Los cuernos de Roldán – Rolands Hörner. Manche kennen es sogar auswendig! Du kannst dir ja vorstellen … Wir hätten ihn erschießen lassen müssen … aber wer hätte das schon übers Herz gebracht? Ihn erst befördern und dann an die Wand stellen. Einen so gebildeten jungen Mann …«
Von Parral del Río bis Castel de Olivo sind es acht Kilometer flussab; ein wunderschöner Spaziergang immer am Wasser entlang. Ich genoss die Stille und Einsamkeit. Als ich noch etwa eine Viertelstunde von den Dorfwiesen entfernt war, die den Ort umgeben, ließ ich mich unter einem riesigen Nussbaum nieder, dem vielleicht größten, den ich je gesehen habe, und machte mich über die frischen Walnüsse her. Sie sind noch nicht ganz reif, und meine Finger färbten sich gelb und verströmten einen bitteren, leicht medizinischen Geruch. Das war es, was mir Vergnügen bereitete: an den Fingern und im Mund die ganze medizinische Bitterkeit der Natur zu spüren.
Es war schon spät am Nachmittag. Verborgen im üppigen Laub des Nussbaums sang ein Pirol; manchmal sah ich ihn leuchtendgelb aufblitzen. Den Kopf aus dem Wasser gestreckt, übte eine Kröte behutsam die einzige Note ihrer Flöte; eine Meeresbrise ließ die Federbüschel des Schilfs wogen, und Venus am Horizont war wie die gläserne Träne, die die barocken Schmerzensmadonnen auf den Wangen tragen. Aber wer auf der Suche nach dem Verlorenen Paradies des Barock nach Castel de Olivo käme, würde enttäuscht. Die Landschaften Niederaragoniens sind schmerzerfüllt, aber nicht wirklich barock, und für mich, der ich nie zuvor hier gewesen bin, ganz und gar neuartig. Entgegen landläufiger Meinung sind sie so ganz anders als die Landschaften Kastiliens, wo ich den Großteil der letzten elf Monate verbracht habe. In den ersten Tagen habe ich mich in ihnen verloren, bis ich verstanden habe, dass sie nicht dem Raum angehören, sondern der Zeit, dass sie nicht Landschaften sind, sondern vielmehr Augenblicke. Man muss sie zu betrachten wissen, wie man einen Augenblick betrachtet, wie man dem flüchtigen Augenblick direkt ins Angesicht schaut.
Nachdem man einmal ihr Geheimnis entdeckt hat, möchte man sie gegen keine andere Landschaft auf der Welt eintauschen.
Soleràs hat seltsame Anwandlungen. Die Geschichte von der Höhle und Los cuernos de Roldán hat mich nicht überrascht, sogar eher enttäuscht, denn ich hatte etwas Verrückteres erwartet.
Im letzten Jahr der Oberschule sah er schon aus wie ein Mann unbestimmten Alters. Ich glaube, er hatte Schwierigkeiten mit seiner Familie; unter anderem aufgrund dieser Gemeinsamkeit fühlten wir uns zueinander hingezogen. Aber wer war eigentlich seine Familie? Das blieb ein Rätsel. Möglicherweise niemand außer einer alten Tante; jedenfalls mied er das Thema stets. Soweit ich mich erinnern kann, hat er nie irgendeinen anderen Verwandten erwähnt. Die Tante war eine betagte Jungfer, die Visionen hatte: Ihr erschien die heilige Philomena und sprach zu ihr (übrigens auf Spanisch). Ich weiß nicht einmal genau, wo er wohnte; ich habe den Eindruck, dass er sich schämte. Aber wofür? Die Tante muss reich gewesen sein, denn zum erfolgreichen Schulabschluss spendierte sie ihm eine wunderbare Reise mit allen Schikanen: Deutschland, Russland, Ungarn und Bulgarien. Die Länder hatte er ausgesucht – nichts von wegen England, Frankreich oder Italien! Er wollte Länder kennenlernen, die sonst niemand bereist, und mit den Büchern hielt er es genauso: Schopenhauer, Nietzsche, Kirkegart (ich weiß nicht, ob er sich so schreibt), von denen ich bezweifle, dass außer ihm jemals jemand die Geduld aufgebracht hat, sie sich anzutun.
Nur: Wieso schämte ausgerechnet er, der eine Schwäche für verschrobene Leute hatte, sich für seine Tante? Er war derjenige, der mich in die Geheimnisse des Spiritismus, der Theosophie, der Freud’schen Lehre, des Existentialismus, des Surrealismus und des Anarchismus einführte; Theorien, von denen 1928, vor fast zehn Jahren, als wir aus der Schule kamen, einige ganz neu waren. Über den Marxismus sagte er mir immer, der sei die Mühe nicht wert, nur nervtötend und durch und durch ordinär: »Zu wenig Phantasie«, erklärte er. »Trau niemals jemandem, der keine Phantasie hat: Der wird dir immer den letzten Nerv rauben.« Hingegen war er höchst interessiert an sexuellen Perversionen; er kannte Leute, die unter den verschiedensten Manien litten, und immer, wenn er eine neue entdeckte, packte ihn die Begeisterung des Sammlers, der ein bislang unbekanntes Exemplar entdeckt.
Da die von Visionen heimgesuchte Tante andererseits nicht knauserte, konnte er maßlos rauchen und trinken, eine weitere Tatsache, die ihm in unseren sechzehnjährigen Augen ein gewisses Ansehen verlieh. Um sich wichtig zu tun, wollte er uns sogar weismachen, dass er regelmäßig Lasterhöhlen besuche und Morphium spritze; aber es war zu deutlich, dass das nur Hochstapelei war.
Durch ihn lernte ich auch Trinis Familie kennen: Vater und Mutter Volksschullehrer, ein Bruder, der Chemie studierte, allesamt Anarchisten. Sie lebten in einer dunklen, schäbigen Wohnung im Carrer de l’Hospital. Das kleine Wohnzimmer war mit einer schrecklich deprimierenden, ochsenblutroten Tapete ausgekleidet; es gab vier Wiener Schaukelstühle und einen kleinen, schwarzen Tisch mit weißer Marmorplatte, und waren mehr als vier Personen im Raum, musste einer auf dem Sofa Platz nehmen, das zugleich als Trinis Bett diente, da die Wohnung winzig war. Am meisten beeindruckten mich die gerahmten Drucke an den Wänden, vor allem eine Allegorie der föderalen Republik mit einem Foto von Pi i Margall mit einer phrygischen Mütze zwischen zwei vollbusigen Matronen: Helvetia stand unter der einen, America unter der anderen. Sie stammten aus der Zeit von Trinis Großvater, der zeitlebens Föderalist gewesen war. Einen Ort wie diesen hatte ich noch nie zuvor gesehen, und weil alles neu für mich war, gefiel es mir. Ich glaube, auch Soleràs hatte nur deshalb Spaß daran.
Da ich zuletzt von Drucken sprach: Der Druck, der bei der Bauersfrau im Wohnzimmer hängt, bei der ich einquartiert bin, hat mich gepackt. Es ist ein Stahlstich, vermutlich vom Anfang des letzten Jahrhunderts, der eine Mater Dolorosa darstellt – eben eine jener barocken Schmerzensmadonnen mit einer großen Träne auf jeder Wange und sieben Dolchen, die ihr Herz durchbohren.
»Sie betrachten das Bild so oft«, hat die Bauersfrau zu mir gesagt, als sie mir das Mittagessen auftischte. Obwohl schon in den Vierzigern, ist sie blond, drall und frisch; sie hat viele Jahre in Barcelona als Dienstmädchen gearbeitet und spricht besser Katalanisch als viele von uns. »Haben Sie noch nie eine Muttergottes mit diesen sieben Dolchen gesehen? Es ist die Jungfrau von Olivel, die hier in der Gegend sehr verehrt wird. Die Menschen haben großes Vertrauen in sie als Schutzheilige bei Eheproblemen und Familienstreitigkeiten …«
Seufzend warf sie einen raschen Blick auf sie.
»Wir alle, die Frauen hier, tragen diese Dolche in unseren Herzen. Was wir hier führen, ist kein Leben. Arme Jungfrau von Olivel! Nicht einmal sie hat man verschont, wo soll das bloß alles enden! Ich wäre auch am liebsten weit fort.«
»Gefällt es Ihnen hier nicht?«
»Was soll ich sagen? Es geht doch nichts über Barcelona. Ich vermisse meine Zeiten als Dienstmädchen, als ich sonntags nachmittags mit anderen jungen Leuten ausgegangen bin; und all die lustigen Lieder … Kennen Sie noch das Lied vom Katzenbrunnen und Marieta mit dem kecken Blick?«
Sie stimmte das Lied an, ich fiel ein, und zusammen schmetterten wir:
Vom Katzenbrunnen herunter
Kam ein Mädchen, kam ein Mädchen …
Aber als wir mit diesem frivolen Liedchen fertig waren, standen ihr Tränen in den Augen.
»Hier sind Sie doch aber Ihre eigene Herrin«, sagte ich.
»Über ein paar Krumen Erde. Ich wäre viel lieber in Barcelona, hier ist alles schmutzig und trist. Das werden Sie schon noch feststellen. Und ich bin nicht die Einzige, die so denkt, oh nein; bei uns allen, die wir in Barcelona gedient haben, ist es das Gleiche. Wir sind vier. Können Sie sich vorstellen, dass wir miteinander Katalanisch reden? Dann haben wir das Gefühl, es ist wieder wie früher, und wir sind wieder jung.«
»Ich finde, Sie übertreiben.«
»Bah, wenn Sie erst einmal gesehen haben, dass die Frauen hier in den Dörfern im Stehen essen, weil nur die Männer am Tisch sitzen dürfen, und dass sie keinen Wein trinken dürfen, wenn ein Mann dabei ist, selbst wenn es der eigene Ehemann ist …«
»Meinen Sie das ernst?«
»Und ob! Fragen Sie Ihre Kameraden, die schon seit Monaten hier sind! Was war das anfangs für ein Skandal, als sie darauf gewartet haben, dass die Frauen Platz nehmen, bevor sie anfingen zu essen! Wenn man eine Frau auffordert, sich zu einem an den Tisch zu setzen, heißt das, man hält sie für eine …«
»Gut, dass Sie mich vorgewarnt haben. Andere Länder, andere Sitten.«
»Ja, aber das Schlimmste ist der Dreck. Eine Frau, die sich badet, wird scheel angesehen, denn hier baden nur die sündigen Frauen. Es gab hier mal eine, das ist schon Jahre her, die war so alt wie ich oder ein bisschen älter und hatte auch in Barcelona gedient. Sie war zum Dorffest hergekommen, um für ein paar Tage ihre Eltern zu besuchen. Es war August, es war heiß, und sie war von der Zugfahrt voller Ruß. Da kam ihr der Waschzuber in der Küche wie gerufen. Was hat sie da angerichtet! Ihre Mutter überraschte sie, wie sie im Waschzuber saß, nahm einen Stock und schlug – zack! – den Zuber mitten entzwei. Der Vater – er wird Cagorcio genannt, der Hosenscheißer, was für ein Spitzname! –, der gerade Mittagsschlaf hält, hört den Lärm, steht von seinem Strohsack auf, und was glauben Sie, was er tut? Er verflucht seine Tochter und wirft sie hinaus.«
»Donnerwetter, darüber wird man ihm im Dorf aber ordentlich die Leviten gelesen haben!«
»Im Dorf? Wollen Sie wissen, was man da gesagt hat? ›Teufel auch, der Cagorcio, das ist ein ganzer Kerl, der traut sich was …‹«
»Und was ist aus diesem Musterbeispiel väterlicher Liebe geworden?«
»Er hat sich freiwillig gemeldet – für die andere Seite.«
»Und das Mädchen?«
»Das ist eine lange Geschichte, und was bringt’s, sie zu erzählen? Zuerst ist sie nach Barcelona zurückgegangen, dorthin, wo sie gedient hat. Und danach … Es hat viel Gerede gegeben, aber in Castel de Olivo haben wir sie nie wieder gesehen. Sie lebt in einem anderen Dorf: eben in Olivel de la Virgen.« Sie zeigte auf die Mater Dolorosa. Ich hatte den Eindruck, dass sie mir irgendein wichtiges Detail über Cagorcios Tochter verschwieg, aber was geht mich letztlich diese wüste Geschichte an?
Vermutlich hat die Frau gar nicht mal so unrecht. Ich habe kürzlich ein ungewöhnliches Schauspiel beobachtet: Die jungen Mädchen des Dorfes haben unter sengender Sonne ein Süßkleefeld gemäht, verschwitzt und mit weit geöffneten Miedern. Zuerst dachte ich, das läge vielleicht am Krieg, daran, dass es keine Männer gibt, aber nein: Noch hat keine Einberufung stattgefunden, und von den Dorfburschen sind nur die Freiwilligen im Krieg, sehr wenige und alle, wie Cagorcio, auf der Gegenseite. Du musst wissen, dass wir hier nicht Republikaner genannt werden, sondern Katalanen, »los catalanes«; ihre Sympathie oder Antipathie gründet also nicht darauf, was man in Barcelona denkt (vorausgesetzt, in Barcelona wird überhaupt etwas Vernünftiges gedacht), sondern auf der Sympathie oder Antipathie, die sie Katalonien entgegenbringen. Uns Neuankömmlinge hat das überrascht, aber so ist es. Nun gut, die Frauen mähen also, weil die Frauen immer schon gemäht haben; meine Hauswirtin hat mir aber darüber hinaus erzählt, dass es die Frauen sind, die Korn dreschen, Wein lesen und Mist karren. Diese Mädchen wären eine Augenweide, würden sie nicht von der harten Arbeit unter glühender Sonne vorzeitig welken; und dann der Schmutz … Mit zwanzig sehen sie schon aus wie alte Frauen. Viele von ihnen sind blond und blauäugig; man sieht, dass es hier viele Vertreter der sogenannten »nordischen Rasse« gibt.
Und Soleràs scheint ebenso vom Erdboden verschluckt wie Cagorcios Tochter. Wenn man bedenkt, dass ich mich in diese Brigade habe versetzen lassen, um ihn zu sehen, in der Nähe eines Freundes zu sein! Allmählich fürchte ich, dass er mich meidet; oder wie erklärt es sich sonst, dass ich ihn nirgends finde?
Er hat mich in meinem Quartier besucht. Endlich!
Mager, fahl, bartstoppelig, kurzsichtig: Soleràs, wie man ihn kennt. Ich bin aufgesprungen, um ihn zu umarmen; aber er hat mich nur misstrauisch gemustert und dann gemurmelt:
»Mach bloß keine Umstände.«
Ich habe ihm gesagt, dass ich mich hierher habe versetzen lassen, um in seiner Nähe zu sein.
»Ach was, bald wirst du mich genauso über haben wie die anderen. Hier gibt es keinen, der mich erträgt, angefangen vom Kommandanten der Brigade bis hin zur letzten Laus im Schützengraben.«
Seine Stimme klingt wie immer, ein tiefer Bass, der manchmal – vor allem, wenn er sein Gegenüber auf den Arm nehmen will – einen salbungsvollen Tonfall annimmt.
»Für mich bist du mein bester Freund.«
»Genau darum bin ich gekommen: Um dir zu sagen, dass wir uns besser nicht sehen sollten, dass es idiotisch wäre, wenn wir uns sehen. Ich habe erfahren, dass du mich gesucht hast. Das ist idiotisch, vollkommen idiotisch.«
»Und warum ist das idiotisch?«
»Eben darum, weil ich dein bester Freund bin.«
Er lachte bei seinen Worten, dieses abgehackte Lachen, das typisch für ihn ist und an das Gackern eines Huhns erinnert.
»Du willst erreichen, dass ich böse auf dich bin, Juli«, sagte ich, etwas überfordert von seinem rätselhaften Verhalten. »Ich verstehe nicht, warum dir so viel daran liegt; ist das eine neue Marotte von dir?«
»Armer Lluís, wenn du wüsstest … Ich bin Brigadier. Weißt du, was das ist, ein Brigadier? Nein, das weißt du nicht. Ich habe es selbst nicht gewusst, bevor ich einer geworden bin; wir sind noch so grün, was militärische Begriffe betrifft, obwohl wir schon seit elf Monaten bis zum Hals drinstecken! Ein Brigadier ist … Wie soll ich es erklären? So etwas Ähnliches wie ein Ladenschwengel. Und dazu sind wir in den Krieg gezogen? Ich zähle die Kichererbsen.«
»Das weiß ich alles schon. Ziemlich merkwürdig, zugegebenermaßen.«
»Hat Picó dir das erzählt? Ein praktisch veranlagter Mann, dieser Picó! Wenn du wüsstest, wie sie mich anwidern, diese praktisch veranlagten Männer … Sie sind die Herren der Welt, und die Welt kann mich mal kreuzweise. Mmm … Praktisch veranlagte Männer! Haben keinerlei Verständnis dafür, dass man geht, wenn einem der Sinn danach steht! Was sollte ich dort noch, wenn das Ganze für mich völlig uninteressant geworden war? Lesen wir etwa den gleichen Roman zwei Mal? Eine Empfindung stumpft ab, wenn man sie wieder und wieder erlebt. Wiederholungen sind ermüdend. Natürlich gibt es Ausnahmen; rühmliche Ausnahmen. Es ist wie in der Grammatik: Vor e und i schreibt man immer g, außer bei rühmlichen Ausnahmen wie Jehova, Jesus und Jeremias.«
»Du findest dich selbst wohl sehr witzig, wie immer.«
»Als ich zwölf war, hat meine Tante mich einen Sommer lang mit nach La Godella genommen, auf ein Landgut, das ihr gehört. Dort gibt es eine Höhle mit Stalaktiten, und sie wollte, dass ich mich dafür begeistere. Natürlich pflegte ich damals schon die hohe Kunst der Heuchelei, und so habe ich ihr gegenüber meine schrankenlose Bewunderung für die Stalaktiten zum Ausdruck gebracht und eine ebenso schrankenlose Bewunderung für die Stalagmiten. In Wahrheit aber liebte ich die Zuggleise: Die betrachtete ich stundenlang! Und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, obwohl ich demütig anerkennen muss, dass es sehr verdienstvoll gewesen wäre, ihr zu widerstehen. Ich grub ein Loch zwischen zwei Schwellen, nicht besonders tief, gerade so, dass mein Kopf nicht über die Schwellen hinausragte, wenn ich mich hineinkauerte. Du hast es wohl schon verstanden: Es ging darum, dort drin zu hocken, während der Express über mich hinwegbrauste (der, weil er in La Godella nicht hält, an dieser Stelle mit voller Geschwindigkeit fuhr). Was für ein Gefühl, einen Express über sich hinwegrasen zu spüren! Einige Jahre später entdeckte ich dasselbe Kunststück in den Brüdern Karamasow, sodass man mich des Plagiats bezichtigen könnte; aber ich schwöre dir, dass ich mit zwölf Dostojewski noch nicht gelesen hatte. Stattdessen zwang mich die Tante, Bossuets Trauerreden zu lesen, ob ich wollte oder nicht. Aber diese Sache mit dem Express ist sowieso ziemlich weit verbreitet. Ich habe so viele kennengelernt, die das im gleichen Alter wie ich gemacht haben, in den Jahren der Unschuld! So viele … Es ist wirklich schwierig, etwas wahrhaft Neues zu finden, etwas, das nicht schon Tausende und Abertausende vor dir ausprobiert haben! Ich fühlte, wie der ganze Express über mich hinwegraste; das war ein Gefühl, verstehst du?; auch wenn ich dir ganz offen sagen muss, dass mir das Wichtigste fehlte. Das Wichtigste bei einem Gefühl, weißt du, ist es in fremden Augen zu lesen. Das ist eine unserer größten Schwächen: Dass unsere Gefühle, um wahrhaft zu sein, einen Komplizen brauchen. Ich habe Nati vorgeschlagen mitzugehen. Habe ich dir eigentlich jemals von ihr erzählt? Sie war zwölf wie ich – aber was für eine Zwölfjährige! Sommersprossig, brünett, mit glatter Haut und einem Duft nach warmem Heu … und diesem angriffslustigen Blick, den die Unschuld hervorbringt, wenn sie mit reiner Lebensfreude gepaart ist. Sie war die Tochter der Pächter meiner Tante, in La Godella geboren und aufgewachsen; ich glaube, sie war noch nie aus dem Ort hinausgekommen. Ich konnte sie überreden, mir zuzusehen, wie ich mich in die Grube kauerte und der Express über mich hinwegfuhr – aber mitmachen? Die bloße Vorstellung jagte ihr Todesangst ein. ›Nun ja‹, sagte ich zu ihr, ›genau darum geht es ja: Todesangst auszustehen.‹ Wenn ich dir erklären könnte, wie köstlich die Angst ist! Aber was hat man davon, wenn man sie ganz allein durchlebt? Doch da war nichts zu machen, sie wollte nicht; und dabei duftete sie nach frisch gemähtem Gras … und diese Augen … Solange es solche Augen auf der Welt gibt, wird die Menschheit nicht müde, wieder und wieder zu tun, was Adam und Eva schon am ersten Tag getrieben haben. Wie ich bereits sagte: rühmliche Ausnahmen, Dinge, die es wert sind, in saecula saeculorum wiederholt zu werden bis zum Ende der Welt. Allerdings bin ich mir keineswegs sicher, dass der Krieg dazu gehört; die erste Schlacht hat vielleicht noch den Reiz des Neuen, die zweite ist ganz passabel, aber wenn du erst ein paar hinter dir hast … Manche Details sind von einer derart bedauerlichen Obszönität, dass sie dir, wenn du sie öfter erlebst, den letzten Nerv rauben.«
»Wovon sprichst du?«
»Meinen Burschen hat es erwischt, als er mir gerade einen Kaffee mit Schuss bringen wollte; in solchen Augenblicken brauche ich eine ganze Kanne Kaffee mit viel Rum. Der gesamte Kaffee lief aus, und mit dem Kaffee das Blut dieses Trottels. Er ist ein armer Kerl aus La Pobla de Lillet; seine Familie hat eine Meierei an der Plaça del Pi, wo sie Kuhmilch verkauft. Und nun war er getroffen. Das ist doch ganz hübsch, nicht wahr? Eine Kriegsverletzung, erworben an der Front, mitten im Einsatz; heldenhaft, ruhmreich verwundet! Später kann man das im Hinterland der Frau seines besten Freundes erzählen (der beste Freund ist der, der die heißeste Frau hat): ›Ich wurde in der und der Schlacht verwundet, als ich gerade die Fahne vorantrug …‹ Im Hinterland kannst du ruhig erzählen, dass du die Fahne vorangetragen hast, weil diese Idioten immer noch glauben, dass man das im Krieg so macht. Du könntest ihnen sogar erzählen, du wärst auf einem Pferd dahingeprescht und hättest ein Schwert geschwungen, denn sie glauben alles – oder tun zumindest so, solange sie nur den Krieg nicht aus der Nähe sehen müssen. Aber den armen Palaudàries hat eine Gewehrkugel in die Arschbacke getroffen – und erklär das mal der Frau deines besten Freundes! Selbst wenn du es vornehm umschreiben würdest, ›am verlängerten Rücken‹ oder so, würdest du dich immer noch lächerlich machen. Und was geht mich das an? Absolut nichts! In solchen Situationen mache ich mich lieber aus dem Staub. Ich kann kein Blut sehen, davon wird mir speiübel. Zwei Soldaten haben ihm die Hose heruntergezogen und versucht, die Blutung mit einem Bündel Kräuter zu stoppen, während er laut das Vaterunser betete und nach seiner Mutter schrie. Nach seiner Mutter! Wie sollte die denn kommen, wo sie doch wahrscheinlich gerade an der Plaça del Pi Milch verkaufte? Um es noch mal zu sagen: Die Kugel hat ihn am Arsch erwischt, nur eine Fleischwunde; aber das Blut ist so heftig hervorgesprudelt, dass ich dachte, ich müsste mich übergeben. Da sind mir doch die Mumien tausend Mal lieber! Die sind so vertrocknet, dass absolut nichts an ihnen an so etwas Ekelhaftes wie Blut erinnert. Die Mumien sind ein großartiger Anblick; ich empfehle dir einen Ausflug zum Kloster von Olivel de la Virgen …«
»Mir hat man erzählt, sie hätten dich in einer Höhle versteckt gefunden.«
»Ach ja, mit einem Schundroman, nicht wahr? Ich merke schon, mein Ruf ist bis zu dir gedrungen. Na ja, nicht jeder, der zur Legende werden will, wird es auch. Nimm nur mal Palaudàries – der wird nie zur Legende werden, so sehr er sich auch bemüht, so sehr sie ihm auch den Allerwertesten durchsieben.«
»Also stimmt die Geschichte mit dem Buch gar nicht?«
»Es wäre die erste Legende, die nicht der Wahrheit entspricht. Ich hatte das Buch am Tag zuvor angefangen und wollte wissen, wie es ausgeht. Manche Romane haben ja ein überraschendes Ende. Wenn du willst, leihe ich es dir.«
»Danke, kein Interesse.«
»Du weißt nicht, was du verpasst. In dieser Brigade ist es das Evangelium! Es gibt nicht einen, der den gehörnten Roland nicht kennt. Seine Lektüre hat mir vieles klargemacht, und du würdest auch einiges verstehen. Vielleicht würdest du sogar das Eine oder Andere über dich verstehen, etwas, was du verstehen solltest.«
»Was sollte ich verstehen?«
Bei dieser Frage musterte er mich eindringlich aus seinen kurzsichtigen Augen (seine Eitelkeit verbietet es ihm, eine Brille zu tragen) und stieß einen Seufzer aus.
»Manchmal frage ich mich«, brummte er, »ob auf dieser Welt alle außer mir verrückt sind. Was verstehen? Was ist denn das für eine Frage? Irgendwas verstehen! Alles! Verstehen!«
»Und was hat man davon, wenn man versteht?«
»Ich sehe schon … ich sehe schon, dass du ganz und gar nichts ausprobiert hast. Und dabei gibt es so vieles, was auszuprobieren sich lohnt! Zum Beispiel, im Gras zu liegen, wenn möglich, an einem Spätnachmittag während der Hundstage, wenn das von der Tageshitze erwärmte Gras duftet wie die Achselhöhle eines Bauernmädchens. Daliegen und in den Himmel schauen an einem Nachmittag Anfang August, wenn der Skorpion seinen endlos langen Schweif über den Horizont zieht.« Seine Stimme wurde leiser und voller und nahm einen salbungsvollen Ton an. »Skorpion! Das ist, im Vertrauen gesagt, meine Lieblingskonstellation; dieser giftgefüllte Schwanz, der sich dem Universum entgegenreckt … Das ist es, was uns Menschen fehlt: der Stachel eines Skorpions, mit dem man das ganze Universum vergiften kann.
Sieh mich nicht so an; du weißt, dass ich recht habe und dass es für die ganze Familie wahrhaft befriedigend wäre, einen solchen Giftstachel zu besitzen. Mit Familie meine ich das Menschengeschlecht. Aber da wir nun einmal keinen haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als dazuliegen, den Himmel zu betrachten und ihn dann … mit der ganzen Kraft unserer Wut senkrecht anzuspucken! Aber die Spucke kommt zurück und trifft dich mitten ins Gesicht. Newton würde sagen, das Gesetz der Schwerkraft sei dafür verantwortlich. Newton in seiner Besessenheit konnte nichts anderes sehen, er verstand es nicht. Verstehen bedeutet: von seiner eigenen Spucke, dem ohnmächtigen Speichel, mitten zwischen die Augen getroffen werden, ohne zu blinzeln; die gesamte kalte Wut unserer ungeheuren Machtlosigkeit spüren.«
»Eine Schweinerei, um es mal deutlich zu sagen.«
»Wenn du so willst, ist alles eine Schweinerei: obszön und makaber. Hör mal, Lluís, bildest du dir etwa ein, du wärest auf eine andere Weise zur Welt gekommen als die anderen? Und würdest nicht so enden wie wir alle, nämlich in einer ungeheuren Schweinerei? Du bist doch alt genug, um Bescheid zu wissen: Unsere Ankunft ist obszön, unser Abgang makaber. Die Ankunft ist gratis, beim Abgang wird dir das Fell über die Ohren gezogen. Glaub mir: Es lohnt sich, mit geballtem Zorn ordentlich auszuspucken, solange wir noch Zeit dazu haben. Wenn er nicht wusste, wie man es besser macht, oder es nicht besser machen konnte, wieso hat er sich dann überhaupt eingemischt?«
»Wen meinst du?«
Er sah mich verblüfft an, wie überrascht von meiner Begriffsstutzigkeit.
»Du musst es selbst am besten wissen … Schließlich bist du alt genug. Ganz offenbar willst du einfach nicht verstehen. Vielleicht fühlst du dich wohl auf dieser Welt, heimelig und geborgen; vielleicht hast du nie das Gefühl gehabt, ein Fremder auf Erden zu sein. Vielleicht lebst du dein Leben wie all die anderen Dummköpfe; vielleicht bin ich der Einzige, der sein Leben lebt wie das eines Unbekannten, ein Leben, das nicht für mich maßgeschneidert ist, ein Leben, das mir fremd ist.«
»Juli, dieses Gefühl, von dem du sprichst, habe ich auch manchmal, und ich glaube überhaupt nicht, dass es ungewöhnlich ist; es ist viel weiter verbreitet, als du denkst. Wir leben unser Leben nicht; es ist das Leben, das uns lebt. Und das Leben … Besser, man zerbricht sich nicht den Kopf darüber, denn was bringt das schon? Das Leben ist so schön! Es ist ein unergründliches Geheimnis? Und wenn schon, das Geheimnisvolle an ihm macht das Schöne noch reizvoller, wie wir alle wissen. Genau wie die Traurigkeit. Eine traurige, geheimnisvolle Schönheit, ist das nicht faszinierend? Ich schleppe auch meine Traurigkeit mit mir herum, Juli, und versuche, allein damit fertig zu werden.«
Einen Moment lang herrschte Stille zwischen uns, dann stieß er sein gackerndes Lachen aus.
»Ich nehme an, Picó hat dich mit zu seiner ›Badeanstalt‹ genommen, wie er es nennt, um dich zu säubern. Er ist so stolz darauf. Ein praktisch veranlagter Mensch, das lässt sich nicht leugnen. Und seine Hühneraugen sind in vielerlei Hinsicht bemerkenswert.«
Ich muss gestehen, dass die Hühneraugen des Oberstleutnants der MG-Staffel mich in der Tat beeindruckt hatten: Er hatte sechs oder sieben an jedem Fuß, riesig und völlig verhärtet.
»Warum lässt er sie nicht entfernen?«
»Uff! Du kennst ihn nicht. Einmal hat Cruells es versucht. Dieser Cruells ist ein Sanitätsfähnrich hier in der Brigade, bestimmt wirst du ihm irgendwann einmal begegnen. Der wollte Picó die Hühneraugen mit einer neuen Rasierklinge herausschneiden. ›Verschwinde! Hau ab!‹, hat der gebrüllt. ›Da behalte ich doch lieber meine Hühneraugen!‹ Es war nichts zu machen; wir hätten uns alle zusammentun müssen, und einem Mann die Hühneraugen zu schneiden, der um sich tritt …«
»Ich dachte, er sei tapfer.«
»Das will ich gar nicht leugnen. Einmal hat uns ein Siebeneinhalber-Bataillon bombardiert; die Kanoniere hatten die Parallaxen und die Quadratwurzeln so fein säuberlich berechnet, dass die Granaten mitten in unseren Schützengräben krepierten. Es war Picó, der es so ausdrückte: ›Eine fein säuberliche Angelegenheit.‹ In Wirklichkeit war es ziemlich lästig, und wir hatten damals einen blutjungen Fähnrich namens Vilaró, der frisch von der Front kam; Picó ließ ihn nicht einen Moment lang aus den Augen, denn hätte der Fähnrich gekniffen, wären die Soldaten in alle Richtungen davongelaufen, und man konnte es Vilaró ansehen, dass ihm mulmig zumute war. Ständig blickte er sich um. Da nahm Picó sein Gebiss aus dem Mund (in entscheidenden Augenblicken tut er das immer), legte es in ein Wasserglas und stieg auf die Brustwehr. Ohne sein Gebiss sieht er aus wie Voltaire. Er lief auf den Sandsäcken auf und ab, mit seinem merkwürdigen Gang, der aussieht, als hätte er neue Schuhe, die ihm die Hühneraugen verursachen; das Wasserglas mit dem Gebiss hatte er auf einem der Säcke abgestellt, und eine Maschinengewehrsalve ließ es in tausend Stücke zerspringen. Die Soldaten lachten einander heimlich zu und zwinkerten in Richtung Vilaró, bis dieser es bemerkte: ›Ihr traut mir das wohl nicht zu, was?‹ Er sprang auf die Brustwehr, und eine Maschinengewehrsalve riss ihm den Kopf weg, als er gerade weiterreden wollte. Vielleicht haben wir nichts verpasst, vielleicht wollte er bloß ›Scheiße!‹ sagen wie viele andere Helden. Wenn du Picó so richtig zur Weißglut treiben willst, bring die Geschichte aufs Tapet; er weiß, dass er moralisch gesehen diesen Unglücklichen auf dem Gewissen hat.«
»Na hör mal! Wie hätte er denn ahnen sollen …«
»Das war vorherzusehen. Picó hat ein unverschämtes Glück, und das weiß er und nutzt es hemmungslos aus; dem armen Vilaró stand ins Gesicht geschrieben, dass es ihm gerade umgekehrt erging: Man sah ihm auf einen Kilometer Entfernung an, dass er ein echter Pechvogel war.«
»Hör auf, dummes Zeug zu reden, und lass die Toten ruhen.«
»Die Toten ruhen lassen! Das hätten sie wohl gern! Ich rate dir, mal einen Ausflug zum Kloster von Olivel zu machen … Was das Gebiss betrifft: Das ist ziemlich weit weg vom Schützengraben wieder aufgetaucht; zum Glück war es unversehrt. Ich kann dir sagen, ich finde Picós Gebiss viel makabrer als die Mumien des Klosters. Deine Dachkammer ist übrigens äußerst bemerkenswert; ich würde gerne hier wohnen. Du hast aber auch immer ein Glück – immer hast du das, was ich gerne hätte. Ich wäre gerne in einer anarchistischen Brigade gelandet, die aus entflohenen Insassen einer Irrenanstalt besteht, wie du sagst. Dagegen ist unsere Brigade schrecklich gewöhnlich. Ordnung, Sauberkeit und Bildung! Du hingegen … Eine Dachkammer wie diese, mit diesem Duft nach Karnickelstall …«
Er nahm die Wandkritzeleien in Augenschein.
»Hm, nicht schlecht, aber sie könnten besser sein, der Mangel an Phantasie in dieser Brigade treibt mich zur Verzweiflung. Wenn du aus Castel abrückst, werde ich diese Dachkammer für mich reklamieren.«
Nun sind wir in diesem Dorf angelangt, dem Ort, an dem wir das vierte Bataillon der Brigade zusammenstellen sollen.
Diesem Vorhaben stand nur ein kleines Hindernis entgegen: Wir mussten das Dorf zuerst von den Anarchisten zurückerobern. Und wer waren wir, diejenigen, die Olivel von den Anarchisten zurückerobern sollten? Auf dem Papier das vierte Bataillon; in Wirklichkeit aber, da die Rekruten noch nicht eingetroffen waren: Kommandant Rosich (der beschwipst war) mit seinem Ford samt Chauffeur, der Militärarzt Doktor Puig und sein Sanitätshelfer, ein etwa zwanzigjähriger Fähnrich, von dem ich vermute, dass er Cruells heißt, weil Soleràs mir, glaube ich, in Castel de Olivo von ihm erzählt hat; vier Artillerieleutnants, darunter einer, der auf den Namen Gallart hört und im bürgerlichen Leben Kellner war; und zu guter Letzt ein halbes Dutzend Infanteriefähnriche, zu denen zu zählen ich die Ehre habe. Alles in allem »elf Leute und ein Chauffeur«, eine Bemerkung, die Doktor Puig einmal hat fallen lassen und die zu einem geflügelten Wort geworden ist.