Armin Thurnher
Republik ohne Würde
Roman
Paul Zsolnay Verlag
ISBN 978-3-552-05661-9
Alle Rechte vorbehalten
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2013
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung einer Illustration von © Jochen Schievink
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
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Inhalt
1. Einleitung.
Wo bleibt die Würde?
Tagebuch der verlorenen Würde I
Ich ohne Würde
2. Der Begriff Würde.
Eine Nachforschung
Tagebuch der verlorenen Würde II
Der Autor um Würde ringend, zwischen menschlichem Minimum und oberstem normativem Prinzip
3. Europa.
Ein Herzenskapitel
Tagebuch der verlorenen Würde III
Wie mich die Neue Zürcher Zeitung einmal beinahe gedruckt hätte
4. Korruption, Skandale, Österreich.
Eine Wirtshaustirade
Tagebuch der verlorenen Würde IV
Der belastete Souverän
5. Wehrwürde.
Zur Feinmechanik österreichischer Debatten.
Ein Exempel mit Kasperlmoment
Tagebuch der verlorenen Würde V
Harald Schmidt hat eine gute Frage
6. Erscheinungen
Tagebuch der verlorenen Würde VI
Wie ich einmal nicht Minister wurde
7. Unsere Medien
Tagebuch der verlorenen Würde VII
Ich und meine Nerds. Geschichte einer Entwürdigung
8. Stéphane Hessel.
Die Würde des Protests
Tagebuch der verlorenen Würde VIII
Ein entdigitalisierter Souverän
9. An der Würdefront.
Krankheit und Tod
Tagebuch der verlorenen Würde IX
Die Würde des Autors im Buchgeschäft
10. Nachgedanken.
Zögerliches Alphabet republikanischer Würde
Anmerkungen
1. Einleitung.
Wo bleibt die Würde?
In the deserts of the heart
Let the healing fountain start
W.H. Auden
Öffentliche Würde. Der Papst bejaht sie, solange der Mensch sich an den Plan Gottes hält. Der amerikanische Präsident mahnt sie ein, wenn nicht gerade von Guantanamo die Rede ist. Das deutsche Grundgesetz führt sie an erster Stelle. Die österreichische Verfassung verhält sich diskret, betrachtet sie aber als grundlegend. Feministinnen aller Illustrierten pochen auf sie. Gegen Neonazis und gegen afrikanische Genitalbeschneidung wird sie aufgeboten, gegen den kommunistisch verbrämten chinesischen Kapitalismus ebenso wie gegen den Bruch der ungarischen Verfassung.
Würde ist ein gern strapazierter Begriff unserer Tage. Würde nervt: Würdephrasenalarm. Kaum ein Leitartikel, kaum eine großphilosophische Intervention kommen ohne Appell an die Würde der Demokratie, des Rechtsstaats, der Menschheit aus.
Es gilt nicht die geschwungene Rede. Es gilt die Wahrheit der Quote. Demütigung und Entwürdigung von Menschen sind das Material, mit dem man Massen unterhält. Egal, ob sich Leute im Dschungel von Spinnen bekrabbeln, von Schlangen und Würmern bekriechen oder sich in einer Castingshow vor einer insektenhaft-sadistischen Jury zum Affen machen lassen – ihre menschliche Würde geben sie an der Kassa ab.
Tierisch auch die digitale Erweiterung aller Bühnen: Sämtliche Teilnehmer am summenden Netz, vor allem an den sogenannten sozialen Netzwerken, setzen sich globalen Schwärmen aus. Verglichen mit diesen Schwärmen sind Killerbienen ein Honiglecken. Wer sich der latenten Schwarmdrohung gegenüber nicht wohlverhält, kann bloßgestellt und gedemütigt werden bis in alle digitale Ewigkeit.
Die digitale Wende ist ein Epochenbruch. Sie stellt die Erfindung des Buchdrucks in den Schatten. Online können wir die Umwertung aller Werte verfolgen. In Realzeit beobachten wir, wie würdige Institutionen der Publizistik mit Verachtung gestraft werden, wie sich neues Sozialverhalten, neue Kommunikationsgewohnheiten, neue Denkformen, neue Wirtschaftsweisen herausbilden. Ein neuer contrat social nimmt im Zeichen der Forderung nach digitaler Eigentumsfreiheit Gestalt an. Mit Verlust von Würde ist zu rechnen.
Politik im Irrealis. Wenn von der öffentlichen Sphäre die Rede ist, kommen einem wie selbstverständlich zuerst Unterhaltungsbühnen in den Sinn, nicht die Politik. Einst verstand man Politik als Bühne der Vortrefflichen. Sie traten dort in ihrem öffentlichen Wettbewerb um das Wohl des Gemeinwesens gegeneinander an. Politik hat ihre Würde verloren, sie ist ins Hintertreffen geraten und zur Arena für Gemeinheiten geworden. Sie hat ihre eigenen Gesetze zugunsten medialer Gesetze aufgegeben. Der Kanzler will auf Facebook mitmischen? Dann muss er sich zu Recht verhöhnen lassen, wenn sein Account nicht so gewartet wird, dass der digitale Mob zufrieden schnurrt.
Wir schöpfen Verdacht: Ins öffentliche Amt drängen Politiker hauptsächlich deswegen, damit sie absahnen können. Entweder schon während ihrer politischen Tätigkeit durch Begünstigung von Freunderln und Einstreifen satter Rednerhonorare oder anschließend privat, durch Unterkommen bei Oligarchen, Tycoons oder bei einem Zockerfonds. Die politischen Entscheidungen fallen längst wieder in Arkanbereichen, in Konferenzvorbereitungssälen und bei diskreten Treffen. Wenn sie nicht von »den Märkten« diktiert werden.
Raus aus den Kabinetten, ans Licht! Das Arkane, das Geheime öffentlich zu machen, war Ziel der bürgerlichen Emanzipation. Offen sollten die Regierenden ihr Tun rechtfertigen, offen wollten die Bürger danach fragen, offen sollten beide einander widersprechen. So stellten sie sich die Grundlagen einer würdigen Bürgergesellschaft vor.
Wer in Österreich offen argumentiert, gilt als dumm. Ein Staatssekretär versicherte mir, gäbe er sein politisches Ziel bekannt, brauche er mit den Betroffenen gar nicht mehr zu verhandeln. Der Direktor des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, peinlich berührt von meiner Frage, teilte mir mit, das gesellschaftliche Ziel seines Unternehmens werde er erst definieren, wenn er in Pension sei. Undenkbar, dass hierzulande Parteien – wie in Deutschland – bekanntgeben, mit wem sie nach der Wahl koalieren wollen. Blöd ist, wer sich festlegt.
Politik ist Einsicht in die Notwendigkeiten der Wirtschaft. Das wird in Österreich traditionellerweise mit dem Dodelslogan »Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut« ausgedrückt. Die Privatisierung der Politik bedeutet aber den Verlust ihrer Würde. Demokratische Politik ist ohne öffentliche Legitimation nicht denkbar. Die Freude, mit der sich demokratisches Personal von den Akteuren der Finanzmärkte entmündigen und demütigen lässt, könnte man mit dem Verständnis vergleichen, das ein Gefolterter seinem Peiniger entgegenbringt. Wenn die Politiker wenigstens litten! Wer an Korruption nicht glauben mag, kann das Versagen der Politiker mit Hilflosigkeit erklären. Oder sich an Weltverschwörungsthesen halten.
Einige österreichische Politiker kann man jetzt im Gerichtssaal besichtigen, angeklagt oder verurteilt wegen Korruption. Andere verschleppen ihre Anklage seit Jahren mit allen Mitteln, während sie gleichzeitig das langsame Arbeiten der Justiz beklagen. Die Staatsanwaltschaft tut, was sie kann, aber es ist nicht genug.
Vor ihr liegt in Form turmhoher Aktenberge die Hinterlassenschaft der blau-schwarzen Koalition, zumindest jene kleinen Teile, die sichtbar wurden. Die Schwarzen wollen mit der Erbschaft ihrer großen Ära nichts mehr zu tun haben, die Blauen erst recht nicht. Der Chef der Schwarzen, ein Ritter vom Heiligen Grab, bleibt farblose Gestalt unter farblosen Gestalten. Der Chef der Blauen, eine Mischung aus Eintänzer und Wehrsportler, simuliert staatsmännische Ambition, sagt Sprüche seines Ghostwriters auf und bekennt sich in einem fort zur österreichischen Nation, als bestünde nicht der innere Kreis seiner Partei aus Deutschnationalen.
Ein Pandämonium der Amt- und Würdenträger! Der Chef der Roten findet keinen Weg aus seinen anrüchigen Allianzen mit Boulevardmedien. Längst haben sie in seiner Partei die Politik ersetzt, die Technik des Machterhalts scheint jede Entpolitisierung zu rechtfertigen. Die blassen Grünen konnten durch lifestylebetonte Auftritte ihrer Spitzenkandidatin und geschickte Selektion von gendergerechten Minderqualifizierten ihren Wählerzulauf in Grenzen halten, siegen aber neuerdings in der Provinz.
Dort sterben die Potentaten feudalen Zuschnitts aus, absolute Mehrheiten werden von der Regel zur Ausnahme. Im Sonderfall Kärnten bewährte sich neben Autokratie jahrzehntelang die Verhöhnung des Rechtsstaats.
Alle Rechten und Rechtspopulisten machen sich auf pauschale Weise gegen Europa wichtig, was auf der Gegenseite, bei Roten, Schwarzen und Grünen, eine ebenso diffuse Verteidigung Brüssels nach sich zieht. Besser kann sich Europa nur noch selbst in Misskredit bringen.
Frank Stronach, der steirische Werkzeugmacher, in Kanada zum Milliardär geworden, kauft sich Anzeigen, Medienpräsenz und eine Parlamentsfraktion, damit ihn das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Wahlkampf nicht ignorieren kann. Je schlechter er sich benimmt, je mehr ihn die Journalisten verachten, desto mehr schließt ihn das Publikum ins Herz. Wenn das Politische unpolitisch wird, werden antipolitische Figuren stark.
Rot-weiß-rot auf tausend Backen. Als der Kabarettist Lukas Resetarits am 8. November 2012 im Marmorsaal des Bildungsministeriums sein obligates Ehrenzeichen erhielt, bezog er sich in seiner kurzen Dankesrede auf mich. Er sei wie ich ein »paradoxer Patriot«. Man möchte darauf stolz sein und müsse sich doch fortwährend schämen für dieses Land und seine Repräsentanten, während man zugleich um dessen bessere Möglichkeiten wisse.
Schamgefühle sind rote Gefühle, sagt der Philosoph Bernard Williams1, sie lassen uns erröten, weil uns andere anschauen oder wir uns in die hineindenken, die uns anschauen. Weiße Gefühle hingegen lassen einen erbleichen – man schaut in sein Inneres und wird blass. Österreich mit den Augen des verqueren Patrioten betrachtet: rot-weiß-rot.
Rot-weiß-rot, geschmiert auf tausend Backen. Unser Wintermärchen. Die Ski-Weltmeisterschaft. Ein Festival der Schleichwerbung, angeführt vom Präsidenten, dem des Skiverbands, nicht der Republik, das Logo der eigenen Firma in die Kappe eingestrickt. Und hoch auf dem Horizont, auf der Kante vor dem Steilhang der Planai, die riesige Skulptur der Milka-Kuh. Kein Medium, das sich daran stieße. Aus dem Ausland ergießt sich weniger Kritik als freundliche Ironie über diese unverschämte, ja, würdelose Geschäftemacherei. Ultimative Demütigung: Die sind ja so herzig, die Österreicher.
Während einer Sportübertragung ruft mir ein Kernbua aus dem Fernsehen zu: »Die Stimmung ist genial!« Täglich wird einem atemlos die Genialität dieser Stimmung versichert. In zunehmender Frequenz hauchen sie in die Kamera, wie genial, die Stimmung, einfach genial. Und so perfekt organisiert. So fair das Publikum. Sogar bei Ausländern wurde applaudiert. Filzhut ab vor uns. Gäbe es so etwas wie ein Stimmungsbrutalnationalprodukt, wir wüssten, wer die Weltstatistik anführen würde.
Einst wegen Doping aus dem aktiven Renngeschehen verbannt, ist der Kernbua längst wegen guter Laune, flotter Sprüche und Dauerpräsenz in den Spots seiner Sponsoren vom Sender rehabilitiert und wirkt nun als Co-Kommentator erzieherisch auf das Publikum ein. Er hat ja nie gedopt, nur zu viele Müsliriegel gegessen.
Die sportlichen Leistungen waren großartig! Ein Triumph für die schnulzenbezuckerte Region! Hoamatgfühl! I am from Austria! Diese heimliche Nationalhymne des Sängers Rainhard Fendrich dient einer Käsewerbung als Jingle, niemand scheint das für unwürdig zu halten. Ein andächtig buckelnder Reporter kündigt in seiner Moderation »den Teufelskerl« an. Der Teufelskerl, das wissen alle aus einem ad nauseam wiederholten Werbespot, ist der ehemalige Abfahrtsweltmeister Hartmann »Harti« Weirather. Der Kernbua und ein anderer Weltmeister sehen sich eine Aufzeichnung von dessen Weltmeisterfahrt 1992 auf dem Handy an, damals rief der Reporter: »So ein Teufelskerl!« Der Kernbua: »Wenn ma vom Teufelskerl redt, is er scho do …« Auftritt der Teufelskerl, stößt an mit Bier, fertig.
So greift eins ins andere, Werbung, Kommerz, öffentlich-rechtliches Fernsehen. Im Zivilberuf ist der Teufelskerl zuständig für das Aufstellen der Werbetafeln im Gelände. Werbung, Event, Patriotismus und Idiotie fließen nahtlos ineinander über. Die Zeit vergeht, dieser Fluss strömt immer fort. Im März 1998 führte ich mit Gerhard Zeiler, dem Generalintendanten des ORF ein Gespräch. Unter anderem das Thema: die Milka-Kuh. Ihr Anblick, aufdringlich ins Bild gerückt, gehe mir auf die Nerven, erlaubte ich mir zu bemerken. Zeiler sprang auf und schrie ziemlich aufgebracht: »Dann, bitte, gehen Sie zum Weltcupkomitee der FIS, schauen Sie, dass die Milka-Kuh nicht mehr im Bild ist! Das bestimmen ja nicht wir, dann müssen Sie denen aber auch die 500 Millionen Schilling, die Milka dafür zahlt, auf die Hand geben, sonst werden Sie dort rausfliegen. (…) Wenn das alles nicht sein soll, ich aber Hermann Maier sehen will, und zwar jede Minute des Hermann Maier, dann muss ich die Gebühren verdoppeln. Oder ich halte meinen Mund. Schlicht und einfach. Sonst die Milka-Kuh. Das Leben ist nun mal in Wirklichkeit manchmal sehr simpel. Das Mundhalten mein’ ich natürlich nicht persönlich.« Ein öffentlich-rechtlicher Intendant, der Schleichwerbung aggressiv verteidigt – ein Teufelskerl. Bekanntlich machte er Karriere beim Privatfernsehen. Das empfohlene Mundhalten bei gleichzeitiger Erregung von Lärm ist längst zum Normalfall geworden.
Manche Dinge bessern sich nie. Das öffentlich-rechtliche Wesen zum Beispiel. Überhaupt österreichische Medien. Durch ihr Wesen, ihr bloßes Dasein verletzen sie die Menschenwürde. Korrupte Praktiken sind auf einem zerstörten Markt an der Tagesordnung. Verglichen damit gehört Product Placement ins Reich der Saubermänner. Medienkorruption hat in Österreich Tradition. Mitunter fühlt man sich an die 1920er Jahre erinnert, an den Fall Imre Békessy, als Finanz und Medien kriminelle Allianzen eingingen. Und nun verschärft die Digitalisierung die Lage.
Ich muss mich ermahnen. Zurückhaltung ist die edelste Haltung! Nicht pauschal werden. Würde bewahren!
Staatliche Würde. »Rhetorisch gesehen ist Würde als Element der öffentlichen Wirkung heute eher obsolet«, konstatiert das Historische Wörterbuch der Rhetorik. Allenfalls als »Pseudo-Phänomen« hoheitlicher Inszenierungen wie Staatsakte komme rednerische Würde noch vor, als Camouflage, als Inszenierung, als Oberfläche, die von den entscheidenden Vorgängen ablenkt.
Es gibt aber Redner, die vor allem mit ihren Reden etwas zu bewegen vermögen. Erinnert sei an den amerikanischen Präsidenten. Bei dessen erfolgreichen Reden spürt man das Bedürfnis nach öffentlicher Wirkung. In der Hohlheit öffentlicher Darbietungen liegt Entwürdigung: Dass Staatsleute nur mehr ängstlich darauf achten, nichts zu sagen, was sie festlegt oder was gegen sie verwendet werden könnte, wertet auch ihr Publikum ab. Der Wettbewerb um Vortrefflichkeit, einst Kennzeichen der öffentlichen Sphäre, ist zum Versteckspiel der Macht herabgesunken. Die deutsche Kanzlerin ist Weltmeisterin in dieser Disziplin.
Staaten haben ihre Würde. Davon ist meist wenig zu sehen. Was erfreulich sein kann, falls staatliche Würde etwas ist, das im Krieg verteidigt werden soll. George W. Bush führte gern den hohen Wert der »unverhandelbaren menschlichen Würde«2 im Mund, wenn er daranging, mit gefälschter Evidenz Stimmung für den Irakkrieg zu machen. Bekanntlich wurde in diesem Krieg von Abu Ghraib bis Guantanamo diese Menschenwürde systematisch verletzt.
Der Verlust staatlicher Würde ist schlecht, wenn man an einen kleinen Staat denkt. Gerade seine Bedeutungslosigkeit sollte es einem Staat wie Österreich ermöglichen, unter den anderen Staaten eine anständige Rolle zu spielen. Würde das den Ansprüchen seiner Bürger entsprechen? Die sind anspruchslos, was Würde betrifft.
Kein Aufstand war zu bemerken, als Österreich durch Schlaucherl-Separatabkommen mit der Schweiz und Liechtenstein seine Steuersünder amnestierte, sich ein paar Steuermillionen sicherte und damit andere europäische Staaten auf der gemeinsamen Jagd nach Steuerhinterziehern brüskierte. Keine Empörungswelle läuft durchs Land, wenn seine Finanzministerin auf der europäischen Bühne den Rüpel gibt. Ihr Trinkwasser lässt sich unsere Republik niemals nehmen, ihre Würde – bittesehr.
Das Leben, eine Entwürdigung. Wessen Verdienste werden denn angemessen gewürdigt, im Job oder sonstwo? Überall Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht, Rasse, Alter, Nationalität, mangelndem Vermögen oder körperlichem Zustand. Das Leben ist eine Zumutung, eine permanente Despektierlichkeit, eine öffentliche Kränkung. Fast alle leiden wir unter Entwürdigung, aber Würde ist im Kampf gegen dieses Leid nicht dienlich. Würde ist als Parole nicht zu gebrauchen.
Die Massendemokratie schürt den Massenverdacht und verdrängt ihn gleichzeitig. Wir werden mit Industrieware abgespeist, am Ende zahlen wir eine Rechnung, als wären wir in einem Luxusrestaurant gewesen. Die Drohung, dass der Schwindel auffliegt, die Wirte immer reicher, die Gäste immer ärmer werden, hängt in der Gaststube. Einige Gäste protestieren. Aber die Masse ignoriert sie. Frage: Wann geht es den Leuten schlecht genug, dass sie die Protestrufe nicht mehr an sich vorbeirauschen lassen? »Indignez-vous« heißt nicht: Empört euch. Da steckt dignité drin, die Würde. Von Stéphane Hessel bis zum Soziologen Wolfgang Streeck wird es so übersetzt: Fühlt euch entwürdigt und tut etwas dagegen!3
Wann entsinnen wir uns der Würde? Wenn es dem Ende zugeht. In Würde sterben möchten wir alle. Selbst wenn wir noch nicht genau wissen, was das ist, hat Würde offenbar mit der Möglichkeit von Selbstbestimmung zu tun, mit Freiheit, Achtung und Selbstachtung. Die meisten von uns wollen nicht an Apparate angeschlossen wegdämmern, wollen nicht Ärzten und Pflegern ausgeliefert sein, mit denen wir nicht kommunizieren können, wollen nicht das Ende so kommen sehen, wie die Anstalt es für uns geplant hat.
Wo viel von Würde die Rede ist, kann man den Verdacht nicht abweisen, es sei deswegen, weil es zu wenig von ihr gibt. Die rhetorische Überproduktion wird begleitet von einem realen Mangel. Vom dumpfen Gefühl, man gehe fortwährend seiner Würde verlustig, werde unter seinem Wert geschlagen, müsse sich Dinge zumuten lassen, die unter der eigenen Würde sind. Und das Schlimmste – man lässt sie sich zumuten. Was soll man sonst tun?
Republik ohne Würde? Kann das nicht einfach bedeuten: Republik ohne Stil, Republik ohne Rechtschaffenheit, Republik ohne Welt (also Provinz), Republik ohne Anstand, Republik ohne Willen, Republik ohne Ziel, Republik ohne Mut, Republik ohne Sinn?
All das kann es. Also müssen wir fragen, was das ist, Würde. Wie der Begriff entstanden ist, wie er sich gewandelt hat. Würde wird jedem Menschen zugesprochen, sie ist als Menschenwürde positives Recht, seit 1948 in der UN-Menschenrechtskonvention global kodifiziert und zum Rechtsanspruch geworden, zum in Verfassungen verankerten Rechtsgut.
Ist Würde etwas, das jeder beanspruchen kann? Oder ist sie etwas, das man sich, wie im antiken Rom, erst verdienen muss, auch wenn es einem aufgrund der gesellschaftlichen Position zukommt? Ist Würde eine öffentliche Zuschreibung oder eine private, hart erworbene Tugend? Wo ist der Unterschied zwischen Menschenwürde und Würde?
Menschenwürde ist ein Rechtsbegriff, zugleich ist Würde eine zentrale ethische Kategorie. Was mich an der Würde interessiert: Sie ist kein politisch korrekter, schon gar kein modischer Begriff. Respekt, Achtung, Selbstermächtung, ja – aber Würde? Sie alle gehören selbstverständlich zum Umfeld von Würde. Denn Würde setzt die Freiheit des Menschen voraus, seine Handlungen und Entscheidungen selbst zu bestimmen.
Wollte man Rousseaus berühmten Satz aktualisieren, dass der Mensch zwar frei geboren ist, aber überall in Ketten liegt, könnte man vielleicht sagen, dem Menschen werde zwar überall so etwas wie Würde zugesprochen, aber diese Würde sei immer seltener anzutreffen.
Es lohnt sich, der Entwicklung des Begriffs der Würde nachzugehen. Wie sich Würde vom antiken Rangbegriff zum Synonym für »Amt« entwickelt, zugleich aber immer auch jenes Moment individueller Würde enthält, das Rangordnungen unterläuft: Würde kommt nun einmal jedem Menschen zu, egal ob er in Amt und Würden ist.
Erstaunlich, wie die katholische Kirche Würde jahrhundertelang als Parole der Unterordnung gebrauchen konnte und wie doch aus ihrem Schoß jene Gelehrten krochen, die mit Hilfe des Begriffs Würde Herrschaftsinstanzen unterminierten und schließlich umstürzten.
Bereits kurz nachdem er seine höchste Hebelkraft entfaltet hatte, wurde der Begriff leer, zur bloßen »Leerformel«4, wie der Privatgelehrte Panajotis Kondylis trocken konstatierte. Ihre Kraft entfaltete Menschenwürde in ihrer Wirkung auf die Verfassungen der amerikanischen und der Französischen Revolution und 1948 in der Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen.
Andererseits markiert Würde Defizite: Wir spüren, dass etwas fehlt. Wir verlangen Würde vom Staat, aber auch von der Gesellschaft, wir verlangen sie von einzelnen Politikern, von Staatsschauspielern, wie immer man die nennen will. Wir sollten sie auch von den Bürgerinnen und Bürgern verlangen, wir sollten sie uns selbst abverlangen. Auf Würde kann man sich nur berufen, wenn man in Bedrängnis ist und eine Instanz hat, an die man appellieren kann. Unbedrängt hingegen muss man sich seine Würde verdienen.
Woran machen wir die Erkenntnis fehlender Würde fest? Was ist es, das sie uns erkennen macht? Stehen uns unerfüllbare historische Phantombilder vor Augen, imperiale Flausen, die uns unter heutigen Bedingungen unerfüllbare Dinge wünschen lassen?
Sollte man, um im Fragemodus zu bleiben, analog zur Idee des im Königreich Bhutan aufgekommenen Bruttonationalglücks eine Art Bruttonationalwürde ins Auge fassen? Ein Würdebudget aufstellen? Ob das anfallende Würdedefizit leichter zu beseitigen wäre als das monetäre, darf bezweifelt werden.
Phrasenskepsis. Sie ist angebracht, wenn von Würde, Menschenwürde zumal, die Rede ist. Ich erzähle von meinem Thema. Der Politikredakteur hebt gelangweilt die Braue: Würde? Wen interessiert das? Das will man doch nicht lesen. Zitierfaktor null, Twittereffekt hämisch, wozu Zeit verschwenden? Der Feuilletonredakteur zeigt mehr Verständnis. Klar, im Feuilleton mögen sie die weichen Themen, für Facetten von Achtung und Verachtung haben sie dort ein Näschen. Der Geschäftsführer findet das Thema »pastoral«. Was für einen Event soll das hergeben, eine Diskussion mit dem Kardinal?
Der Erziehungswissenschaftler ist wirklich interessiert, erfasst gleich die Schwierigkeiten der Definition, nennt ein paar verwandte Begriffe, Achtung, Respekt, Anerkennung, steuert Hinweise auf Bücher bei. Die Philosophin freut sich, dass ich mich auf einen ethischen Grundbegriff einlasse. Der Verleger sagt, so ein Buch wolle er lesen, aber das sagt er immer. Der Lektor sagt, du hast Recht, wenn du meinst, etwas fehlt: Dir fehlt die Würde, mir das Manuskript!
Öffentliches Stilversagen als institutionelle Demütigung darzustellen – geht das? Oder stilisiere ich nur eine von mir individuell empfundene Kränkung zur Demütigung? Nein, jedes Mal, wenn ich Stilversagen kritisiere, erhalte ich besonders viel Zuspruch, Briefe, Anrufe. Beweist nichts, aber andere spüren das Defizit genauso wie ich. Merkwürdiger Kontrast: Nur die Politiker tun, als wäre alles in bester Ordnung.
Kann man Packelei, Korruption, Funktionsverluste der Politik als »institutionelle Demütigung« (Avishai Margalit) des Publikums bezeichnen? Das sinkende Ansehen der Politik ist eine Folge des Funktionsverlustes, nicht von fehlender Würde. Oder bedingt eines das andere? Jedenfalls kann ich, seit ich mich dieses Themas angenommen habe, seit sich dieses Thema mich genommen hat, kaum mehr etwas lesen, ohne auf Würde zu stoßen. Der Würdetunnelblick.
Ich werde versuchen, die Entwicklung dieses Begriffs zu beschreiben. Und ich werde mich zur Buße für dieses mit Sicherheit ledrig zu lesende Kapitel entblößen und Episoden aus meinem Tagebuch der laufenden Entwürdigung einfügen. Mit Bekenntnissen ist zu rechnen.
Noch eins. Wer sich intensiv mit dem Begriff der Würde auseinandersetzt, wird für einen gehalten, der auf subtile Weise Würde einfordert. Das ist nicht ganz falsch. Wer aber Würde einfordert, hat schon verloren: Würde kann nicht gewährt werden; sie ist einem gegeben, aber nur, wenn man sie sich erkämpft. Darauf können sich sogar Niklas Luhmann, Ernst Bloch und der Papst einigen.
Stoßgebet. Herr, lass es gut gehen mit diesem Begriff, der an den Sonntag erinnert, an dessen Reden, Predigten und an Gebete. Deswegen die Form. Per innerem Stoßgebet verkehre ich gern mit mir, wenn es eng wird, wie es katholisch Erzogene selbst dann noch tun, wenn sie vor Jahrzehnten vom Glauben abgefallen sind.
Sie reden mit sich selbst. Herrgott, das bin ja ich. Mein innerer Don Camillo und sein Kreuz. Verhindere also, Ich, dass ich salbungsvoll werde oder sentimental. Lass mich weder romantisch glotzen noch Skeptikergeblök nachblöken.
Lass mich nicht aus dem Thema verschwinden. Die Würde nicht zu verlieren scheint mir mit Fortdauer des Lebens immer wichtiger. Es ist mir wahrscheinlich immer schon wichtig erschienen, denn was war denn die Achtung oder Missachtung der anderen als die Bestätigung meiner Würde (oder der Zweifel daran)? Was war das trotzige jugendliche Versprechen, das man sich selber gab, niemals ungerecht zu werden, nicht solche Ungerechtigkeiten zu begehen, wie man sie selber gerade zu erdulden hatte, wenn nicht Ringen um Selbstachtung? Anerkennung durch andere sollte nicht verlogen oder falsch sein, aber wer vermöchte das immer genau zu unterscheiden? Würde: Man versucht, für sie zu leben und nicht daran zu verzweifeln, dass man dabei immer wieder scheitert.
Hilf mir, Ich, dass ich das Existentielle an diesem Kampf um Würde nicht unterschlage, nicht das Hypokritische, das dazugehört, und das Brutale, weil eigene Würde oft so lange auf Kosten fremder geht, bis sie es gewahr wird.
Gib mir einen unbarmherzigen Blick für mich selber, aber mach, dass ich mich dabei nicht in den Vordergrund dränge. Lass mich so von mir selbst reden, dass es erträglich ist. Hilf mir durch zwischen der Skylla aus anbiedernder Kleinmannssucht und der Charybdis aus medial entgrenzter narzisstischer Hysterie.
Erspar mir nicht die Anstrengung der Begriffsgeschichte und hilf mir, sie spannend zu machen. Bewahre mich vor jener Packpapiersprache der Philosophen, die Heinrich Heine Immanuel Kant zu Unrecht ankreidete.
Bewahre mich davor, mich in den österreichischen Beispielen der Unwürdigkeit, Selbstherabwürdigung und Entwürdigung zu suhlen. Kläglich, peinlich, genant, gewiss. Man kommt an ihnen nicht vorbei. Aber es geht immer noch schlimmer. In Indien verteilt die Rechte Messer an Frauen, bei uns macht sie nur schlechte Reime (obwohl auch das ein schweres Vergehen ist). Im indischen Karnataka werden Abgeordnete beim Pornokonsum auf dem Handy ertappt, bei uns twittern sie nur eitel und blöd in der Gegend herum. In China sind Politiker so korrupt, dass sie sogar am Kärntner Wesen genesen könnten. Wer sagt, dass Österreich nicht besserungsfähig wäre? Seine Würde finden könnte?
Das schlimme Fremde macht das Eigene nicht besser. Politiker sind Menschen, die nach Anerkennung lechzen, gefangen in den Mechanismen der Nichtanerkennung. Die unwürdigsten der Korrupten hatten ihren Antrieb in der schnellen Anerkennung, in der Lust auf den Glanz des Erfolgs, der ihnen neben Geld auch Würde versprach. Korruption sucht Verdunkelung und Illustriertenglanz zugleich. Lass mich diese Leute weder verabsolutieren noch ihnen die Absolution erteilen!
Im geistigen Speckgürtel. Würde schließt nicht aus, dass einem eine Bürde auferlegt wird. Kommt immer darauf an, wie. Die Bürde der Armut hindert einen ganzen Subkontinent Indien nicht daran, sich würdevoll zu verhalten, zumindest würdevoll zu erscheinen, obwohl gerade der Hinduismus der indischen Kastengesellschaft kein Konzept der Menschenwürde hat. Und bittere Armut den Menschen die letzte Würde raubt.
Was wir da für Würde halten, wenn wir die Ärmsten barfuß, aber aufrechten Ganges daherkommen sehen, ist vielleicht eher ein anmutiger Verzicht, gegen die Verhältnisse aufzubegehren, die zum Höchsten entwickelte Kunst, seine Last ohne Unmut zu tragen. Andererseits dürfte die Erscheinung von Würde von ihrem Wesen nicht zu trennen sein. Würde ist auch »die nach außen sichtbare Gestalt der Selbstachtung«5.
Es geht uns zu gut, als dass wir in Würde existieren möchten. Uns ist sozusagen ganz kannibalisch wohl. Im Gegensatz zu Indien, wo die Mehrheit der Menschen ihr beklagenswertes Los mit Würde trägt, lässt sich in den USA und Europa das Gegenteil wahrnehmen. Selbstentwürdigung im Überfluss, ja, öffentliche Selbstentwürdigung mit Lust. Friedlich wesen wir im geistigen Speckgürtel vor uns hin.
In diesem geistigen Speckgürtel gedeiht das Gefühl moralischer Überlegenheit. Als Ende 2012 eine junge Inderin von sechs Landsleuten bestialisch vergewaltigt und getötet wurde, quollen Feuilletons und Foren über vor Bekundungen, wie schlecht es um die Rechte der Frauen in Indien stehe, wie sexuelle Belästigung dort an der Tagesordnung sei undsoweiter. Schüchterne Einwände, dass in Berlin sechsmal so viele Vergewaltigungen gemeldet würden als in New Delhi, wo der grausame Mord geschehen war, fielen nicht ins Gewicht. Dann sei die Dunkelziffer nicht gemeldeter Fälle eben höher, hieß es.
Kehrt man aus einem der indischen Staaten heim, kommen einem am Flughafen hässliche, schwitzende, bleiche, aggressive Gestalten entgegen. Eine fettige, eklige Welle der Würdelosigkeit verschlägt einem den Atem. Subjektiv erlebt, gewiss. In Indien geschehen auch allerschlimmste Scheußlichkeiten.
In den USA kann man den Eindruck allgemeiner Würdelosigkeit noch stärker haben als bei uns; aber wir holen auf. Unvergessen bleibt mir der Eindruck, den der Anteil des Grunzens und anderer lautmalerischer Elemente in der alltäglichen Konversation hinterließ, als ich Ende der 1960er Jahre in den Vereinigten Staaten lebte. Mittlerweile wird bei uns genauso intensiv gegrunzt, gestöhnt und gemampft wie drüben. Und alle sind wir immer leger, in Freizeitkleidung, off duty.
Ich suche einen Text von Karl Kraus. Ich weiß, es gibt diese Szene im Kaffeehaus, in den »Letzten Tagen der Menschheit«. Der Nörgler sieht, wie der Ober einen Kreuzer aus dem Spucknapf fischt, und er fragt: »Wo bleibt die Menschenwürde?« Der Ober aber missversteht ihn, meint, er frage nach einer Illustrierten, und antwortet: »Bedaure, die ist in der Hand.«
Ich weiß, dass es diese Szene gibt, ich habe sie gelesen, zitiere sie gelegentlich im Gespräch. Ich durchstöbere sämtliche Kaffeehausszenen der »Letzten Tage …«, aber ich finde sie nicht. So etwas kann man sich doch nicht einbilden? Eine der vielen Möglichkeiten des Autors, seine Contenance einzubüßen. Das grenzt an Würdeverlust. Schlechtes Selbstgefühl. Er findet das Zitat nicht, von dem er sicher war, es mit einem Griff zur Hand zu haben.
Er blättert das Buch durch, einmal, zweimal. Er wühlt in seinen Notizen. Noch einmal das Buch. War es dieses Buch? Vielleicht ein anderes. Der Schreibtisch sieht bereits beunruhigend aus. Muss er an seinem Verstand zweifeln? Muss er aufgeben und ganz etwas anderes machen? Digital findet er das Zitat auch nicht. Gewalt gegen Maschinen, die Rache der digital Gedemütigten, häufiger als man denkt, drängt sich auf, verbietet sich aber in seinem Fall.
Noch einmal das Netz, Quelle und Hort zahlreicher Entwürdigungen. Es bietet auch die ganze Fackel, sie lässt sich jetzt durchsuchen, ist zu jenem Stoffsteinbruch geworden, den der Autor keinesfalls hinterlassen wollte. Dann endlich ist sie gefunden, die Szene. Sie stammt nicht aus dem Drama, sondern aus einer meisterhaften Glosse. »Die Stellung des Künstlers zur Menschheit ist noch immer nicht geklärt. Entweder ist ihre Würde in seine Hand gegeben oder es faßt ihn ihr ganzer Jammer an. Fühlt er aber die Identität dieser beiden Möglichkeiten, so macht er sich unmöglich. Ich habe mich viel und eingehend mit der Menschenwürde beschäftigt, habe in meinem Laboratorium die verschiedensten Untersuchungen darüber angestellt, und muß bekennen, daß die Versuche in den meisten Fällen schon wegen der Schwierigkeit der Beschaffung des Materials kläglich verlaufen sind. Die Menschenwürde hat die Eigentümlichkeit, immer dort zu fehlen, wo man sie vermutet, und immer dort zu scheinen, wo sie nicht ist.«
In derselben Glosse steht der berühmte Satz: »›Würde‹ ist die konditionale Form von dem, was einer ist.« Mit diesem Witz können wir uns nicht beruhigen, denn gleich folgt der Satz: »Wenn aber Würde nicht wäre, gäbs keine Würdelosigkeit.« Und dann kommt es: »Die Überwindung der Menschenwürde ist die Voraussetzung des Fortschritts. Ich habe sie in allen Situationen gesehen. Sie glaubte sich unbeobachtet: und ich sah, wie ein Kellner vor einem Trinkgeld, das ein Gast auf dem Tisch zurückgelassen hatte, sich verbeugte und ›Ich danke vielmals‹ sagte. Ein anderes Mal bemerkte ich, wie er sich bückte, um eines Kreuzers, der in einen Spucknapf gefallen war, habhaft zu werden. In einem doppelten Symbol faßte mich der Menschheit ganzer Jammer an. Wo ist die Menschenwürde? fragte ich. Jener verstand schlecht, glaubte, ich verlange eine abgegriffene illustrierte Zeitung, und sagte: Bedaure, sie ist in der Hand!«6
Ich: die letzten drei Buchstaben von Österreich.
Tagebuch der verlorenen Würde I
Ich ohne Würde
Es war kurz nach meinem fünfzigsten Geburtstag. Dieser Tag markiert das Überschreiten jener Grenze, die einen vom Empfang gewisser österreichischer Würden trennt.
Das Telefon läutete. Der mir von der gemeinsamen Arbeit an einem Interviewband mit dem Kanzler Franz Vranitzky bekannte Kanzlersekretär wurde durchgestellt. Er war nach dem Rücktritt Vranitzkys im Kabinett Klima verblieben und bearbeitete dort nun kulturelle Angelegenheiten.
Wir kannten uns gut genug, es brauchte keine langen Präliminarien. Der Grund seines Anrufs sei ein erfreulicher, sagte er. Die Republik und deren Kanzler, in dessen Namen er mich anrufe, wollten mich, da ich nun ernennbar sei, ernennen. Und zwar zum Professor.
Mir blieb die Luft weg. Mit allem hatte ich gerechnet, damit nicht. Mit dem Professorentitel hatte ich bis zu diesem Tag nur spöttische, hämische, abwertende Gedanken verbunden. Er wird allen möglichen Tunichtguten umgehängt, die als Schnittlauch auf der österreichischen Suppe um die Wette nach den Plätzen in den Fettaugen schwimmen. Ihren Titel führen sie, als wäre er ein akademischer Grad. Nie hätte ich diesen Schmalspurprofessor, wie man ihn nannte, irgendwie mit mir in Beziehung gebracht. Nicht, dass ich eine Großspurexistenz führe. Aber obere Mittelspurweite schreibe ich mir schon zu.
In mein Schweigen hinein erklärte der Sendbote des Kanzlers, es stehe eine Überlegung hinter der Verleihung. Hans Mahr, langjähriger Geschäftsführer der Kronen Zeitung und vormaliger Mitarbeiter der SPÖ, der sogenannte Mahrhansi, bekannt dadurch, dass er im Wahlkampf 1983 eine Aktentasche vergessen hatte, in der sich Unterlagen über die Finanzierung von Medien der Brüder Fellner durch die SPÖ befanden, dieser Mahrhansi, nunmehr angesehener und hochbezahlter Manager beim deutschen Medienkonzern RTL, habe gewissermaßen darauf gedrängt, mit diesem Titel ausgezeichnet zu werden. Diesem Drängen habe man weder widerstehen können noch wollen, handle es sich doch beim sogenannten Mahrhansi nicht nur um einen mächtigen Medienmanager, sondern auch um einen verdienten Genossen.
Freilich, fuhr der Kabinettsmitarbeiter des Kanzlers fort, habe man gleich bemerkt, dass diese Ernennung in den Augen mancher einen etwas merkwürdigen Beigeschmack haben könnte, zumal der Boulevard, für den der sogenannte Mahrhansi tätig gewesen sei, zum Aufstieg des Jörg Haider beigetragen habe, den zu bekämpfen sozusagen einen Wesensinhalt und Daseinsgrund der Sozialdemokratie darstelle. Weiters habe sich das Blatt des Mahrhansi für Waldheim starkgemacht, gegen den sich sein vormaliger Chef, der Kanzler Franz Vranitzky, so sehr bewährt habe. Auch sei der Unterrichtsminister Rudolf Scholten von dem Mahrhansiblatt in einem Spottgedicht antisemitisch beschimpft worden, all das habe man nicht vergessen. Wobei man wohl wisse, dass das, wenn nicht gegen den Willen des Mahrhansi, so doch bei dessen vollkommener Mentalreservation geschehen sei, sodass man den Mahrhansi nicht für das auszeichne, was er getan, sondern für das, was er gedacht habe, denn gegen den Willen des Herausgebers des Mahrhansiblattes kam bekanntlich niemand an. Ich selbst hätte das oft genug geschrieben.
Ich habe meines Wissens nichts geschrieben, was das Tun des Mahrhansi rechtfertigt, sagte ich. Ich habe ihn als junger Mensch nur einmal kennengelernt, als der Mahrhansi, damals Reporter, über einen besetzten Kulturraum berichtete, die Arena 70/2 in der ehemaligen Casanovabar – ich war einer der Besetzer –, und in seinem Artikel einen Satz von mir mitteilte, in dem kein einziges Wort von den Wörtern stand, die ich dem Mahrhansi gespendet hatte, sodass der gedruckte Satz genau das Gegenteil von dem bedeutete, was ich gesagt hatte. So ist Journalismus, dachte ich damals. Mit diesem Drecksgewerbe will ich unter keinen Umstände je zu tun haben. Nun, da mich die Umstände zum Journalisten gemacht hätten, wolle ich gerne wissen, was ich mit dem Professorentitel des Mahrhansi zu tun hätte, fragte ich, noch immer um Fassung ringend.
Na, du stehst für das Gegenteil von alledem, wofür er steht, sagte der Kanzlersekretär vergnügt. Deshalb dachten wir, es wäre eine gute Idee, die Dekorierung des Mahrhansi mit der gleichzeitigen Ernennung deiner Person zum Professor zu konterkarieren.
Aha, dachte ich, da ist sie also wieder, die fortschrittliche Kulturpolitik. Ein Professorentitel für mich ist das, was man eine mutige Geste nennt. Die Neutralisierung des Mahrhansi. Gleichzeitig fiel mir meine Mutter ein. Mein Vater lebte noch, aber der hatte zu Ehrungen dieser Art eine gesunde Beziehung. Er pflegte sie, wenn möglich, brüsk abzulehnen. Mein Professorentitel wäre ihm nur dann nicht egal gewesen, wenn er seiner Frau oder mir Freude bereitet hätte. Meine Mutter, das wusste er, kannte diesbezüglich keine Bedenken, die freute sich über so was. Die wäre stolz gewesen. Einen Professorensohn konnte man herzeigen, auch wenn es ein Schmalspurprofessorensohn war. So einen hatte nicht jede.
Ich weiß nicht, sagte ich ihm. Kann man das auch ohne Zeremonie machen, im kleinen Kreis, der Kanzler, du und ich, meine Frau und meine Mutter, im Kaffeehaus zum Beispiel oder in seinem Büro?
Man könne über alles reden, sagte der Kabinettsmitarbeiter, der sich um den öffentlich-politischen Neutralisierungseffekt der Mahrhansi-Ernennung gebracht sah. Der Mahrhansi würde seinen Professor »mit alles« feiern, soviel war gewiss, mit Seitenblicke-Kolumnen, Dogudan-Buffet und Fernsehen satt. Und das Kanzleramt musste mitmachen, da half nichts.
Am anderen Ende der Leitung britzelte Irritation über meine unerwartete Undankbarkeit. Da will man dem Kerl was Gutes tun und der zickt herum.
Ich erbat Bedenkzeit und beendete das Gespräch. Ich hatte nicht Ja und nicht Nein gesagt, aber die Katze war aus dem Sack, saß in Gestalt eines virtuellen Professors auf meiner Schulter und sah mir beim Schreiben zu, hörte meine Telefonate mit, ging mit mir in die Öffentlichkeit. Wie gefällt er euch, fragte ich die Leute probeweise und stellte mir ein wenig ängstlich ihre Reaktionen vor. Würden sie mich auslachen, würden sie sagen: Endlich, wurde auch Zeit!, würden sie sagen, gut, dass nicht nur solche wie der Mahrhansi Professor werden, oder würden sie, was ich für wahrscheinlicher hielt, sagen: Hast du das nötig, dich mit dem Mahrhansi auf eine Schmalspurstufe stellen zu lassen?
Es dauerte keine Woche, da rief mich ein Beamter des Bundeskanzleramts an, Abteilung I/1: Allgemeine Präsidialangelegenheiten, Protokoll, Zeremoniell-, Etikett- und Rangfragen, Veranstaltungsmanagement, grundsätzliche Fragen der öffentlichen Beflaggung; Auszeichnungsangelegenheiten (einschließlich der Mitglieder der Bundesregierung und der Landesregierungen), Titelverleihungen, Referat I/1/a: Zentrales Auszeichnungs- und Titelwesen.
Er war von ausgesuchter Freundlichkeit. Es gehe nur darum, die Formalitäten zu klären. Als ich ihm sagte, ich sei noch dabei, nachzudenken, ob ich die Ehrung annehmen solle, konnte er das nicht glauben. Was wollen Sie, rief er, es ist doch alles geklärt! Der Antrag müsse nur durch den Ministerrat, dann sei alles erledigt.
Ja, sagte ich, aber ich sei mir nicht im Klaren, ob ich mir das antun solle.
Antun? rief er. Was soll Ihnen das antun? Das kann Ihnen doch nur nützen! Zögern Sie nicht, von unserer Seite ist alles geregelt.
Ich vertröstete ihn. Das tat mir leid, seine Stimme und seine Sprache waren mir sympathisch gewesen. Die Freude, Würde zu verleihen, hatte ich ihm ungern verdorben.
Eine Woche später rief er wieder an. Ob ich schon mit mir im Reinen sei? War ich nicht. Meine Unentschlossenheit machte einen schlechten Eindruck. Der Beamte setzte mir jetzt ernsthaft zu. Die Prüfung meines Leumunds sei einwandfrei gewesen, teilte er mir in einem Tonfall mit, als überweise er mir eine Bonuszahlung in Höhe eines Jahresgehalts.
Hoffentlich, sagte ich, im Vollbesitz der Gewissheit meiner Unschuld (die Vorstrafe eines zu Unrecht verlorenen Medienprozesses musste längst getilgt sein).
Auch die anderen Beurteilungen meiner Würdigkeit hätten nichts zu wünschen übrig gelassen. Das sei nicht bei allen so. Ich solle nur nicht glauben, dass so eine Verleihung immer so glatt gehe wie bei mir. Die Republik schaue schon genau hin, wen sie da ehre, ohne ein Expertengutachten gehe da gar nichts. Die Auskunft über mich sei glänzend ausgefallen, das könne man wirklich nicht von allen Auskünften sagen, ich könne mir denken, was so alles daherkomme. Ich könne mir denken, wen das zum Beispiel betreffe.
Konnte ich. Den Mahrhansi natürlich.
Nein, um Gottes willen, so etwas würde er nicht einmal ansatzweise andeuten, lachte der Beamte. Er unterliege bekanntlich dem Amtsgeheimnis. Er wolle nur sagen, die Reihe der zu Professoren Ernannten stelle sich keineswegs von selbst durch Verdienst und Exzellenz auf, sie komme vielmehr nach ihm selbst undurchsichtigen Kriterien zusammen.
Ich weiß, ich bekomme jede Woche Einladungen zu den Verleihungszeremonien.
Na, dann sehen Sie, wer da aller geehrt wird. Ich kommentiere das nicht, aber Sie haben beinahe kein Recht, sich hier nicht ehren zu lassen, Sie dürfen diese Würde nicht zurückweisen!
Ich sei mir meines Zurückweisungsrechts gewiss, sagte ich. Der Professor auf meiner Schulter fand es falsch, wie ich den freundlichen Ministerialrat durch meinen Starrsinn kränkte.
Wissen Sie eigentlich, was die Leute alles aufführen, um den Professorentitel zu bekommen?
Ich wusste es nicht.
Die liegen einem jahrelang in den Ohren, machen unlautere Angebote, führen Sachen auf, die will ich Ihnen gar nicht erzählen, lassen Beziehungen spielen, ob sie welche haben oder nicht, wollen dem Amt die Handlung vorschreiben, sogar die Geschwindigkeit der Amtshandlung beschleunigen – und Sie, bei Ihnen geht alles glatt, Sie werden vom Kanzler vorgeschlagen, tun nicht einmal etwas dazu, und ausgerechnet Sie zieren sich? So etwas habe ich, ich sage es Ihnen ehrlich, noch nie erlebt.
Ich glaubte es ihm trotz der unglaubwürdigen Beteuerung seiner Ehrlichkeit. Er war viel zu aufgebracht, um zu lügen.
Das alles sei zu meinem Besten, er rate mir ernstlich, den Titel anzunehmen. Man könne nie wissen, wozu der eines Tages gut sei, er koste ja nichts, und alles sei, wie gesagt, so gut wie fertig.
Ich murmelte etwas Verbindliches, dankte ihm und sagte, ich bräuchte trotz allem noch etwas Zeit. Ich konnte ihn vor mir sehen, wie er kopfschüttelnd den Deckel zuklappte und meinen Akt ablegte. In Evidenz halten!, notierte er darauf mit Bleistift. Er rief mich nur noch einmal an, das Telefonat verlief ähnlich.
All das trug sich im Frühsommer und Sommer 1999 zu. Im Herbst 1999 wurde in Österreich der Nationalrat gewählt, mit den bekannten Folgen. Der Christlichkonservative Wolfgang Schüssel verlor die Wahl. Seine Partei, die ÖVP wurde Dritter. Er brach sein Versprechen, in diesem Fall in Opposition zu gehen. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Viktor Klima war Episode, Österreich hatte eine Regierung mit der Freiheitlichen Partei, Schüssel wurde Bundeskanzler. Der virtuelle Professor hatte seinen Sitz auf meiner Schulter längst geräumt. Ich dachte nicht mehr an ihn. Das Land erlebte Proteste und Demonstrationen. Aufgeregte Fassungslosigkeit und aufgeblasene Patriotismusbekundungen standen einander gegenüber. Europa war aufgeschreckt. Journalisten aus ganz Europa wollten Auskunft über den Stand des Faschismus in Österreich.
So kam ich zu einem Auftritt in den ARD-Tagesthemen bei Ulrich Wickert. Zu diesem Zweck wurde ich nach Köln geflogen, wo ich auch bei Phoenix über die österreichische Krankheit diskutierte. Am Abend sollte ich dann Wickert, der in einem Hamburger Studio saß, zugeschaltet werden. Ein Megaaufwand für zwei Minuten live, aber mir war klar, das würde es für die nächsten Jahrzehnte gewesen sein mit mir und den Tagesthemen, also nichts wie hin. Es waren meine zwei Minuten Deutschlandruhm, dafür tut man als österreichischer Intellektueller alles. Soviel zur Würde des österreichischen Durchschnittshirntiers: Stets geht es der Provinz um Anerkennung im Reich.
Ich saß im Zimmer meines Kölner Hotels, knabberte an Trockenfutter aus der Minibar, spielte auf meinem Laptop und versuchte vergebens, über den Westernstecker des Telefons eine Internetverbindung zu einem lokalen Provider herzustellen, um meine Hotelrechnung in Grenzen zu halten. So war das um die Jahrtausendwende: Wenn man nicht aufpasste, kosteten ein paar E-Mails den Preis eines Dreisternabendessens.
Das Telefon. Wahrscheinlich das Büro Wickert, das absagen ließ. Bis zuletzt war ich darauf gefasst.
Auf das nicht: Kabinett des Bundeskanzlers, die Kabinettschefin. Die nachmalige Außenministerin Ursula Plassnik, später bekannt geworden dadurch, dass sie den Beschluss über die Aufnahme der Beitrittsgespräche mit der Türkei um einen Tag hinauszögerte, um das innenpolitische Thema der für die Partei ihres Kanzlers verlorenen Wahl in der Steiermark von der Agenda fernzuhalten. Plassnik war mir trotzdem sympathisch, sie hat die hemdsärmelige, gerade Art der Leute fürs Grobe und sah außerdem phantastisch aus, eine turmhohe Blondine, die noch höher schien, wenn sie an der Seite ihres kleingewachsenen Kanzlers auftrat.
Sie mache es kurz. Der Kanzler wolle mit mir sprechen, ob ich bereit sei. Nur wenn es nicht um meinen abendlichen ARD-Auftritt gehe, sagte ich, in Erwartung der österreichischen Üblichkeiten. Nein, sagte Plassnik, es gehe um etwas ganz anderes. Es gehe um die Sache mit meiner Ernennung zum Professor.
Ich musste lachen. Darüber ließe ich mit mir reden. Schwupp, saß der verschollen geglaubte Kerl wieder auf meiner Schulter.
Ein paar Minuten später: der Kanzler. Hier Schüssel. Trotz des Ernsts der Lage ein Hauch von Maturantenschalk in der Stimme. Ich hatte die Geistesgegenwart, ihm zur Ernennung zu gratulieren. Obwohl ich mir alles andere gewünscht hatte als seine Regierung.
Ich wisse, worum es gehe?
Ja, in groben Zügen.
Die Sache ist die, sagte Schüssel. Morgen sei die erste Kabinettssitzung der blau-schwarzen Regierung. Auf der Tagesordnung stehe meine Ernennung zum Professor, die sei noch von der alten Regierung dort stehen geblieben und komme routinemäßig zur Behandlung. Da er meine Haltung zu seiner Regierung kenne, wolle er wissen, was es damit auf sich habe und wie ich mich zu verhalten gedächte.
Ganz einfach, sagte ich. Ich werde diese Ehrung nicht annehmen.
Aha. So etwas habe er sich gedacht.
Ich habe erstens diesen Titel nicht beantragt, zweitens lange gezögert, ihn überhaupt anzunehmen, und möchte drittens nicht von einer Regierung, die ich heftig kritisiere, wie Sie wissen, als Erstes gleich eine Ehrung annehmen. Meine Mutter tat mir leid, aber die ahnte nichts vom kleinen Mann auf meiner Schulter, der sich im Augenblick ohnehin wieder federleicht anfühlte. Auch dem freundlichen Ministerialrat, dessen Engagement ich soeben endgültig im Begriff war zu brüskieren, galt mein Mitgefühl.
Was tun wir, fragte Schüssel. Auf ihn warteten Regierungsaufgaben anderer Dimension, er ließ es sich aber nicht anmerken.
Ich bin nicht Thomas Bernhard, sagte ich. Ich werde aus der Sache keinen Skandal machen. Können wir die Geschichte nicht einfach vergessen?
Antrag ist Antrag, sagte Schüssel, vergessen kann man so etwas nicht. Wir können ihn höchstens auf Eis legen.
Gut, sagte ich erleichtert, dann legen wir den Antrag auf Eis.
Wir vereinbarten, darüber nicht zu sprechen. Schüssel legte auf, ich machte mich auf den Weg ins Studio, um endlich Wickert zugeschaltet zu werden. Mir war erheblich leichter.