Chris Renata
Wende mit 40
Ein Lebensbericht
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Inhaltsverzeichnis
Titel
EINLEITUNG
RÜCKBLICK
KINDHEIT
JUGEND UND FACHHOCHSCHULSTUDIUM
ERSTE EHE
FERNSTUDIUM MIT HOCHSCHULABSCHLUSS
GEBURT MEINES SOHNES ULI IN THÜRINGEN
GEBURT MEINER TOCHTER ULRIKE IN SACHSEN-ANHALT
NEUE ARBEITSSTELLE; PANIK DES EHEMANNES
ALLTAG UND EHEPROBLEME
40. LEBENSJAHR UND WENDE
ZERRÜTTUNG DER EHE UND SCHEIDUNG
UMBRUCH
NEUE PARTNERSCHAFT
HEIRAT IN LAS VEGAS UND DAS LEBEN DANACH
LEBEN IN NIEDERSACHSEN
NACHBETRACHTUNGEN
PERSONENREGISTER
Impressum neobooks
Hamburg im Jahr 1999…
Einen Hamburg- Aufenthalt zu erleben, daran hätte ich vor zehn Jahren als damalige DDR- Bürgerin nur im Traum denken können. Inzwischen war ich aber schon auf einigen Kontinenten gewesen und hatte auf Fernreisen sehr viel erlebt und gesehen.
Die Osterfeiertage waren nun vorbei. Wir hatten uns über das einmalig schöne Wetter gefreut. Mein 25 Jahre älterer Ehemann Bernd ermöglichte es mir, zwei Tage in einem netten Hotel zu übernachten, eine Alsterfahrt bei Sonnenschein zu erleben und viele weitere Unternehmungen zu genießen. Ich dankte und liebte ihn, aber nicht nur dafür.
In den fünfziger Jahren war ich als Kind einige Male in Hamburg, der Geburtsstadt meiner Mutter gewesen, um meine Tante Bärbel zu besuchen. Die beiden Geschwister Bärbel und Hildegard, hatten früh ihre Eltern verloren und waren trotz entfernter Wohnorte in ihrem Leben eng miteinander verbunden geblieben.
Nun suchten Bernd und ich das Familiengrab auf dem Gelände des Ohlsdorfer Friedhofs. Mit 4OO Hektar und 32O OOO Grabstellen ist der Ohlsdorfer Friedhof der größte Parkfriedhof der Welt. In einem Informationshaus bekamen wir eine Orientierungshilfe. Wir ließen uns eine Übersichtskarte mit dem Planquadrat der Grabstätte geben. Bernd war im 2. Weltkrieg Jagdflieger gewesen und heute übte er wieder das Fliegen mit einem zweisitzigen Flugzeug als Hobby aus. Trotz Bernds Erfahrung im Kartenlesen, war es schwierig, das Familiengrab zu finden.
Meine Eltern hatten 1994 schon einmal vergebens das Grab gesucht. Ich wusste nur, dass sich ein großer Findling mit dem Familienamen und dem Vermerk „Auf Friedhofsdauer“ auf dem Grab befinden sollte. Man hatte mir auch von Rhododendronsträuchern erzählt.
Wir mussten die Straße verlassen und auf einem parkähnlichen Gelände suchen, auf dem es keine Wege gab. Ich hatte mir das nicht so kompliziert vorgestellt.
Meine Tochter Ulrike und mein geschiedener Mann Hanno, hatten die Grabstätte vor einigen Jahren gefunden. Allerdings wurde sie ihnen von einem Friedhofsgärtner gezeigt, der gerade in der Nähe arbeitete. Der Gärtner erzählte ihnen auch, dass das Nutzungsrecht bald ablaufen würde, wenn sich nicht ein Verwandter um eine Verlängerung der Überlassung der Grabstätte kümmern würde.
Bernd und ich suchten lange. Endlich sah ich einen riesigen Rhododendronstrauch. Ich bog die Zweige auseinander und fand auf dem Boden ein Paar Springerstiefel, einen Baseball und einen Fahrradspiegel. Was hatte das zu bedeuten? Gaben die Rückseite des Findlings und die tief hängenden Zweige des Rhododendronstrauches Schutz, so dass man hier ungehindert lagern konnte? Auf der Vorderseite des Findlings stand natürlich der gesuchte Namenszug „Ottomar Preisig“. Es waren vier kleinere Grabplatten mit Aufschriften unter dem Laub zu erkennen. Auf einer Grabplatte stand der Name des Zwillingsbruders meiner Mutter. Zwei weitere Platten waren mit den Namen meiner Großmutter und meines Großvaters beschrieben. Auf der vierten Platte befanden sich die Namen meiner beiden unverheirateten Tanten, die Schwestern meines Großvaters, die in Lübeck gelebt haben und die ich noch kennengelernt hatte.
Sofort rief ich Bernd und fing an mit Zweigen die Schriften der Platten vom Laub völlig freizulegen. Bernd nahm gleich den Baseball und putzte damit die Platten noch einmal sauber. Ich wunderte mich ein wenig darüber, dass er gleich einen dieser ärgerlichen Gegenstände nützlich einsetzte. Ich selbst konnte nicht anders und musste die Stiefel wenigstens einige Meter weiter ins Gestrüpp werfen. Bernd kroch noch einmal unter die Sträucher, um die vier Grabplatten zu fotografieren.
Anlässlich des Todes des Zwillingsbruders meiner Mutter, der am Tag seiner Geburt im Januar 1922 verstarb, wurde die Grabstätte angelegt. Es muss für meine Großeltern ein Schock gewesen sein, den ersehnten Sohn so schnell zu verlieren. Angeblich war er am Fruchtwasser erstickt. Was für ein Familiendrama! Der Bruder meiner Mutter soll bei der Geburt viel kräftiger gewesen sein, als sie. Außerdem wurde mir erzählt, dass er bestimmt noch leben könnte, wenn die Entbindung im Krankenhaus und nicht zu Hause erfolgt wäre.
Nach Erzählungen meiner Mutter ging es meinem Großvater finanziell gut. Er hatte sich als Prokurist hochgearbeitet und betrieb dann mit einem Kompagnon eine Ziegelei, die bis zur Wirtschaftskrise rentabel war. Heute noch schwärmt meine Mutter von dem großen Haus in Hamburg Rahlstedt mit Garten und Hundezwinger und von der Zeit, als ihr Vater einen Gärtner und einen Chauffeur beschäftigte.
Meine Großmutter muss ein hübsches, junges Mädchen gewesen sein, als mein Großvater sich in sie verliebte und sie heiratete. Sie stammte aus einfachen Verhältnissen. Mein Großvater verlangte von ihr, die Verbindung zu ihren Eltern abzubrechen, weil sie an einer Heirat ihrer Tochter mit ihm gezweifelt hatten. Verursachte diese Forderung ihres Ehemannes bei meiner Großmutter solchen Kummer, dass sie später dann Gallensteine bekam? Sie starb, als meine Mutter vierzehn Jahre alt war. Sie hatte die Gallensteinoperation nicht überlebt. Nun war mein Großvater allein. Bärbel, die ältere Schwester meiner Mutter, machte ihr Abitur und sollte Medizin studieren. Meine Mutter war in schulischen Dingen nicht so ehrgeizig.
Ich setzte mich auf eine Bank. Sie befand sich einige Meter vom Grab entfernt in einer Gasse von Sträuchern und Bäumen. Nur auf der rechten Seite wurde man durch ein großes Steinkreuz daran erinnert, dass man sich auf einem Friedhof befand. Sonst hatte ich bei einem Friedhofsaufenthalt immer ein bedrückendes Gefühl, weil man an das Ende seines Lebens erinnert wird. Hier auf der Bank zu sitzen, war jedoch angenehm. Eine Ruhe und Schönheit der Parkanlage wirkte auf mich.
Jetzt erinnerte ich mich daran; wie meine Mutter in unserer Küche meinem Bruder Manuel und mir von sich erzählte. Als am 30. Januar 1933 der Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte und ihm damit den Auftrag zur Regierungsbildung erteilte, ahnte mein Großvater Ottomar, dass schlimme Zeiten herannahen würden. Mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes, dem Boykott gegen jüdische Bürger, der Bücherverbrennung und dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1. September 1939 bestätigte sich die düstere Vorahnung meines Großvaters.
Als meine Mutter ein junges Mädchen war, bestimmt sehr hübsch anzusehen, interessierte sich ein junger Mann für sie. Ihr Vater sah das gar nicht gern, denn er hatte große Angst, dass sich seine Tochter Hildegard mit einem Mann einlassen und schwanger werden könnte. Nur so kann man sich erklären, dass meine Mutter als ahnungsloses Mädchen nach einem Rendezvous ihrem Vater ihren Schlüpfer zeigen musste. Da meine Mutter zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgeklärt war, konnte sie diese väterliche Maßnahme nicht verstehen und zweifelte an seinem Verhalten.
Meine Mutter war achtzehn Jahre alt, da verstarb plötzlich und unerwartet auch ihr Vater. Seine Lebensenergie war erloschen. Er hat wohl seine Frau sehr vermisst. Außerdem musste er finanzielle Verluste hinnehmen, so dass er die Ziegelei und sogar sein Haus verkaufen musste. Nach dem Tod meines Großvaters kam meine Mutter zu einem Vormund, denn man wurde zu dieser Zeit erst mit einundzwanzig mündig. Sie arbeitete in einem Kunstgewerbegeschäft in Hamburg als Verkäuferin.
Mein Vater hatte in einer Thüringer Kleinstadt sein Abitur gemacht und war beim Finanzamt als Inspektor tätig gewesen. Dann wurde er als Soldat eingezogen und kam zur Flak (Flugabwehr) nach Norddeutschland. Während eines Ausgangs sah mein Vater meine Mutter in einer Hamburger Straßenbahn. Sie gefiel ihm und er verfolgte sie bis zu ihrem Kunstgewerbegeschäft. An einem anderen Tag ließ er sich von ihr bedienen und es kam zu einer Verabredung.
Am 25. Juni 1943 heirateten meine Eltern standesamtlich im prunkvollen Hamburger Rathaus, das trotz der Bombenangriffe auf Hamburg noch unzerstört geblieben war. Zur kirchlichen Trauung, die in der Nikolaikirche stattfand, fuhren meine Eltern in einer Kutsche. Welch ein Kontrast zur damaligen Kriegssituation! Ein Zeitungsreporter schrieb in einem kurzen Artikel, wie hübsch das Brautpaar in der Kutsche ausgesehen habe. Mit solchen harmlosen Mitteilungen lenkte man die Bevölkerung gern von ihrer misslichen Lage ab. Nach der Trauung feierte man die Hochzeit mit zwölf Gästen im Bürgerbräuhaus. Unter den Hamburger Gästen war auch der Großvater meiner Mutter eingeladen, der seinerzeit den Kontakt zu seiner Tochter aufgeben musste und, die dann später an einer Gallensteinoperation starb. Die Eltern und die Schwägerin meines Vaters aus Thüringen nahmen an der Hochzeit teil. Aus Afrika reiste auch Edgar Preisig, der Bruder meines Großvaters, mit seiner Frau an. Er war der Meinung, man müsse jetzt dem „Großdeutschem Reich“ dienen und arbeitete ab Juli 1943 als Major in der Militärverwaltung in Ostpreußen. Im letzten Kriegswinter gelang ihm und seiner Frau die Flucht vor den sowjetischen Fronttruppen nicht mehr. Sie kamen ums Leben.
Während des Krieges wurde das Flak-Regiment meines Vaters häufig verlegt. Er war in Frankreich und Italien. Als mein Vater nach Rußland abkommandiert werden sollte, gab er an, eine Blinddarmentzündung zu haben und entging so dieser Versetzung.
Ende Juli / Anfang August 1943 wurde Hamburg von den Alliierten sehr stark bombardiert. Die Hansestadt war durch den Feuersturm auf einem Areal von 20 Quadratkilometern völlig zerstört. Es muss für die Zivilbevölkerung die „Hölle“ gewesen sein. Mehr als 40 000 Menschen verbrannten oder erstickten. Deshalb flüchtete meine Mutter aus Hamburg nach Lübeck zu ihren Tanten, den ledigen Schwestern ihres Vaters. Endlich war am 8. Mai 1945 dieser schreckliche Krieg zu Ende. Nachdem Adolf Hitler Selbstmord verübt hatte, unterzeichnete im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst General Wilhelm Keitel die bedingungslose Kapitulation. Zu den Bedingungen gehörte, dass das Deutsche Reich nicht mehr als eigenständiger Staat existierte. In Berlin wurde im Juni der Alliierte Kontrollrat als oberste Regierungsgewalt eingerichtet. Er konstituierte sich aus vier Oberbefehlshabern der vier Besatzungsmächte Frankreich, England, USA und UdSSR. Sie beschlossen die Entnazifizierung, Entmilitarisierung und die Neuordnung Deutschlands. Das war für Deutschland die „Stunde Null“.
Am 3. Juni 1945 wurde mein Bruder Manuel in Lübeck geboren. Er wog bei der Geburt 9 Pfund, was für diese Zeiten sehr beachtlich war. Mein Vater erfuhr nichts davon. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in München. Da er Schulkenntnisse in Englisch besaß, konnte er bei den amerikanischen Besatzungskräften bei der Verteilung von Lebensmitteln mithelfen.
Bärbel, die Schwester meiner Mutter, war inzwischen auch verheiratet. Das Medizinstudium hatte sie abgebrochen. Ihr Ehemann hatte als Physiker in der Torpedoversuchsanstalt der Kriegsmarine gearbeitet. Eine Zeit lang hielt sich Bärbel in Eckernförde bei ihm auf. Bei Versuchen arbeitete Hans auch in Danzig. Dort besuchte ihn Bärbel als sie schwanger war. Eigentlich wollte sie am 30.Januar 1945 mit dem Transportschiff „Wilhelm Gustloff“ nach Hamburg zurückkehren. Eine Karte für die Fahrt hatte sie schon gelöst, aber sie war verhindert die Fahrt anzutreten. Die „Gustloff“ sank und dadurch blieb meine Tante Bärbel am Leben. Auch Bärbel bekam ein Baby. Sie gebar im Juni 1945 eine Tochter (Maja).
Meine Mutter kehrte mit ihrem Söhnchen in ihre kleine Hamburger Wohnung zurück. Hamburg war stark zerstört. Es gab sehr viele Ruinen. Menschenschlangen vor Lebens-mittelgeschäften gehörten zum Alltag. Immer knapper werdende Lebensmittelrationen hatten zur Folge, dass der Schwarzhandel und Tauschgeschäfte blühten. Meine Mutter tauschte wertvollen Schmuck gegen Lebensmittel ein.
In dieser Situation meldete sich ihre Schwester mit der kleinen Tochter Maja bei ihr und bat um Aufnahme, da ihre Wohnung nicht mehr existierte. Meine Mutter nahm sie mit ihrer Tochter selbstverständlich bei sich auf. Bald wurde jedoch Bärbels Mann Hans aus der Gefangenschaft entlassen und meine Mutter willigte ein, auch ihm Unterkunft zu gewähren.
Nach einigen Monaten kam dann auch noch mein Vater aus München zurück nach Hamburg. Obwohl meine Eltern verheiratet waren, bekam mein Vater nicht gleich eine Zuzugsgenehmigung. Zuerst wurde er zum Trümmerräumen verpflichtet, dann schrieb er sich als Student in der Universität ein. Außerdem bekam er aber auch eine Anstellung als Inspektor beim Finanzamt. Die wirtschaftliche Lage meiner Eltern war trotzdem nicht sehr gut. Im Nachkriegswinter wurde das Leben stark beeinflusst durch Brennstoffmangel, sowie durch Gas- und Stromsperren. Bärbels Ehemann organisierte Straßenbahnheizungen, um nicht zu frieren. Auf dem Schwarzmarkt waren hohe Preise für Lebensmittel zu zahlen. Anfangs teilten sich beide Familien die Kosten für den Lebensunterhalt. Später führte man getrennte Haushalte. Bärbels Ehemann Hans verschaffte sich durch Porträtmalerei von englischen Soldaten zusätzliche Lebensmittel, die er jedoch nicht teilte. Die Wohnung war für vier Erwachsene und zwei Kleinkinder viel zu eng.
Nun wollte mein Vater nach Thüringen, um dort seine Eltern zu besuchen und noch einige Kleidungsstücke zu holen. Sein Vater Oliver und dessen Frau Marlies lebten in einer Kleinstadt in Thüringen. Oliver arbeitete in einem Kaliwerk als Fördermaschinist. Außerdem bewirtschafteten die Eheleute einige kleine Felder, fütterten zwei Ziegen, zwei Schweine, sowie Kaninchen und Hühner. In der Nachkriegszeit war diese Eigenversorgung natürlich sehr erstrebenswert. Eigentlich wollte mein Vater allein über die „grüne“ Grenze in die russische Besatzungszone. Doch meine Mutter wollte nicht mit einem Kind in Hamburg allein zurückbleiben. War die Situation in der Wohnung mit so vielen Personen unerträglich geworden? Nun hatte auch noch meine Großmutter Marlies herausgefunden, dass mein Vater eine Stelle beim Thüringer Finanzamt antreten könne. Meine Eltern fassten den Entschluss, den Hausrat meiner Mutter für zweitausend Reichsmark an Bärbel abzugeben und nach Thüringen zu übersiedeln. Diesen Entschluss haben sie zeitlebens bereut! Es ging schon los, als sie mit Kind und Gepäck die Demarkationsgrenze der russischen Besatzungszone in einem Waldstück bei Dunkelheit überqueren mussten. Meine Mutter hat meinem Vater sehr übel genommen, dass er davon rannte, als er russische Soldaten von weitem kommen sah. Für meine Mutter war das eine schreckliche Situation. Zum Glück vergriffen sich die Russen nicht an ihr und sie fand auch meinen Vater im Wald wieder. Er begründete seine Flucht damit, dass man einer Frau mit einem Kleinkind bestimmt nichts angetan hätte, was vielleicht stimmte.
Meine Eltern wurden mit meinem kleinen Bruder von meinen Großeltern in ihrem Haus in der Thüringer Kleinstadt aufgenommen. Die oberste Etage des Hauses war an eine fremde Familie vermietet. Meine Eltern und der kleine Manuel bezogen zusammen ein winziges Zimmer. Meiner Mutter blieb jetzt nichts weiter übrig, als sich mit kleinbürgerlichen Verhältnissen abzufinden. Es wurde gespart, wo man nur konnte. Ich habe noch die Dämmerstunden (es sollte Strom gespart werden) und die Fidibusse (Papierstreifen, die benutzt wurden, um Feuer aus dem Ofen zu entnehmen und dadurch Streichhölzer zu sparen) in Erinnerung. Häufig lebte man nur von Steckrübensuppe. Meine Mutter hatte bereits als Sechszehnjährige während des Arbeitsdienstes das Arbeiten als Erntehelferin auf einem Feld kennen gelernt. Jetzt musste sie als junge Frau auf dem Feld arbeiten, was sie aber nur ungern tat. Sie hatte sich bestimmt von dem Umzug nach Thüringen erhofft, in ihrer Schwiegermutter einen Ersatz für ihre früh verstorbene Mutter zu finden. Meine Großmutter war aber eine durch harte Arbeit geprägte Frau und war keine liebevolle Schwiegermutter.
Auch die Hoffnung, dass mein Vater in der Thüringer Kleinstadt beim Finanzamt als Finanzinspektor eine Stellung antreten könnte, erfüllte sich nicht. Mein Vater stand 1947 ohne Arbeit da und überlegte nun, wie es mit ihm und seiner Familie weitergehen sollte. In Thüringen benötigte man im Schuldienst neue Lehrer. Ohne Abitur hätte mein Vater sofort eine Neulehrerstelle antreten können. Da er aber eine höhere Schulbildung besaß, legte man ihm nahe ein Pädagogikstudium in Jena aufzunehmen. Sein Bruder Willy mit seiner Frau Else und ihrem vierjährigem Sohn wohnten in Jena. Zunächst konnte mein Vater bei ihnen unterkommen und mietete später ein möbliertes Zimmer.
Nach der Währungsreform am 20. Juni 1948, bei der im Westen die alte Reichsmark 10 zu 1 abgewertet und die neue Mark eingeführt wurde, normalisierte sich die Lage allmählich. Durch die Geldabwertung blieb meiner Mutter nicht mehr viel von ihrem Ersparten, denn die Sparguthaben in der ehemaligen Währung Reichsmark wurden in einem Verhältnis von 100: 6,5 abgewertet. Allerdings füllten sich die Schaufenster mit den vermissten Waren, vor allen in den Westzonen. In der Ostzone, in der meine Eltern lebten waren Nahrungsmittel dagegen noch lange nur auf Lebensmittelkarten zu haben. Sofort reagierte man in der sowjetisch kontrollierten Besatzungszone und führte dort am 23.Juni ebenfalls eine Währungsreform durch. Diese Maßnahme erstreckte sich auch auf Berlin. Um Berlin ganz unter ihre Herrschaft zu bekommen, begannen die sowjetischen Besatzer mit der Blockade der Stadt. Für die USA war das ein Zeichen für die Absicht der Sowjets, ihren Einfluss in Europa auszudehnen. Die Westalliierten aber versorgten die eingeschlossene Stadt über eine Luftbrücke mit Lebensmitteln und retteten die Bewohner Berlins nicht nur vor einer Hungersnot, sondern sie gaben der UdSSR auch zu verstehen, dass sie in jedem Fall expansiven Tendenzen entgegenwirken würden. Die Teilung Berlins, die schon durch die Einführung unterschiedlicher Währungen eingeleitet wurde, war nun endgültig festgeschrieben. Erst am 12.5.1949 hoben die sowjetischen Besatzer die Blockade von Berlin auf.
Ab 1952 wurde die Demarkationslinie zwischen der DDR verstärkt abgeriegelt, dazu wurden auf DDR-Gebiet ein fünf Kilometer tiefes Sperrgebiet und ein 500 Meter breiter, mit Stacheldraht gesicherter Schutzstreifen geschaffen. Zuerst wurde als Sichtschutz ein Holzlattenzaun aufgebaut, später ein schwer überwindbarer doppelter Stacheldrahtzaun. Tausende Bewohner dieser Sperrgebiete wurden teilweise über Nacht in der so genannten „Aktion Ungeziefer“ zwangsumgesiedelt. Seit 1957 hieß die Demarkationslinie in der DDR offiziell „Staatsgrenze“.
Da mein Vater in Jena studierte, sahen sich meine Eltern nur am Wochenende. Dennoch war die Liebe zwischen ihnen nicht erloschen und meine Mutter wurde mit mir schwanger. Nicht zur Freude meiner Großeltern! Meine Großmutter soll, als meine Mutter mit Wehen ins Krankenhaus ging, ihr nachgerufen haben: „Nur eins kannst du gut – Kinder in die Welt setzen!“. Ich wurde im November 1948 geboren. Meine Mutter freute sich über ein Mädchen. Leider wurde meine Mutter kurz nach meiner Geburt wieder schwanger. Dieses Mal blieb ihr nichts anders als eine Abtreibung übrig. Obwohl ihr der Arzt dazu geraten und den Eingriff selbst vorgenommen hatte, konnte sie sich nur schwer damit abfinden und litt noch lange darunter.
Am gleichen Tag als ich geboren wurde, bekam auch Tante Bärbel ihr zweites Kind. Es war wieder ein Mädchen und wurde auf den Namen Corinna getauft. Wer also etwas von Astrologie hält, wird sicher Parallelen im Leben meiner Cousine und meinem entdecken können.
In den westlichen Besatzungszonen Deutschlands trat am 24.Mai 1949 das vom Parlamentarischen Rat ausgearbeitete Grundgesetz in Kraft. Ein demokratischer Staat mit Gewaltenteilung, verbrieften Menschenrechten und geheimen Wahlrecht entstand. Am 15. September 1949 wurde Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler der „Bundesrepublik Deutschland“ gewählt. Noch im selben Jahr wurde am 7.Oktober die „Deutsche Demokratische Republik“ in der sowjetischen Besatzungszone geschaffen. Die DDR verstand sich als sozialistisches Land und erster deutscher Arbeiter-und-Bauern-Staat. Damit gab es zwei deutsche Staaten.
1950 schloss mein Vater das Pädagogikstudium ab. Er erhielt in seinem Heimatort eine Anstellung als Lehrer. Bald darauf bekamen meine Eltern eine Dienstwohnung im Obergeschoß des Hauptschulgebäudes. Diese Wohnung mussten meine Eltern sich allerdings mit einem weiteren Ehepaar mit Kindern teilen. Zwei Jahre später, mein Vater war inzwischen stellvertretender Schulleiter geworden, erhielt unsere Familie dann eine große Wohnung im oberen Stockwerk eines kleineren Schulgebäudes. Das Haus war außen mit Schiefer verkleidet. Es gab einen Schulhof, der von jüngeren Schülern genutzt wurde. Birken säumten den Schulhof. An die Rückseite des Schulgebäudes grenzte ein Kirchengrundstück mit einem verwilderten Garten.
Ich habe eine schöne Kindheit verlebt. Meine Mutter war nicht berufstätig und konnte dadurch sehr viel Zeit mit uns Kindern verbringen. Manchmal hatte man den Eindruck, als wäre meine Mutter selbst noch Kind geblieben, wenn sie beispielweise mit uns in der Wohnung „Verstecken“ spielte und mithalf, dass sich eins der Kinder etwa im Kleiderschrank verbarg und das andere suchen musste. Meine Mutter sprach immer von Nestwärme, die sie ihren Kindern geben wollte. Oft saßen mein Bruder und ich mit meiner Mutter in der Küche und sie erzählte uns von dem schönen Hamburger Grundstück, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte, vom christlichen Glauben oder von einem Film, den sie am Abend im Fernsehen gesehen hatte. Als ich neun Jahre alt war, klärte meine Mutter meinen Bruder Manuel und mich über sexuelle Dinge auf. Mein dreieinhalb Jahre älterer Bruder war an diesem Thema mehr interessiert als ich. Seit dieser Zeit betrachtete er mich mit anderen Augen.
In unserem Haushalt wurden verschiedene Tiere gehalten. Es gab Katzen, Wellensittiche und Hunde. Ein Stammbaumhund, ein schwarzer Kleinpudel; den wir „Ellen“ nannten, war mir besonders ans Herz gewachsen. Trotz Impfung bekam er die Infektionskrankheit „Staupe“. Ich fühlte mich dann auch gleich elend, als ich sah, wie sich das Tier quälte. Nach mehreren Tagen erholte sich unsere „Ellen“ und es wurde mir wieder möglich, mit dem lieben Tier lange Spaziergänge zu unternehmen.
Meine Mutter konnte nicht besonders gut mit Geld umgehen. Der monatliche Verdienst meines Vaters als Lehrer war für eine vierköpfige Familie sehr knapp und gegen Ende des Monats freute man sich auf den „Geldtag“, um wieder richtig einkaufen zu können.
Geldknappheit war auch in anderen DDR-Haushalten zu spüren. Unmut über die katastrophale ökonomische Situation machte sich allmählich bemerkbar, besonders in den Städten Ost-Berlin, Leipzig, Magdeburg und Jena.
Dagegen zeichnete sich in Westdeutschland das sogenannte Wirtschaftswunder ab. Die Wirtschaft erholte sich dort nach dem Krieg erstaunlich schnell: Die Währungsreform von 1948, der in vollem Gang befindliche Wiederaufbau der Städte und der Industrie und die im Rahmen des Marshallplans geleisteten Wirtschaftshilfen an die Bundesrepublik führten zu einem anhaltenden Wirtschaftswachstum. Zwischen 1953 und 1960 war eine Steigerung des Bruttosozialprodukts um immerhin 61% zu verzeichnen. Als „Vater“ des deutschen Wirtschaftswunders prägte Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard mit seinem Konzept der sozialen Marktwirtschaft den Aufschwung der jungen Republik.
Ganz anders entwickelten sich die Verhältnisse in der DDR.
Viele Jahre später erfuhr ich von einer älteren Kollegin, die Vertrauen zu mir gefasst hatte, ihre Erlebnisse vom 17.Juni 1953. Sie studierte zu diesem Zeitpunkt Pädagogik an der Humboldt- Universität in Berlin. Sie erlebte als junge Frau den größten Militäreinsatz in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals waren fast 500 000 sowjetische Soldaten in der DDR stationiert, ein großer Teil davon (13 Divisionen) kam zum Einsatz. In Berlin fuhren 600 Panzer auf; und 20 000 sowjetische Soldaten waren präsent. Allein durch die psychische Wirkung der rollenden Panzer wurden die Straßen frei geräumt. Die Bevölkerung hatte Angst. Der Seminarleiter meiner Kollegin sagte ihr:„Packen sie so schnell es geht ihre Sachen und fahren sie nach Hause. Man kann die Lage überhaupt nicht einschätzen; sie sind dann wenigstens in Sicherheit“.
Welche Ereignisse fanden im Jahre 1953 statt?
Am 5. März 1953 starb der Diktator Josef Stalin, der für die Verschleppung und den Tod von Millionen von Menschen in der Sowjetunion verantwortlich war. Von ihm hatte Walter Ulbricht seinen Regierungsstil als Zuchtmeister die Dressur des Volkes übernommen. Die „Sowjetisierung“ setzte ein.
Am 20. April 1953 wurde von der Regierung der DDR eine Preiserhöhung für Lebensmittel angeordnet.
Am 13./14. Mai empfahl das SED-Zentralkomitee eine Erhöhung der Arbeitsnorm um 10 Prozent.
Vom 27.Mai 1953 bis Anfang Juni kam es in ersten Industriebetrieben zu Streiks.
Am 3./4. Juni 1953 forderte deshalb die neue sowjetische Führung in Moskau die (einbestellte) DDR-Spitze auf, den Wechsel zu einer gewissen Liberalisierung vorzunehmen.
Am 9. Juni 1953 beschloss daraufhin das SED-Politbüro den von Moskau verlangten „Neuen Kurs“ einzuleiten. Dies bedeutete die Rücknahme von Verschärfungen.
Am 16.Juni 1953 gab schließlich der Ministerrat die Aufhebung des Beschlusses zur Normerhöhung bekannt. Zu spät, denn Berliner Bauarbeiter legten bereits die Arbeit nieder. Ebenfalls an diesem Tag bat eine Ostberliner Delegation im Büro des Rundfunksenders „Rias“ in Westberlin bei der Verbreitung der Streikaufrufe zu helfen. Eine Forderung war: “Der Spitzbart muss weg!“ Der Rias-Chefredakteur Egon Bahr zögerte erst, dann aber berichtete der „Rias“ über Rundfunk von den Ereignissen. Damit ist der 17.Juni 1953 in der DDR erst durch den „Rias“ wirksam geworden - obwohl das von Bahr gar nicht gewollt war.
Am 17.Juni 1953 hatte der Aufstand die ganze DDR erfasst. Über eine Millionen Menschen beteiligten sich. Nun spielten sich dramatische Szenen ab: Panzer rollten, Pflastersteine flogen, Schüsse fielen, Menschen flüchteten.
Am 18.Juni 1953 ließen die Sowjets in allen Zentren des Aufstandes willkürlich gegriffene Demonstranten, Aufständische und Streikführer erschießen. Es wurden mindestens 13 000 Menschen festgenommen, von den Straßen wegverhaftet. Mindestens 1 600 Streikführer oder Sprecher der Arbeiter wurden verurteilt, davon 2 zum Tode, 3 lebenslang, 13 mit bis zu 15 Jahren Zuchthaus. Auch später noch wurden rund 2 500 Menschen verhaftet. Das war die strafrechtliche Rache der SED. Walter Ulbricht hatte nichts gelernt. In seinen Augen hatten seine Untergebenen alles falsch gemacht, hatten die befohlene Normerhöhung für die Arbeiter den Betroffenen nicht schlüssig genug erläutert, hatten die Verschlechterung der Lage nicht eindeutig genug dem „Klassenfeind“ angelastet! Die SED bezeichnete nun den 17.Juni als „Tag X“, vom Westen ferngesteuert. Faschistische Provokateure aus Westberlin hätten die Bauarbeiter aufgehetzt. Die DDR-Regierung wollte nichts von der Forderung nach freien und geheimen Wahlen wissen, denn dann hätte eine schnelle Wiedervereinigung stattgefunden.
Woran war der Aufstand nun gescheitert?
Es war zu wenig Zeit, als dass sich eine wirklich anerkannte Führung des Aufstandes hätte bilden können. Es gab wohl Sprecher, die auch Forderungskataloge zum Sturz der Diktatur formulierten, doch die Führenden konnten sich in den wenigen Tagen nicht profilieren oder nur hinreichend verständlich machen. Meist besaßen sie nicht einmal Lautsprecher. Ein Manko dieses Aufstandes war es auch, dass sich die Intellektuellen abseits hielten.
Am 4.August 1953 beschloss man in der Bundesrepublik den 17. Juni als Feiertag zu begehen. Zu der Zeit war ich gerade 4 Jahre alt. Später wirkte auf mich der Tag der Deutschen Einheit sehr unglaubwürdig. Man verhandelte mit der SED, machte mit der DDR Geschäfte – und einmal im Jahr feierte man den Aufstand gegen eben diese DDR.
Die Unzufriedenheit mit dem DDR-System hatte auch meine Eltern erfasst. Deshalb entschlossen sie sich Anfang der 50-er Jahre nach Hamburg zurückzukehren. Sie erhofften sich vorübergehend von Tante Bärbel, die noch in Hamburg wohnte, aufgenommen zu werden. In den Sommerferien fuhren wir mit gepackten Koffern zu ihr. Auch die Federbetten waren mitgenommen worden. Mein Vater fand aber nicht sofort eine Anstellung als Lehrer. Unter diesen Umständen war meine Tante Bärbel nicht damit einverstanden, ihre Schwester mit Familie bei sich bei sich wohnen zu lassen, obwohl ihr Ehemann Hans sich mittlerweile in Amerika aufhielt. Er hatte durch das Max-Planck-Institut die Möglichkeit erhalten, in den USA zu arbeiten. Nach Kriegsende war meine Mutter bereit gewesen, ihre Schwester mit Kind und dann ihren Schwager Hans in der kleinen Wohnung aufzunehmen. Umgekehrt verweigerte uns nun Tante Bärbel die kurzfristige Unterbringung bei sich. Sie begründete die Ablehnung damit, dass ihr Mann das nicht wünschen würde, obwohl er sich gar nicht in Deutschland aufhielt.
Wenn man Rundfunksendungen aus dem Westen hörte, hätte man aus den Reden von Konrad Adenauer (dem damaligen Bundeskanzler), die weitere Politik in Deutschland heraushören können.
Adenauer war nicht gegen die Wiedervereinigung eingestellt. Aber er ging den Weg, Westdeutschland möglichst schnell und fest an Amerika und damit an den Westen zu binden. Damit wurde die Frage nach der Wiedervereinigung zunächst offen gelassen. Er hat nicht mit dem Osten verhandelt, sondern Tatsachen geschaffen.
Mit dem Aufbau der Bundeswehr (anfangs mit der Verpflichtung von Freiwilligen) im November 1955 war dann das Verhandeln überflüssig geworden. Durch das Gesetz vom 21.7.1956 wurde die allgemeine Wehrpflicht in der BRD eingeführt.
Durch den Eintritt in ein Militärbündnis der NATO waren die Wege zur Wiedervereinigung abgeschnitten.
Die DDR zog nach. Die Nationale Volksarmee, NVA, wurde 1956 durch die Umbildung aus der kasernierten Volkspolizei geschaffen. Die allgemeine Wehrpflicht gab es dann seit dem 24.1.1962. Die gesamte NVA unterstand dem Vereinigten Kommando der Streitkräfte des Warschauer Vertrages.
So entfernten sich die beiden deutschen Teile mehr und mehr von einander.
Mein Vater hatte sich nun für den Osten entschieden; aber mit dem Bau einer Mauer hat man wohl doch nicht gerechnet. Er passte sich den Verhältnissen in der DDR an und war inzwischen SED-Mitglied geworden.
Meine Mutter war nicht mittellos. Sie besaß ein Grundstück in Hamburg-Rahlstedt, dass sie für mehrere tausend DM verkaufte. Trotzdem entschlossen sich meine Eltern in Thüringen zu bleiben. Der Tauschsatz zwischen Ost- und West-Mark war für meine Eltern sehr günstig. Manchmal erhielt man das Vierfache in Ost-Mark und mehr. Als gerade mal Sechsjährige bekam ich davon einiges mit. Ich wurde von meiner Mutter dazu angehalten, nichts darüber zu erzählen. Dadurch verband ich mit der DDR für mich eine gewisse Bedrohlichkeit. Von diesem umgetauschten Geld richteten sich meine Eltern ihre Wohnung ein. Wir besaßen für DDR-Verhältnisse eine sehr große Wohnung. Im Wohnzimmer befanden sich eine vom Polsterer angefertigte Couchgarnitur, ein rechteckiger Tisch mit einer dunkelroten Keramikplatte, eine Liege, ein großer Bücherschrank, eine Vitrine, ein Klavier und ein ausziehbarer Esstisch mit Stühlen. Der eiserne Ofen wurde bald durch einen Kachelofen ersetzt, den mein Vater für seine Dienstwohnung ohne Kosten beantragen konnte. Es wurde auch die Küche verkleinert und ein Badezimmer installiert. Auch das Tapezieren der Räume war kostenlos. Mein Kinderzimmer war mindestens 16 Quadratmeter groß und das Zimmer meines Bruders war noch größer. Wie üblich war die Miete sehr gering. Auch ein Fernsehapparat wurde angeschafft. Fernsehgeräte waren in der DDR Mangelware. Das Gerät wurde von einem Fernsehmonteur gebaut und auch gleich mit einem Schalter versehen, der bei Betätigung ein gestörtes Westbild hervorrufen konnte. Man spürte die kommunistische Diktatur und hasste die Reden von Walter Ulbricht. Schon als Kind merkte man, dass man nicht alles erzählen durfte und dass es am besten war sich unauffällig zu verhalten. Ich entwickelte so langsam die Fähigkeit, genau zu überlegen, mit wem ich über das Westfernsehen reden konnte.
Am 1.September 1955 wurde ich eingeschult. Ich war ganz stolz auf meine Schultüte. Da wir in der oberen Etage der kleinen Schule wohnten, brauchte ich zum Unterricht nur die Treppe herunter zu gehen. Am Ende der meisten Schuljahre bekam ich sinngemäß folgende Beurteilung: „Chris ist eine ruhige und freundliche Schülerin. Bei ihren Mitschülern ist sie infolge ihres kameradschaftlichen Verhaltens sehr beliebt. Ihre schriftlichen Arbeiten fertigt sie stets sauber und gewissenhaft an“. Dabei gab ich mir bei der Heftführung gar keine besondere Mühe. Die Schularbeiten erledigte ich meist gleich nach dem Mittagessen und schaute dabei gleichzeitig Testsendungen im Fernsehen. Im DDR-Fernsehen sendete man um diese Zeit oft alte Ufa-Filme.
In der 4. und 5.Klasse ging ich nachmittags auch zum Klavierunterricht. Dazu musste ich einen längeren Weg durch die Stadt zurücklegen. Als ich dann etwas älter wurde, hörte ich mit der Musikerziehung auf, weil ich mir wenig Zeit zum Üben nahm. Ich spielte lieber mit meinen Freundinnen im Freien.
Trotz der erwähnten Zurückweisung besuchte meine Mutter ihre Schwester jeden Sommer. Meist nahm meine Mutter nur eins ihrer Kinder mit, entweder meinen Bruder oder mich.
Die politische Lage in der DDR hatte sich unter Ulbricht zugespitzt, so dass es mein Vater für klüger hielt, nicht in den Westen zu reisen.
Auch in Ungarn waren die Menschen unzufrieden und erhoben sich 1956 in einem Volksaufstand, um einen demokratischen Sozialismus aufzubauen. Man forderte freie Wahlen, Abschaffung der Zensur, Freilassung der politischen Gefangenen, ein Mehrparteiensystem, Bruch mit den Stalinisten und politische und wirtschaftliche Annäherung an den Westen. Obwohl die Mehrheit der ungarischen Nation auf der Seite der Aufständischen war, wurde der Volksaufstand niedergeschlagen.
Im November 1956 fanden schwere Kämpfe statt. Das Schutzbündnis der Sowjetunion über ihre Satellitenstaaten funktionierte. Der Warschauer Pakt, (der am 14. Mai 1955 unterzeichnet worden war), zeigte nun deutlich, dass keiner der Staaten im sowjetischen Machtbereich frei entscheiden konnte.
Unterhielten sich meine Eltern über diese Problematik? Sprach meine Mutter mit ihrer Schwester darüber?
Ich kann mich noch daran erinnern, dass Tante Bärbel einmal ganz stolz auf die freie Meinungsäußerung in der BRD war. Sie meinte, dass man auf der Straße laut „Heil Hitler!“ rufen könne, ohne dass dann etwas passieren würde. Als Kind konnte ich das natürlich nicht richtig werten. Mit der Freiheit war es aber in der BRD auch so eine Sache, denn man verbot am 17.August 1956 die „Kommunistische Partei Deutschlands“. Die für verfassungswidrig erklärte Organisation wurde aufgelöst.
Obwohl Tante Bärbel einen Besuch im kommunistischen Teil Deutschlands immer abgelehnt hatte, besuchte sie uns im Sommer 1957 zusammen mit ihren beiden Töchtern. Sie äußerte bei dieser Gelegenheit, dass es meinen Eltern ja materiell nicht schlechter ginge als ihr selbst im Westen.
Bärbels Ehemann hatte in Amerika auch andere Frauen kennengelernt. Besonders geschmacklos war jedoch, dass er seiner Frau getragene Kleidungsstücke von seinen Geliebten schickte. Es war kein Wunder, dass sich meine Tante nun für einen ehemaligen Arbeitskollegen ihres Mannes interessierte. Er hieß Kai. Sie mochten sich schon seit langem, doch Bärbel hatte zwei kleine Kinder, und ihr Ehemann Hans hatte nicht die Absicht sich von seiner Frau zu trennen. Deshalb heiratete Kai seine Sekretärin und aus dieser Verbindung heraus entsprang auch ein Sohn. Die Situation in der Ehe von Bärbel und ihrem Hans wurde immer unerträglicher. Hans ging Liebschaften ein und kümmerte sich wenig um seine Töchter, er war ja immer noch in den USA tätig. Bärbel ließ sich nun ihrerseits von Hans scheiden und auch Kai trennte sich von seiner Frau mit dem Kind. In ihren Briefen an meine Mutter berichtete Bärbel nun von ihrer großen Liebe. Bärbel und Kai heirateten. In dieser Ehe bekam Bärbel mit 39 Jahren einen gesunden Sohn. Kai übernahm gegenüber beiden Stieftöchtern die Erziehungspflichten. Die Mädchen nannten ihn liebevoll „Daddy“. Kai war auch Physiker mit Doktortitel. Wegen seiner Arbeit zog die fünfköpfige Familie nach Süddeutschland.
Dort besuchten meine Mutter und ich 1960 noch einmal Tante Bärbel. In diesem Urlaub himmelten wir Cousinen die Schlagersänger Conny Froboess und Peter Kraus an.
1961 hatten wir geplant, dass ich zuerst ins Ferienlager fahren sollte und anschließend mit meiner Mutter Tante Bärbel und meine Cousinen Maja und Corinna in Süddeutschland besuchen sollte. Aber es kam alles anders. Die DDR riegelte am 13.August 1961 ihre Westgrenzen sowie die Sektorengrenze in Berlin ab, um die steigenden Fluchttendenzen zu stoppen und das „Ausbluten“ der DDR nun endgültig zu verhindern. Wenige Tage später begann der Bau der Berliner Mauer an der Grenze der Westsektoren zum Ostsektor. Natürlich bekam meine Mutter eine Absage von der Behörde für ihre Reise nach Süddeutschland. Sie konnte das absolut nicht verstehen und protestierte dagegen auf ihre Weise, indem sie dem Behördenangestellten einen „Vogel“ zeigte und ihn temperamentvoll beschimpfte. Zum Glück kannte der Angestellte meinen Vater recht gut, so dass das Verhalten meiner Mutter keine weiteren Folgen hatte. Meine Mutter war nun sehr traurig darüber, ihre Schwester nicht mehr besuchen zu können. Es entwickelte sich nun zwischen Beiden ein reger Briefwechsel. Manchmal stand meine Mutter am Fenster und beklagte sich über Atemnot. Sie erklärte mir, dass sie am liebsten die Thüringer Berge wegschieben würde, um in ihr flaches Norddeutschland zu gelangen. Dieses „beengte“ Gefühl übertrug sich auf uns Kinder, und wir fühlten uns in der DDR eingesperrt.
1963 verstarben meine beiden Großtanten, die Schwestern meines Hamburger Großvaters Ottomar. Ich bedauerte den Tod beider Tanten in nur einem Jahr sehr, weil ich brieflich mit ihnen in Kontakt stand. Die ältere war Studienrätin und ihre jüngere Schwester führte ihr den Haushalt.
Ich kann mich noch daran erinnern, als ich etwa acht Jahre alt war, erfüllten mir die Tanten den Wunsch nach Perlonstoff. Der begehrte, rosafarbene Stoff mit Blümchen wurde von unserer Schneiderin zu einem Kleid verarbeitet und ich freute mich riesig darüber. Anders gekleidet zu sein als die meisten DDR-Bürger, machte mir Spaß. Als man in der Schule bei einem Appell das Verbot aussprach, Nietenhosen zu tragen, fand ich das reichlich ärgerlich, denn ich war gerade stolz auf meine eigene, schwarze, enge Nietenhose. Sonst verhielt ich mich in der Schule unauffällig. Ich bekam ganz gute Zensuren. Eine längere Zeit sang ich auch im Schulchor, manchmal auch als Solistin. Es blieb da natürlich nicht aus, dass auch Lieder gesungen wurden, welche die DDR verherrlichten. Das Fach Russisch bereitete mir gar keine Freude. Der Russischlehrer verstand es überhaupt nicht uns für das Fach zu interessieren. Während des Russischunterrichtes schrieb ich mit einem Jungen häufig Zettelchen, die wir austauschten. Wir schwärmten etwas für einander.
Mein Bruder Manuel wechselte nach der 8. Klasse auf ein Gymnasium, um dort das Abitur abzulegen. Auch er muss große Lücken im Fach Russisch gehabt haben, denn nach 10-jährigem Schulbesuch entschloss er sich von der Schule abzugehen und eine Lehre als Rundfunk- und Fernsehmechaniker zu beginnen. Er bastelte in seiner Freizeit schon immer gern, während ich sehr viel Zeit mit Ballspielen und mit anderen Kindern verbrachte. Der Abbruch des Gymnasiumbesuches meines Bruders, hatte auch für mich Folgen. Es wurde nicht mehr darüber gesprochen, ob ich vielleicht das Abitur ablegen sollte.
Im achten Schuljahr nahmen alle meine Mitschüler und ich an den Jugendstunden teil, um am 14.4.63 die Jugendweihe zu erhalten. Für uns Vierzehnjährigen bedeutete die Jugend-weihe, Abschied von der Kindheit zu nehmen und in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Man kleidete sich dazu festlich. Meine Eltern kauften mir ein schickes, rosafarbenes Kleid mit Paillettenstickerei und auch meine ersten Absatzschuhe. Der Festakt mit Reden, feierlicher Orchestermusik und dem sozialistischem Glaubensbekenntnis fand in einem Klubhaus statt. Das Gelöbnis, das wir ablegten, spielte eine geringe Rolle, entscheidend waren das Fest und die Geschenke von den Verwandten und Bekannten.
Nach der Jugendweihe wurde man von den Lehrern im Unterricht gesiezt.
Die allgemeine Bedeutung der Jugendweihe bestand vor 1933 darin, eine Feier von Atheisten und Konfessionslosen für ihre schulentlassenen Kinder zu gestalten. In der DDR hatte man 1955 diese feierliche Veranstaltung beim Übergang der Jugendlichen in das Leben der Erwachsenen eingeführt. Angeblich konnten alle Jugendlichen bei voller Glaubens- und Gewissensfreiheit daran teilnehmen. Ich habe es aber erlebt, wenn auch nicht bei meinen Klassenkameraden, dass Strenggläubige auf die Jugendweihe verzichteten (Pfarrerstochter). Das war aber die Ausnahme. Der Jugendweihe gingen Jugendstunden voraus, in denen Fragen des Lebens, der Natur und der Gesellschaft besprochen wurden.
Im Rahmen der Jugendstunden fuhren wir auch zur Gedenkstätte des Konzentrationslagers „Buchenwald“ bei Weimar. Ich war darüber entsetzt, wie in Deutschland die Gegner der nationalsozialistischen Diktatur in einem unmenschlichen KZ-System vernichtet worden waren. Man erzählte uns, dass in dem Zwangsarbeits- und Vernichtungslager Funktionäre und Mitglieder der Parteien und Organisationen der Arbeiterklasse gefangen gehalten wurden, aber auch Menschen, die aus rassischen oder religiösen Gründen verfolgt wurden, nach Kriegsausbruch besonders aus okkupierten Ländern.
Wir erfuhren, dass der Führer der KPD, Ernst Thälmann, nach elfjähriger Gefangenschaft 1944 bei einem Hofgang durch Genickschuss ermordet worden war.
Wir sahen das Krematorium des Konzentrationslagers und wir bekamen eine Vorstellung davon, wie bestialisch die SS ihre Opfer vernichtet hatte. Bilder zeigten Grausamkeiten an Menschen, aber auch die Berge von Haaren und Schuhen gaben darüber Auskunft, wie die Häftlinge „fabrikmäßig“ und geplant umgebracht wurden. Ich werde die Lampe des Lagerkommandanten Koch, die mit der tätowierten Haut eines Häftlings bespannt war, nie vergessen! Ein Hohn war dann noch die Beschriftung des Eingangstors „Arbeit macht frei“. Menschen in einem Steinbruch arbeiten zu lassen, bei einer Hungerration! Die Massenvernichtung war geplant durchgeführt wurden. 1944 bestanden über 28 Hauptlager mit 2 000 Außenlagern und Außenkommandos vor allem für die Rüstungsindustrie. Von etwa 18 Millionen KZ-Häftlingen fielen 11 Millionen dem faschistischen Terror zum Opfer.
Man erzählte uns auch etwas über die „Hölle“ von Auschwitz. Der Massenmord richtete sich vor allen gegen die Juden. Es war eines der berüchtigsten KZ`s, in dem die Qualen und das Grauen für die Gefangenen unbeschreiblich waren.
Mir wurde klar, dass der von Deutschland durch das Nazi-Regime begonnene 2.Weltkrieg mit der massenmörderischen Vernichtung von Menschen in den KZ`s ein furchtbares und einzigartiges Schandmal in der deutschen Geschichte darstellt.
Nun wurde aber die ganze faschistische Vergangenheit so hingestellt, dass die DDR-Bevölkerung ein besseres Deutschland aufbauen würde, und dass uns mit den faschistischen Gräueltaten nichts verbindet. Das half uns Jugendlichen sehr bei der Vergangenheitsbewältigung und bei der Distanzierung von dem verbrecherischen Nazi-Regime.
Am 19.Mai 63 wurden einige meiner Klassenkameraden und ich in der Evangelisch-Luthe-rischen Pfarrkirche meines Heimatortes konfirmiert. Der Pfarrer suchte für mich den Bibelspruch aus – „Christus spricht: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich“(Joh. 14/6).
In den Religionsstunden kamen mir jedoch Zweifel an der leiblichen Auferstehung Jesu und an einem Weiterleben nach dem Tode.
Ich beobachtete die Lebensführung meiner Eltern. Meine Mutter hatte sich ihren kindlichen Glauben an Gott bewahrt. Sie betete still zu Gott, vermied es aber aus Bequemlichkeit regelmäßig am Gottesdienst und am christlichen Leben der Kirchengemeinde teilzunehmen.
Mein Vater hingegen war der Auffassung, dass es keinen Gott gäbe. Er war durch kommunistische Auffassungen aufgeklärt worden, beispielweise von Marx, der „Die Aufhebung der Religion als illusorisches Glück“ forderte und die Religion als „das Opium des Volkes“ darstellte.
Ich habe also beide Feiern, die zur Jugendweihe und die zur Konfirmation, angenommen. Ich wollte daran teilnehmen, weil ich mir natürlich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte im Mittelpunkt zu stehen und Geschenke zu bekommen. Die Feier zur Jugendweihe fand in einem größeren Rahmen statt. Geschenke erhielt ich von Verwandten, aber auch von Nachbarn und Arbeitskollegen meines Vaters. Man schenkte auch Blumentöpfe mit Glückwunschkarten. Unter anderem auch Primeln, auf die meine Mutter allergisch mit einem Hautausschlag reagierte.
1963 wurden weitere Anschaffungen gemacht, wie eine Waschmaschine und unser „TRABANT“, finanziert durch das Westgeld, das meine Mutter nach dem Tod ihrer Lübecker Tanten geerbt hatte. Die Waschmaschine und unser Auto erhielten wir über eine GENEX- Katalogbestellung. Der halbe Ostpreis musste dann in Westgeld bezahlt werden.
Im Sommer 1963 besuchten uns Tante Bärbel und Kai mit ihrem dreijährigen Sohn Carl in Thüringen. Während des Aufenthaltes tat mir mein Vater leid, denn er wurde nun von meiner Mutter, ihrer Schwester Bärbel und Kai bedrängt, den christlichen Glauben anzunehmen. Mein Vater lehnte ab und wurde dann als überzeugter Kommunist hingestellt, was er trotz SED-Mitgliedschaft wiederum durchaus nicht war. Um seine Tätigkeit als Stellvertretender Schuldirektor zu halten, musste er Parteimitglied sein. Deshalb fand ich die Einstellung meiner Mutter falsch, wenn sie meinen Vater in Diskussionen von ihrem Glauben überzeugen wollte. Gerade meine Mutter genoss den Vorteil des reinen Hausfrauendaseins, was in der DDR ungewöhnlich war. Und das ermöglichte ihr mein Vater. Meine Mutter wurde nicht dem Druck in der DDR ausgesetzt, sich zum Arbeiter-und-Bauernstaat zu bekennen; somit war es für sie leicht sich der evangelischen Kirche nahe zu fühlen.
Als Vierzehnjährige lernte ich im Sommer meinen ersten Freund kennen. Mit einer Freundin spielte ich gerade Federball, als ihr Cousin Kurt auftauchte, der aus einer anderen Nachbarkreisstadt mit dem Motorrad angereist war. Er hatte schon eine Lehre bei der Deutschen Reichsbahn aufgenommen. Vom ersten Augenblick an verknallte sich Kurt in mich. Ich fand es ganz nett, angehimmelt zu werden, aber meine Gefühle ihm gegenüber waren nicht so überschwänglich. Unsere Freundschaft dauerte zwei Jahre. Wir besuchten uns gegenseitig und meine Mutter war begeistert davon, dass ich einen Verehrer hatte. Außer Küssen und Streicheln spielte sich zwischen uns nichts weiter ab. Schließlich drängte Kurt darauf, dass wir uns verloben sollten. Das war mir dann doch zu viel. Mit sechzehn Jahren wollte ich noch keine Bindung auf Dauer eingehen. Ich bemerkte auch Kurts rasende Eifersucht, weshalb ich auf einen Tanzstundenkurs mit meinen Klassenkameraden verzichtete. Als ich im Juli 1965 ins Ferienlager an die Ostsee fuhr, schrieb er mir täglich einen Brief, weil er befürchtete, ich könnte einen anderen Jungen kennenlernen. Ich fühlte mich eingeengt. An dem Tag, an dem ich vom Urlaub zurückkam, (Kurt empfing mich mit einem riesigen Rosenstrauß), gab ich ihm den Laufpass. Es musste ihn sehr getroffen haben, denn ich hörte später von ihm, dass er sich während der Rückfahrt auf dem Motorrad mit Selbstmordgedanken getragen hatte. Aber ich wollte frei sein, denn nach den Sommerferien begann meine Ausbildungszeit.
Ab dem 9.Schuljahr hatten wir Schüler die Möglichkeit regelmäßig bei Abendvorstellungen ins Theater zu gehen. Manche Stücke, wie zum Beispiel „Die Räuber“ von Schiller besprachen wir dann im Deutschunterricht.
Dagegen fanden Schülerkonzerte nachmittags statt und die allgemeine Unruhe war dementsprechend, was ich bedauerte.
Nach der Jugendweihe wurden wir Schüler von den Lehrern mit „Sie“ angesprochen. Daran mussten wir uns erst einmal gewöhnen. Es sollte uns dadurch verdeutlicht werden, dass wir in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen worden sind.
Auf meinen Zeugnissen der 9. Und 10.Klasse stand sinngemäß immer diese Beurteilung: „Durch Fleiß und zielstrebige Lernarbeit erreichte sie gute Ergebnisse. Sie ist offen, ehrlich und kameradschaftlich. Am gesellschaftlichen Leben nahm sie aktiv teil. Sie arbeitete mehrere Jahre in den unteren Klassen als Gruppenpionierleiterin. Außerdem war sie als FDJ-Sekretärin tätig.“
Für künftige Bewerbungen waren die letzten Sätze meiner Beurteilung von Vorteil, mit Ideologie hatte es kaum etwas zu tun.
Eigentlich wünschte ich mir einen Beruf, indem man kreativ täääöääöüüüüäü