Klausbernd Vollmar
Tantes Tod
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1 Viktoria verschwindet
Kapitel 2 Erste Arktisreise
Kapitel 3 Grosses Seeabenteuer
Kapitel 4 Berlin - Norfolk
Kapitel 5 Merry Old England
Kapitel 6 Der Roman
Kapitel 7 Rebecca
Kapitel 8 Ordnung
Kapitel 9 Der Klang des Ortes
Kapitel 10 Mary
Kapitel 11 Trecker und Piratinnen
Kapitel 12 Einbruch
Kapitel 13 Roggenfängereien
Kapitel 14 Karen entdeckt Gerrit
Kapitel 15 Ein wildes Fest
Kapitel 16 Die Sprache der Natur
Kapitel 17 Herzbruch
Kapitel 18 Pubgespräche
Kapitel 19 Tanja
Kapitel 20 Strandgang
Kapitel 21 Schatzsuche
Kapitel 22 Zufallsheld
Kapitel 23 Schweizer Reise
Kapitel 24 Dinnerparty
Kapitel 25 Unsterblichkeit
Kapitel 26 Shipping News
Kapitel 27 Arktisches Gold
Kapitel 28 Buchfeen
Kapitel 29 Rachel
Kapitel 30 Martin
Kapitel 31 Familienausflug
Kapitel 32 Lesezeichen
Kapitel 33 Noch ein Einbruch
Kapitel 34 Raus!
Kapitel 35 Zweites Seeabenteuer
Kapitel 36 Einsamkeit
Kapitel 37 Berlin
Kapitel 38 Schon wieder ein Einbruch
Kapitel 39 Grundbesitzerin
Kapitel 40 Zweifelsfälle
Kapitel 41 Kaum Daheim
Kapitel 42 Gelegentliche Treffen
Kapitel 43 Bei Rachel
Kapitel 44 Passwort
Kapitel 45 Ein autistischer Egoist
Kapitel 46 Kinnhaken
Kapitel 47 Eine erotische Geschichte
Kapitel 48 Auf dem pflaumenroten Sofa
Kapitel 49 Annäherungsversuche
Kapitel 50 Inszenierung
Kapitel 51 Das grosse Fest
Kapitel 52 Zweite Arktisreise
Kapitel 53 Der Handel
Kapitel 54 Feuer
Impressum neobooks
Kein gutes Buch oder irgendetwas Gutes zeigt seine gute Seite zuerst
Thomas Carlyle
Das Handy klingelte. Es klingelte unüberhörbar mit diesem pseudomelodiösen Klingelton, den Maria zu Gerrits Ärger eingestellt hatte. Was waren das noch herrliche Zeiten, dachte er, als nicht jeder so ein Taschentelefon hatte, man nicht beim Frühstück auf dem Balkon von so einem grässlichen Geklingele gestört wurde, bevor der Tee genügend lang gezogen hatte. Aber das Telefon klingelte weiter. Nie im Leben ein wichtiger Anruf, beruhigte sich Gerrit.
Er war allein. Maria, seine Frau, hatte vor einer Viertelstunde die Wohnung verlassen, sie hatte es eilig, ein wichtiger Termin mit den Leuten von der Postproduktion eines Films über Singles auf dem Lande. Kaum ein Tag verging, an dem sie nicht spätestens um acht Uhr unterwegs war, nachdem sie vorher hastig irgendwo zwischen Schlaf- und Badezimmer einen extra starken Espresso getrunken hatte. Für ihn war das nichts. Er liebte sein gemütliches Frühstück. Am Wochenende frühstückten sie auch nicht gemeinsam. Dann blieb Maria mindestens bis elf Uhr im Bett. Fürchterlich. Regelmäßig um halb acht aufstehen, dann in Ruhe frühstücken, danach mit der Arbeit anfangen, so beginnt ein idealer Tag, da ließ Gerrit nicht mit sich verhandeln.
Und jetzt störte ihn dieser Klingelton. Maria konnte es nicht sein. Wenn sie etwas Dringendes wollte, rief sie über das Festnetz an, weil es billiger war. Einer seiner Kollegen oder Studenten konnte es auch nicht sein, sie kannten diese Telefonnummer nicht. Das war doch gerade das Gute an seinem Beruf, dass er nicht im Büro saß, nicht ständig erreichbar sein musste, sondern sich in Ruhe mit der Zeitung, den Brötchen und den Meisen beschäftigen konnte, die in den großen Buchen auf der anderen Straßenseite rumhüpften.
Das Klingeln brach ab. Gerrit wandte sich seiner Zeitung zu, die ihn mit Berichten über die neuesten Arbeitslosenzahlen, Waldbrände in Kalifornien und über steigende Ölpreise zu fesseln suchte.
Fein gefiltert durch die Blätter der Buchen fielen die Lichtstrahlen auf seinen Frühstückstisch. Wie oft werde ich in diesem Herbst noch auf der Terrasse frühstücken können, fragte er sich, legte die Zeitung weg und nahm sich noch ein Roggenbrötchen aus dem Brotkorb. Jetzt konnte er in Frieden sein Frühstück genießen, allein mit sich, seinen Gedanken und seinem Fencheltee, den er mit etwas Anis, Milch und Honig zu verfeinern pflegte. Nicht dass er diesen Tee, der leicht nach Lakritze schmeckte, besonders gerne gemocht hätte. Aber er musste auf der Hut sein. Koffein oder Tein am Morgen vertrugen weder seine Psyche noch sein Darm, das war eine Erfahrungstatsache.
Die Butter schmolz zu einem gelblichweißen Gebilde. Als er die blau-weiße Butterdose in den Schatten rückte, klingelte das Handy abermals. Ärgerlich fuhr er sich durch seine bereits recht grauen Haare und trank einen großen Schluck Tee, als ob er damit das Klingeln abstellen könnte. Irgendwo in der Ferne tönte die Sirene eines Polizeiwagens. Er beschloss, das Gespräch anzunehmen.
„Ja“, meldete er sich, dabei beobachtete er das Sinken der Staubkörner in den Strahlen des einfallenden Lichts. Es war Rebecca, die Büroleiterin seiner Tante Viktoria, die ihn, so kam es ihm vor, hysterisch oder eher etwas wirr davon in Kenntnis setzte, dass seine Tante spurlos verschwunden sei.
Er kannte Rebeccas Stimme gut, schließlich hatten sie fast sechs Jahre zusammen gelebt, aber in diesem Tonfall hatte er sie noch nie sprechen hören. War es Ungeduld oder Angst, was ihre Stimme einen Ton höher und schärfer klingen ließ?
„Weißt du denn nicht, wo sich deine Tante aufhalten könnte? Sie wollte sich vor einer Woche bei mir melden.“
Er wusste es nicht. Er hatte von seiner Tante Viktoria nach ihrer gemeinsamen Reise nichts mehr gehört. Warum auch, sie standen schließlich nicht ständig in Kontakt. Aber Rebecca sorgte sich offenbar ernsthaft. Es lag etwas seltsam Drängendes in ihrer Stimme.
Er schaute nach oben auf den von leichten Wolkenschleiern überzogenen Himmel, in den ein Hochhaus ragte, und auf die drei Buchen. Da, da lief das Eichhörnchen, auf das er schon gewartet hatte. Viktoria war verschwunden. Gut, oder vielmehr schrecklich, aber was sollte er dazu sagen?
„Entschuldige, aber ich muss gleich ins Institut. Würdest du bitte so freundlich sein, dich zu bemühen, Näheres herauszubekommen? Sobald du mehr weißt, ruf mich doch bitte zu Hause oder im Institut an. Ich denke, dass sich alles bald auflösen wird. Und Dank dir für den Anruf. Viktoria wird wieder auftauchen, keine Angst, da bin ich mir sicher.“
Er legte auf. Sich seinem Quarkbrötchen mit Schnittlauch zu widmen, hatte er jetzt keine Lust mehr. Er ließ es angebissen liegen. Das Gespräch war beendet, doch Rebeccas Unruhe hing wie ein Flirren in der Luft.
Zwei Wochen später hatte Rebecca immer noch nichts herausgefunden. Gerrits Tante blieb spurlos verschwunden. Drei Wochen später erhielt Gerrit abermals einen Anruf von Rebecca. „Gerrit“, sagte sie, „eben hat ein englischer Anwalt bei mir im Büro angerufen, er will, dass du dich mit ihm triffst. Ich habe natürlich sofort gefragt, warum, aber da hat er nur gesagt, er sei von Viktoria bevollmächtig worden, sie zu vertreten. Weitere Auskünfte dürfe er nicht geben. Auch über Viktorias Verbleib war nichts aus ihm herauszuholen. Ich musste diesem eingebildeten Schnösel mit seinem näselnden Englisch versprechen, dich anzurufen, was ich hiermit getan habe. Alles Weitere können wir ja später besprechen." Und schon legte sie auf.
Komisch, fragte sich Gerrit, warum ist Rebecca heute derart kurz angebunden, irritierend kühl? Nach England fahren? Nur weil ein blöder Anwalt kurz angerufen hat? Das klang nicht gut. Die Sache behagte ihm überhaupt nicht. Meine Tante lässt einen Anwalt anrufen, der nur etwas sagt, wenn ich „mal kurz“ nach England düse, ärgerte er sich, komplizierter geht es wohl nicht. Wozu diese alberne Geheimniskrämerei?
Er ging im Wohnzimmer auf und ab, nach einer Weile bemerkte er, dass er immer noch das tragbare Telefon in seiner Hand hielt.
Er setzte sich in seinen Lieblingssessel, um die Aufregung wieder loszuwerden. Ohne Erfolg. Typisch Viktoria, dachte er. Dass sie ihn zu einer gemeinsamen Reise in die Arktis eingeladen hatte, war ja in Ordnung gewesen. Unterwegs hatten sie sich auch ganz gut verstanden. Aber daraus schien sie jetzt zu folgern, sie könnte ihn mal eben so zu ihrem Anwalt nach England zitieren. Weder Viktoria noch der Anwalt hatten es nötig, ihn selbst zu kontaktieren, nein, man ließ die Sekretärin einen Satz, fast einen Befehl, ausrichten! Vor ihm tauchte das Bild Rebeccas auf. Er sah sie an ihrem Schreibtisch sitzen, die braunen Haare leicht rötlich glänzend. Wahrscheinlich trug sie so ein typisches Business-Kostüm, schwarz, elegant. Mit ihrer ausgeprägten Nase und ihrem gebräunten Teint war sie ihm immer wie die Tochter eines erfolgreichen italienischen Geschäftsmannes vorgekommen, voller professioneller Höflichkeit und mit einer Selbstsicherheit, hinter der bisweilen Härte aufschien. Sie ist immerhin über vierzig, sagte sich Gerrit, als er merkte, dass er sich eine jugendliche Heldin zusammenfantasierte. Aber wenn er ehrlich war, dann hatte sie sich erheblich mehr Jugendlichkeit bewahrt als er, der bereits ab Mitte Dreißig ergraut war, was ihn enorm verunsicherte, obwohl oder gerade weil er öfter hörte, das lasse ihn reifer erscheinen. Reifer, wieso reifer, dachte er dann, wirke ich denn so unreif, dass ich nur mit grauen Haaren erwachsen aussehe?
Es fiel ihm ein, dass ihn seine Tante einst vor schönen Frauen gewarnt hatte. „Ein Eskimo“, hatte sie gesagt, „nimmt sich keine schöne Frau, weil er diese ständig ausleihen und um sie kämpfen muss.“ Macht doch nichts, hatte Gerrit bei sich gedacht, den der Gedanke, eine Frau ständig um sich zu haben, beängstigte.
Three little boys cried: „Who is afraid of you?“
When a whale came along and then there were two
Englischer Kindervers
Nicht gerade groß, die Kabine, dachte Gerrit. Hier soll genug Platz für mich und Viktoria sein? Er verstaute seine dicken Wollpullover ordentlich gefaltet in der geräumigen Bettschublade, stellte seine Bücher ins Regal, legte seine gespitzten Bleistifte und den Füllfederhalter parallel an der rechten Schreibtischseite ausgerichtet zurecht.
Bevor er und Viktoria sich in der kleinen Kabine gemütlich eingerichtet hatten, legte der russische Eisbrecher ab. Auf in die Welt des Eises! Volle Kraft voraus in die Anderswelt!
Gerrit freute sich wie ein kleiner Junge auf die Fahrt in die Arktis, zu der ihn seine Tante eingeladen hatte. „Damit du siehst, wo ich gearbeitet und gelebt habe und welches Land ich liebe“, hatte sie gesagt.
Sie hatten sich an einem nebligkalten Sommertag in Longyearbyen, der Hauptstadt Spitzbergens, getroffen und das Arktische Museum besucht, in dem Viktoria ihn auf die Lebensgeschichte einer ostdeutschen Frau aufmerksam gemacht hatte, die in der hohen Arktis als Jägerin und Einsiedlerin gelebt hatte. Was Gerrit jedoch viel mehr beeindruckt hatte, das war die Furcht erregende Statur eines ausgestopften Eisbären. Auf Fotos sieht er geradezu niedlich aus, aber solch einem Ungetüm gegenüberstehen? Er hatte sich schnell abgewendet.
Jetzt suchte er mit der ihm eigenen Ausdauer nach dem idealen Platz für seinen Kulturbeutel. Könnte er hier nicht herunterfallen? Links neben dem Schreibtisch steht er sicher, aber wie sieht das aus? Seine Tante schmunzelte über sein Problem mit der richtigen Ordnung, dem er sich fast besessen hingab. Aber irgendwann war es geschafft. Nun saßen sie sich auf ihren Kojen gegenüber und tranken heißen Tee aus der Thermoskanne. Irgendwo weit, weit weg brummte gedämpft der Schiffsdiesel, der Eisbrecher schwankte sacht und regelmäßig.
Die Tante erzählte, wie sie diese Gegenden als Geologin mit Schiff und Hubschrauber erkundet hatte. Touristen habe es in der Arktis noch nicht gegeben, damals.
Gerrit beobachtete derweil das Licht, das auf das Gesicht seiner Tante fiel. Ein seltsames Rosa. Ist das die Mitternachtssonne? Sieht die Tante deswegen so jung aus? Oder wegen ihres schwarz-rot-grauen Norwegerpullovers mit den beiden Rentieren auf der Brust? Eigentlich erschien mir Viktoria schon immer jünger als ich, obwohl sie meine Mutter sein könnte, ging ihm durch den Kopf, aber nach der langen Anreise und bei dem leichten Schaukeln des Schiffes fielen ihm die Augen zu.
„Das ist wohl meine letzte Reise in die hohe Arktis“, bemerkte seine Tante leise, aber das nahm er schon kaum mehr wahr.
Gerrit liebte es, auf einem Schiff zu schlafen. Das Schwanken lullte ihn ein, die Geräusche erschienen ihm schon bald wie die Musik des Klabautermanns. Sich selbst sah er im Traum als pelzvermummten Helden der Eismeerfahrer – hatte ihn nicht jemand früher „lille Nansen“ genannt?
Der Eisbrecher fuhr an der Westküste Spitzbergens entlang mit nördlichem Kurs auf Smeerenburg. Fast hätte er achtzig Grad nördliche Breite berührt, aber Gerrit raste unterdessen wie Amundsen auf dem Hundeschlitten durch Schneestürme, die seinen Bart weißten, dem Pol zu. Befand er sich nicht plötzlich auf einem eingefrorenen Schiff, dem Eispressungen nichts anhaben konnten? Ohne sich weiter darum zu kümmern, schlief er selig fantasierend weiter.
Gerrit war begeistert, am Morgen ein Labyrinth von Treibeis zu sehen, das vom Schiff krachend und schabend durchbrochen wurde. Große graue Schmarotzerraubmöwen überflogen den hier und dort etwas angerosteten Eisbrecher, um dann in Richtung Küste zu verschwinden. Er saß mit seiner Tante in der Messe, aß sein Müsli und trank Milchkaffee. Viktoria verspeiste bester Laune „Ham and Eggs“. Lachend zog sie ihn auf, als er eine weitere Tasse Milchkaffe vom Buffet zum Tisch bugsierte, dabei jedoch eine Menge verschlabberte: „Nebel, Kälte, raue See sind einfach eine andere Art guten Wetters.“ An das Gehen auf schwankendem Boden würde er sich gewöhnen, hoffte er, während er peinlich berührt seiner braunen Kaffeespur nachsah. An Milchkaffee zum Frühstück aber würde er sich nicht gewöhnen, da war er sich sicher. Dass er aber auch vergessen hatte, Fenchel und Anis mitzunehmen!
„Lass uns aufs Hinterdeck gehen, ins Lee. Holst du uns zwei Decken und die beiden Daunenjacken aus der Kabine?“
Die Dünung hatte zugenommen. Gerrit kämpfte sich stolpernd mit den dicken hellbraunen Wolldecken die Treppe hoch. Viktoria und er wickelten sich in Decken und Jacken und setzten sich von Kopf bis Fuß eingemummt auf die grüne, mit dem Deck verschraubte Holzbank. Eisknisternde Stille. Gerrit kam es vor, als ob er in dieser Ruhe schärfer sehen könnte.
„Guck mal, da hinten“, sagte die Tante, „da bläst ein Wal. Ist das nicht kitschig? Und jetzt zieht dort drüben auch noch ein in der Sonne glitzernder Eisberg zwischen dem Treibeisfeldern vorbei – wie in einem Hollywood-Film! Da fehlt nur noch eine niedliche Robbe und König Eisbär auf seiner Scholle!“
Gerrit erinnerte sich an das ausgestopfte Prachtexemplar aus dem Arktischen Museum. Na ja, vom Schiff aus würde er gern einen dieser lautlosen, gierigen Räuber sehen.
„Wir werden bald in Smeerenburg anlegen, hast du von diesem Ort gehört?“ fragte die Tante. Gerrit schüttelte den Kopf. Er befürchtete, sie werde wieder von „Früher“ erzählen. Ja doch, er erinnerte sich, irgendwo hatte er etwas von einem Walfangfreilichtmuseum gelesen. Schon das Wort war ihm so lang wie ein Wal vorgekommen. Und dann, jetzt fiel es ihm ein, kam dieses Smeerenburg doch in Herman Melvilles "Moby Dick“ vor, klar, da hatten die Holländer den Walspeck ausgebraten, nichts als Schmelzöfen, Tran-Kessel und Ölspeicher. Hoffentlich stinkt es da heute nicht mehr so fürchterlich! Dieser eklige Walgestank!
Es war schon eine Weile her, aber Gerrit erinnerte sich genau daran, wie er vor Jahren einmal in Dänemark auf einen Wal gestoßen war, der am Strand ein paar Tage zuvor verendet war. Er hatte nicht näher heran gehen können, so stank der verwesende Fleischberg. Durch sein Fernglas hatte er den Kadaver betrachtet, aber als der Wind dann doch eine volle Ladung Wal-Aas-Geruch in seine Richtung geweht hatte, hatte er sich übergeben müssen. Und das war nur ein einziger Wal gewesen, dazu ein recht kleines Exemplar.
Viktoria riss ihn aus seinen Gedanken und breitete ihr Wissen über Smeereburg vor ihm aus wie Geschenke auf dem Gabentisch. Als Kind hatte er diese Belehrungen gehasst, jetzt als Erwachsener fand er ihren pädagogischen Eifer eher unterhaltsam. Wenn es ihm zu viel wurde, zog er sich guten Gewissens in die Welt seiner eigenen Gedanken zurück. Zum Glück sagte sie nicht ständig das Gleiche, wie das bei alten Menschen oft der Fall ist.
„Smeerenburg war die Hauptstadt des ersten Ölbooms im siebzehnten Jahrhundert“, dozierte die Tante, während Gerrit sie sich als strenge Lehrerin mit Dutt, Kostüm und Zeigestock vorstellte, die ihn, falls er jetzt nicht aufpasse, übers Knie legen würde. „Bevor Erdöl gefördert wurde, lieferten Wale das Öl für Schmiermittel, Beleuchtung, Heizung und was nicht alles. Wie heute Männer auf die Bohrinseln gehen, um zu Geld zu kommen, gingen sie damals nach Smeerenburg, das fest in holländischer Hand war. Walfang war großes Geld und damit politischer Einfluss. Da ging es nicht zimperlich zu, naja, wie immer, wenn es um Öl geht. Aber die goldene Zeit in Smeerenburg dauerte keine fünfzig Jahre, danach war das Meer ausgebeutet, der Wal fast ausgerottet. Wie heißt es doch bei Richard Wagner? Öd und leer das Meer ...“
Hoffentlich fängt sie nicht auch noch an zu singen, auf „Tristan und Isolde“, vorgetragen von Viktoria, hatte Gerrit jetzt wirklich überhaupt keine Lust. Sie nahm glücklicherweise ihren Faden wieder auf: „Die gleiche Geschichte wie heute: Der Verbrauch war angestiegen, die geförderte Ölmenge gesunken. Walfänger suchten neue Gebiete, die Männergesellschaft in Smeerenburg war am Ende. Außerdem setzte es sich durch, den Tran direkt auf den Schiffen zu kochen, aber das weißt du ja sicherlich schon aus „Moby Dick“, oder?“
Oder? Oder? Oder? Blöde Frage. Natürlich kannte er „Moby Dick“.
In der Pubertät hatte er „Moby Dick“ zum ersten Mal gelesen, mit Glitzeraugen, und sich vorgestellt, der Roman sei mit einer Harpune geschrieben, einer Harpune aus Walbein-Stücken. Dass ein Mann "entmastet" werden könnte, hatte er da gelesen, schauerlich!
Mächtig imponiert hatte ihm Queequeg, der Meisterharpunier mit seinen Tätowierungen. Er selbst hatte keinerlei Tätowierung. In seiner Jugend war so etwas völlig undenkbar gewesen, später hatte er sich nie entscheiden können, welche Stelle er womit verzieren wollte, und zwar für immer. Für immer! Fürchterliche Vorstellung. Dazu kam seine Angst vor den Nadelstichen. Die fehlende Tätowierung hatte ihn aber nie daran gehindert, sich auszumalen, wie er als Harpunier im Fangboot den vorderen Riemen pullt, sich ganz nah an dem Ungeheuer auf dem schwankenden Boot aufrichtet, seine Harpune ergreift, um diese mit all seiner Kraft dem riesigen Tier entgegen zu schleudern. Herrliche Träume wie dieser hatten sein Leben gewürzt. Über Bord zu gehen, das hatte allerdings nie zu seinen Fantasien gehört, selbst in seiner Einbildungskraft hatte er sich nicht derart direkt den Abgründen des Meeres aussetzen wollen.
Später war an die Stelle des wilden Queequeg der vorbildliche Seeoffizier Starbuck getreten. Starbuck und seine Moral, das war ihm vertraut, so hatte man in seiner preußisch geprägten Familie gedacht. Hat man nach diesem Steuermann die Kaffeehauskette benannt? Nach ihm, der an der Berufskrankheit der Helden litt, wie Gerrit das einmal genannt hatte, an einer Art tödlicher Besessenheit? Scott, Amundsen, Franklin und Ahab, all die Helden seiner Jugend, sind Opfer dieser Krankheit geworden, aber damals hatte er sie als Helden verehrt, die einsamen Außenseiter, die Einzelgänger der See.
Er hatte all die Bücher gelesen, in denen der Schnee waagerecht vom heulenden Sturm getrieben bei mindestens minus vierzig Grad ins Gesicht des Helden fliegt, der orientierungslos herumirrt, während die Kälte in seine Knochen beißt, sein Gesicht zerfrisst. In dieser Situation kommt die Läuterung. Irgendwie tobt in den Schlüsselszenen stets ein Schneesturm, aber das war ihm damals nicht aufgefallen, als er unter der warmen Daunendecke liegend mit den halbverhungerten Helden des Nordens mitgelitten und mit dem Walross gekämpft hatte. Ergreifend waren die Stellen gewesen, wo der Held von einem tätowierten Mädchen im Iglu unter der Bärenfelldecke beim flackernden Licht der Tranlampe gewärmt wurde. Ansonsten aber war das mit der weiblichen Welt nicht so einfach gewesen. Dass er viel über die Eroberung ferner Eiswüsten gelesen hatte, hatte ihn für die Eroberung von Frauen nicht gerade fit gemacht. Seine Welt der Schiffe und des Eises war eine Männerwelt, da kam all das irgendwie gefährliche Weibliche nicht vor. Die Welt der Männer, die ist einfach, geordnet, hatte er gedacht, Frauen bringen nur Unordnung, Störungen. Ein einsamer bärtiger Held hatte er sein wollen, wie Scott, der schrieb, bis er erfror, das graue Zelt im schauerlichen Schneesturm bebend, vor sich sein Tagebuch, der letzte Eintrag: „Ich bedaure das nur für die Frauen, die wir zurücklassen. R. Scott“.
Doch irgendwann war seine Pickelphase vorbei, die Eroberung der Eiswüsten war hinab gesunken in die tieferen Schichten seines Unbewussten. An der Oberfläche aber, da hatte sich die Suche nach Frauen durchgesetzt, die andere Schatzsuche … Hatte nicht Scott eine Frau und einen Sohn gehabt?
Mit zwanzig war Gerrit zu der Erkenntnis gekommen, dass er gerne mit Starbuck gesegelt wäre, aber nur als Passagier. Passagiere waren auf diesen Schiffen leider nicht vorgesehen. Aber jede andere Stellung, das wusste er jetzt ganz genau, als er auf einen rosa-grau-bläulich schimmernden Eisberg blickte, eine andere Stellung würde ihm wenig behagen.
Die Tante wies ihn darauf hin, man könne, wenn man genau hinsehe, ganz weit draußen schon wieder einen Wal sehen, aber Gerrit hing seinen Gedanken nach.
Nein, Walfänger war nie sein Traumberuf gewesen. Derart anrüchige Betätigungen waren in seiner Familie undenkbar, Harpunier oder Koch, schockierend, selbst Offizier oder Kapitän unakzeptabel. Je älter er wurde, desto häufiger hatte er sich vorgestellt, der Autor Herman Melville zu sein, so viel gelesen zu haben, solch ein Fachwissen zu besitzen. Dem hatte er nachgeeifert, und zwar mit einigem Erfolg, ja, mit Erfolg, wiederholte er sich. Klar, auf dem Sofa liegen und lesen, das ist doch die beste Position. Besser noch, als hier eingemummt in der Kälte zu sitzen und nach irgendwelchen Walen Ausschau zu halten? Kann nicht der Leser auf seinem Sofa alles miterleben, ohne dass seine Hände vom rauen Hanfseil bluten oder Mutproben tödlich verlaufen? In dem Roman „Moby Dick“ rückt der Wal dem Leser doch wahrlich nah genug!
Wie kommt die Tante nur darauf, er, Gerrit, kenne sich nicht bei „Moby Dick“ aus! Es waren schließlich Melvilles Romane gewesen, die ihn dazu gebracht hatten, Literatur zu studieren. Als Spezialist für Seefahrerliteratur aufgestiegen bis zum Dozenten, Vorlesungen über Seefahrerliteratur, Seminare über Piratengeschichten, einen überall gelobten Aufsatz über Fontanes Forschungen über Störtebecker, Versuch einer Habilitation über Brechts Seeräuber Jenny. Alles vergessen, Tante? Wahrscheinlich, überlegte Gerrit, denkt sie wieder nur an diese uralte Geschichte, die sie immer wieder zum Besten zu geben pflegte: Als kleines Kind war er einmal in ihrer Bibliothek gewesen, begleitet von ihrem mantraartigen „Vorsicht, bitte Vorsicht! Die guten Bücher!“ Damals hatte er mehr auf das Format der Bücher geachtet, auf die Farben des Umschlages und natürlich die Abbildungen darauf. Ein dickes Buch mit einem Walross hatte ihn sehr interessiert, vor allem aber ein Bildband mit Walen. Als die Tante gemerkt hatte, dass er lange lachend die Wale betrachtete, hatte sie erklärt: „Das ist ein Wal. Gerrit, was ist das?“ Aber bei ihm war immer nur ein Wort herausgekommen, das sich wie „Aal“ angehört hatte. Die Gesichter von Tante und Mutter waren immer näher gekommen, immer eindringlicher hatten sie ihm das Wort vorgesprochen: „Wal, Wal, Wal, mit weichem W wie Wasser: WWWaaal!“ Es hatte nicht klappen wollen, für eine Weile war es beim Aal geblieben. Die Antipathie gegen Wale hatte sich Gerrit bewahrt, aber diese Männer, deren Beruf es war, die Wale zur Strecke zu bringen, die verehrte er.
Das Typische lässt kühl, nur das individuell Verstandene macht, dass wir außer uns geraten
Thomas Mann
In Smeerenburg angelandet, sah Gerrit vor allem frisch gefallenen Schnee, darunter, verschwommen, ahnte er ein paar Ruinen. Die Walfänger waren vor Jahrhunderten gegangen, aber lag nicht noch der Geruch von Ausbeutung und Gier in der Luft? Gerrit stapfte frierend und lustlos neben Viktoria durch den weichen Neuschnee. Er war ein Mensch, der sich für Schnee und Eis begeistern konnte, klar, aber hier kam er sich deplatziert vor, wie ein kleiner Junge, der einen Familienausflug grimmig überstehen muss. Trotzig trottete er durch die unzeitgemäße Winterlandschaft. Im diffus gleißenden Licht präsentierten sich ihm die Berge in ihrer entrückten Schönheit wie in einer grobkörnigen Schwarz-Weiß-Fotografie. Ihn überkam das verführerische Gefühl, hier sterben zu wollen, und tatsächlich, ganz kurz, für einen unbeaufsichtigten Moment, gab sein Geist sich auf. Vage fühlte er es …
Sie gingen bald wieder zurück. Als er am Ufer stand, lag im graublauen Licht des wolkenverhangenen arktischen Tages das grüngraue Meer vor ihm. Während er noch darüber nachsann, ob diese grüngraue Farbe nicht den Augen einer Katze ähnelte, fiel sein Blick auf das kleine Beiboot, das dort lag, um Viktoria und ihn zum Eisbrecher zurück zu bringen. Komisch, dachte er, das Schlauchboot, das uns hierher gebracht hat, hat das nicht irgendwie anders ausgesehen? Und das Mutterschiff? Das lag glücklicherweise immer noch etwa eine Seemeile vor der Küste. Es schaukelte leicht in der Dünung. Alles Quatsch, rief er sich zur Ordnung, ich habe zu viele Romane im Kopf, das ist ein schwarzes Schlauchboot mit einem starken Außenborder hinten dran, nichts Besonderes. Dieses ungewohnte Licht verändert meine Wahrnehmung, beruhigte er sich, genau, das wird es sein.
Der Bootsmann wartete, eingehüllt in seine dicke Jacke. Über den Kopf hatte er sich eine Art Sturmhaube gezogen. Mit diesem vermummten Typ sollen wir fahren? Nur wir beide, ganz allein? Na ja, dachte er, die anderen Passagiere des Eisbrechers haben klüger gehandelt, sie sind direkt an Bord geblieben, haben sich nicht von ihrer Neugier dazu verführen lassen, zu einem Ort zu fahren, an dem es eigentlich nichts zu sehen gibt.
Kaum waren sie eingestiegen, ging es los, und zwar mit ordentlichem Tempo. Der Bootsmann wollte wohl zeigen, was er und sein Außenborder alles können. Er ließ das Boot über die Eismeerwellen springen. Dann klatschte der Bug ins aufspritzende Wasser, was wie eine scharf eingestellte eiskalte Dusche im beißenden Nordwind wirkte.
„Geht es nicht etwas langsamer?!“, versuchte Viktoria den Vermummten zu zügeln. Zuerst auf Englisch, dann in strengerem Ton auf Deutsch, dann laut und energisch auf Norwegisch. Keine Reaktion.
War die schwarze Gummiwulst, auf der sie saßen, auch relativ breit, so war es in dem springenden glitschigen Schlauchboot gar nicht einfach, einen sicheren Halt zu finden. Sie duckten sich vor dem scharfen Wind, sie klammerten sich an die Seile, die seitlich an dieser Gummiwulst gespannt waren. Als eine größere Dünungswelle anrollte, zog Viktoria den vor Schreck erstarrten Gerrit im letzten Moment herunter auf den Boden des Boots. Dieses hob sich wie ein bockendes Pferd, um gleich danach ächzend und bebend auf die Wasseroberfläche zu knallen.
„Will der uns nur Angst einjagen oder uns umbringen?“, zischte die halb erfrorene Tante Gerrit zu, der nicht so recht wusste, ob er sich vor Kälte oder vor Angst kaum bewegen konnte. Es schien ihm, als würde der eiskalte nasse Wind durch ihn hindurch wehen. Als Gerrit mit Mühe kurz den Kopf hob, sah er, wie vom Mutterschiff her ein weiteres Beiboot auf sie zukam. Es tanzte auf den Wellen, flog dahin und hatte sie bald erreicht. Was jetzt geschah, bekamen sie nicht so recht mit. Sie lagen auf dem Boden des dahin schießenden Schlauchboots, die Augen gefüllt mit kaltem Salzwasser, das schmerzte wie tiefgekühlte Tränen. Die Kälte hatte ihre Kleidung und ihr Fleisch überwunden, um in die Knochen zu kriechen und den Körper von innen her erst zittern, dann erstarren zu lassen. Innerlich und äußerlich fühlten sie sich taub und nass. Vage nur bemerkten sie, dass sich der Fahrstil geändert hatte. Als es ihnen gelang, wieder aufzuschauen, war der Vermummte verschwunden, an seine Stelle war der zweite Offizier getreten, der grimmig lächelnd zu ihnen hin sah.
Endlich an Bord des Eisbrechers angelangt, murmelte ihr Retter irgendetwas wie „Asshole!“ Er schüttelte bedenklich seinen Kopf dazu. Laut sagte er: „Sie dürfen immer nur in mein Schlauchboot einsteigen, verstanden?“
Viktoria murmelte ein halbverständliches: „Aye, aye, Sir“ und schüttelte den Kopf.
„Ich hatte das Gefühl, der wollte uns umbringen“, stotterte Gerrit, der vor lauter Zittern kaum sprechen konnte. Er ärgerte sich maßlos über sich selbst. In Gefahrensituationen soll man sich aufspalten in eine handelnde und eine distanziert beobachtende Person, hatte er einst gelernt. Lächerlich, dachte er, jetzt steht die beobachtende Person schlotternd da, ohne jede Distanz. Sie schafft es kaum, sich die triefend nassen Haare aus dem Gesicht zu wischen. Nein, zum Abenteurer war er nicht geboren. Er stand vor seiner Tante und kam sich wie ein kleiner verzagter Junge vor.
„Die Arktis ist unberechenbar“, gab diese seltsam abgeklärt von sich. „Die Inuit sagen: Die Geister helfen nie den Bekümmerten und Verzagten. Das solltest du dir merken, wenn du mit mir reist.“
Gerrit hatte mehr als genug von ihren Sprüchen. Dieses Wort „Inuit“ ging ihm auch auf die Nerven. Warum sollte er nicht Eskimo sagen? Aber das gehört sich doch nicht! Wie oft hatte er das von seinen Eltern gehört, das darf man nicht, das tut man nicht. Hatte er nicht noch als junger Erwachsener gegen dieses „das gehört sich nicht“ rebelliert? Und warum? Jetzt sollte er kuschen, dieses Wort nicht benutzen, weil das angeblich ein böses Wort ist, obwohl diese Eismenschen sich zum Teil doch selbst dagegen wehren, als Inuit bezeichnet zu werden. Sein Gesicht wurde immer finsterer. Er bedauerte, nicht bei seinen Büchern geblieben zu sein.
„Komm, vergessen wir das alles. Wir duschen heiß, gehen danach in die Messe, da wird es wohl einen steifen Grog oder Ähnliches für uns geben. Ein Seeabenteuer eben ...“, mit diesen Worten zog Viktoria ihn schnell in die Kabine.
Nach dem Duschen schien Viktoria wieder die Alte zu sein, amüsiert distanziert. „Eine Kabine mit Dusche, welch ein Luxus auf solchen Schiffen heute herrscht“, wunderte sie sich, „zu meiner Zeit hatten wir zwei Duschen für das gesamte Schiff, wovon mindestens eine ständig defekt war.“ Sie musste kichern: „Und es ist wirklich fein mit dir zu reisen, du hast mir beim Duschen den Vortritt gelassen, wenigstens deine gute Erziehung ist geblieben.“
Während Gerrit sich penibel abtrocknete, danach seine Sanddorn-Hautmilch konzentriert über seinen Körper verteilte, als ob ihm das Stabilität verleihen könnte, plauderte Viktoria von der Navigation der Inuit: „Mich wundert immer wieder, wie die Inuit wie die Polynesier ohne Kompass, Sextant und Karte einen Kurs auf dem Meer sicher bestimmen. Mir hat jemand erzählt, es seien die Muster der Wellen, ihr Klang, ihre Form und Farbe sowie die Veränderungen des Himmels, die ihnen den Weg zeigen. Ich vermute, sie besitzen eine geistige Karte im Kopf, deren Mittelpunkt ihr Kajak ist. Im Grunde, wenn ich es mir recht überlege, denken sie gar nicht in Richtungen, sondern in Wirkungen, Wirkungen, die für sie wichtig sind. Vielleicht sollten auch wir so denken?“
Gerrit hörte nicht zu, was interessierte ihn die Navigation der Inuit. Er wäre jetzt lieber allein gewesen, ging aber trotzdem mit seiner Tante in die Messe, wo es Kuchen und heißen Kakao mit Rum gab.
„Woher weißt du das alles mit Smeerenburg, dem Walfang und der Navigation?“, fragte Gerrit seine Tante. Er hoffte, er könne mit dieser Frage das gerade überstandene „Seeabenteuer“ aus seinem Kopf verscheuchen. Sie kaute zu Ende, nahm einen Schluck Kakao, so dass die weiße Sahne einen Schnäuzer auf ihre Oberlippe zeichnete und begann: „Aber Gerrit, meine Firma sucht doch für Konzerne nach Erdöllagerstätten in der Arktis, das müsste sich doch sogar bis in deine Studierstube herumgesprochen haben. Na ja, da interessiert man sich eben für die Geschichte des Öls. Weiß du denn nicht, mein Vater, dein Großvater Oskar, der hatte doch auch mit Öl zu tun. Erst hat er mit Kohlen gehandelt, später dazu noch zwei Tankstellen eröffnet.“
Will sie mir jetzt meinen Großvater als Ölmagnaten verkaufen, nur weil er zwei Tankstellen betrieben hat, dachte Gerrit. Aber weil er merkte, dass dieses Thema nicht so recht dazu geeignet war, die Angst wirklich wegzudrängen, sagte er nur so dahin: „Als Tankwart hat man natürlich mit Öl zu tun.“
„Aber Gerrit, anstatt ständig irgendwelche Bücher zu lesen, hättest du dich lieber öfter mit deinem Großvater unterhalten sollen. Der war ein leidenschaftlicher Spieler. Wenn wir auf den Jahrmarkt gingen, kaufte er immer Lose. Wir gewannen die verrücktesten Sachen. Ich kann mich noch an ein riesengroßes rosa Krokodil erinnern. Das war größer als ich damals.“
Bevor Gerrit fragen konnte, was ein Jahrmarkt-Krokodil mit arktischem Öl zu tun haben könnte, näherte sich der Kapitän ihrem Tisch und verbeugte sich fragend, ob er sich setzen dürfe.
„Entschuldigen Sie die Störung. Aber ich möchte mich offiziell bei ihnen für den Vorfall von vorhin entschuldigen. Wir haben alles von der Brücke aus beobachtet. Es ist mir ein Rätsel. Der Mann gehört nicht zu meiner Mannschaft. Ich weiß nicht, woher er gekommen ist, und auch nicht, wohin er verschwunden ist. Entschuldigen Sie nochmals.“ Er verbeugte sich galant lächelnd zuerst zu Viktoria, dann zu Gerrit hin. „Darf ich Sie zu einem Glas Champagner einladen?“
Gerrit war verblüfft, als seine Tante augenzwinkernd bemerkte: „Sir, das sollte Ihnen schon eine ganze Flasche wert sein.“
Man plauderte über den Tourismus in der Arktis, unterhielt sich über Eisbären und Walrosse.
„Leute wie Sie werden leicht für Umweltschützer gehalten“, gab der Kapitän zu bedenken, „und wenn es eine Gruppe von Menschen gibt, die die Inuit hassen, dann sind das die Umweltschützer. Die Walfänger“, erzählte der Kapitän in gesprächiger Champagner-Laune oder weil er Viktoria imponieren wollte, „die sie Upernaallit - das heißt „die im frühen Sommer kommen“ - genannt haben, standen den Inuit näher als die Forscher. Wissen sie, wie sie die Forscher genannt haben? Bäume-Zähler. Bäume zu zählen, das ist für einen Jäger so ungefähr das Letzte.“
„Hat nicht Inik, jener von Peary nach New York entführte Inuit, die Arktis-Forscher als wissenschaftliche Kriminelle bezeichnet?“, wandte Viktoria eifrig ein.
Jetzt packt sie wieder ihr Wissen aus, wie peinlich, ärgerte sich Gerrit, oder wird sie wie viele Frauen von Uniformen und Autorität magnetisch angezogen? Vielleicht ist das ihr schwacher Punkt?
„Ja schon, gnädige Frau“, fuhr der Kapitän fort, „aber die Forscher wurden nur belacht, mit ihnen haben die Inuit Scherze getrieben, bisweilen ziemlich grobe. Mit den Walfängern haben sie gehandelt, manche berichten auch, sie hätten Frauen gegen Waren eingetauscht. Die Inuit waren ja Jäger, genauso wie die Walfänger, das hat zu einer gewissen Verbundenheit geführt. Aber die Tierschützer, diese Tierschützer sind für die Inuit die Abkömmlinge der Leute, die ihre Gewässer ausgeplündert haben und die ihnen jetzt die Jagd verbieten, die Jagd, die für einen Eskimo doch Lebensgrundlage und Lebensinhalt ist.“
Er besann sich und hielt inne. „Aber dass es hier in Spitzbergen so sein soll wie auf Grönland, das ist eigenartig. Auf Spitzbergen leben doch gar keine Inuit.“
Er schüttelte versonnen seinen kantigen Kopf: „Das ist alles nicht so einfach hier oben. In der Arktis herrscht eine ungewöhnliche Ordnung. Was wir sehen, ist unsere Fantasie von Menschen, die wir mit dem Fernglas am anderen Ufer suchen.“
Nach diesem etwas rätselhaften Satz verbeugte er sich wiederum mit einem verbindlichen Lächeln und verschwand mit sicherem Seemannsgang.
„Wollte der Kapitän uns weiß machen, wir wären von Einheimischen angegriffen worden, weil die uns für Tierschützer gehalten haben?“, wandte sich Viktoria an Gerrit, dem das Ganze völlig rätselhaft war. „Und was ist denn mit dem Vermummten passiert? Der muss doch in das andere Schlauchboot umgestiegen sein, oder?“, gab Gerrit zu bedenken. Beide ärgerten sich, weil sie auf dem Boden des Schlauchbootes zitternd fast gar nichts gesehen hatten.
Viktoria änderte abrupt das Thema: „Zurück zu deinem Großvater. Oskar war ein Spieler, der keine Verlosung auslassen konnte. Einmal hat er einen großen Treffer gelandet: Bei der Weihnachtstombola einer Ölfirma hat er den Hauptgewinn gezogen – Anteilsscheine an einem Ölfeld. Sag mal, ist da noch ein Glas Champagner in der Flasche für mich?“
Die beiden tranken auf ihr „kleines Seeabenteuer“. Treibeis brach knirschend am Bootsrumpf. Dichter Nebel war aufgezogen, die Luft des Lichts beraubt, das Meer immer noch unruhig.
„Und deshalb konnte er eine zweite Tankstelle eröffnen?“, fragte Gerrit, dem die ganze Geschichte komisch vorkam. Sein Großvater im Ölgeschäft? Das hätte sogar er mitbekommen.
„Die gewonnenen Anteilsscheine hatten den Haken, dass Ölquellen nicht von alleine sprudeln. Er besaß zwar Anteile an den Förderrechten, aber so lange nicht gefördert wurde, nutzte ihm das wenig. Gelder für die Förderung zu besorgen, das war für Oskar einige Nummern zu groß, so viel Geld konnte er einfach nicht auftreiben. Lange Rede, kurzer Sinn: Die Anteilscheine blieben faktisch wertlos. Das hat ihn fürchterlich geärgert, keiner durfte ihn auf seine Ölquellen ansprechen, bald war das Thema Öl in der Familie tabu.“
Ach du Schreck, dachte Gerrit. Er konnte sich schon genau vorstellen, wie die Geschichte weitergehen würde, schließlich konnte man solche kleinen Familiendramen in allen möglichen schlechten Romanen lesen: Viktoria, die Lieblingstochter ihres Vaters, sieht als Kind die Schande des Vaters. Sie nimmt sich vor, die Familienehre wieder herzustellen. Sie wird Geologin, Spezialistin für Lagerstätten in der Arktis, immer auf eine Chance lauernd, doch noch an Vaters Ölquelle heranzukommen. So eine blöde Story, dachte er, aber da er ein höflicher Mensch war, nickte er seiner Tante schweigend zu.
Nach zwei ereignisarmen Seetagen erreichten sie bei strahlendem Sonnenschein den Eingang zum Scoresbysund. Über Grönlands Gletscher spannte sich ein mächtig blauer Himmel, riesige Eisberge trieben wie durchscheinende Massen weißen Carrara-Marmors mit der Strömung des Sunds dahin. Bizarre Eistrümmer von der Größe eines Wohnblocks lagen gekentert vor der Küste. Es glitzerte und funkelte. Gerrit blinzelte und merkte, wie das arktische Licht das Auge bekämpft. In der Eiswelt sieht man anders, ging ihm durch den Kopf.
Mir, mir Armen war mein Büchersaal
Als Herzogtum genug
William Shakespeare
Es war ein sonniger Morgen, wie es sich für einen Geburtstag gehört. In seinem Arbeitszimmer saß Gerrit vor seinem Notizbuch und überlegte lange. Dann schrieb er mit königsblauer Tinte in fast kindlicher Schönschrift, jeder Buchstaben klar und rein, einen kleinen Satz in sein Notizbuch, der ihm fundamental erschien: „Ich bin buchbesessen.“ Er sah sich seinen Eintrag an. Ja, er war zufrieden mit diesen drei Worten. Brachten sie nicht sein bisheriges Leben auf den Punkt?
Seinen fünfundvierzigsten Geburtstag wollte Gerrit mit seiner Frau Maria mit einem Abendessen in ihrer Wohnung feiern. Harmonisch, ein Stück Ehe-Idyll stellte er sich vor, wenigstens an seinem Geburtstag, das schien ihm nicht zu viel verlangt. Sie wollten gemeinsam kochen, doch Maria kam nicht.
Gerrit trug freudig das „gute“ Geschirr auf und dekorierte sorgfältig den Tisch. Das hatte er schon als Kind gerne gemacht: Besteck, Teller, Gläser und Servietten nach einem immer wieder leicht variierten Schema akkurat auszurichten. Kerzen durften nicht fehlen, klar. Er trank schon mal ein Glas Wein und putzte das Gemüse. Dann noch ein Glas Wein. Danach stellte er den Reis auf. Irgendwann kam Maria, strahlte Stress aus, sagte nicht viel. Sie tranken ein Glas gemeinsam, Maria übernahm die Zubereitung des Hühnerfrikassees, gab kurze Anweisungen und redete ansonsten nicht viel. Hatte sie beruflichen Ärger gehabt? Gerrit wusste es nicht. Er bemerkte nur, dass die Stimmung irgendwie frostig war. Ärger mit Kollegen, schlechte Laune? Woher sollte er das wissen. Er trank noch ein Glas Wein, Maria wollte nicht mittrinken. Könnte sie nicht wenigstens an seinem Geburtstag eine bessere Stimmung verbreiten? Aber sie blieb weiter wortkarg, so wortkarg, gestand Gerrit sich ein, war sie häufig, es fiel nur nicht so auf, weil sie recht wenig Zeit miteinander verbrachten.
Da ihm nichts Besseres einfiel, plauderte Gerrit von dem Arktisforscher Knud Rasmussen, der die Mythen und Sagen der Inuit gesammelt hatte, volkstümliche Erzählungen, die die Grausamkeiten der Grimm`schen Märchen bei weitem in den Schatten stellten, was er mit einigen Beispielen illustrierte. Das war beim Hühnerfrikassee auf Reis. Bei den frischen Erdbeeren mit Schlagsahne erwähnte er, dass Rasmussen nach einem Festmahl an Fleischvergiftung gestorben war. „Es war ein eingelegter Alk, so eine Art Pinguin der nördlichen Meere, den manche für eine Delikatesse halten“, erklärte Gerrit ohne in seiner Rotweinlaune zu bemerken, wie seine Frau ihn angeekelt anschaute, als ob kleine weiße Maden aus diesem Alk heraus kriechen würden. Nach einem weiteren Glas Wein kam der Ausbruch. „Ich will nicht mehr“, sagte sie, „mit deinem Gerede hast du die ganze Stimmung kaputt gemacht, ich will das Essen und den Wein genießen, aber du erzählst mir ekelhaftes Zeugs, das du irgendwo gelesen hast. Und das soll sensibel sein?“
Gerrit wollte gerade ansetzen, zu erklären, dass er das doch gar nicht so gemeint habe, da sprang sie auf, warf ihren Stuhl um und schrie: „Was siehst du überhaupt? Kriegst du denn noch irgendwas mit, was nichts mit Büchern, Eishelden und Autoren zu tun hat? Du hast die Bücher für deine Innenwelt, die Außenwelt brauchst du nur für deinen Sex! Ekelhaft bist du, völlig beschränkt, so was wie Mitgefühl und Innigkeit kennst du überhaupt nicht! Typisch Mann!“
Er stand schweigend auf und zog sich, ohne sich umzuwenden, in sein Arbeits- und Schlafzimmer zurück.
So eine dumme Kuh, ärgerte er sich, sie weiß doch ganz genau, was Bücher mir bedeuten. Woher kommt das Geld für diese große Wohnung? Weil ich mich mit Büchern beschäftige, verdammt noch mal! Gerrit war wütend. Die Sache schien ihm völlig logisch zu sein: Seine Frau war auf seine Bücher eifersüchtig, das war’s, sie wollte einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeit nieder machen, wollte ihn völlig unter ihre Kontrolle zwingen. Nichts da, nicht mit ihm! Ich brauchte keine „feste Beziehung“! Feste Beziehung, Festung Beziehung, Festungshaft Beziehung, nein, dachte er, ich durchschaue das Theater, jetzt gilt es, klare Entscheidungen zu treffen. Er wollte kein Ehekrüppel werden! Trennung – das schien ihm die einzige klare Entscheidung zu sein. „Sie oder ich“, sagte er laut, „wenn diese Frau nicht bis morgen Mittag die Wohnung verlässt, werde ich diese Wohnung nicht mehr betreten!“ Klare Sachen wollte er machen, sich auf kein Palaver mehr einlassen, fest bleiben.
Als er sich ins Bett legte, fiel ihm der finanzielle Aspekt der ganzen Sache ein. Er versuchte zu kalkulieren, was ihm die Scheidung kosten würde, aber die Zahlen schwirrten ihm nur noch durch den Kopf. Egal, sagte er sich schließlich, hier geht es nicht ums Geld, sondern um mich.
Als Gerrit am Morgen aufwachte, war sein Zorn ein Stück weit verflogen. Bestimmt kommt sie mich wecken, hoffte er, wenn sie einsieht, wie verrückt es ist, auf meine Bücher eifersüchtig zu sein. Das wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Gerrit blieb so lange im Bett liegen, wie er konnte, und wartete. Aber sie kam nicht. Er stand auf und überlegte. Wenn sie nicht einsieht, dass sie etwas gegen diese alberne Eifersucht tun muss, geht alles unselig weiter. Nein, dann hat sie eine Schlacht gewonnen. Sie wird hier ein Stück von meinem Gebiet besetzen, dann da ein Stück, dann noch eins. Er stapfte im blaugestreiften Schlafanzug zwischen Bett und Schreibtisch hin und her. Sein Forschungsjahr fiel ihm ein, nur noch knapp zwei Wochen und dann bräuchte er ein ganzes Jahr nichts zu tun als zu lesen und an einem Buch zu arbeiten, ungestört, in seiner eigenen Ruhe, herrlich. Und da wollte ihm diese Frau seinen Raum, sein bisschen Freiraum wegnehmen, ihn wie einen Kanarienvogel in einen Käfig sperren! Fast hätte er vor Wut dem Kleiderschrank einen kräftigen Tritt versetzt. Stopp, sagte er sich, cool bleiben, wenn ich mein Forschungsjahr nicht mit Beziehungsgezänk verplempern will, muss ich jetzt meine Koffer packen und raus. Andere Luft, andere Umgebung, Ruhe zum Denken und Arbeiten, das ist es.
Er packte ein paar Sachen zusammen und fragte seinen Freund Georg, ob er bei ihm übernachten könnte. Als er am nächsten Morgen mit Georg zusammen beim Frühstück saß, rief ihn Rebecca an. Der Anwalt drängelte, er möge doch bitte innerhalb eines Monats vorbeikommen. Gerrit begriff sofort die Chance, die sich ihm bot and sagte: „Klar, ich würde am liebsten noch heute fliegen, morgen würde es auch gehen.“ Rebecca ließ sich ihre Verblüffung nicht anmerken und antwortete nur trocken, sie werde sich um Flugtickets bemühen.
Ein paar Stunden später war alles vorbereitet, die Flüge gebucht, der Mietwagen bestellt. Er würde in Viktorias Haus wohnen und von ihrem Anwalt hören, was der ihm mitzuteilen hatte. Rebecca mailte ihm Abfahrts- und Ankunftszeiten zu, die Adresse des Anwalts, die Fahrtroute und erinnerte ihn an die Zeitverschiebung. Unter der Aufstellung wünschte sie ihm nochmals eine erfolgreiche Reise. Sie hatte alles mit Rebecca gezeichnet, ohne Nachnamen, aber auch ohne ein handschriftliches Zeichen. Darunter stand noch: „Pass auf mit dem Linksverkehr. Du weißt, der Straßenrand darf nie an deiner Fahrerseite sein.“
In der gläsernen Abflughalle des Flughafens schoben genervt wirkende Menschen emsig ihre gepäckbeladenen Trolleys vor sich her. Es war noch früh am Tag, aber trotzdem standen schon viele Fluggäste in der Schlange an der Sicherheitskontrolle. Als diese einschüchternde Maßnahme überstanden war, ließ er sich einer jungen Frau gegenüber in einen Metallstuhl fallen, dessen Härte ihn nicht willkommen hieß.
Die junge Frau, die erstaunlich tiefschwarzes dichtes Haar hatte, zog ein buntes Magazin aus ihrer Einkaufstasche. Sie schlug es mittendrin auf. Gerrit bemerkte, wie er mit seinem Fuß wippte, dazu im Rhythmus ständig die Schultern hochzog. Das wird schon alles glatt gehen, sagte er sich, um sich zu beruhigen. Er betastete zum dritten Mal die Innentasche seiner Jacke, in die er seinen Pass gesteckt hatte, suchte fahrig seine Boarding Card, fuhr bei jeder Lautsprecheransage auf, vor lauter Angst, er könne seinen Flug versäumen.
Gerrit hatte noch nie einen Flug verpasst, aber die ganze Sache ließ ihn einfach nicht los. Erst verschwindet die Tante spurlos, dann dieser dringende Termin bei ihrem Anwalt. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Dieser Anwalt hätte doch wenigstens mitteilen können, worum es denn nun ging! Telefonisch war er nicht zu erreichen, auf eine E-Mail antwortete er entschuldigend, er sei leider nicht befugt, vor ihrem Treffen etwas zu sagen. Das sei die Anweisung seiner Klientin. Blöde Geheimnistuerei! Müssen sich Anwälte derart wichtig geben oder ist das die feine britische Art?
Die junge Frau gegenüber blickte von ihrem Magazin auf. Gerrit konzentrierte sich auf seinen Fuß: Jetzt nur nicht nervös rumzappeln. Aber sie vertiefte sich wieder in ihre Lektüre, jedenfalls tat sie so als ob.
Warum ließ Viktoria ihn nach England fliegen? Klar, sie ist meine Tante, dachte Gerrit, aber mehr auch nicht. Nach dem plötzlichen Tod der Eltern hat sie sich ein wenig um ihn gekümmert, doch um wieder Sohn zu werden, war er viel zu alt. Ein paar E-Mails meist über Filme, Bücher oder kulturelle Ereignisse in Berlin, einige Kurzbesuche, das war es dann schon gewesen. Und die gemeinsame Arktisreise, klar, aber war das ein Grund, ihn jetzt zu ihrem Anwalt nach England zu zitieren, zu so einem wichtigtuerischen Paragrafenknecht, der ihm noch nicht einmal verraten wollte, was denn nun Sache ist? „Traue niemals einem Anwalt“, hatte Rebecca ihm neben ihrer Linksfahrregel mit auf dem Weg gegeben. Ob das nur eine dumme Redensart oder ein ernst zu nehmender Tipp von Rebecca war, war ihm nicht klar. Dass Frauen sich nie klar ausdrücken!
Als er an Rebecca dachte, fiel ihm auf, dass ihn die junge Frau mit ihren schwarzen Haaren irgendwie an sie erinnerte. Aber wieso? Die Haarfarbe konnte es nicht sein, Rebecca färbte sich ihre Haare kastanienbraun. Aber diese Haltung, etwas gelangweilt, distanziert, trotzdem jederzeit völlig sich der eigenen erotischen Ausstrahlung bewusst. Das könnte Rebeccas Schwester sein, ging ihm plötzlich durch den Kopf, vielleicht hat sie ihre Schwester damit beauftragt, mich zu bewachen?
Könnte es sein, dass Rebecca etwas mit Viktorias Verschwinden zu tun hat? Gut, sie wird sie nicht direkt umgebracht haben, üü