Siegfried Schröder
Herbststimmung
Dieses eBook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
I Prolog
II Meine Familie
III Der Krieg beginnt
IV Die Flucht
V Zu Hause
VI Meine Militärzeit
VII Das zivile Leben
VIII Epilog
Impressum
I Prolog
In der Weimarer Republik geboren, im sogenannten Dritten Reich die Kindheit verbracht, in der DDR erwachsen geworden und nun in der Bundesrepublik angekommen, das lässt ahnen, welche dramatische Entwicklungen mein Leben in den acht Jahrzehnten genommen hat.
Zu Beginn des Jahres 2005 hatten Presse, Rundfunk und Fernsehen ein überwältigendes Thema: Sechzig Jahre Kriegsende. Alte Geschichten wurden ausgegraben und veröffentlicht, Erinnerungen weniger, dazu hätten die Berichterstatter ja wohl beträchtlich älter sein müssen, als die aktive Generation. Leider wurde viel zu oft auch Unwahres berichtet. Nicht selten hatte ich beim Lesen von Veröffentlichungen den Eindruck, dass es nicht zählte, wie es wirklich war, nur wie es gewesen sein musste, damit das entstandene Geschichtsbild auch stimmt.
Natürlich blieb das massive tägliche Erinnern an 1945 nicht ohne Wirkung, vor allem auf jene, die sich noch auf eigenes Erleben stützen konnten. Viele Jahrzehnte hatte ich diese Erinnerungen verdrängt, das tägliche Leben forderte ständige Aufmerksamkeit, da konnte man nicht nur den alten Geschichten nachhängen. Doch 2005 gelang mir das auf einmal nicht mehr so richtig. Vielleicht weil ich nun ein geruhsames Rentnerdasein führte oder weil die letzten Schritte in meinem Leben doch deutlich erkennbar näher rückten oder weil ich mich durch fehlerhafte Darstellungen gereizt fühlte, ich bin nicht sicher, was mich in Unruhe versetzt hatte. Jedenfalls ließen mich die Gedanken nicht mehr los, ich spürte, dass ich eine veränderte Einstellung zu den verdrängten Erinnerungen gewann, ich wollt auf einmal nicht mehr vergessen, was in meiner Jugend und den Jahren danach war.
An dieser Stelle beginnt meine Geschichte, eine wahre Geschichte, die voller Dramatik steckt und Glück und Schmerz eines langen Menschenlebens in sich birgt. Ich wurde in Essen an der Ruhr geboren und habe auch dort die Schule besucht, lebe aber nun schon seit vielen Jahrzehnten in Dresden. Ein Teil meiner Angehörigen leben noch in Essen und so schaute ich bei meinen täglichen Internetausflügen auch gerne einmal nach Essen und las in der Westdeutschen Allgemeinen, was es denn dort für Neuigkeiten und Geschichten gab. Eines Tages, eben in der Zeit zu Beginn des Jahres 2005, tauchte erneut der Gedanke auf, was wohl aus meinen Mitschülern des Helmholtz-Gymnasiums geworden ist, wir hatten uns 1945 unter dramatischen Umständen aus den Augen verloren. In den Jahren nach der Wende hatte ich über die Schule und über Internetseiten, die auf das Finden von ehemaligen Schulfreunden ausgerichtet sind, vergeblich versucht, Verbindung zu bekommen. Enttäuscht gab ich die Suche auf, aber dann war der Gedanke doch wieder da. Kurz entschlossen schrieb ich an die Redaktion der WAZ und dann erschien auch am 22.4.2005 folgende Notiz von mir:
Kriegsende vor 60 Jahren
Der 60. Jahrestag des Sieges der Alliierten weckt in mir große Erinnerungen. Ich bin in Essen geboren und jetzt 75 Jahre alt, lebe aber seit 1945 in den neuen Bundesländern. Während des Krieges war ich als Schüler des Helmholtz-Gymnasiums in Essen mit kurzen Unterbrechungen in Steinach am Brenner, in Sölden und Vent im Ötztal mit den Schülern und Lehrern unseres Gymnasiums untergebracht. Am 20.April 1945 habe ich mit 3 weiteren Klassenkameraden heimlich unser Hotel in Vent verlassen, um nach Hause zu kommen. Zwei von uns mussten wieder nach Essen zu ihren Eltern, einer nach Hamburg und ich zu meiner Familie in die Nähe von Gardelegen. Wir wohnten in Essen-Huttrop, wo wir allerdings 1944 nicht bleiben konnten und in die Nähe von Gardelegen evakuiert wurden. Bis zur Wende habe ich meine Geburtsstadt nicht wiedergesehen und auch von meinen Schulkameraden nichts mehr gehört. Über Internet habe ich mich, leider ohne Ergebnis, an meine Schule gewandt. Ich weiß bis heute nicht, ob es meinen Klassenkameraden je gelungen ist, in Essen bzw. in Hamburg anzukommen.
(Dazu noch meine Anschrift.)
Nun überraschten mich doch die Ereignisse, ich bekam eine Flut von Zuschriften, Schüler aus anderen Klassen, die ebenfalls mit dem Gymnasium in den Lagern meiner Kindheit waren, schrieben und völlig unbeteiligte Menschen, die entweder voller Mitgefühl waren oder glaubten, ein ähnliches Schicksal erlitten zu haben. Selbst pensionierte Lehrer meldeten sich, die ich zwar nicht kannte bzw. nicht kennen konnte, die mir aber Ratschläge gaben und mich mit Informationen aus dem Schularchiv versorgten. Da infolge der Zerstörung der Schule kein Archiv von vor 1945 mehr bestand, sind alle Hinweise auf die Kriegszeit nur mündliche Überlieferungen. Von meinen eigentlichen Klassenkameraden meldete sich ein einziger, Spitzname Busy. Gab es sie alle nicht mehr? Aus anderen Klassen bekam ich auch Zuschriften von ehemaligen Schülern, sogar eine Veröffentlichung der Schule bekam ich übersandt und ein ehemaliger Lehrer stellte mir die Texte einiger Schülerbriefe aus dieser Zeit zur Verfügung, dafür bin ich all jenen dankbar, die meine Zeitungsnotiz aufgegriffen hatten.
Ich war nun von dieser Angelegenheit völlig in Anspruch genommen und begann im Telefonbuch nach Namen zu suchen, die ich aus den Zuschriften erfahren hatte oder die noch in meinem Gedächtnis hafteten. Ich erreichte einen meiner Klassenkameraden, sein Spitzname Fisch war mir noch vertraut. Er wusste mehr über den Verbleib der anderen und berichtete über frühere Klassentreffen, ich kann nun in etwa sortieren, wen es noch gab, wer gestorben oder wer verschollen ist. Von ihm weiß ich auch von einem weiteren Klassenkameraden, den ich ebenfalls telefonisch erreichte, es ist Kalle.
Die Bilanz war bescheiden, bis auf eine Hand voll Klassenkameraden sind alle anderen verstorben oder verschollen. Die wenigen Telefongespräche verliefen ernüchternd, wir wussten zu wenig von einander, mehr als 60 Jahre sind eine lange Zeit. Und so schlief die Verbindung auch fast wieder ein. Schuld mag auch sein, dass ich eine gewisse Reserviertheit mir gegenüber spürte, die möglicherweise damit zusammenhing, dass ich mit Haut und Haar ein Mensch aus den neuen Bundesländern geworden war.
Wahrscheinlich spielte auch noch etwas Anderes eine Rolle. Ich bin nämlich schon viele Jahrzehnte tot, wie meine Klassenkameraden bislang geglaubt hatten. Ursache für diese Annahme ist eine Meldung in der Süddeutschen Zeitung vor etwa 30 bis 40 Jahren, dass am Übeltalgletscher, dort wo gar nicht so weit weg, auch der Ötzi gefunden wurde, aus dem Eis ein Toter auftauchte, ein etwa 14-Jähriger in einer HJ-Uniform. Da es keine Spur von mir gab, wurde in den diversen Klassentreffen davon ausgegangen, dass es mich nicht mehr gibt. Der Tote kann nur Missi gewesen sein, so war mein Spitzname, das war die verbreitete Auffassung. Ich konnte durchaus verstehen, dass es nun einigen Vorbehalt gab, nachdem im Osten einer auftauchte, der so gar nicht in das bisherige Bild passte. Übrigens hatte ich auch versucht, im Archiv der Süddeutschen Zeitung diese Notiz aufzuspüren, aber es lag zu weit zurück und dem zu Folge wäre eine Recherche mit erheblichen Kosten verbunden gewesen.
Hier möchte ich einflechten, dass ich gegen Ende 2007 erneut zu den Toten gezählt wurde. Ich bekam zwei Anrufe von Unbekannten, die der Frau Schröder ihr Beileid aussprechen wollten, weil sie meine Todesanzeige in der Sächsischen Zeitung gelesen hatten. Die Anzeige war leicht zu finden, ein Namensvetter aus Radebeul war gemeint, eine simple Verwechslung, wenn auch ein bisschen makaber.
Da ich ja nun doch lebte, wuchs in mir der Entschluss, und sei es nur für meine Nachkommen als Mahnung, mein Erleben als Kind und in den unseligen Zeiten des Krieges, der Nachkriegszeit und in der DDR aufzuschreiben. Der Gedanke ließ mich nicht mehr los und so schrieb ich nun beharrlich all das Erlebte auf, mein Gedächtnis arbeitete noch recht zuverlässig, allerdings tauchten auch Dinge in meiner Erinnerung auf, die ich komplett verdrängt, an die ich Jahrzehnte nicht mehr gedacht hatte. Natürlich fragte ich mich, wieso ich den Versuch unternehme Vergangenes aufzuschreiben, warum macht das eigentlich nicht jeder, haben wir Alten nichts zu sagen? Oder resignieren wir, weil uns keiner zuhören will? Braucht die heutige Jugend denn noch unsere Geschichten, können sie überhaupt noch zuhören? Fragen, die mich stark beschäftigten und auch manchmal beim Weiterschreiben insoweit etwas hinderlich waren. Schließlich machte es nicht gerade Mut, wenn Zweifel an meinem Tun dagegen standen.
Diese Zeilen sind also mein Lebenslauf, mit allen Daten, allen Ereignissen, derer ich mich erinnere und mit allen Hoffnungen, Irrtümern, Fehlern und Enttäuschungen, aber auch mit den vielen glücklichen Stunden, die ich erleben durfte. Ich hoffe, den Leser nicht zu enttäuschen.
So gebe ich nun das Buch aus den Händen, möge es ein Mahnmal gegen den Krieg sein, auch gegen die heutigen Kriege, die gewiss nicht weniger Kummer und Leid erzeugen als damals. Der geneigte Leser liest hier keinen Roman, was ich schreibe, habe ich ausnahmslos auch erlebt, auch alle Namen sind echt, soweit mich meine Erinnerung nicht trügt. Wo ich unsicher bin, dass ich eventuell Persönlichkeitsrechte verletzen könnte, arbeite ich mit Pseudonymen. Das gilt nicht für die Angehörigen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, hier sind bekanntgewordene Zugehörigkeiten und Klarnamen auch genannt. Was Sie an Einschätzungen und gefühlsmäßigen Haltungen und Bewertungen lesen, sind meine Einschätzungen und meine Gefühle. Ich bin auf meine weltanschauliche und politische Einstellungen nicht detailliert eingegangen, doch der Leser wird es spüren, es bedarf da keiner Worte.
Siegfried Schröder
Potius sero quam nunquam
Spät ist es, doch nicht zu spät
II Meine Familie
Noch bevor der Lehrer Michael Dziobaka, mein Urgroßvater mütterlicherseits, im fernen Talken in Masuren die Augen für immer schloss, waren die meisten aus seiner großen Kinderschar nicht mehr in Heimat, sondern in alle Welt verstreut. So auch mein Großvater als fünftes Kind, er hatte eine Ausbildung als Huf- und Wagenschmied erfahren und die Meisterprüfung bestanden. Aber in Masuren gab es kaum Arbeit und so zog mein Großvater in das Ruhrgebiet. Dort gab es Arbeit und viele junge Leute aus Ostpreußen und Polen zog es nach Westen und wie sich herausstellte, nichtvergebens. Die deutsche Schwerindustrie konzentrierte sich da, wo die Kohle war, Krupp und Thyssen und andere wurden zu einem Inbegriff für den industriellen Aufbruch in Deutschland. Die fünf Milliarden Goldfranken an Kontributionszahlungen, die von Frankreich nach 1871 zu leisten waren, trugen ganz sicher dazu bei. Mein Großvater bekam Arbeit bei Krupp. Er wechselte dann zur Essener Berufsfeuerwehr, die ja damals noch mit Pferden ausgerüstet war und einen Huf- und Wagenschmiedemeister sicher gut gebrauchen konnte. Er übernahm nach kurzer Zeit dort die Schmiede, avancierte schnell und schließlich unterstanden ihm die Berufsfeuerwehren von Essen und Umgebung. Meine Großmutter hatte im Dessauer Hof in Insterburg bei Verwandten als Kaltmamsell gelernt und gearbeitet ging dann ebenfalls nach Essen, wo sie schließlich 1906 den Opa heiratete. Sie wurden
Mitglied in einer Wohnungsgenossenschaft, der Allbau. Das Haus meiner Großeltern in Essen-Huttrop, war praktisch mein Elternhaus, meine Großeltern mütterlicherseits waren meine eigentlichen Eltern, auch wenn wir nicht immer dort gewohnt haben. Ich erinnere mich noch gut an Omas Schwester, Tante Anna, sie war ein richtiges Original. Ich sehe sie noch auf dem Ledersofa sitzend, wie sie sich eine Pfeife ansteckte und dann im breitesten ostpreußischen Dialekt sagte: Na Jungchen, wie jeht et denn?
Ähnlich wie meinen Großeltern mütterlicherseits und etwa auch zur gleichen Zeit, erging es auch den Großeltern väterlicherseits. Sie lernten sich in Eisenach kennen und nachdem sie geheiratet hatten, zog das junge Paar 1907 von Eisenach in das Ruhrgebiet, um dort Arbeit zu finden. Der Großvater hatte Klempner gelernt und fand in Essen schnell Arbeit bei der Reichsbahn, wurde schließlich Lokführer. Auf dem Führerstand der Lok erlitt er auch im April 1945 den Tod im Feuerhagel der amerikanischen und britischen Jagdbomber, nachdem es ihm gelungen war, einen mit Flüchtlingen voll besetzten Zug aus dem Bahnhof zu fahren und vielen Menschen so das Leben zu retten. Die Stadt Essen hat ihn dafür geehrt, auf dem Heldenfriedhof beigesetzen lassen und betreut sein Grab. Erst ihre in Essen geborenen Kinder, nämlich meine Mutter und mein Vater, lernten sich kennen und so ist schließlich meine Familie entstanden.
Beide Familien haben ihre Bindungen zu ihren Verwandten in Ostpreußen und in Thüringen bzw. Coburg nie aufgegeben und sind im Urlaub bzw. in den Ferien zu ihren Angehörigen gefahren. Schließlich ist meine Großmutter mütterlicherseits während des Krieges wieder nach Ostpreußen gezogen, von wo sie dann allerdings 1945 flüchten musste. Darüber ist später noch zu berichten.
Als ich meiner Familie die ersten Entwurfsseiten meines Manuskriptes zu lesen gab, war die Meinung: Du schreibst einfach los und niemand weiß, wer Du bist. Mir kamen Zweifel, also versuchte ich zu schreiben, wer ich bin. Aber wer weiß schon, wer er ist? Sollte ich einfach nüchtern einen Lebenslauf schreiben oder doch etwas mehr? Schließlich habe ich mich entschlossen alles zu schreiben, was ich in den vielen Jahren erlebt habe. Der Leser wird mich so sicherlich am besten kennen lernen.
Beim Schreiben tat sich eine neue Schwierigkeit auf, die ich in meinem Innern bis heute nicht vollkommen gelöst habe. Kann ich den engeren Kreis meiner Familie ausklammern, sollte ich die unangenehmen Dinge weglassen, eine heile Familienwelt darstellen, die es so nie gegeben hatte? Soll ich gar eine geschönte und eine wahre Darstellung schreiben? Das
aber wollte ich nicht alleine entscheiden und habe folglich die wesentlichen Abschnitte mit meiner Schwester und meinem Bruder beraten. Sie waren beide der Auffassung, dass ich schreiben soll, wie es wirklich war, auch wenn manches doch schockierend und auch peinlich sein mag.
Meine Eltern
Meine Mutter war immer eine lebenslustige Frau, die stets bestrebt war, ihren Platz im Leben einzunehmen und auch zu behaupten. Diesen festen Willen hat sie auch unter den schwierigsten Bedingungen der Kriegs-und Nachkriegszeit nicht aufgegeben, manchmal schon irgendwie übertrieben, ja sogar ein bisschen fanatisch. 1911 in Essen geboren und als Beamtentöchterchen aufgewachsen, besuchte sie nach der üblichen Volksschule noch eine Töchterschule und erlernte den Beruf einer Stenotypistin. Sie konnte sehr gut Stenografie und Maschineschreiben, Nähen und Kochen.
Mein Vater, 1908 ebenfalls in Essen geboren, erlernte den Beruf eines Buchdruckers und arbeitete auch als Buchdrucker bei der heutigen WAZ in Essen. Während der Inflationszeit hat er dort Geld gedruckt und mehr Geld verdient, als sein Vater bei der Reichsbahn, was den Opa immer sehr geärgert haben soll. Mit 17 Jahren wurde meine Mutter schwanger, ich war unterwegs. Ihre Mutter, meine energische Großmutter nahm sofort mit den Eltern meines Vaters Verbindung auf, ein uneheliches Kind und das bei einer Achtzehnjährigen, wäre eine große Schande gewesen. So war schnell Einigung der Eltern auf beiden Seiten erzielt. Die damals für dieses Alter noch genehmigungspflichtige Hochzeit wurde erwirkt und am 28. Juni 1929, zum 18. Geburtstag meiner Mutter, wurde geheiratet. Im Dezember 1929 erblickte ich dann das Licht der Welt. Die Schande war abgewendet. Ich vermute, dass meine Eltern nicht groß gefragt wurden, sicher wäre die nun folgende Ehekatastrophe verhindert worden, hätten meine Eltern damals nicht heiraten müssen.
Mein Vater war bei den Wandervögeln organisiert, die sehr linksorientiert waren und so verlor mein Vater kurz nach der Hochzeit seine Arbeit, weil er als Wortführer agierte. Er fand auch keine neue Arbeit, denn in der Branche stand er auf einer illegalen schwarzen Liste. Das war kein guter Start für die junge Ehe meiner Eltern. Meine Mutter arbeitete als Stenotypistin bei einem Rechtsanwalt. 1932 wurde dann meine Schwester Waltraut geboren. Es begann in der Ehe zu kriseln, mein Vater trank ein oder auch mehrere Biere abends in der Kneipe gegenüber, wir wohnten damals in der Dammannstraße. In der Nähe unserer Wohnung, aber für uns Kinder viel zu weit, war ein großer Platz, auf dem öfters der Zirkus gastierte. Ohne zu fragen, machten sich Waltraut und ich auf den Weg, bis wir den Zirkus endlich fanden. Schließlich wurde es Abend, wir wurden schon überall gesucht, dann tauchten wir zu Hause auf. Wir verrieten aber nicht, wie weit wir uns von zu Hause entfernt hatten. Trotzdem gab es was hinten drauf. Am nächsten Tag noch einmal, als Waltraut und ich unseren Eltern auf einem Bild aus der Zeitung, mitten im Zirkusgetümmel, entgegen lachten.
Die Großeltern halfen immer aus, so gut sie konnten, aber die Arbeitslosigkeit, das Bier und die Freunde taten das ihre. Wir zogen um in die Witteringstraße. Meine Mutter musste auf das ungezwungene Leben verzichten, die Kinder forderten ihr Recht, es war auch für sie offensichtlich zu viel. Hinzu kam, dass die Kneipe gegenüber Stammlokal eines SA-Sturmes wurde und mein Vater auch von der Seite unter Druck stand. Er hatte schon einmal völlig betrunken, die Wohnungseinrichtung zertrümmert, die Großeltern sprangen ein, statteten die Wohnung neu aus.
Inzwischen, d.h. Ende 1932 hatte mein Vater wieder Arbeit. Er war dank seiner Kneipenfreunde im Stammlokal bei der SS angekommen und avancierte schnell. Der nächste schlimme Krach folgte, meine Mutter und wir Kinder zogen aus zu den Großeltern mütterlicherseits. Februar 1936 wurde mein Bruder Kurt geboren und ich kam Ostern in die Schule. Schließlich die große Versöhnung, Umzug nach Hagen in Westfalen, wo mein Vater die SD-Dienststelle der SS übernahm. Das ging nicht lange gut, meine Mutter wollte nach Essen zurück, ich wünschte es mir auch. Ich kannte niemanden in Hagen, In der Schule waren lauter fremde Mitschüler.
Dann das endgültige Ende. Wir, meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und ich zogen 1937 wieder zu den Großeltern nach Essen und die Ehe meiner Eltern wurde geschieden. Zu allem Unglück kam hinzu, dass ich noch einmal mit der ersten Klasse anfangen musste und so bin ich von da an immer in allen Klassen einer der ältesten gewesen, das hatte Vorteile, aber auch Nachteile, oft wurde ich zu Sonderaufgaben herangezogen, ich war eben einer der ältesten und auch einer der kräftigsten in der Klasse. Mein Vater machte nur einmal von seinem Recht Gebrauch, seine Kinder zu sehen. 1938 brachte meine Mutter meine Schwester und mich zu einer Gaststätte „Zur zornigen Ameise“ am Baldeneysee und holte uns dort nach 2 Stunden wieder ab. Das war meine letzte persönliche Begegnung mit meinen Vater, ich hatte später immer mal wieder brieflich Verbindung zu ihm, habe ihn aber nie wiedergesehen. Auch meine Großeltern väterlicherseits habe ich nach 1937 nicht mehr gesehen und es gab auch keine briefliche Verbindung. Nachdem Opa Schröder 1945 umgekommen war, lebte Oma Schröder später bei meinem Vater. Zumindest stand damals unter den Briefen meines Vaters, dass sie ebenfalls grüßen lässt.
Meine Mutter war inzwischen Sekretärin in einer großen Essener Anwaltskanzlei und war zuletzt dort die Bürovorsteherin. Das war wieder das Leben, dass sie sich immer gewünscht hatte, Begleitung des Chefs zu den Verhandlungen, Einladungen, Theater usw. Da die Oma sich um uns kümmerte, kam sie abends oft erst spät nach Hause. Oma und Opa haben das nicht gebilligt, dennoch, wir Kinder wurden von den Großeltern gut versorgt, es fehlte uns an nichts. Wenn also im Folgenden von Oma und Opa geschrieben wird, bezieht sich das immer auf meine Großeltern mütterlicherseits, sie waren unsere eigentlichen Eltern.
Schule hin, Schule her.
Ich besuchte, abgesehen von der kurzen Unterbrechung in Hagen, die Schwanenbuschschule in Essen-Huttrop bis 1941. Nachdem wir von Hagen wieder nach Essen zurückgekommen waren, habe ich von 1937 bis 1941 eine ungetrübte und glückliche Kindheit verbracht. An diese Zeit erinnere ich mich gerne und oft.
Wir hatten in der Siedlung einen großen parkähnlichen Spielplatz. Dort verbrachten wir Kinder viel Zeit. Ein paar hundert Meter weiter, am Rande der Siedlung war ein Bauernhof. Das war natürlich interessant und die hohe Mauer um ein verwildertes Brachland mit einem kleinen Bach hatte etwas Gruseliges. Wir konnten nur durch die Regenabflüsse unten in der Mauer hindurchschauen, um zu erkennen, was wohl hinter der Mauer wirklich war. Und es roch von dem Bächlein her nicht besonders gut, also nannten wir es Köttelbecke. Was für ein Wort! Ich habe es immer behalten und auch manchmal benutzt, aber niemand sonst kannte es. Am Ende der Mauer ging eine breite Straße hinauf zum Parkfriedhof und dem jüdischen Friedhof. Letzterer war zerstört und da durften wir auch nicht hin. Da gab es auch keine glitzernden Mosaiksteinchen, wie in der ausgebrannten Synagoge neben dem Humboldt-Gymnasium. Diese Steinchen waren ein begehrtes Sammelobjekt, jedoch das Abmachen von der Wand war mühselig.
In der Schule war ich nur ein mittelmäßiger Schüler, war nicht schlecht, habe mich mit meinen Leistungen aber auch nicht hervorgetan. Meine Streiche hatten auch kein hohes Niveau, jedenfalls bin ich nie ernsthaft bestraft worden. Bei manchem meiner Mitschüler war der Rohrstock natürlich an der Tagesordnung. In schauerlichen Filmen mit viel Blut sieht man manchmal, dass die Delinquenten ihr Grab selber ausschaufeln mussten, in der Schule war es zwar ohne Blut, aber doch ähnlich. Zerbrach ein Stock, musste der Geprügelte selber ins Geschäft neben der Schule gehen und einen neuen Stock kaufen, natürlich auf Kosten des Lehrers.
Übrigens hieß dieses Geschäft neben der Schule Heistermann, dort gab es Zigaretten, Zeitungen und Hefte und natürlich Rohrstöcke. Wenn wir in der Gruppe waren, musste der Mutigste von uns die drei Stufen zum Geschäft hochschleichen und die Tür aufstoßen und alle Jungens brüllten dann:“ Wie heißt der Mann, Heistermann heißt der Mann“. Dann aber schnell weg. Manchmal schickte meine Mutter mich oder meine Schwester in das Geschäft um Illustrierte zu holen. Als meine Schwester in der 1.Klasse war, buchstabierte sie die Überschrift der Berliner Illustrierten und behauptete von da an, dass die Zeitung Berliner Mustrierte heißt. Daran erinnern wir sie noch heute gerne.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Parkfriedhofes war eine große Kleingartenanlage. Dort hatte unser Nachbar, Opa Turow einen Garten, ich glaube fast nur für uns Kinder. Denn wenn er gegen Abend mit seinem Handwagen vom Garten kam, war immer für uns etwas darin. Fein säuberlich gewaschene Möhren oder Beeren und anderes Obst. Wenn wir ihn kommen sahen, liefen wir ihm entgegen und zogen den Handwagen den Beyweg hoch bis zu uns.
Hin und wieder gingen wir auch bis zur Felgendreher Brücke und warteten auf die Dampfloks. Sie hüllten uns in weißen Dampf ein und dann liefen wir schnell auf die andere Brückenseite, bis dort die Lok auftauchte und alles sich noch einmal wiederholte. In jeder Lok habe ich den Opa Schröder gesehen, aber zu Hause hat mir niemand geglaubt, alle haben nur gelächelt.
Zwischen unserer Feldhaushof-Siedlung und der Steeler Straße, wo Muttis Bruder Onkel Ernst und Tante Herta wohnten, war eine stillgelegte Ziegelei mit fantastischen Spielmöglichkeiten und einem kleinen See. Dort haben wir Seeschlachten geschlagen und getöpfert. Meine Erzeugnisse aus Lehm, Vasen und kleine Kästchen, reichlich verziert, brachen unterwegs schon auseinander oder Oma räumte sie auf. Schließlich wurde uns verboten, dort zu spielen, wohl weniger wegen der Gefahren, sondern wegen der schlammigen Schuhe und Sachen. Heute ist das Gebiet längst bebaut und der See und der Lehm sind verschwunden. Es war eine glückliche Zeit und sie ist mir auch noch sehr gewärtig, wohl weil ich sie später immer vermisst habe. Aber ich sage nicht: schade, dass sie vorbei ist, sondern schön, dass sie gewesen ist.
Wenn meine Geschwister und ich von früher erzählen, dann ist es ziemlich sicher, dass auch das Stichwort Tomatenmark fällt. Oma hatte immer die frisch geernteten Tomaten aus dem Garten zu Tomatenmark gekocht und dann in Flaschen abgefüllt. Zur Sicherheit wurde der Korken noch mit Siegellack gesichert. Als eines Tages die Küche frisch tapeziert worden war, das machte Opa und Onkel Ernst half mit, gab es ein gutes Essen. Oma schickte mich in den Keller, um eine Flasche Tomatenmark für die Suppe zu holen. Jedenfalls hat die Flasche vom Keller bis in die Küche nicht sonderlich stillgehalten oder ich habe gezappelt. Als dann Oma den Siegellack entfernen wollte, gab es einen lauten Knall und die Küche war erneut reif zur Renovierung. Also machten Opa und Onkel Ernst sich noch einmal an die Arbeit, um die Küche erneut zu tapezieren
III Der Krieg beginnt
Zu der Zeit zogen die dunklen Wolken des 2. Weltkrieges schon unmerklich für mich auf. In den Sommerferien 1939 durfte ich mit Oma und Opa nach Ostpreußen fahren, zu ihren Verwandten nach Groß-Gablick in Masuren. Dort war es sehr interessant, es gab so viel Neues. Besonders beeindruckt war ich vom Wäschewaschen. Da wurde zum Spülen der Wäsche ein Pferd angespannt und die schweren Wäschezuber auf den Leiterwagen geladen. Dann fuhren die Frauen weit in den Gablicksee hinein. Hunderte Meter vom Ufer entfernt wurden die Zuber ausgekippt und die Wäsche im glasklaren Wasser gespült und wieder eingesammelt. Es war ein toller Spaß, schade, dass nicht täglich Wäsche gewaschen wurde.
Hinter dem Bauernhof war ein kleiner Sandberg, auf dem Kartoffeln angebaut waren. Eines Tages war große Aufregung, auf dem Kartoffelfeld gruben sich Soldaten in den Sand, auf dem Hof wurde für die Soldaten gekocht und wir zogen vorübergehend in einen anderen Raum, in unserem Zimmer wohnte der Herr Offizier. Es war Manöver. Erst viel später begriff ich, dass die deutsche Wehrmacht damals im August voll im Aufmarsch war, nicht zum Manöver, wie man uns sagte, der Krieg gegen Polen stand unmittelbar bevor. So wurde das Ferienende zum Friedensende, ein Frieden, der ohnehin nur gut 20 Jahre gehalten hatte.
Wir waren gerade wieder zu Hause, die Schule hatte begonnen und dieser fürchterliche Krieg nahm seinen Anfang. Niemand ahnte damals, dass unsere Familie in diesem Krieg untergehen würde, zerrissen und verstreut über das ganze Land. Nie haben wir wieder friedlich vereint und zusammen gelebt. Mein Vater heiratete erneut und meine Mutter lernte einen Gestapo-Offizier kennen und heiratete 1941 ebenfalls.
Oma und Opa lehnten den neuen Mann ab, wir drei Geschwister, Waltraut, Kurt und ich ebenfalls. Der neue Mann musste kurz nach der Hochzeit nach Norwegen. Wir bekamen einen Halbbruder Hans-Jürgen. Oma und Opa haben ihn aufgezogen, meine Mutter war ja unterwegs.
Als noch ein weiteres Kind, unser Halbbruder Hartmut, kam und offensichtlich noch einen anderen Vater hatte, haben Oma und Opa einen schweren Entschluss gefasst. Opa ging auf seinen Wunsch hin in Pension, wurde aber kriegsdienstverpflichtet und musste in Essen bleiben, während Oma in die Heimat nach Ostpreußen zurückging und meinen Bruder Kurt mitnahm. Das Haus überließen sie meiner Mutter und der neuen Familie. Der Stiefvater war in Norwegen in Kristiansand, meine Mutter musste arbeiten gehen und die beiden Halbgeschwister Hans-Jürgen und der kleine Hartmut wurden von meiner Schwester betreut, sofern sie überhaupt in Essen war. Waltraut und ich waren meist nur kurze Zeit zu Hause, wir hielten uns während des Krieges immer wieder in Lagern und Heimen oder Landjahren auf. Es waren dann nach 1941 immer nur ein paar Wochen und Monate, in denen wir wirklich zusammen waren. Als Waltraut und ich uns mal wieder in Essen getroffen hatten, schwäbelte Waltraut ziemlich heftig. Sie kam gerade aus Baden-Württemberg. Sie hatte Apfelmost mit gebracht, den wir dann auch sofort kosten mussten.
Nachdem die Gläser mit dem schäumenden Most eingegossen waren, sagte sie: Proscht, is koi Bier, is Moscht. Sie musste es immer wieder sagen zu unser aller Belustigung. Es wird heute noch manchmal wiederholt, wenn wir in Erinnerungen schwelgen. Wir hatten ein kleines Mansardenzimmer und ich besinne mich, dass wir manchmal abends, wenn wir längst schlafen sollten, noch Gruselgeschichten erzählten. Wenn dann der Wind die Schieferplatten, mit denen das Fenster außen verkleidet war, so richtig zum Klappern brachte, war es wirklich schön schaurig. Oder wir haben noch lange gelesen. Auch das heimliche Gucken mit der Laterna Magica war faszinierend. Da ist mit noch ein Glasstreifen mit dem Zeppelin oder mit den Affen in Erinnerung. Oma kam immer noch kontrollieren, bevor auch sie schlafen ging. Aber das hörten wir, denn die Bodentreppe knarrte laut genug und schnell war das Licht gelöscht.
Aber diese schöne Zeit nahm etwa 1941 ein Ende. Der Krieg prägte allmählich unser Leben. Ich war mit der Schule in den Kinderlandverschickungslagern, den sogenannten KLV-Lagern. Wir hatten kein richtiges Zuhause mehr. Oma mit Kurt in Masuren, meine Schwester nicht da und ich war ebenfalls mit der Klasse bzw. Schule irgendwo weit weg von Essen. Wenn ich dann einmal für ein paar Wochen zu Hause war, musste ich meinen Halbbruder betreuen, bei irgendwelchen Schiebern für viel Geld oder für Gläser voller Rollmöpse, Kaffee und Zigaretten aus Holland abholen. Die Rollmöpse kamen aus Norwegen von meinem Stiefvater in einem großen Fass, aus dem ich immer umfüllen musste. Seither habe ich ein gespaltenes Verhältnis zu Rollmöpsen. Wenn dann der neue Vater aus Norwegen eintraf, sollte ich am liebsten nicht zu sehen sein. Einmal wurde ich zum Essen gerufen und mein Stiefvater ließ sich meine Hände vorzeigen. Sie waren so sauber, wie sie bei einem Dreizehnjährigen aussehen, wenn er sie nicht gewaschen hat. Ich bekam eine heftige Ohrfeige, meine Empörung war riesengroß. Meine Mutter wollte beschwichtigen, ich war stur, ich habe an keinem Essen mehr teilgenommen, wenn der Norwegenbesucher da war. Aber es folgten keine Zwangsmaßnahmen, offensichtlich waren meine Mutter und der Stiefvater ganz zufrieden, dass ich alleine in der Küche gegessen habe.
Eggenfelden
Das Jahr 1941 brachte die ersten Luftangriffe auf Essen und die Eltern bekamen die Möglichkeit ihre Kinder in ein KLV-Lager zu schicken. Meine Mutter stimmte zu, ich wurde am Hauptbahnhof abgegeben. Wir bekamen ein großes Schild um den Hals und dann ging es los. Waltraut ging es nicht anders. Sie war in einer Gärtnerei in Neckarsgröningen untergebracht und hatte einen weiten Schulweg. Nach der Schule musste sie tüchtig arbeiten, die Männer waren ja alle eingezogen. Erst nach 1 ½ Jahren kam sie wieder nach Essen zurück.
Meine Reise ging nach Eggenfelden in Niederbayern, dort wurden wir im Kloster untergebracht. Ich war sozusagen Klosterschüler, genauer Schüler in einem Kloster, es hat mir aber nicht geschadet. Wir hatten auch nur wenig Kontakt mit den Mönchen.
Es war füäö