W. von Canaris
die Rückmacher
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
Nichts
Sechs Monate später
100%
Epilog
Impressum neobooks
Ich hatte mich gerade unter einem eingeschlagenem Fenster in der alten Kesselschmiede der stillgelegten Eisenbahnwerke zusammengekauert, als ich das Quietschen mehrere Autoreifen hörte. Ich dachte, Scheiße jetzt haben sie dich, du sitzt hier fest, keine Fluchtmöglichkeit weit und breit – und das alles nur, weil du dich nicht eingliedern willst!
Aber dann hörte ich die Schritte der Männer, die den Autos entstiegen waren, und sie bewegten sich eindeutig nicht auf das zum Abbruch freigebende Gebäude zu, in welchem ich mich versteckte hatte, sondern seitlich von diesem weg.
Hatte ich Glück gehabt? Hatte ich die Polizei wieder einmal abgeschüttelt?
Ja, es sah so aus. Die Männer da draußen, wer immer sie auch waren, sie waren nicht wegen mir da. Also alles gut, hieß jetzt nur noch warten, bis die Männer wieder abzogen waren, dann konnte ich weiter. Wobei weiter, nach Hause bedeutet.
Wobei nach Hause wiederum nicht hieß in eine dieser super schicken 08/15 Wohnungen, die man hier in Köln so zahlreich errichtet hatte. Nein, nach Hause hieß in den Neukölnerpark, der kein Park, sondern ein richtiger Wald war. Echter Wald – Uralt und an vielen Stellen total einsam. Perfekt also, wenn man, wie ich, ständig die Aufmerksamkeit der Polizei erregte.
Und die erregte ich ziemlich oft, was einzig und allein daran lag, das ich nicht wie die anderen Mädchen in meinem Alter lebte! Was verdammt gut so war, auch wenn es nicht immer einfach war, als Deserteurin zu leben. Meist war es scheiße Kalt und man hatte oft ein Loch im Bauch vor Hunger. Und abgesehen von diesen Unannehmlichkeiten, hatte man auch sonst wenig von den weltlichen Genüssen, die es so gab.
Aber das war mir ziemlich egal. Denn ich hatte mich für ein Leben als Deserteurin entschieden, weil ich als solche zwar keine weltlichen Genüsse abbekam, aber etwas Entscheidendes hatte: Freiheit! Freiheit über all mein Tun und Sein. Und das war auch ganz gut so, also würde ich das auch weiterhin durchziehen – die Freiheit frei zu sein!
Nur, wie gesagt, oft war es scheiße Kalt, so wie jetzt auch. Ich zog meine uralte Jacke enger an meinen Körper und lauschte dem Wind der durch alle Ritzte und Löcher des Abbruchhauses pfiff und die Stimmen der Männer stellenweise zu mir trug.
»... nicht an die Abmachung gehalten ...«
»... lachhafte Behauptung!«
»... was Sie da sagen, ist nicht nur beleidigend, Sie verraten damit auch unsere Union!«
»Es wird bald keine Union mehr geben!«
Dieser Satz, mit sehr viel Überzeugung und Nachdruck gesprochen, ließ mich aufhorchen. Das war ja äußerst interessant. Interessant für jemanden der wie ich eine Deserteurin war, die die Union haste und sich ihr Ende entgegen sehnte.
Die Union. So hieß dieses scheiß Land das sich von der Nordsee bis zum Indischen/Pazifischen Ozean erstreckte und etwa fünf Milliarden Bewohner zählte. Keiner wusste wann die Union entstanden war, oder warum sie so hieß. Genauso wie keiner wusste warum ausgerechnet die Nordsee Nordsee und der Indische Ozean eben Indischer Ozean hießen.
Was war Indisch? Keiner wusste das, aber dennoch hieß er so, dennoch war dieses Wort – wie so viele andere und fremde ebenso – da.
Genau wie die Erde – der blaue Planet (noch so etwas: wieso hieß die Erde so, und nicht anders ... grüner Planet zum Beispiel?) – auch da war und schon immer aus zwei Unionen bestand. Der Union, in der ich lebte und der die hinter dem großen Teich lag und Union Ameri hieß.
Jaah, auch warum es hinter dem großen Teich hieß, wusste keiner. Es war halt einfach so. Man nahm es hin und fragte nicht weiter. Nur wenn man eine Deserteurin oder ein Deserteur war, dann stellte man solche Fragen, die aber einen schnell hinter Gittern brachte, hinter welchem man damit anfing, einem Vaterländische Gefühle beizubringen und solche Fragen schnell wieder vergas.
Was im Klartext bedeutet, dass die meisten, die hinter den Gittern von X1 bis X9 – wie die neun Gefängnisse in der Union hießen – wanderten, dort starben.
Deswegen, weil man wegen Regimekritik schnell in den Knast wanderte – und meistens aus diesem nicht mehr heraus kam, zumindest nicht lebend – wunderte es mich das dieser eine Mann, der so hart und entschlossen davon gesprochen hatte das es bald keine Union mehr geben würde, genau dies gesagt hatte.
So etwas zu sagen, auch in einer Gegend die Tot war und wo es keine Menschen gab die dich verpetzten konnten, war lebensgefährlich!
Ich musste mir den Mann ansehen, der keine Angst vor der Union hatte, war ein plötzlicher Impuls in mir und ich wehrte mich nur anstandshalber wenige Sekunden gegen diesen, eh ich mich ganz langsam und leise unter dem Fenster aufrichtete, unter welchem ich mich versteckt hielt. Ständig darauf bedacht sofort fluchtfähig zu sein – für den Fall das mich die Männer da draußen hörten oder sahen (was aber unwahrscheinlich war, hörte ich sie doch heftig miteinander streiten) – schob ich meinen Kopf über die Fensterbank um sie dort draußen zu erspähen.
»... was soll das heißen: Ich werde die Macht des Unionator übernehmen?«
»Das was es heißt!«
Wieder dieser Mann mit der entscheidenden Stimme, die mir jetzt aber keinen Respekt mehr einflößte, sondern wachsende Angst. Die Männer da draußen sprachen von einem Putsch. Sie wollten offensichtlich den Unionator – den Präsidenten der Union – stürzen!
Ungeheuerlich. So etwas nur zu denken, dann aber auch noch ganz unbefangen darüber zu sprechen war ... krass!
Es hatte schon viele gegeben die putschen wollten, und sie alle waren schneller unter die Erde gekommen, als sie auch nur das Wort Putsch buchstabieren konnten.
Noch nie, in der unendlich langen Geschichte der Union, war es je zu einem Putsch gekommen! So etwas taten Menschen nicht!
Vielleicht die hinter dem großen Teich – wie man es so oft munkelte –, aber doch nicht in der Union!
Mit gemischten Gefühlen linste ich vorsichtig über die Fensterbank und zuckte sofort zurück. Mein Herz schlug zum Zerspringen. So etwas war ganz selten bei mir und ich bekam es mit der Angst zu tun, dass ich hier in dieser verrottenden Gegend an einen Herzinfarkt sterben könnte.
Aber das war nur meine Grundsorge. Meine wirkliche Sorge, die auch mein Herz dazu veranlasste so wahnsinnig zu pulsieren, waren die Autos die ich für einen Bruchteil gesehen hatte.
Es waren Regierungsfahrzeuge. Aber nicht irgendwelche, sondern die Regierungsfahrzeuge!
»Ich weiß nicht ganz, was sie eigentlich wollen. Sie haben um dieses vertraute Gespräch hier im Nichts gebeten – und ich habe dem zugestimmt, auch wenn ich mich hier und jetzt wie ein dreckiger Verräter vorkomme – und jetzt reden sie aufständische Dinge. Was soll das?«
Mein Herz setzte aus. Ich spürte richtig, wie es plötzlich im Schlagen inne hielt, Sekunden verstreichen ließ und dann noch heftiger weiterschlug.
Es war das erste Mal das der Mann gesprochen hatte, den ich gerade gehört hatte – aber ich hatte ihn sofort erkannt.
Ooooh ...SCHEISSE!
Da draußen war der Unionator persönlich, wie ich es erst nicht wahrhaben wollte, als ich die schwarzen Wagen gesehen hatte, die ich zweifelsfrei als Wagen aus dem persönlichen Fuhrpark des Unionator erkannt hatte.
»Wir wollen nur die Macht – um mit ihr besser Zustände für die Menschen schaffen zu können!«
»Die Macht – schön und gut … aber bessere Zustände? Die Menschen leben doch, so wie sie gerade leben, gut genug. Sie müssen nicht klagen, denn ihnen fehlt an nichts. Waren Sie mal in der Union Ameri? Nein – dann können Sie auch nicht wissen, dass es dort viel zu viele Deserteure und nur ganz wenige Normale gibt! Es ist ein grausames Land. Ekelhaft, die Lebensumstände und auch sonst alles. Sein Sie also froh das Sie in der Union leben!«, hörte ich den Unionator heftig reden. »Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich werde jetzt gehen, die Sache hier vergessen und hoffen, dass Sie zur Besinnung kommen! Sie reden Quatsch, aber Sie sind ein guter Mann für die Regierung. Aber: wenn mir zu Ohren kommen sollte das Sie immer noch putschen wollen, dann muss ich Sie nach X1 schicken. Guten Tag!«
Ja, der Unionator war ein guter Mann – er setzte sich auch für die Interessen der Deserteure ein. Schwach, aber er hatte Verständnis – vielleicht weil er schon mal in der Union Ameri gewesen war.
Dort, wo es ganz schlimm und die Menschen wie Tier sein sollen ...
Mein Herz beruhigte sich etwas, ich hörte Schritte die sich den Autos näheren und ich wusste das ich gleich nach Hause konnte.
Puuuh, da hatte ich ja was gehört! Ein Putschist, der ganz offen seine Absicht dem Unionator ins Gesicht gesagt hatte. Ich hatte wieder diesen Drang zum über die Fensterbank linsen, denn ich wollte diesen Mann sehen, der diesen Mut hatte, auch wenn dies keineswegs klug war. Statt zu gucken, sollte ich zusehen, dass ich von hier weg kam.
Aber natürlich machte ich das nicht, sondern linste in dem Moment wieder über die Fensterbank, als die Stimme des Mannes sich wieder meldete, den ich sehen wollte.
»Jaaah, auch ich wünsche Ihnen einen guten Tag!«, sagte er und sich sah ganz kurz ein entschlossenes aber doch alltägliches Gesicht.
Und dann hörte ich noch Minutenlang die Schüsse, die von den Mauern rund um den Autos widerhallten. Sah noch lange wie der Unionator und seine Getreuen nach vorn, zur Seite – einfach überall hin – flogen und mit durchlöcherten Körpern tot auf den Boden aufkamen und ihre direkte Bodenumgebung rot färbten mit ihrem eigenen, erschreckend vielem Blut.
Ich sah dies alles ganz deutlich, weil ich erstarrt halb über der Fensterbank mit dem Kopf dahockte, und so sah ich auch noch einmal das Gesicht des Mannes, der so entschlossen gesprochen hatte, eh er geradezu entspannt davon ging, in der Rechten eine Maschinenpistole halten, die tatsächlich aus dem Lauf rauchte.
Und genau so blieb auch nichts weiter von ihm zurück. Nur ein seltsamer Gestank in der Luft, etwas Rauch und eben die Toten. Die Toten schlechthin.
Das alles war vor nicht einmal zwei Minuten gewesen, aber ich wusste, dass ich von hier weg musste. Ich musste so schnell wie möglich weg und nach Hause!
Dort, nur wenige Meter von mir entfernt lag der Unionator – Tot!
Niedergemetzelt mit seinen Männern.
Es gab nun eine neue Macht in der Union!
Das erste Mal war ein Putsch in der Union geglückt!
Ein Deserteur war nun an der Macht!
Nein, korrigierte ich mich entscheidend, noch war keiner von den Deserteuren an der Macht! Noch waren die Getreuen des Unionator am Regieren, und wenn die mich hier fanden ...
Nicht auszudenken!
Ich haute ab. Weg von den ehemaligen Eisenbahnwerken Köln-West. Ich lief weg, mit dem Wissen bald nicht mehr weg laufen zu müssen!
Es war ein schönes Gefühl.
Freiheit! Kein Zwang mehr. Dafür mussten zwar gerade ein paar Menschen sterben – aber jetzt waren all die Menschen frei, die immer frei sein wollten.
Freiheit!
Ein neues Leben!
Etwas blitzte blau hinter mir auf. Erschrocken drehte ich mich um, doch da war nichts – nur das Grau der einsetzenden Nacht.
Zögernd ging ich weiter, dann lief ich wieder los.
Es blitzte ein zweites Mal blau hinter mir auf, und diesmal drehte ich mich nicht wieder um, sondern nahm die Beine in die Hände und lief noch schneller.
Was immer da hinter mir abging, es konnte für mich nur gefährlich sein!
Wahrscheinlich war der Putschist mit einem Laser oder so zurückgekommen und dematerialisierte jetzt die Leichen, was ich nicht für besonders klug hielt – aber gut, ich war ja nicht gefragt.
Mich interessierte es auch nicht! Mich interessierte nur dass ich morgen in einer neuen Welt leben würde.
In einer Welt voller Freiheit!
Wie sehr ich mich in diesem Moment irrte …
Santa Maria de Salvo, Unterer Rückmacher und von allen nur de Salvo genannt, war eingeschüchterte – wenn er ein Mensch gewesen wär. Da er aber kein Mensch war, war er entsprechend nicht eingeschüchtert, und sein Chef, der Oberste Rückmacher von Köln, war entsprechend (weil auch er kein Mensch war) nicht wütend, sauer oder sonst was!
Nein, der Oberste Rückmacher nahm lediglich das zur Kenntnis was er da von dem General der Unionsicherheit hörte, aber wär er ein Mensch gewesen, so wär er ausgerastet, hätte geschrien und seine Leute eingeschüchterte.
Aber er war ja kein Mensch ...
Aber er und de Salvo lebten schon lang genug unter den Menschen, um einige ihrer seltsamen Wesenszügen übernommen zu haben – unbewusst, oder auch bewusst ...
»Der Unionator tot?«, fragte der Oberste Rückmacher nach – obwohl er es nicht nötig hatte, hatte er doch sehr wohl schon beim ersten Mal verstanden das der Unionator tot war. Aber er hatte halt die fragwürdige Eigenheit der Menschen übernommen, in solchen Situationen wie blöde noch dreimal nachzufragen, eh sie das Gehörte wahrhaben wollten.
»In der Tat, er ist tot. Er, vier seiner Getreuen und sechs seiner Leibwächter!«, bestätigte der General der Unionsicherheit geduldig – er war ein Mensch, da kannte er die menschlichen Eigenheiten … und ahnte nichts davon das die beiden Menschen vor ihm keine Menschen waren. Zumindest innerlich nicht. »Sie wurden von einer Suchdrohne auf dem Gelände der verlassenden Eisenbahnwerke Köln-West gefunden. Die Tat hat wohl der begangen, den wir schon des längeren beobachten. Er und der Unionator haben sich heute – gegen die Regeln zum Schutz des Unionator – im besagten Gebiet getroffen!«
»Idiot«, entfuhr es de Salvo verächtlich.
Der General nickte zustimmend, während der Oberste Rückmacher die Stirn runzelte. »Sie sprechen vom Unionator, de Salvo!«, sagte er streng.
De Salvo zuckte mit den Schultern. »Na und, ist doch wahr! Wie dumm muss man denn sein, ohne ausreichend Schutz in ein gefährliches Gebiet zu gehen? Ist das etwa nicht dumm?«
»Natürlich ist das dumm, aber dennoch ...« Der Oberste Rückmacher strafte de Salvo mit einem strengen Blick, dann ließ er das Thema fallen und wandte sich wieder dem General zu. »Ich denke es hat wenig Sinn, die Sache laufen zu lassen – wir werden uns darum kümmern!«
»Ich habe nichts anderes erwartet!«, nickte der General und log dabei, denn er wusste nicht wer die beiden vor ihm waren, nur das sie Dinge bewegen konnten, die nicht einmal der Generalstab konnte – und dieser war beeindruckend! »Heil der Union!«, grüßte er einfach zackig, drehte sich um und verließ den Raum. Sollten sie sich doch drum kümmern …
»So, Santa Maria de Salvo«, setzte der Oberste Rückmacher streng an in dem er de Salvo‘s ganzen Namen aussprach, wofür ihn de Salvo hasste (wobei er sich aber eingestehen musste, das er selbst Schuld war, diesen bescheuerten Namen einst angenommen zu haben. Er hätte ja auch einen viel cooleren nehmen können – aber nein! Blödmann!), »ich habe des letzteren den Eindruck gewonnen das Ihr Aufenthalt auf der Erde, Ihnen nicht gut bekommt! Sie nehmen zu viele menschliche Züge an, benehmen sich völlig daneben und auch sonst zeigen Sie wenig Respekt! Ich weiß, dass Sie begabt sind – Sie sind gerade mal sechzehn, nach Irdischen Maßstab, und schon Unterer Rückmacher! – aber ich schmeiß Sie raus, wen sich Ihr Verhalten nicht sofort ändert und Sie mir beweisen dass Sie es drauf haben! Verstanden?«
»Verstanden, Sir!«, nickte de Salvo ernst, und bewies damit das es durchaus konnte, dieses Ernst sein.
»Gut – dann erledigen Sie den Fall!«
De Salvo starrte seinen Chef sprachlos an. »Ich, Sir?«, fragte er dann langsam, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. »Ich soll den Putsch rückgängig machen?«
»Natürlich Sie!«, nickte der Oberste Rückmacher. »Oder trauen Sie sich nicht? Soll ich ein Tor für Sie bestellen? Heim zu Mami und Papi?«, fragte er mit verächtlichem Unterton.
De Salvo strafte sich. »Nein, Sir, Sie brauchen kein Tor zu bestellen, ich werde mich unverzüglich um die Angelegenheit kümmern!«, sagte er fest. »Ich werde Sie nicht enttäuschen!«
»Das hoffe ich für Sie!«, nickte der Oberste Rückmacher, dann wandte er sich seinen Dokumenten zu und de Salvo verließ das Büro.
Verdammtes Arschloch! Wusste genau, wo mein wunder Punkt ist!, fluchte de Salvo stumm auf dem Weg zu seinem Wagen vor sich hin. Seine Beine zitterten jetzt, nachdem er seine Selbstbeherrschung nicht mehr aufrecht halten konnte. Ihm entglitt seine sorgfältig angelegte Maske der inneren Ruhe und Entspanntheit – die er eigentlich nicht brauchte, war er doch ruhig und entspannt von Geburt aus, wie jeder seiner Art. Aber, wie der Oberste es ja schon erkannt hatte, hatte er, de Salvo nach nur zwei Jahren Aufenthalt auf der Erde viel zu viele menschliche Züge angenommen. Er fluchte, er benahm sich mal so mal so und er entwickelte ein gewisses Verlangen zum menschlichen Leben.
Wenn das raus kam – das er sich außerhalb seiner Arbeitszeit ständig unter Menschen aufhielt, obwohl dies strengstens verboten war –, dann war er schneller wieder zu Hause, als er gucken konnte.
Aber er wollte nicht nach Hause, also würde er den jetzigen Auftrag zur besten Zufriedenheit des Obersten ausführen!
Arschloch!, dachte sich de Salvo noch einmal und drückte dabei missmutig die Fernbedienung seines Wagens und klemmte sich hinter das Lenkrad um dann einmal inne zu halten und durchzuatmen. Dann erst drückte er den Knopf, der das Tiefgaragentor per Funk öffnete, und gab Gas, rollte aus den Tiefen des Verwaltungssitzes der Unionsicherheit und kam ungefähr dreihundert Meter weiter mitten im alltäglichen Berufsverkehr stecken. Scheinbar endlos reihten sich die Autos dahin, rund um diesen monströse Bau mit seinen ganzen Staturen und Verzierungen, welcher genau in der Nähe von de Salvo´s Arbeitsplatz lag und den Namen Kölner Dom trug und dessen Funktion keinem Menschen klar war, was den Kölnern aber nicht weiter störte, war der Dom doch die reinste Goldgrube – jeder Tourist der nach Köln kam, kam grundsätzlich wegen des Doms.
Vor allem seitdem in Rom der Prachtbau mit dem Namen Vatikan eingestürzt war – dort hatte man nicht so viel Geld in die Pflege von Bauten gesteckt, dessen Funktion sich niemandem erschloss.
De Salvo musste unwillkürlich grinsen, als er eine Gruppe Schlitzaugen sah – wie die Menschen aus dem weit entferntesten Teil der Hauptstadt der Union hießen (irgendwie mussten die verschiedenen Menschen ja, die weißen, schwarzen, braunen und eben diese Schlitzaugen, benannt werden) –, deren besonderes Merkmal, das hatte er immer wieder beobachtet, das wilde Fotografieren von allem und jedem war.
Gerade zum Beispiel lichtete die besagte Gruppe einen Hund ab, der in aller Ruhe sein Bein am Dom hob.
Wenn die Menschen wüssten, dass die ganzen Prachtbauten mit den Kreuzen Heilige Stätten waren – oooh sie würden auf Knien rutschen und um Vergebung bitten. Anderseits … sie wussten ja nicht einmal was Heilige Stätten waren.
De Salvo wandte sich kopfschüttelnd wieder dem zähen Verkehr vor sich zu, auf den er gar keine Lust hatte. Kurzerhand klatschte er das Blaulicht seines Wagens aufs Dach, scherte nach links aus und raste dem Stau davon.
Zeit, die Zeit rückgängig zu machen!
De Salvo betrachtete in Seelenruhe wie gerade vor seinen Augen mehre Männer erschossen wurden. Er achtete genau darauf wer wie erschossen wurde und wo sich wer zu jener Sekunde aufhielt, in der der Unionator erschossen wurde. Dann waren die Sekunden des Tötens vorüber, und der Putschist floh – ganz lässig, Respekt!
De Salvo wartete noch einen Moment, war sich dann ganz sicher, dass es nur die Toten und den Putschist gab, dann zog er sein Gerät hervor und begann wild auf diesem einzutippen.
Er musste den Putsch rückgängig machen und gleichzeitig den Putschist töten.
Leicht – aber dennoch durfte er sich keinen Fehler erlauben, was die Erinnerungen der Männer anbelangt!
De Salvo hatte schon von Fällen gehört, bei denen Rückmacher es zu eilig gehabt und was dazu geführt hatte das Fehler gemacht worden waren. Fehler die sich so gestalteten das Personen seltsame Erinnerungen an etwas was sie nie erlebt aber dennoch erlebt hatten – nur wussten sie nicht, das man eben genau dieses Erlebte rückgängig gemacht hatte!
Grundsätzlich, dachte de Salvo während sein Gerät die Eingaben prüfte, war es nicht weiter schlimm, wenn einer seltsame Erinnerungen hatte – sie wurden für verrückt erklärt und in Anstalten gesteckt, oder mit Medikamenten behandelt, auch wenn sie nicht Geisteskrank waren.
Und da das niemand wollte, würden die schweigen, die seltsame Erinnerungen hatten, bis sie diese irgendwann vergessen würden.
Alles also keine große Sache, wenn doch mal ein Fehler auftauchen sollte!
Das Gerät piepste. De Salvo schenkte dem Bildschirm einen flüchtigen Blick und wollte schon auf JA drücken, als ihm etwas auffiel.
Etwas merkwürdiges, das unten rechts ganz klein auf dem Schirm angezeigt wurde.
System hat eine ungeklärte Unregelmäßigkeit festgestellt, kann diese aber nicht weiter verarbeiten. Gehen Sie bitte auf manuelle Überprüfung!
Was war denn das?
De Salvo starrte den Bildschirm an.
System hat eine ungeklärte Unregelmäßigkeit festgestellt, kann diese aber nicht weiter verarbeiten?
Was sollte das den heißen?
De Salvo ging auf manuelle Überprüfung, was nichts anderes hieß, als das er das Systemprotokoll öffnete welches nur einfach aus einer fortlaufend nummerierten Punkteliste bestand mit nebenstehenden Statusinformationen
001: negativ (Details)
002: negativ (Details)
003: negativ (Details)
004: negativ (Details)
005: negativ (Details)
006: negativ (Details)
007: negativ (Details)
008: negativ (Details)
009: negativ (Details)
010: negativ (Details)
011: negativ (Details)
012: positiv (?) (Details)
013: negativ (Details)
die ohne Interesse waren.
De Salvo schüttelte den Kopf, blickte sich um und sah das er allein war. Er war hier in diesem verlassendem Gelände der Eisenbahnwerke Köln-West der einzige Lebende weit und breit, und das war auch gut so, denn er fiel auf, das wusste er. Er fiel auf, weil er nicht nur rein körperlich schon durch seine Größe, seiner blassen Haut und seinen schwarzen Haaren aus der Menge stach. Nein, er fiel auch dadurch auf, dass er noch verdammt jung war, aber schon ein Regierungswagen fuhr und gewichtig herumlief.
Die ganzen Deserteure, würden sie jetzt und hier ihn sehen, so würden sie sich ihm liebend gerne vornehmen und ihm mal so richtig die Meinung sagen – was nicht heißen sollte das er, de Salvo, Angst hatte.
Nein, die hatte er nicht, den er war um ein vielfaches den einfachen Menschen überlegen, einfach deswegen schon, weil er ja gar kein Mensch war.
Nein, was de Salvo jetzt nicht brauchen konnte, waren Zeugen, die die Rückmachung sahen. Man sah sie zwar nur in einem Bruchteil von Sekunden – aber das war schon genug, wen man nicht gerade auf den Kopf gefallen war!
De Salvo ließ sein Gerät auf die Anwesenheit von Lebewesen überprüfen, erhielt eine negative Meldung und ging auf Rückmachen.
Das Gerät piepste und zeigte die letzte Möglichkeit zum Prozessabbruch an.
Wollen Sie wirklich Rückgängig machen?
Ja – Nein – Abbruch
Achtung:
System hat eine ungeklärte Unregelmäßigkeit festgestellt,
kann diese aber nicht weiter verarbeiten.
Gehen Sie bitte auf manuelle Überprüfung!
»Verdammte Scheiße, was für eine Unregelmäßigkeit denn?«, fuhr de Salvo sein Gerät an.
Solche Gefühlsausbrüche waren bei Rückmachern eigentlich nicht üblich, da sie gar keine Gefühle besaßen, solche Ausbrüche also folglich auch nicht bei ihnen möglich waren – aber da de Salvo sich schon viel zu oft unerlaubt unter Menschen aufgehalten hatte, hatte er ziemlich viele Eigenarten von ihnen übernommen.
De Salvo rammte seinen Zeigefinger wieder auf manuelle Überprüfung und sah sämtliche dreizehn Punkte noch einmal durch.
Alle negativ.
Nein, de Salvo du Idiot! Da. War. Doch. Eine. Positive. Meldung!
Die Zwölf.
Aber mit Fragezeichen ...
Das wurde ja immer mysteriöser, fand de Salvo, ging auf Details und las erstaunt die Erklärung zu Punkt Zwölf.
Systemdetails zu Punkt 12
Nicht genauer zu definierende und zu verwertende Reststrahlung eines menschlichen Körpers zum Zeitpunkt des Geschehens. Es besteht das Restrisiko eines Zeugens! Bitte vergewissern Sie sich, bevor Sie in der Aktion fortfahren!
De Salvo starrte von seinem Gerät zu der Stelle wo der Putschist geputscht hatte, und wieder zurück.
Restrisiko eines Zeugens!
Ein Zeuge?
De Salvo schmunzelte, schüttelte den Kopf und drückte auf –
Rückgängig?
Ja.
Zeuge. So was nennt man ein technisches Problem, ihr Idioten von Programmierer!
Ein blaues Licht blitzte über den Platz, auf dem vor wenigen Stunden – gestern – der Unionator getötet worden war, dann war alles wieder wie immer.
Nur der Lauf der Dinge war geändert worden ...
Mal wieder.
Als ich aufwachte war mir kalt und ich fühlte mich, wie jeden Morgen, einfach nur scheiße. Aber das war, wie jeden Morgen, nur der erste Moment. Es war der Moment des Übergangs aus dem Schlaf- ins Wachsein. Ich vermute schon lange, dass mein Gehirn mich verarscht, wenn es den Gefühlsimpuls aussann, der mich Scheiße fühlen ließ. Denn wenn ich erst einmal wach war, fühlte ich mich schon weniger scheiße. Und wenn ich erst mal wieder auf Touren kam, dann fühlte ich alles – nur nicht das Gefühl Scheiße.
Ich richtete mich auf – in meinem Zimmer, das nichts anderes war, als ein besseres Kaninchenloch. Aber ich lebte hier schon seit fünf Jahren, und ich war hier noch nie gefunden worden, wen ich gesucht worden war. Das sagte doch schon alles. – und wankte zum Ausgang aus dem besseren Loch, schlug mich durch das dichte Gebüsch, das das Loch umgab, Richtung Toilette, lauschte ob jemand in der Nähe war (was nie der Fall war) dann ließ ich meine Hose runter und entleerte mich.
Ja, einfach mitten im Wald.
Ich lebe nicht wie eine superreiches Mädchen, doch ich fühlte mich immer so, wen ich morgens dahockte, auf die Geräusche des uralten Waldes um mich herum lauschte und mich dabei erleichterte.
Ich glaube, ich habe das schönste Klo, das man haben kann, den ich sehe jeden Morgen die Sonne aufgehen, während die »Besseren« höchstens nur ihre Fliesen an der Wand betrachten konnten.
Und im Übrigen – wer hatte schon den Luxus eines eigenen Baches, der klar und kühl an seiner Toilette vorbei floss und den er seinen eigenen nennen konnte?
Genau – niemand, außer mir!
Ich zog meine Hose, die ich mal von einem »besseren Mädchen« geklaut hatte und die verdammt gut warm hielt, hoch, lief zum Rand des Baches und spritzte mir mutig zwei Handvoll Wasser ins Gesicht – war das beleben!
So belebend, das mir wieder einfiel was ich gestern Abend erlebt hatte.
Der Unionator war tot!
Es gab eine neue Macht in der Union!
Es gab nun Freiheit für mich und all den anderen, die nicht bereit waren sich in das System einzugliedern!
Froh, dass ich das erleben durfte, wusch ich mich heute besonders gründlich. Dann kroch ich wieder in mein besseres Kaninchenloch, das in Wahrheit eine kleine, aber sehr behagliche Höhle war, die ich äußerst wohnlich eingerichtet hatte. In einer Ecke war mein Schlafplatz, in einer anderen ein bisschen Platz wo ich mir was zum Beißen kochen konnte – sofern ich die dazu benötigten Dinge hatte (was seltener war, als mir lieb war) – und der Rest war etwas, das eine Art Wohnbereich sein sollte. Und genau dort bewahrte ich die drei wertvollsten Sachen auf die ich besaß: Eine echte und funktionsfähige geladene Pistole (Selbstschutz war das A und O wenn man eine wie ich war); ein Radio das man mit einer Kurbel auflud; und eine Scankarte die ich einem Jungen geklaut hatte, der gedacht hatte ich würde für ihn die Beine breit machen – ich hab ihm eine solche Ohrfeige verpasst, das er wohl noch Tage danach Kopfschmerzen gehabt hatte.
Die Scankarte war genau genommen eigentlich das allerwertvollste was ich besaß, denn mit ihr konnte ich in die Bereiche der Öffentlichen Gebäude kommen, die den »Besseren der Besseren« vorbehalten war – niemand hatte sie je sperren lassen, ich denke dem Jungen dem ich die Ohrfeige verpasst habe, hatte wohl Angst das ich eines Nachts bei ihm auftauchen könnte und ihm ... na ja, nicht so wichtig …
Viel wichtiger war mir jetzt in die Stadt zu gehen, hin zu der freien Union, die über Nacht entstanden war.
Ich suchte meine Sachen zusammen, steckte die Pistole vorn in die Hose und die Scankarte in die Gesäßtasche, dann war ich bereit für den ersten Tag in einer neuen – freien – Union.
Ich freute mich wahnsinnig, endlich so leben zu dürfen, wie ich es wollte und nahm mir auch vor nie wieder etwas zu stehlen – doch ein allerletztes Mal würde ich noch etwas stehlen müssen und das war mein heutiges Frühstück.
Das klaute ich mir gern bei einem dieser Schlitzaugenrestaurants, die sich Asia–Grill oder so ähnlich nannten, ohne erklären zu können warum sie sich ausgerechnet so nannten (jeder Schlitzauge der ein Restaurant eröffnete nannte es so oder so ähnlich, weil die anderen das ja auch taten und damit Punkt!).
Ich machte mich auf den Weg in die City von Köln, der Hauptstadt der Union.
Der neuen, freien Union!
Mir blieben die geklauten Asia–Nudeln im Hals stecken, als ich ihn sah.
Ihn!
Den, den ich gestern gesehen hatte.
Gesehen hatte, wie ...
Nein!
Nein, das konnte nicht sein!
Meine Hände zitterten. Mir war klar dass ich hier in Gefahr war, denn da bewegten sich gerade hunderte von Staatskräften auf mich zu. Drohnen schwebten über diese und auch zwei Helis machte ich oben am strahlend blauen Himmel aus.
Scheiße, Jes du musst abhauen!, rief mein Verstand, aber ich konnte nur gelähmt da stehen und auf die Prozession starren die sich auf mich zubewegte.
Nein!
Nein, das konnte – das durfte – nicht wahr sein!
Als die ersten Polizeifahrzeuge an mir vorbei fuhren und die Beamten mich misstrauisch beäugten, siegte endlich mein gesunder Verstand und ich sah zu das ich weg kam.
Ich lief bis zur nächsten Gasse, dann blieb ich wieder stehen, obwohl ich sonst in solch einer Situation Kilometerweit davongelaufen wär.
Doch ich konnte das heute nicht! Ich musste mich überzeugen, herausfinden, was da lief und ob ich mich nicht doch einfach nur irrte.
Denn das was ich da sah, konnte doch nicht sein!
Ich checkte kurz die Gasse – keine Gefahr von hinten –, dann wandte ich mich wieder der Prozession aus Polizei– und Regierungsfahrzeugen zu.
Gerade rollte die große, offene Limousine vorbei, die den Mann durch die Gegend kutschierte, den ich gestern noch sterben gesehen hatte.
Der Unionator!
Er lebte. Ebenso auch zwei seiner Getreuen und mindestens einen der Leibwächter die gestern ebenfalls gestorben waren.
Das. War. Doch. Völlig. Unmöglich!
Aber es war wahr. Ich sah sogar ganz kurz direkt in das Gesicht des Unionator, der breit lächelnd der Menge zuwinkte.
Was hatte das zu bedeuten? Hatte ich mir gestern alles nur eingebildet? War der Unionator nie dort gewesen, auf dem verlassenden Gelände der ehemaligen Eisenbahnwerke Köln-West?
War ich nie dort gewesen, versteckt in der Kesselschmiede?
»Nein, das kann nicht stimmen!«, flü