Matthias Hahn
Wächter des Paradieses
Teil 1
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Ein ungewöhnliches Arbeitsessen
2. Von Professoren und Privatdozenten
3. Gothic-Disco im Memphiskeller
4. Zeichnungen und Fresken
5. Die Reise nach Edirne
6. Der Kuss des Engels
Impressum neobooks
Der kalte Luftzug brachte den General zum Frösteln. Oder war es die Ungeheuerlichkeit seines Vorhabens, die ihm den Schauder über den Rücken jagte? Er blickte auf das Schwert in seiner Hand. Dann nickte er den anderen zu und betrat das Schlafgemach. Sein Opfer lag auf dem Boden. In frommer Askese hatte der Kaiser von Byzanz die Weichheit des Bettes verschmäht und sich auf einem Fell zum Schlaf ausgestreckt. Der General zögerte. Stumm bedeutete er den Verschwörern zu warten. Nicht zum ersten Mal tötete er einen Menschen. Er wusste nicht, wie viele Söhne der Hadith er in die Dschehennah geschickt hatte, wie viele Frauen und Kinder bei seinen Beutezügen ums Leben gekommen waren. Aber stets hatte es sich um Feinde gehandelt, um Ungläubige. Er hatte das Blutwerk im Auftrag des Allmächtigen ausgeführt. Der gute Zweck hatte das Töten geheiligt. Doch erfüllte er auch heute den Willen des Herrn?
Sein Opfer lag wehrlos vor ihm, noch schwerer aber wog: Er hob sein Schwert gegen den Kaiser der Christenheit, den Vertreter Gottes auf Erden. Es war eine Todsünde, ihn abzuschlachten.
Der General erinnerte sich. Einst war ihm der Herrscher ein väterlicher Freund gewesen. Der Kaiser hatte ihn das Handwerk des Befehlshabers gelehrt, hatte ihm gezeigt, wie man Soldaten für ihre grausame Arbeit begeisterte, wie man Tod und Verderben über die Hadithsöhne brachte. Seine Soldaten und sein Volk hatten ihn als Helden gefeiert, hatten ihn „den bleichen Tod der Sarazenen“ genannt. Doch jetzt hießen sie ihn nur noch „Mörder“. Fromm bis zur Askese, war der Kaiser hart geworden. Seine ständigen Kriegszüge im Namen des Glaubens hatten Armut und Hungersnot über seine Untertanen gebracht. Unruhen erschütterten die Hauptstadt, Steine flogen, wenn der Vertreter Gottes sich in der Öffentlichkeit zeigte, Schmährufe wurden ausgestoßen, wo immer man seine eindrucksvolle Gestalt erblickte. Der Kaiser aber beantwortete all diese Bekundungen des Unmuts mit den einzigen Mitteln, die er kannte: mit Härte und Grausamkeit. Kaum ein Tag verging, an dem er nicht eine neue Hinrichtung befahl. Doch damit fachte er die Wut der einfachen Leute nur noch heftiger an. Die Stadt stand kurz vor einem Aufstand, der das Reich in seinen Grundfesten erschüttern würde. War es nicht ihrer aller heiligste Pflicht, den Despoten zu beseitigen?
Der General blickte sich zu seinen Mitverschworenen um. Einige murmelten lautlose Gebete, um Jesus und die Apostel für ihre Tat um Verzeihung zu bitten, aber keines der Gesichter zeigte auch nur die geringste Spur von Mitleid. Nur Hass und Zorn konnte er in ihnen lesen, und grimmige Freude, dass der Tag der Abrechnung nun endlich gekommen war. Auch am Hof hielten nur noch wenige zum Tyrannen.
Die Kaiserin betrat das Zimmer. Wie jedes Mal, wenn der General sie erblickte, raubte ihre Erscheinung ihm den Atem. Theophanu war die schönste Frau des oströmischen Reiches. Einst war sie Schankdirne gewesen, in einer Taverne von recht zweifelhaftem Ruf. Dann hatte Romanos II., der Vorgänger des Kaisers, sie zu seiner Frau erhoben. Bald darauf war Romanos gestorben; um einen Bürgerkrieg zu vermeiden, hatte Theophanu dem mächtigsten Befehlshaber des byzantinischen Heeres das Jawort gegeben und ihn somit zu Romanos’ Nachfolger erkoren. Doch nun …
Der General blickte in ihr Gesicht – auch dort konnte er nur Hass erkennen. Auch Theophanu hatte unter der brutalen Strenge ihres Gatten gelitten. Sie war es, die diese Verschwörung in die Wege geleitet hatte. Sie hatte den General zum Nachfolger des Kaisers erkoren. Sie liebte ihn, begehrte ihn mit der gleichen Leidenschaft, mit der sie ihren Gemahl verabscheute.
Und der General liebte sie. Er würde alles geben, um seine Angebetete aus der Knechtschaft ihrer Ehe zu befreien, alles, um sich ihrer Liebe wert zu erweisen. Und genau das war es, was seine Tat zur Sünde degradierte. Sein innerster Antrieb war nicht, das Reich Gottes von der Gewaltherrschaft des Kaisers zu befreien, seine Motive waren von niedriger, eigennütziger Natur. Dafür würde er ewige Schuld auf sich laden, würde Höllenfeuer und Verdammnis auf sich ziehen. Er würde sich verachten, sein Leben lang; und auch Theophanu würde er verfluchen, nie wieder würde er ihr in die Augen blicken können, ohne an die heutige Bluttat zu denken.
Nun denn, es war zu spät, von dem Vorhaben abzusehen. Er nickte den anderen zu und hob seine Klinge. Die Verschwörer traten vor. Der Kaiser erwachte, von den Geräuschen geweckt, die die Stiefel der Attentäter verursachten. Er fuhr auf, sah die grimmigen Gesichter seiner Feinde, fasste nach dem Schwert, das sich stets in Griffweite befand. Da erblickte er das Antlitz seiner Gattin, die er über alles liebte, und die ihn nun verriet …
„Entschuldigung.“ Die Stimme einer Kommilitonin weckte Richard Kronau aus seinen Träumen.
„Kann ich mal den Ostrogorsky haben?“, fragte die recht korpulente junge Frau und deutete auf eines der Bücher, die auf Richards Arbeitstisch lagen.
„Aber natürlich“, murmelte Richard ein wenig unwillig und versuchte mühsam, sich in der Realität zurechtzufinden.
„Danke.“
Die Studentin griff sich den Wälzer und setzte sich an den Tisch vor Richards Arbeitsplatz.
Seufzend warf Richard einen letzten Blick auf die Beschreibung des Mordes an Kaiser Nikephoros in den Historien des Leon Diakonos, dann klappte er entschlossen den Band zu und verscheuchte die Bilder, die die Lektüre in ihm ausgelöst hatte. Es war nicht seine Aufgabe, sich längst vergangene Ereignisse auszumalen, er befand sich nicht im fackelbeschienenen Palast von Konstantinopel, und er hielt sich nicht im Jahr 969 auf, wo man für alle seine Taten und Untaten den Willen Gottes verantwortlich machen konnte. Man schrieb den 31. März 1990, und Richard saß im neonbeleuchteten Lesesaal der Universitätsbibliothek in Würzburg. Er war selbst für sein Handeln verantwortlich und musste sich dringend um seine Magisterarbeit kümmern, musste endlich herausfinden, wie er sich an sein Thema herantasten sollte.
Richard Kronau war Student der Byzantinistik, er befand sich inzwischen im dreizehnten Semester, und es wurde höchste Zeit, dass er sein Studium zu Ende brachte.
Er griff sich eines der Bücher, die er sich zu diesem Zweck an den Arbeitstisch geholt hatte: „Geschichtsschreibung im frühmittelalterlichen Byzanz“ von Paul Kaminski. Der Einband wirkte nichtssagend, das Buch strahlte dieselbe farblose Langeweile aus wie die meisten Werke im Lesesaal. Richard schielte zu dem Diakonos. Er spürte die Versuchung, den Kaminski zur Seite zu legen, bevor er ihn überhaupt aufgeschlagen hatte, um sich wieder mit der spannenden Beschreibung der unzähligen Bluttaten am byzantinischen Hof zu beschäftigen. Wieder sah er das bärtige Gesicht Kaiser Nikephoros’ vor sich, wie er seinen Tod in den Augen der Verschwörer las. Hatte Richard nicht vor allem deswegen Byzantinistik studiert, weil er mehr über die aufregenden Ereignisse dieser untergegangenen Epoche in Erfahrung bringen wollte?
Es nutzte nichts, er musste an seine Zukunft denken. Sein Thema lautete nicht: „Fantasien über den Putsch des Generals Johannes Tzimiskes“, es hieß „Ein neues Fundstück byzantinischer Mystik des frühen Mittelalters. Bezüge zu Texten von Autoren aus der Epoche der amorischen und der makedonischen Dynastie.“
Richard durfte sich nicht beschweren. Hinter diesem langatmigen Titel verbarg sich eine für einen Byzantinisten nicht uninteressante Aufgabe.
Vor einigen Monaten hatte man in einer Grabungsstätte bei Edirne unweit Istanbuls das Bruchstück eines Textes gefunden, in dem ein bislang unbekannter Verfasser von einer Reise ins Paradies erzählte. Zumindest war dies die vorläufige Arbeitshypothese, denn die erhaltenen Reste umfassten gerade einmal 145 Wörter in der Originalsprache und mindestens ebenso viele Lücken.
Richard nahm seine Kopie des wertvollen Dokuments aus einer Mappe und warf einen kurzen, ein wenig mutlosen Blick auf die gedrängten griechischen Buchstaben. Seine Aufgabe bestand darin, in bereits bekannten Quellen nach Bezügen zu diesem Text zu suchen. Das hieß, er musste alle bekannten byzantinischen Autoren vom achten bis zum elften Jahrhundert auf Hinweise durchforsten, die zur Identifizierung oder wenigstens Einordnung des gefundenen Bruchstücks beitragen konnten. Theoretisch wurden einem Studenten sechs Monate Zeit für eine Magisterarbeit gewährt, aber Richard ahnte, dass er bei diesem Thema nicht ohne eine Verlängerung auskommen würde.
Zumindest dann, wenn er sich weiterhin vor der Arbeit drückte. Resigniert legte Richard die Kopie zur Seite und schlug den Kaminski auf.
Es ist allgemein bekannt, dass sich geisteswissenschaftliche Sekundärliteratur und insbesondere die über historische Werke nur selten durch eine ausgefeilte Dramaturgie auszeichnet. Dieses Buch aber übertraf alle Erwartungen. Es war nicht einfach nur langweilig, es war praktisch unlesbar. Jeder einigermaßen normale Mensch hätte es spätestens nach 30 Sekunden zur Seite gelegt, falls er es versehentlich in die Hände genommen hätte. Auch Richard fühlte sich nach kurzer Zeit wie unter dem Einfluss eines überdosierten Schlafmittels, und das um so mehr, da er nichts entdeckte, das sein Thema berührte. Theophanes Confessor, mit dem sich Kaminskis Werk im Wesentlichen beschäftigte, war zwar ein Mystiker gewesen, aber keiner, der in seinen Träumen das Paradies erblickte. Für ihn hatten nur Sünde, Verfehlung und Höllenfeuer existiert. Sein unbekannter Nachfolger, Theophanes Continuatus genannt, hatte sich überhaupt nicht mit der Mystik befasst, ihn zeichnete vielmehr ein Hang zum WeltlichDramatischen aus. Sein Interesse hatte Morden, Intrigen und anderen Schurkereien gegolten. Richard musste unwillkürlich schmunzeln, als er die Abbildung eines Originalpergaments betrachtete. Sogar die Schrift des Theophanes Continuatus wirkte dramatisch mit ihren hohen Strichen, die ihm auf sonderbare Weise vertraut erschienen. Gelangweilt blätterte er weiter und versuchte, sich auf die faden Gedankengänge eines Paul Kaminski zu konzentrieren, doch in seinem Inneren hörte er die Musik von Zimbeln und quäkenden Flöten, und er stellte sich vor, wie die schöne Theophanu in der Schenke tanzte, in der Kaiser Romanos sie zum ersten Mal erblickt hatte. Wie mochte diese Dame wohl ausgesehen haben, dass ihr gleich drei Kaiser verfallen waren? Schlank oder eher ein wenig mollig? Mittelgroß oder eher zierlich? Von welcher Art war das Schönheitsideal der Byzantiner gewesen?
Auf jeden Fall musste sie mit großen Augen und langen schwarzen Haaren gesegnet sein, wie Darstellungen byzantinischer Künstler aus der fraglichen Epoche vermuten ließen …
„Mit Dank zurück“, unterbrach die korpulente Kommilitonin Richards Träumereien und legte den Ostrogorsky auf den Tisch. Dann machte sie sich auf den Weg zu den Regalen, um die Bücher, mit denen sie gearbeitet hatte, wieder auf ihren Platz zu stellen.
Eigentlich hätte sie den Ostrogorsky gleich mit aufräumen können, dachte Richard und schaute seiner Kommilitonin hinterher. So hat Theophanu bestimmt nicht ausgesehen, überlegte er und ließ seinen Blick über die Anwesenden streifen, bis er endlich eine junge Frau ausgemacht hatte, die seinen Fantasien wenigstens einigermaßen entsprach. Sie saß einige Tische weiter vorn, wirkte allerdings eher groß, nicht zierlich, wie es von der legendären byzantinischen Kaiserin eigentlich anzunehmen war. Aber Richard fühlte sich sowieso nicht in der Lage, die Gestalt der Dame genauer zu beurteilen, konnte er doch lediglich den oberen Teil ihres Rückens betrachten, und auch die Farbe ihrer Haare blieb ihm ein Rätsel. Die Unbekannte hatte sie unter einem exotisch anmutenden Tuch versteckt, das mit merkwürdigen pflanzlichen Ornamenten bestickt war. Hatten nicht auch die alten Byzantiner in gewissen Phasen ihrer Geschichte ähnliche Ornamente benutzt?
Die junge Dame warf einen Blick in ein Buch zu ihrer Seite, so dass Richard nun das Profil ihres Gesichts beobachten konnte. Es erschien ihm recht ebenmäßig, und sie besaß tatsächlich große Augen, wirklich schöne große Augen. Neugierig wartete Richard darauf, dass sich das Objekt seiner Betrachtung vollständig zu ihm umwenden würde, doch da setzte sich ein Student mit besonders breiten Schultern vor ihn und versperrte ihm die Sicht. Richard murmelte einen lautlosen Fluch, aber seine Vernunft ließ ihn einsehen, dass es so wohl am besten für ihn war. Schließlich hatte er noch einen ganzen Stapel Arbeit vor sich liegen.
Doch die Unbekannte ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Warum trug sie dieses Tuch? Stammte sie aus einem anderen Land? Aber aus welchem? Richard richtete sich auf, um über den Breitschultrigen hinwegzulinsen, doch der Tisch, an dem die geheimnisvolle Frau gesessen hatte, war leer. Aus den Augenwinkeln heraus glaubte Richard wahrzunehmen, wie eine hochgewachsene Gestalt gerade auf einer der Treppen verschwand, die auf die obere Ebene des Lesesaals führten.
War sie es? Richard kämpfte einen Moment mit der Versuchung, ihr hinterher zu eilen, doch dann rief er sich zur Ordnung und griff wieder nach seiner Lektüre. Er hatte sich schon lange genug ablenken lassen. Es wurde Zeit, dass er endlich ans Werk ging.
Aber heute war wohl nicht sein Tag. Lange blätterte er in dem Kaminski, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Schließlich legte er das Buch zur Seite. So funktionierte es nicht. So würde er noch heute Abend hier sitzen, ohne einen Deut vorangekommen zu sein. Richard kramte missmutig nach der Kopie des Textbruchstücks aus Edirne und betrachtete die ihm merkwürdig geläufigen Schriftzeichen. Wie sollte er nur einen roten Faden für sein Thema finden? Sollte er jemanden um Hilfe bitten? Vielleicht seinen Kollegen Günther Mehl? Oder seinen Professor, der das Thema betreute? Oder hätte er sich nie auf diese Magisterarbeit einlassen sollen? Resigniert wollte Richard das Papier zur Seite legen, doch dann hielt er unvermittelt inne. Diese Schrift, diese hohen Striche, warum hatte er ständig das Gefühl, er habe sie schon einmal gesehen?
Und plötzlich wusste er, warum. Von einem Moment auf den anderen war er hellwach. Die Kaiserin, der General, der Mord an Kaiser Nikephoros, die korpulente Kommilitonin, die schöne Unbekannte, Richard hatte sie alle innerhalb eines Augenblicks vergessen. Er schnappte sich den Kaminski und blätterte aufgeregt zu der Abbildung des Dokuments von Theophanes Continuatus.
„Das gibt es doch nicht“, murmelte er und hielt den Atem an. Die Schriftzüge stimmten beinahe völlig überein. Der Text über das Paradies wies einige verzerrte Buchstaben auf, die Zeichen drängten sich dichter aneinander, als wäre der Autor bei seiner Beschreibung in großer Eile gewesen. Aber ansonsten waren die Schriften identisch. Die gleiche Hand hatte sie zu Papier gebracht, ohne jeden Zweifel.
Note Eins! Das war der erste Gedanke, der Richard durch den Kopf schoss. Und wirklich, das, was er gerade entdeckt hatte, war eine kleine Sensation. Er hatte den unbekannten Text einem bekannten Autor zugeordnet! Die Aufgabe, die ihm seine Magisterarbeit stellte, war praktisch gelöst! Nun musste er nur noch die Werke des Continuatus durcharbeiten, seine These absichern und er konnte seinen Hoffnungen auf eine großartige Universitätskarriere freien Lauf lassen.
*
„Ich wäre mir da gar nicht so sicher.“ Günther Mehls Anmerkungen waren bestens geeignet, Richards jugendlichen Optimismus nicht über die Ufer treten zu lassen. „Einmal weiß man nichts Genaues über Theophanes Continuatus und seine Chroniken. Es kann gut sein, dass sie von vier oder fünf verschiedenen Autoren stammen, die sie irgendeinem völlig unbedeutenden Schreiberling diktiert haben. Der letzte Band der Chronik wird inzwischen allgemein Kaiser Konstantin Porphyrogennetos zugeschrieben. Und dann passt dein Text nicht zu dem, was Theophanes Continuatus in seinen Historien verfasst hat“, fuhr er fort. „Falls es nur ein Autor war. Er hat zwar immer versucht, recht dramatisch zu wirken, und vielleicht auch manchmal der Dramatik zuliebe die Wahrheit ein bisschen zu recht gebogen, aber das da, ich bitte dich, das klingt ja völlig abgedreht.“
„Aber kann es nicht sein, dass er sich verändert hat, im Laufe seines Lebens, meine ich?“ Richards Entgegnung klang ein wenig verunsichert. „Oder, falls es nur ein Schreibsklave war, der den Text zu Papier brachte … Dann kann der ja durchaus andere Interessen gehabt haben als seine Auftraggeber für die Chroniken. Vielleicht war er ja ein Mönch? Die meisten der damaligen Schreiber waren doch Mönche, oder? Vielleicht hat er sich deshalb mit der Mystik beschäftigt.“
„Annahme“, warf Günther Mehl ein. „Nichts als Annahme. Wir brauchen Fakten. Sonst könnte ich genauso gut behaupten, dass dein Schreibsklave sich einen Joint gedreht oder LSD genommen hat, als er den Text da schrieb.“ Günther Mehls dünne Lippen verzogen sich unter seinem schütteren Schnurrbart zu einem amüsierten Lächeln.
Richard konnte über diesen Witz nicht lachen. Sein Kollege erlaubte sich gerne einen Scherz, wenn er auf Kosten anderer ging. Günther Mehl arbeitete schon seit über vier Jahren im Institut für Byzantinistik. Er hatte vor einigen Monaten seine Doktorarbeit abgeschlossen und ein Stipendium als wissenschaftlicher Mitarbeiter erhalten. Richard konnte ihn eigentlich nicht leiden, aber in einem so kleinen Institut wie dem der Byzantinistik war die Auswahl an Kollegen, an die man sich mit seinen neuesten Ergebnissen wenden konnte, nicht allzu groß. Außerdem kannte sich Günther Mehl mit Theophanes Continuatus aus, hatte er sich doch in seiner Doktorarbeit mit der wahren Identität dieses Autors beschäftigt, ohne allerdings Näheres darüber herausgefunden zu haben.
„Dann kommt hinzu, dass die Schriften sich zwar ähnlich sehen, aber meiner Meinung nach nicht identisch sind“, merkte Günther Mehl gnadenlos an.
„Sie sehen verschieden aus, weil der Verfasser anscheinend sehr aufgeregt war, als er den Text geschrieben hat“, verteidigte sich Richard. „Vielleicht stand er unter Zeitdruck oder unter einem starken Eindruck – oder er hatte gerade einen Joint geraucht.“
Günther lachte. Er lachte immer über Scherze, die von ihm stammten und die andere wiederholten, selbst wenn sie so abgeschmackt waren wie dieser.
„Schön, dass du deinen Humor behältst“, frotzelte er, „aber leider macht das die Schriften auch nicht identischer. Lies den Text doch noch einmal vor.“
„Auf Griechisch?“
„Die Übersetzung genügt.“
„Gut.“ Richard entfaltete seine Kopie. „Zuerst stehen da zwei Wörter, die sich nicht vollständig entziffern lassen. Das erste könnte Angelos, also Engel oder Bote bedeuten, das zweite vielleicht zeigen. Dann fehlen ein paar Wörter, dann lese ich da Eingang und Paradies oder auch paradiesisch. Der Satz könnte also bedeuten: Der Engel zeigte mir den Eingang ins Paradies. Danach folgt eine Lücke und dann kommt: Ich wurde in das Allerheiligste geführt, dort saßen wir im Kreis und lauschten der herrlichsten Musik, die je ein menschliches Ohr vernommen hat. Wir ließen von jedem Gedanken an die Welt, wir richteten all unser Denken auf ihn, den Herrn …“
„Aha, eine Meditationstechnik“, unterbrach Günther Mehl. „Besser als jeder Joint“, spöttelte er. „Es war nicht nur unter den christlichen Mystikern eine sehr verbreitete Methode, sein Denken auf einen Gegenstand zu fokussieren, in diesem Fall auf Gott, solange, bis sich Halluzinationen einstellten. Dazu etwas Weihrauch … Weißt du, was für Unmengen von Weihrauch in einem orthodoxen Gottesdienst verbrannt werden? Da bleibt keiner nüchtern. Wahrscheinlich war der Verfasser deines Textes irgendein kleiner Mönch aus einem Kloster, das sich dem Mystizismus verschrieben hatte. Aber lies nur weiter.“
„… richteten all unser Denken auf ihn, den Herrn … ab da wird es erst einmal unleserlich, dann steht da wandern, dann anbeten, dann preiset die Großartigkeit seiner Schöpfung, es folgen wieder ein paar unleserliche Wörter, danach kommt wieder ein längeres entzifferbares Stück: … erblickten gewaltige Tiere, Vögel, groß wie Kamele und gefräßig wie Tiger … und wieder zwei unleserliche Wörter, dann … Strafe allen Ungerechten. Wälder voller Leben, wie der Herr es nicht auf unserer Erde erschaffen hatte, riesige Schafe mit langen Schweinerüsseln, Affen mit langen Schwänzen, die ihnen der Herr als fünften Arm bestimmte, gigantische Riesen mit Fell überdeckt… die nächsten drei Begriffe kann man nicht entziffern, dann langen Sichel… das Wort bricht ab, nur ny kann ich noch lesen, dann den Händen, vielleicht also: lange Sicheln in den Händen. Das darauf folgende Teilstück ist wieder gut lesbar: … aber friedlich wie die Taube am Himmel, das alles sah ich und noch viel mehr an Wunderbarem. Es wohnten dort Menschen, nackt wie ein Neugeborenes, doch schämten sie sich nicht ihrer Blöße.“
„Das Paradies“, bemerkte Günther.
„Anscheinend“, antwortete Richard. „Anschließend folgt wieder eine Lücke, dann: … stand er vor mir, schön wie die Vollkommenheit Gottes und schüttelte sein goldenes Haar.“
„Er?“
„Das Geschlecht geht nicht eindeutig aus dem Text hervor, aber es kann eigentlich nur der Engel gemeint sein.“
„Annahme.“ Günther bezweifelte grundsätzlich alles, eine Eigenschaft, mit der nicht nur Richard so seine Schwierigkeiten hatte.
„Dann fehlt wieder eine ganze Menge“, fuhr Richard fort, der sich seine Probleme mit Günthers Widerspruchsmanie nicht anmerken lassen wollte, denn das hätte diesen lediglich in seiner Einstellung bestärkt. „Schließlich folgen noch die Worte Gefahr und überleben und ganz am Ende obsiegt das Böse. Das war’s.“
„Zeig mal“, bat Günther und überflog den Text. „Der Schluss sieht aber nicht nach Paradies aus.“
„Vielleicht bezieht sich der Autor hier auf ein anderes Thema.“
„Wie vielleicht während des gesamten Textes.“ Günther begann, sich in Fahrt zu reden. „Zu viele Annahmen, zu wenige Hinweise. Ich will dich ja in deinem Elan nicht bremsen, aber ich fürchte, du verrennst dich da ein wenig. Es ist schön und gut, Hypothesen aufzubauen, aber man sollte dabei doch immer wissenschaftlich arbeiten. Wenn ich ehrlich bin, dann kann ich dir nur raten, die ganze Sache zu vergessen. Wechsle doch dein Thema, unser Prof hat bestimmt nichts dagegen, du kannst ihn ja gleich morgen bei diesem Arbeitsessen darauf ansprechen. Vergiss’ die Mystik, nimm lieber ein soziales Thema, das liegt dir mehr, da gibt auch die Geschichtsschreibung viel mehr her. Auch Theophanes Continuatus hat einiges über die Sozialpolitik seiner Kaiser geschrieben, du kannst also sogar beim gleichen Historiker bleiben, wenn dir soviel an ihm liegt.“
„Ich glaub’, ich muss jetzt los.“ Richard stopfte hastig sein Material in die Tasche. „Meine Straßenbahn fährt sonst ohne mich ab.“
„Dann aber hurtig.“ Günther öffnete die Tür. Richard trat hinaus, drehte sich jedoch an der Treppe noch einmal um.
„Weißt du, Günther“, bemerkte er, „du verstehst es immer wieder, einen so richtig aufzubauen.“
Günther lachte nicht, denn dieser Scherz stammte nicht von ihm. „Aber klar doch“, erwiderte er, „dafür sind Kollegen doch da. Bis morgen dann, beim Arbeitsessen.“
*
Die Arbeitsessen bei Doktor Benjamin Koch, Professor für Byzantinistik an der Universität Würzburg, zeichneten sich stets durch eine sehr gezwungene Atmosphäre aus. Außer ihm, seiner Frau, seinem Assistenten Günther Mehl und natürlich Richard war manchmal noch der Dekan der altphilologischen Fakultät anwesend, und dann wurde es besonders scheußlich. In diesem Fall wünschte sich Richard lediglich, dass die Veranstaltung so schnell wie möglich zu Ende ginge und hörte meist nur mit einem Ohr zu, um reagieren zu können, falls er angesprochen wurde. Doch das geschah zum Glück nur sehr selten, da die Herren Professoren hauptsächlich mit der Darstellung ihrer eigenen Eitelkeit beschäftigt waren. Als er an diesem Abend an Professor Kochs Tür läutete, hatte er von vorneherein kein gutes Gefühl, hatte er doch die Straßenbahn verpasst und war mit zehn Minuten Verspätung vor Kochs Villa aufgekreuzt.
Die Frau seines Chefs öffnete ihm, setzte eine missbilligende Miene auf und warf einen deutlichen Blick auf die Uhr. Richard entschuldigte sich und betrat das Wohnzimmer. Gott sei Dank war der Dekan nicht oder zumindest noch nicht erschienen, und sein Professor war so sehr in ein Gespräch mit einem rotgesichtigen älteren Herrn vertieft, dass er das Zu-spät-Kommen seines Magisteranwärters gar nicht bemerkte – im Gegensatz zu Günther, der wie zufällig auf seine Uhr schaute und ein selbstgefälliges Lächeln aufsetzte. Den rotgesichtigen Herrn hatte Richard noch nie gesehen, aber aus der Tatsache, dass man ihm den bequemsten Sessel angeboten hatte, war zu vermuten, dass er in byzantinistischen Kreisen einiges zu sagen hatte. Der Besucher bemerkte das Eintreten des Neuankömmlings. Sofort folgte Professor Koch beflissen dem Blick des Rotgesichtigen.
Richards Professor war etwa 40 Jahre alt, korrekt gekleidet und mit vollem, dunklem Haar gesegnet. Eilig winkte er seinen Studenten zu sich.
„Darf ich Ihnen Herrn Kronau vorstellen?“, sagte er eifrig zu dem älteren Herrn, der Richard höflich seine Rechte entgegenstreckte. „Er arbeitet ebenfalls an unserer neuen Entdeckung.“
„Ah.“ Das gerötete Gesicht des älteren Herrn zeigte ein freundliches Lächeln. Professor Koch wandte sich an Richard.
„Das ist Professor Weihrauch, die Kapazität für angewandte Graphologie an unserer Universität, ach was sage ich, von ganz Bayern.“
„Sie schmeicheln mir“, bemerkte der ältere Herr nur zu treffend.
„Aber nicht doch, Herr Professor Weihrauch, jeder hier hat schon viel von Ihnen gehört, stimmt ’s, Herr Kronau?
Richard nickte eifrig, angestrengt nachdenkend, ob er den Namen vielleicht nicht doch schon einmal vernommen hatte.
„Was haben Sie denn so alles herausgefunden, Herr Kronau?“, erkundigte sich Professor Weihrauch.
„Ich habe gerade erst mit meiner Arbeit begonnen“, fing Richard vorsichtig an. Er wollte vor einem Graphologieexperten nicht mit der Tür ins Haus fallen und über seine Theophanes Continuatus-Theorie reden. Wahrscheinlich wäre es besser, Professor Koch davon zu erzählen, wenn er ihn alleine anträfe.
Doch dieser meldete sich wichtigtuerisch zu Wort. „Aber Professor Weihrauch hat eine ausgesprochen interessante Entdeckung gemacht. Er hat mir gerade erzählt, dass er die Schriften mit bekannten byzantinischen Autoren aus der fraglichen Epoche verglichen hat, und er hat Erstaunliches dabei herausgefunden.“
„In der Tat. Es war eine sehr müö