Verena Maria Mayr
Single zu zweit
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Pisa in den 1990er Jahren …
2
3
4
Impressum neobooks
Eine Stadt muss meiner Meinung nach einen Fluss haben. Ist keiner vorhanden, ist das so, als würde die Lebensader fehlen. Und auch, wenn diese sehr schmutzig ist, so wie das beim Arno der Fall ist, blieb ich immer wieder auf der Brücke namens „Ponte di Mezzo“ stehen und schaute in das braune schlammige Wasser unter mir.
Als ich wieder einmal am Brückengeländer lehnte, an einem Spätnachmittag im September, und mir überlegte, was die Leute wohl von mir halten würden, wenn ich jetzt einfach so, ohne Vorwarnung, in hohem Bogen reinspucken würde, bemerkte ich, wie jemand mich anstarrte, ja regelrecht fixierte. Ob er meine Gedanken lesen konnte? Ich fühlte mich ertappt und musste grinsen.
„In welche Richtung fließt der Arno?”, fragte er mich. Ich zeigte in Richtung Meer, weil ich wusste, dass er dort mündete.
„Du bist keine Italienerin“, stellte er nüchtern fest und lehnte sich lässig ans Brückengeländer. Ich zog meine linke Augenbraue so hoch ich konnte, neigte meinen Kopf zur Seite und wollte schon zu einem überheblichen „Na bravo, gut erkannt“ ansetzen, als er wissen wollte: „Woher kommst du?”
Sollte ich reagieren? Warum nicht? Er wirkte sympathisch und durchaus attraktiv. Für einen Italiener war er sogar ziemlich groß.
„Ich komme aus Graz“, antwortete ich und setzte hinzu: „Das ist in Österreich.“
„Ich weiß, letzten Sommer war ich in Wien.“ Seine Stimme war tief. Er sprach ein bisschen durch die Nase.
„Dort habe ich studiert“, entfuhr mir schneller, als ich wollte, denn ich hatte keine große Lust mich in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Er ließ sich davon jedenfalls nicht abschrecken, streckte mir seine Hand entgegen, ohne seine Position zu verändern, und stellte sich mit „Ich bin Fabrizio“ vor.
Unhöflich wollte ich nicht sein, also machte ich einen Schritt auf ihn zu und ergriff seine langen, schlanken Finger. „Virna“.
„Toller Name“, murmelte Fabrizio, während er mein Gesicht betrachtete. Das machte mich ein wenig verlegen. Vor allem, weil mir auffiel, dass er noch immer meine Hand hielt. Ich entzog sie ihm und spürte seinen festen Händedruck, von dem eine gewisse Entschlossenheit ausging, noch minutenlang wie einen Abdruck.
„Woher kommst du?”, fragte ich, doch neugierig geworden.
„Aus Sardinien. Cagliari.“
Ich nickte. Seit Langem wollte ich dort einen Sommer verbringen. Türkisblaues Meer, Sanddünen, gegrillter Thunfisch …
„Studierst du in Pisa?”, unterbrach er meine Urlaubsträume und ich erklärte ihm, dass ich hier ein Jahr studiert hatte. Weil ich mich sofort heimisch fühlte, hatte ich dann beschlossen, gleich nach meinem Abschluss zurückzukehren. „Jetzt bin ich auf Arbeitssuche“.
„Was hast du studiert?”
„Englisch und Italienisch.“ Ich setzte dazu an, ihm meine Zukunftspläne zu offenbaren, denn soeben war ich richtig in Fahrt gekommen, als er mich auf seine Uhr blickend unterbrach.
„Hör zu, scusa, es tut mir leid, ich muss dringend los.“ Dabei sah er gar nicht gehetzt aus. „Ich würde dich aber gern wiedersehen. Dann könnten wir uns in Ruhe weiter unterhalten. Meine Nummer ist nullfünfnullvierfünffünffünfacht, ganz leicht, merkst du sie dir?”.
Er war schon fast am anderen Ende der Brücke, als er sich im Laufschritt noch mal zu mir umdrehte und mir nachrief: „Oder komm einfach vorbei! Piazza della Berlina Nummer 15! Du kannst klingeln, wann du willst!” Und weg war er.
Was glaubte denn der eigentlich? Fiel mir ja nicht mal im Traum ein! Einfach so bei einem wildfremden Mann vorbeizuschauen … Da konnte er noch so blaue Augen haben. Auf so einen Typ fiel ich doch nicht mehr rein. Der redete wahrscheinlich jeden Tag blonde Ausländerinnen auf der Straße an. „Typisch Italiener!“, schnaubte ich entrüstet vor mich hin. Obwohl er anfangs einen sehr netten Eindruck gemacht hatte. Ach was. Unterhalten konnte ich mich auch mit meinen Freunden.
Aber ein komisches Gefühl verspürte ich schon in der Magengegend. Ich musste zu lange in den dreckigen Fluss gestarrt haben. Auf der Suche nach einem Mann war ich zwar nicht, hatte aber auch nichts gegen neue Bekanntschaften einzuwenden.
Ein bisschen durcheinander machte ich mich auf den Heimweg. Was hatte er gesagt, woher er kam? Aus Cagliari? Das war doch in der Nähe des Heimatortes meiner Mitbewohnerin Georgia, die auch aus Sardinien stammte. Ich würde sie sofort fragen, ob sie ihn kannte, nahm ich mir vor. Nicht, dass ich sonderlich interessiert gewesen wäre. Außerdem wäre das wirklich purer Zufall. Aber man wollte ja schließlich informiert sein, und was sprach dagegen, Erkundigungen einzuholen?
Ich beschloss, die Via San Martino entlang zu laufen, um schneller nach Hause zu kommen. Normalerweise schlenderte ich die Einkaufsstraße, den Corso Italia, hinunter, aber da war mir heute zuviel los, und ich hatte auch keine Lust, mir die toll dekorierten Auslagen in den Geschäften anzusehen. Gedankenverloren nahm ich die wunderschönen Häuserfassaden in warmen Rot- und Gelbtönen nur am Rande wahr. Die wild verwachsene Laube der Pizzeria „Martino“ würdigte ich heute keines Blickes.
Mit einem langgezogenen „Ciaaaooo“ begrüßte ich Giorgia, setzte mich neben sie in ihren gemütlichen Couchsessel und bot ihr eine Zigarette an. Ich gab ihr Feuer und zündete dann meine ‚Diana blu‘ an. Natürlich die aus der Weichpackung, denn die war viel besser und wer den Unterschied nicht erkannte, war kein echter Raucher. Kristina, meine zweite Mitbewohnerin, kam nach dem Aufwachen bereits mit einem brennenden Glimmstängel in die Küche. Wir waren alle drei stummelsüchtig und hatten in der ganzen Wohnung Aschenbecher verteilt, zweckentfremdeten aber ebenso alle anderen möglichen Behälter dafür, von der Kaffeetasse angefangen bis hin zum Suppenteller.
„Weißt du, was mir gerade passiert ist?”, fragte ich sie.
„Erzähl!”, forderte sie mich auf, ohne sich vom Bildschirm ihres Computers, an dem sie die meiste Zeit des Tages verbrachte, abzuwenden.
„Ich habe einen Typen aus Cagliari kennengelernt“, enthüllte ich und freute mich über die erwartete Reaktion, als sie sich sofort zu mir umdrehte und wissen wollte, wie er hieß.
„Fabrizio.“
„Und der Nachname?” Ungeduldig wirbelte sie mit ihrer rechten Hand vor meinem Gesicht durch die Luft, um mir weitere Informationen aus der Nase zu ziehen.
„Weiß ich nicht. Wir haben uns nur kurz unterhalten.“ Ich erstattete Detailbericht und der erste Kommentar dazu war: „Die Leute aus Cagliari sind total arrogant und eingebildet.“
„Tja, da könntest du recht haben, denn er schien mir extrem selbstbewusst zu sein.“
Damit war das Thema erledigt und wir widmeten uns dem Abendessen.
„Worauf hast du Lust?”, fragte ich Giorgia, die mit einem „Puh, ich weiß nicht, ist mir egal“ antwortete. Wie ich sie beneidete. Giorgia war Essen nicht besonders wichtig, im Gegenteil, es war ihrer Meinung nach eine lästige Notwendigkeit, um die Körperfunktionen aufrechtzuerhalten. Wenn es aber etwas gab, das sie gern aß, beziehungsweise etwas, das ihr richtig schmeckte, was vor allem fast rohem Fleisch am nächsten kam, konzentrierte sie sich auf jeden Bissen und genoss jede Faser.
Neben unserer Kannibalin gab es eine Käseverweigerin und schließlich mich, den fast vegetarischen Vielfraß, der am liebsten große Mengen vertilgte – wenn möglich so gut wie ohne Kalorien. Darum liebte ich die italienische Küche ja auch so sehr. Ich konnte mir einen Berg Pasta kochen, mit Tomatensugo und Mozzarella, und mir einreden, soviel davon essen zu können, wie ich wollte, weil Kohlenhydrate allein nicht dick machen und es dabei immer nur auf die fetten Saucen ankäme. Und das Einzige, was zählte, war, meine Trennkost beizubehalten, die meine letzte Diäterrungenschaft war. Ich wunderte mich, wieso ich nicht schon viel früher darauf gestoßen war, denn sie schien mir sehr bequem und einfach zu sein. Essen, so viel man will, Hauptsache Kohlenhydrate und Proteine trennen. Nur schlich sich immer öfter hier und dort ein gelato ein, und mein Rotweinkonsum kam regelmäßig einem Abendessen gleich. Mein Lieblingsaperitiv - Martini mit Eis und Orangenscheibe – nicht eingerechnet. Ich kämpfte also ständig mit den Kilos, besiegte sie aber nicht wirklich und kam wieder zu dem Schluss, zu dem ich in der ersten Phase der Resignation immer gelangte, nämlich, dass ich doch ganz passabel aussah und genügend ragazzi auf mich flogen, was sich in der zweiten Phase der Resignation in „Wenn er mich tatsächlich liebt, dann nimmt er mich so, wie ich bin“ verwandelte. Da ich mich gerade zwischen erster und zweiter Phase befand, entschied ich mich für Erdäpfelsalat mit Kernöl, meine steirische Spezialität, von der meine Mitbewohnerinnen begeistert waren.
Als ich mit dem Schälen der Kartoffeln fertig war, kam Kristina von der Chorprobe zurück, die zweimal in der Woche in der Chiesa di Santa Chiara stattfand. Ich habe von solchen Sachen nie viel gehalten, weil ich immer an singende Pinguine denken musste, aber seit ich mir einmal ein Konzert von ihnen angehört und festgestellt hatte, was für hübsche Chorknaben dort klassische Laute von sich gaben, hatte sich meine Einstellung schlagartig geändert. Mit einem hatte ich dann sogar eine nette Kurzbeziehung. Wir verstanden uns noch heute gut – oder wieder, wenn ich ehrlich war.
„Liebe, ganz liiiebe Grüße von Ale.“ Krissa grinste mich an. Ich konnte mir das Lächeln auch nicht verkneifen, obwohl ich es in Wirklichkeit eher traurig fand, dass mir die Netten und „Guten“, wie ich Typen wie Alessandro bezeichnete, nach kurzer Zeit dermaßen auf die Nerven gingen, dass eine längere Beziehung mit ihnen einfach nicht in Frage kam. Dafür zog ich die Arschlöcher an wie die Motten das Licht, das behauptete jedenfalls mein bester Freund Benjamin, und der musste es schließlich wissen, denn er benahm sich keinen Deut besser gegenüber seinen Eroberungen. Sein letztes E-Mail fing dementsprechend an: „Derzeit ist wieder mal jemand in mich verliebt. Ich nicht, die Frage kannst du dir sparen … “
Je böser die „Bösen“, umso reizvoller waren sie für mich, und das I-Tüpfelchen war, wenn ich sie nicht haben konnte.
Wenigstens hatten Benjamin und ich dieses Thema, was uns beide betraf, ein für alle Mal erledigt. Wie wir beide jemals hatten im Bett landen können, ist uns heute noch ein Rätsel. Bereits beim ersten Kuss hätte uns klar sein müssen, dass unser Bettabenteuer nur in einer Katastrophe enden konnte. Es war furchtbar und nichts konnte mich mehr abturnen als schlechte Küsser.
Meine beste Freundin Susanna hatte mir bei unserem gestrigen Telefonat verraten, dass sie vor zwei Wochen in einer Philologie-Vorlesung den Küssergott schlechthin kennengelernt hätte. Ich gönnte es ihr, freute mich für sie und wünschte mir auch einen. Jedes Mal, wenn ich mich daran erinnerte, wie ich Susanna kennengelernt hatte, musste ich schmunzeln. Es war meine erste Woche als Studentin mit spärlichen bis nicht vorhandenen Italienischkenntnissen in Pisa gewesen. Ratlos stand ich vor dem schwarzen Brett im Spracheninstitut in der Via Santa Maria. Ich wollte in eine Wohngemeinschaft mit Italienerinnen ziehen, um die Sprache besser und schneller zu lernen. Provisorischer Weise hatte ich mich zu Beginn in einer Jugendherberge, die von Nonnen geführt wurde, einquartiert, in der wir uns zu zweit ein Zimmer teilten. Meine Bettnachbarin war aus Kalabrien, hieß Alessandra, sprach aber kein Wort Englisch, so dass wir uns mit Armen und Beinen verständigen mussten. Das Essen im Gemeinschaftsraum war nicht das, was ich mir unter italienischer Küche vorgestellt hatte. Die Pasta war zerkocht und das Sugo aufgewärmt. Später erfuhr ich, dass die Köchin aus Polen stammte. Außerdem gab es eine Sperrstunde und wir mussten um 22 Uhr daheim sein. Da fing das Nachtleben in Pisa aber erst an. Nun stand ich also vor vielen handgeschriebenen Zettelchen und Lire-Beträgen jenseits der Hunderttausend. Ich war so verzweifelt, wie ich wahrscheinlich aussah. Susanna lächelte mich an und meinte: „Ich blicke da auch noch nicht durch. Du sprichst doch deutsch?“
Meine Freude musste sich in meinem Gesicht widerspiegeln, denn ihr Lächeln wurde breiter. „Ja, ich spreche deutsch. Und nur ganz wenig italienisch“, gab ich zu.
„Aber aus Deutschland kommst du nicht“, stellte sie gleich fest.
„Nein, ich komme aus Österreich.“
„Ich heiße Susanna und mache ein Studienaustauschjahr. Du auch?“
„Ja, ich bin auch Erasmusstudentin. Ich heiße Virna.“ So war das. Und von da an waren wir unzertrennlich. Leider musste sie nach dem Studienjahr wieder nach Deutschland zurück, um ihre letzten Prüfungen zu absolvieren. Ich hatte noch ein Stipendium für meine Diplomarbeit bekommen und war gleich in Pisa geblieben. Sie wollte aber, sobald sie mit ihrem Germanistikstudium fertig war, wieder in die Toskana ziehen. Jetzt war sie also verliebt und ich bekam Angst, dass sie ihre Pläne vielleicht doch noch ändern könnte. Dennoch wünschte ich mir, dass sie mit ihrem Küsserkönig glücklich werden würde.
Benjamin hatte ich einmal erklärt, wie er seine Zunge und seine Lippen bewegen sollte, wie viel Druck er ausüben musste und wie er gleichzeitig schlucken konnte. Das hatte ihn dermaßen gekränkt, dass ich einige Wochen um unsere Freundschaft bangte. Ich wollte einfach nicht einsehen, warum er mir nicht bis an sein Lebensende dankbar war für diese Lektion. Er machte es mir heute noch manchmal zum Vorwurf. Auf jeden Fall waren wir sexuell einfach nicht kompatibel.
Giorgia und Federico hingegen haben sich kennengelernt, beschnuppert, sich ineinander verliebt und waren von diesem Zeitpunkt an zusammen. Warum konnte das bei mir nicht einmal so einfach sein?
Aber im Moment war ich gar nicht bereit für eine neue Beziehung, denn ich war noch immer dabei, meine vorhergehende aufzuarbeiten. Es schien mir außerdem, dass ich an dieser noch länger zu knabbern haben würde. Domenico war genau mein Typ. Zu schön um wahr zu sein, und ich konnte noch immer nicht fassen, dass er mich betrogen hatte. Natürlich gab es keine Beweise und schön langsam begann ich, die Berichte dritter Personen als glatte Lügen von ahnungslosen Außenstehenden abzutun. Was, wenn ich mich geirrt hatte? Hätte ich so tun sollen, als wäre alles eitel Wonne? Hätte ich vielleicht mehr Kompromisse schließen müssen?
Ich wollte noch eine Runde Solitär spielen, natürlich die Las-Vegas-Version. Obwohl ich ziemlich gut war, gewann ich in letzter Zeit überhaupt nicht. Wenn das nicht Glück in der Liebe bedeutete!
Ich wusste schon gar nicht mehr, was das war oder wie es sich anfühlte, verliebt zu sein. Ein bisschen Zuwendung fehlte mir schon. Nicht, dass ich mich einsam fühlte, nein. Dafür gab es ja Schokolade und Nutella und meinen Computer. Auch wenn der mich verlieren ließ, konnte ich immer wieder, ganz ohne Bedenken, von vorne anfangen. Und auch während einer begonnenen Partie konnte ich „klick“ machen und neue Karten verlangen.
Wenn es nur im wirklichen Leben auch so einfach wäre. Meine Beziehung mit Domenico fiel in die Kategorie „totales Chaos“. Na ja, an Temperament hatte es nicht gefehlt, und deshalb war es wahrscheinlich auch nie langweilig gewesen. Zum Schluss war es mir dann aber doch ein bisschen zu turbulent geworden. Sizilianer eben! Und was sagten Giorgia und Krissa immer? „Niemals einen unterhalb Roms.”
Giorgia war Sardin, empfand sich also nicht als Italienerin. Krissa kam ursprünglich aus Apulien, sehnte sich aber seit Langem danach, in England zu leben. Rote Haare, helle Haut und Sommersprossen fand sie ungeheuer sexy. Kleine, dunkelhaarige Männer, deren Haut von der Sommersonne fast schwarz wurde, lehnte sie kategorisch ab.
Ich fand Domenico aber sehr schön mit seinen dichten, fast schwarzen Haaren, grünen Augen und diesen Unterarmen, bei denen man die Adern hervortreten sehen konnte. Und dann erst sein Hintern … Aber dieser Stolz gepaart mit einer etwas zu großen Portion Eifersucht waren mir eine zu feurige Mischung. Ich war mir nicht einmal darüber im Klaren, ob ich tatsächlich verliebt in ihn war. Sagen wir, ich hatte ihn sehr gern und am Anfang – eigentlich bis zum Ende – überwog die körperliche Anziehung zwischen uns. Ausschließlich diese konnte aber auch nicht zu meinem vollkommenen Glück zu zweit beitragen. Und obwohl ich meinen Körper immer als etwas Eigenständiges, nicht zu mir Gehörendes betrachtet hatte, schien er gerade diesen Teil von mir sehr zu schätzen.
„Du solltest einsehen, dass du es nicht nötig hast, dich durch Männer bestätigen zu lassen. Wenn du das einmal verstanden und vor allem verinnerlicht hast, wirst du auch nicht mehr so viele von deinen Affären haben“, erklärte mir Giorgia bereits, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten. Das war vor ungefähr drei Jahren, aber bisher hatte sich dahingehend bei mir noch nicht viel geändert. Ich empfand mich nach wie vor als zu fett und meine Gedanken kreisten ständig ums Essen, Kalorienzählen und Auf-Süßigkeiten-Verzichten. Himmeln noch mal, bevor ich alt und grau wurde, wollte ich meine Figur endlich einmal genießen, bewusst zeigen und mich selbst an ihr erfreuen können. Anziehen, was ich wollte, ohne dass der Reißverschluss nicht richtig schloss, sich der Abstand zwischen den Blusenknöpfen weitete oder sich der Speck über den Hosenbund wölbte. Ich träumte von einem Auftritt à la Julia Roberts an der Bar in „Pretty Woman“. Allerdings wollte ich lieber an Pisas Flusspromenade entlangschlendern. Die Blicke aller sollten sich an meinem enganliegenden Kleid festsaugen, und das nicht, weil ich mir die rote Erdbeercaipiroska drüber gegossen hatte. Ich seufzte frustriert.
Die Realität sah so aus, dass ich meinen Hintern Tage und teilweise auch Nächte vor meinem Laptop verbreiterte. Wenn ich nicht gerade spielte, surfte ich im Internet. Allerdings suchte ich dort nicht nach neuen Bekanntschaften, wie das einige meiner Freundinnen zu tun pflegten, sondern begab mich regelmäßig auf Jobsuche. Es war nicht so, dass ich mich nach Arbeit verzehrte, aber schließlich wollte ich nicht unter der Ponte di Mezzo schlafen und mir billigen Rotweinfusel mit den Ratten teilen. Am Anfang war ich noch relativ zuversichtlich und enthusiastisch gewesen, was mit der Zeit jedoch immer mehr abnahm. Inzwischen war ich bereits ziemlich deprimiert und etwas verzweifelt. Mein erstes Vorstellungsgespräch war der totale Reinfall gewesen und beinahe wäre ich bei einer Sekte gelandet. Ich war mit dem Zug nach Cascina gefahren und wurde dort vom Bahnhof von Signora Ardini mit einem Mercedes Cabrio abgeholt. Zweisitzer. Sie war ganz in weiß gehüllt, mit Goldschmuck behängt und wenn mir nicht ihr abgeblätterter Nagellack aufgefallen wäre, wäre ich beeindruckt gewesen. Ich beschloss, vorsichtig zu sein. Nachdem sie in einer Art Empfangshalle andere Mitarbeiter nach dem Motto “Wir sind eine nette, große Familie”, überschwänglich begrüßt hatte, bot sie mir, endlich im Büro angekommen, einen Kaugummi an. “Sehr freundlich”, dachte ich, als sie sich abmühte, ihren Kontoauszug aus einer Klarsichtsfolie zu ziehen. Von dem Monatsgehalt, das mir dort entgegenleuchtete, war ich nun aber wirklich beeindruckt. Als sie anfing, mir die Entstehungsgeschichte von diesem Kosmetikkonzern zu erklären und auf die Einzelheiten der neuen Naturprodukte einging, hatte ich allerdings das Gefühl, gerade einer Mitgliederwerbung von Scientology ausgesetzt zu sein. Das stellte sich dann auch als richtig heraus, denn Susanna fand die entsprechende Website im Internet, die uns über die wahre Motivation jener “Firma” aufklärte. Zum Bahnhof zurück bin ich dann zu Fuß gegangen. Und mein Jobproblem war leider immer noch nicht gelöst.
Ab und zu versuchte ich auch mein bisheriges Liebesleben zu reflektieren und meine anderen Beziehungen gleich mit aufzuarbeiten, in einem Aufwasch sozusagen, und gleichzeitig herauszufinden, warum ich mich so wenig mochte. Ohm.
Giorgia hatte mir einmal gesagt, dass sie noch nie zuvor jemanden kennengelernt hätte, der so wenig Selbstwertgefühl hatte wie ich, und mir den Rat gegeben, mich selbst mehr lieb zu haben. Bekanntlich war in der Theorie alles einfacher als in der Praxis. Amen.
Also legten wir Tarot-Karten, zogen Runen, legten I-Ching, lasen Astro-Zeitschriften und führten endlose Was-wäre-wenn-Gespräche.
Am nächsten Tag beschloss ich, gleich am Vormittag meine E-Mails zu kontrollieren. „Super!”, jubelte ich schon voller Vorfreude auf ein literarisches Gustostückchen, weil eine Nachricht von Benjamin angekommen war.
„Oh Bay-bee, welch Wonne dich wieder mal jammern zu hören/lesen. Pah, ich bin sooo eingedeckt mit Arbeit derzeit, dass ich überhaupt nicht rausseh. Ich schau furchtbar aus: fett, Stresspickel, unausgeschlafen, Rückenschmerzen (ich komm bald daher wie der Glöckner!“
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass Benjamin schwul war, ein Hypochonder sowieso und eingebildeter als jede Frau es nur sein konnte.
„Und wer braucht schon Sex...? (Sag nix!) Oh Schätzchen, wann sehen wir uns mal wieder??? Ciaociao und fetter Drücker B.“
Mir ging jedes Mal das Herz auf bei seinen Mails. Er war einfach zu lieb und ich drückte auf „Antworten“.
„Süßer, noch pickeliger und noch fetter als ich kannst du gar nicht sein. Bin schon wieder auf Trennkost, da die zu vielen Cocktails vom Spanienurlaub halt auch zu viele Kalorien hatten. Bin total unbefriedigt, da seit fünf Monaten eigentlich kein Sex. Meine einzige sportliche Betätigung ist daher Rückengymnastik am Morgen... Bin in der totalen Krise, da noch immer joblos, und habe außerdem das letzte Teil zum Puzzle gesteckt bekommen. Domenico, der Arsch, hat mich auch mit Paola (nicht Britti) betrogen! Als wir noch zusammen waren! Das im Nachhinein noch zu erfahren hat mich total verletzt, dabei waren die Anzeichen alle da, wie konnte ich nur sooo blind sein? Ich werde mich NIE mehr verlieben! Und wie heißt SIE? Baci, Virna“
Ich las noch ein paar Jobangebote durch und stellte fest, dass ich das Falsche studiert hatte. Hätte ich Informatik oder Telekommunikation gewählt, würde ich jetzt bereits mein eigenes Geld verdienen. Um keine Panik aufkommen zu lassen und die aufkeimende innere Unruhe zu unterdrücken, sagte ich mir, dass man nie wusste, was wozu gut war, und ich auf mein Schicksal vertrauen sollte, denn alle Wege waren meines Erachtens vorgezeichnet. Ich musste nur endlich meine Fähigkeiten erkennen und herausfinden, wofür ich bestimmt war. Damit wollte ich mich aber im Moment auch nicht auseinandersetzen, denn im Allgemeinen fand ich, dass ich eigentlich überhaupt nichts gut konnte. Von dieser Annahme überzeugt, hatte ich Angst, dass mich jemand einstellen und ich danach kläglich versagen würde. Ich steckte in einem Teufelskreis der Selbstzweifel und Unsicherheit, der immer enger zu werden schien und mich zu ersticken drohte.
Für gewöhnlich hatte ich diese Depressionsanfälle, wenn die Sonne schien, denn Regenwetter war für mich eine willkommene Entschuldigung, mich in meinem Bett zu verkriechen. Andererseits war ich ein solarer Typ und wenn die Sonne zu lange nicht schien, fehlte sie mir und ich wurde schlecht gelaunt. Diese Zwiespältigkeit machte mich wahnsinnig.
„Schuld ist dein Zwilling-Aszendent. Der macht auch mich nervös“, hatte mir Giorgia vor Kurzem verraten.
Die ganze Woche verging, ohne dass sich etwas Großartiges ereignet hätte. Ich kaufte mir Zeitungen, sobald die Stellenangebote erschienen, surfte im Internet und verschickte Hunderte von Blindbewerbungen. Ich schaute nicht mal mehr bei Gino, dem Besitzer meiner Stammbar, auf einen caffè vorbei.
Am Samstagvormittag wollte ich mich nach dem Aufwachen an meinen Traum erinnern, weil ich das Gefühl hatte, dass er wichtig war, aber es gelang mir nicht. Ich ging in die Küche, wo ich erst einmal anfing, den Tisch abzuräumen, bevor ich mich meinem caffelatte widmete, denn diesen konnte ich unter diesen chaotischen Bedingungen nicht mal irgendwo hinstellen, geschweige denn zubereiten. Ich überlegte, ob ich nicht einfach die Ecken des Tischtuchs zusammenknoten und den gesamten Inhalt vom Balkon werfen sollte. Verschlafen und ohne Brille tastete sich Giorgia zu mir.
„Hast du wieder einen Aufräumanfall?”, fragte sie mich kopfschüttelnd mit zusammengekniffenen Augen.
„Nein, aber bei diesem Chaos werde ich wahnsinnig oder kriege ein Magengeschwür“, lautete meine mürrische Antwort.
„Wenn du nur dein inneres Chaos endlich ordnen würdest, dann würde dich das äußere nur halb so sehr stören.“
„Hört, hört: die Weisheit des Tages.“ Aber wo sie recht hatte, hatte sie wohl recht.
„Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich heute geträumt habe. Sicher war es irgendein Hinweis. Ich fühle mich so nervös, als würde demnächst etwas passieren.“
„Was steht heute Abend auf dem Programm?”, fragte Krissa, die, bereits qualmend, in die Küche trat und sich auf dem wackeligen braunen Hocker niederließ.
„Es ist Samstag und ich habe mir gedacht, dass wir ins ‚Il Confine‘ tanzen gehen könnten“, schlug ich vor.
„Super, bin dabei! Und du Giorgia?”
„Nein, Federico und ich sind bei seinen Eltern zum Abendessen eingeladen und das wird sicher länger dauern.“
Federicos Eltern zählten zur High Society von Pisa. Eine Einladung zum cena bedeutete, dass Giorgia sich aufbrezelte, als wäre sie zum Wiener Opernball eingeladen. Sie schien es jedes Mal zu genießen. Auch prallten die hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Bemerkungen über den großäßöüüßö
äüücaffelatteüö