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M. L. Stedman

Das Licht zwischen den Meeren

Roman

Aus dem Englischen
übersetzt von Karin Dufner


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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »The Light Between Oceans« bei Doubleday / Transworld, London.

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen
und Personen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen
wären zufällig und nicht beabsichtigt.

© der Originalausgabe 2012
by Grasshill Communications

© der deutschsprachigen Ausgabe 2013
by Limes Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de
Umschlagabbildungen: www.buerosued.de und Arcangel/Patricia Turner

ISBN 978-3-641-08929-0
V003

www.limes-verlag.de

»In Erinnerung an meine Eltern.«

TEIL I

27. April 1926

An dem Tag, als das Wunder geschah, kniete Isabel gerade an der Kante der Klippe und pflegte das neue Grab mit dem kleinen aus Treibholz gezimmerten Kreuz. Eine einsame dicke Wolke zog langsam über den Spätaprilhimmel, der sich wie ein Spiegelbild des Ozeans über die Insel spannte. Isabel glättete die Erde rings um den gerade gepflanzten Rosmarinbusch und goss ihn.

»… und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel«, flüsterte sie.

Einen Moment lang gaukelte ihr Verstand ihr vor, sie habe das Schreien eines Kindes gehört, doch sie tat das als Sinnestäuschung ab. Stattdessen blickte sie hinüber zu dem Schwarm Wale, die sich auf die Küste zubewegten, um dort im wärmeren Wasser ihre Jungen zu werfen. Wenn die Tiere hin und wieder auftauchten, durchbohrten ihre Schwanzflossen das Wasser wie Nadeln eine Stickerei. Wieder hörte Isabel Geschrei, diesmal lauter, das von der frühmorgendlichen Brise herangetragen wurde. Das konnte nicht sein.

Auf dieser Seite der Insel erstreckte sich eine gewaltige Leere bis nach Afrika, denn hier traf der Indische Ozean mit dem Südpolarmeer zusammen und verband sich mit ihm zu einem endlosen Teppich am Fuße der Klippen. An Tagen wie diesem erschien er Isabel so solide, dass sie fast glaubte, über die blaue Fläche zu Fuß bis nach Madagaskar gehen zu können. Die andere Seite der Insel blickte missmutig hinüber zum etwa hundertfünfzig Kilometer entfernten australischen Festland; sie gehörte nicht wirklich dazu, war jedoch auch nicht davon unabhängig, sondern nur der höchste in einer Reihe von Unterwasserbergen, die wie Zähne in einem schartigen Kiefer aus dem Meeresgrund ragten und nur darauf warteten, ahnungslosen Schiffen in der letzten Etappe vor dem Hafen den Bauch aufzuschlitzen.

Um dieses Unheil abzuwenden, stand auf der Insel – Janus Rock – ein Leuchtturm, dessen Lichtstrahl in einem Umkreis von etwa fünfzig Kilometern Sicherheit bot. Jede Nacht hallte das stete Surren der sich stetig und unablässig drehenden Lampe durch die Luft, den Felsen und Wogen trotzend und, wenn gewünscht, Rettung verheißend.

Das Schreien dauerte an. In der Ferne klapperte die Tür des Leuchtturms, und Toms hochgewachsene Gestalt erschien auf der Galerie. Er suchte die Insel mit dem Fernglas ab.

»Izzy!«, rief er. »Ein Boot!« Er wies auf die Bucht. »Am Strand ist ein Boot.« Er verschwand und erschien kurz darauf am Fuße des Leuchtturms. »Offenbar ist jemand drin«, fügte er hinzu. Isabel lief ihm entgegen, und er hielt sie am Arm fest, als sie den steilen, ausgetretenen Pfad zu dem kleinen Strand hinuntergingen.

»Ganz eindeutig ein Boot«, stellte Tom fest. »Und … oh, Mist! Da ist ein Kerl, aber …«

Die Gestalt rührte sich nicht und hing schlaff über der Sitzbank. Dennoch erklangen weiter Schreie. Tom hastete zu der Jolle hinüber und versuchte, den Mann wachzurütteln, bevor er einen Blick in den Bug warf, von wo die Schreie kamen. Er förderte ein Bündel aus Wolle zutage: eine weiche, lavendelfarbene Damenstrickjacke, gewickelt um ein winziges, weinendes Baby.

»Du heiliger Strohsack!«, rief er aus. »Herrgott, Izzy, es ist …«

»Ein Baby! O mein Gott! Oh, Tom! Tom! Hier, gib es mir!«

Er reichte ihr das Bündel und unternahm noch einen Versuch, den Fremden wiederzubeleben: kein Puls. Tom drehte sich zu Isabel um, die gerade das kleine Geschöpf untersuchte. »Er hat es nicht geschafft, Izz. Und das Baby?«

»Sieht aus, als wäre alles in Ordnung. Keine Verletzungen oder Blutergüsse. Es ist so klein!«, fügte sie hinzu und drückte das Kind an sich. »Schon gut. Jetzt bist du in Sicherheit, Kleines. Du bist in Sicherheit, du süßes Ding.«

Tom stand reglos da, betrachtete die Leiche des Mannes, schloss die Augen und öffnete sie wieder, um sicherzugehen, dass er nicht träumte. Inzwischen hatte das Baby zu weinen aufgehört und lag, nach Luft schnappend, in Isabels Armen.

»Ich kann an dem Burschen keine Wunden entdecken, und krank scheint er auch nicht zu sein. Er kann nicht lang auf dem Wasser getrieben haben … möchte man wenigstens meinen.« Er hielt inne. »Bring das Baby ins Haus, Izz. Ich hole etwas, um die Leiche abzudecken.«

»Aber, Tom …«

»Es wäre eine ordentliche Schinderei, ihn den Weg hinaufzuschleppen. Wir lassen ihn besser liegen, bis Hilfe kommt. Doch ich will nicht, dass Vögel und Fliegen sich über ihn hermachen. Im Schuppen ist noch Segeltuch, das müsste genügen.« Seine Stimme klang zwar ruhig, doch er bekam kalte Hände und Füße, als die Schatten der Vergangenheit die strahlende Herbstsonne verdunkelten.

Janus Rock war ein anderthalb Quadratkilometer großes Stück grüner Landschaft mit genug Gras, um die wenigen Schafe und Ziegen und eine Handvoll Hühner zu ernähren, und einer ausreichenden Erdschicht für einen kümmerlichen Gemüsegarten. Die einzigen Bäume waren zwei riesige Norfolktannen, gepflanzt von dem Bautrupp aus Point Partageuse, der den Leuchtturm 1889, über dreißig Jahre zuvor, errichtet hatte. Einige alte Gräber erinnerten an ein Schiffsunglück vor langer Zeit, als die Pride of Birmingham am helllichten Tag auf die gnadenlosen Felsen aufgelaufen war. Mit einem solchen Schiff war später die Lampe selbst aus England hierhergeschafft worden. Sie trug stolz die Aufschrift Chance Brothers, was für die modernste Technik jener Tage stand, die auch an den unwirtlichsten und entlegensten Orten in Betrieb genommen werden konnte.

Die Strömung schwemmte alle möglichen Dinge an und wirbelte Strandgut herum wie zwischen zwei Propellern: Wrackteile, Teekisten und Walknochen. Gegenstände tauchten auf, wann und wie es ihnen gefiel. Der Leuchtturm erhob sich mitten auf der Insel wie ein Fels in der Brandung. Das Häuschen des Leuchtturmwärters und die Nebengebäude duckten sich daneben, gebeugt von jahrzehntelangen Sturmwinden.

Isabel saß in der Küche an dem alten Tisch. Das Baby in ihren Armen war in eine flauschige gelbe Decke gewickelt. Sorgfältig trat Tom sich die Füße an der Matte ab, kam herein und legte ihr eine schwielige Hand auf die Schulter. »Ich habe den armen Teufel zugedeckt. Wie geht es dem Kleinen?«

»Es ist ein Mädchen«, antwortete Isabel und lächelte. »Ich habe sie gebadet. Sie scheint gesund zu sein.«

Das Baby drehte sich mit großen Augen zu ihm um und erwiderte seinen Blick.

»Was mag sie wohl von all dem halten?«, fragte er.

»Ich habe ihr auch etwas Milch gegeben, richtig, du süßer Fratz?«, säuselte Isabel, an das Baby gewandt. »Oh, sie ist so wunderschön, Tom«, fügte sie hinzu und küsste das Kind. »Der Himmel weiß, was sie durchgemacht hat.«

Tom nahm eine Flasche Brandy aus dem Schrank aus Fichtenholz, schenkte sich ein kleines Glas voll ein und kippte es hinunter. Dann setzte er sich neben seine Frau und beobachtete das Spiel des Lichts auf ihrem Gesicht, während sie den Schatz in ihren Armen betrachtete. Das Baby verfolgte jede ihrer Bewegungen mit den Augen, als befürchte es, Isabel könne ansonsten verschwinden.

»Oh, du Kleines«, flötete Isabel. »Armes, armes Ding.« Das Baby schmiegte das Gesicht an ihre Brust. Tom hörte die Tränen in ihrer Stimme, und die Erinnerung an den Verlust hing zwischen ihnen in der Luft.

»Sie mag dich«, sagte er und ergänzte, wie zu sich selbst: »Ich stelle mir vor, wie es hätte werden können. Ich meine … So habe ich es nicht gemeint«, sprach er rasch weiter, »… du siehst einfach aus, als wärst du dafür geboren.« Er streichelte ihre Wange.

Isabel blickte ihn an. »Ich weiß, Liebling. Ich weiß. Mir geht es genauso.«

Er legte die Arme um seine Frau und das Kind. Isabel roch den Brandy in seinem Atem. »Oh, Tom, Gott sei Dank, dass wir sie rechtzeitig gefunden haben«, murmelte sie.

Tom küsste sie und berührte dann die Stirn des Babys mit den Lippen. So verharrten die drei eine ganze Weile, bis das Baby zu zappeln begann und eine Faust unter der Decke hervorstreckte.

»Nun.« Tom stand auf und streckte sich. »Dann werde ich mal einen Funkspruch absetzen, das Boot melden und ein Schiff anfordern, das die Leiche abholt. Und unsere Kleine hier.«

»Noch nicht!«, protestierte Isabel und streichelte die Finger des Babys. »Es besteht doch kein Grund zur Eile. Dem armen Mann ist nicht mehr zu helfen. Und ich vermute, dass die Kleine für den Moment genug von Seefahrten hat. Warte noch ein bisschen und gib ihr Zeit, zur Ruhe zu kommen.«

»Es wird sowieso Stunden dauern, bis sie hier sind. Sie schafft das schon. Du hast das arme Kind ja recht gut beruhigt.«

»Lass uns trotzdem warten. Es spielt doch sicher keine Rolle.«

»Ich muss es ins Protokollbuch eintragen, Schatz. Du weißt ja, dass ich verpflichtet bin, alles sofort zu melden«, wandte Tom ein, denn es gehörte zu seinen Aufgaben, jedes wichtige Ereignis im oder rund um den Leuchtturm, von vorbeifahrenden Schiffen und dem Wetter bis hin zu technischen Problemen anzuzeigen.

»Das kannst du doch auch morgen erledigen, oder?«

»Und wenn das Boot von einem Schiff stammt?«

»Es ist eine Jolle, kein Rettungsboot«, widersprach sie.

»Dann hat das Baby sicher eine Mutter, die irgendwo auf dem Festland wartet und vor Sorge fast den Verstand verliert. Wie würdest du empfinden, wenn es deins wäre?«

»Du hast die Strickjacke gesehen. Bestimmt ist die Mutter über Bord gefallen und ertrunken.«

»Liebling, wir haben keine Ahnung, was aus der Mutter geworden ist. Oder wer der Mann war.«

»Aber es ist die wahrscheinlichste Erklärung, richtig? Babys laufen ihren Eltern nicht davon.«

»Izzy, alles ist möglich. Wir wissen es nicht.«

»Hast du je von einem kleinen Baby gehört, das sich ohne seine Mutter in einem Boot auf den Weg macht?« Sie drückte das Kind ein wenig fester an sich.

»Die Sache ist ernst, Izzy. Der Mann ist tot.«

»Und das Baby lebt. Hab doch ein Herz, Tom.«

Etwas an ihrem Tonfall rührte ihn an. Und so hielt er inne und dachte über ihre Bitte nach, anstatt ihr zu widersprechen. Vielleicht brauchte sie ja ein wenig Zeit mit dem Baby. Vielleicht war er ihr das schuldig. Schweigen entstand, und Isabel drehte sich, ein wortloses Flehen in den Augen, zu ihm um.

»Ich denke …«, räumte er widerwillig ein, »dass ich mit dem Funkspruch noch bis morgen warten kann. Aber gleich in der Früh, sobald es hell wird, erledige ich das.«

Isabel küsste ihn und tätschelte seinen Arm.

»Jetzt muss ich aber wieder in den Turm. Ich war gerade dabei, das Brüdenrohr zu wechseln«, fügte er hinzu.

Als er den Pfad entlangging, hörte er Isabels glockenhelle Stimme. Sie sang. »Blow the wind southerly, southerly, southerly, blow the wind southerly o’er the bonnie blue sea.« Obwohl das Lied melodisch war, konnte es ihn nicht trösten, als er die Stufen des Leuchtturms hinaufstieg, denn er musste sich eingestehen, dass ihm seine Nachgiebigkeit ein leichtes Unbehagen verursachte.

Kapitel 1

16. Dezember 1918

»Ja, das ist mir klar«, sagte Tom Sherbourne. Er saß in einem spartanisch eingerichteten Zimmer, in dem sich die Temperatur kaum von der schwülen Hitze draußen unterschied. Es war Sommer in Sydney; ein Regenschauer prasselte gegen die Fensterscheibe und sorgte dafür, dass die Menschen auf dem Gehweg eilig Schutz suchten.

»Ich meinte, sehr schwierig.« Der Mann hinter dem Schreibtisch beugte sich vor, um seine Worte zu untermauern. »Das wird kein Spaziergang. Nicht, dass Byron Bay der herausforderndste Posten wäre, den die Leuchtturmverwaltung zu vergeben hätte. Ich wollte nur sichergehen, dass Sie wissen, worauf Sie sich einlassen.« Er drückte den Tabak mit dem Daumen fest und zündete seine Pfeife an. In Toms Bewerbungsschreiben hatte das Gleiche gestanden wie in denen vieler junger Männer dieser Tage: geboren am 28. September 1893, Kriegsdienst in der Army, Erfahrung mit Signalflaggen und dem Morsealphabet, körperlich gut in Form, ehrenhafte Entlassung. Laut Vorschrift wurden ehemalige Soldaten bevorzugt behandelt.

»Es kann nicht …« Tom hielt inne und setzte noch einmal an. »Mit allem Respekt, Mr. Coughlan, aber es wird wohl kaum schlimmer sein als an der Westfront.«

Der Mann studierte noch einmal die Entlassungsurkunde und blickte Tom dann forschend ins Gesicht und in die Augen. »Nein, mein Junge. Wahrscheinlich haben Sie recht.« Dann ratterte er ein paar Regeln herunter. »Sie bezahlen die Fahrt zum Einsatzort aus eigener Tasche. Als Aushilfe haben Sie keinen Urlaubsanspruch. Festangestellte bekommen am Ende jeder dreijährigen Dienstzeit einen Monat Urlaub.« Er griff zu einem dicken Federhalter und unterschrieb das Formular, das vor ihm lag. »Willkommen«, sagte er, während er mit dem Stempel über das Stempelkissen fuhr und ihn dreimal auf das Blatt Papier niedersausen ließ, »beim Commonwealth Lighthouse Service.« Auf dem Formular glänzte in feuchter Tinte die Aufschrift »16. Dezember 1918«.

Während der sechsmonatigen Aushilfstätigkeit in Byron Bay an der Küste von Neusüdwales zusammen mit zwei anderen Leuchtturmwärtern und deren Familien lernte Tom, was ein Leben im Leuchtturm ausmachte. Anschließend folgte ein Einsatz auf Maatsuyker, der einsamen Insel südlich von Tasmanien, wo es den Großteil des Jahres regnete und so stark stürmte, dass selbst die Hühner ins Meer geweht wurden.

Im Leuchtturm hat Tom Sherbourne viel Zeit, über den Krieg nachzudenken. An die Gesichter und Stimmen der Kameraden, die neben ihm gestanden und ihm auf die eine oder andere Weise das Leben gerettet haben. An die, deren letzte Worte er gehört hat, und die, deren wirres Gestammel er nicht verstehen konnte. Aber er hat trotzdem genickt.

Tom gehört nicht zu den Männern, deren Beine nur noch von Sehnen am Körper gehalten wurden oder denen die Eingeweide wie glitschige Aale aus dem Leib quollen. Seine Lunge und sein Gehirn sind nicht vom Gas aufgeweicht worden. Doch er trägt dennoch Narben mit sich herum, denn er muss in der Haut des Mannes weiterleben, der das getan hat, was damals nötig war. Es ist ein Schatten, der nach innen fällt.

Er gibt sich Mühe, darüber nicht ins Grübeln zu geraten. Er hat nämlich viele Männer erlebt, die sich auf diese Weise selbst verloren haben. Also lebt er weiter am Rande dieses Gefühls, für das er keinen Namen hat. Wenn er von jenen Jahren träumt, ist der Tom, der sie durchlebt und Blut an seinen Händen hat, ein etwa achtjähriger Junge. Ein kleiner Junge, der sich gegen Männer mit Gewehren und Bajonetten zur Wehr setzen muss und dem es zu schaffen macht, dass die Kniestrümpfe seiner Schuluniform verrutscht sind und er sie nicht hochziehen kann, weil er dazu sein Gewehr fallen lassen müsste. Und dabei ist er ohnehin kaum groß genug, um es zu tragen. Außerdem kann er seine Mutter nirgendwo entdecken.

Wenn er dann aufwacht, ist er an einem Ort, wo man nur Wind und Wellen und den komplizierten Apparat hört, der die Flamme am Brennen hält und dafür sorgt, dass die Lampe sich dreht, sich unablässig dreht und sich dabei selbst über die Schulter schaut.

Wenn er nur genug Abstand hält – von Menschen und von seinen Gedanken –, wird die Zeit die Wunden heilen.

Janus Rock liegt viele tausend Kilometer weit entfernt an der Westküste und ist der Punkt auf dem Kontinent, der die größte Entfernung von Toms Heimatstadt Sydney hat. Allerdings ist der Leuchtturm von Janus Rock auch das letzte Stück Australien, das er gesehen hat, als sein Truppentransporter 1915 nach Ägypten aufbrach. Der Geruch des Eukalyptus war noch viele Kilometer vor der Küste von Albany wahrzunehmen gewesen, und als er verflog, hat Tom plötzlich schmerzhaft den Verlust einer Sache empfunden, von der er gar nicht wusste, dass man sie vermissen konnte. Dann, Stunden später, kam, klar und deutlich, die Lampe mit ihren fünfsekündlichen Lichtblitzen in Sicht. Der letzte Außenpunkt seiner Heimat, und die Erinnerung daran hielt sich wie ein Abschiedskuss während der jahrelangen Hölle, die darauf folgte. Als Tom im Juni 1920 erfuhr, dass auf Janus Rock dringend eine Stelle besetzt werden musste, war es, als hätte der Leuchtturm selbst ihn gerufen.

Janus Rock, am Rand der Kontinentalplatte gelegen, war kein beliebter Einsatzort. Der Schwierigkeitsgrad eins sorgte zwar für eine leichte Gehaltserhöhung, doch nach Auffassung alter Hasen lohnte es sich für das bisschen Geld bei dieser jämmerlichen Bezahlung dennoch nicht. Der Leuchtturmwärter, den Tom ablöste, hieß Trimble Docherty. Er hatte einiges Aufsehen mit seiner Meldung erregt, seine Frau sende Signale an vorbeifahrende Schiffe, indem sie die bunten Flaggen des internationalen Codes zu Botschaften zusammenfügte. Das missfiel den Behörden aus zwei Gründen: Erstens hatte der stellvertretende Leiter der Leuchtturmbehörde vor einigen Jahren das Signalisieren mit Flaggen auf Janus verboten, da die Schiffe sich in Gefahr brachten, wenn sie nah genug herankamen, um die Nachrichten zu entziffern. Und zweitens war die fragliche Ehefrau vor kurzer Zeit verstorben.

Dies führte zu einem regen Schriftwechsel in dreifachem Durchschlag zwischen Fremantle und Melbourne. Der stellvertretende Amtsleiter in Fremantle verwandte sich für Docherty und lobte seine langjährigen und treuen Dienste, während man in der Zentrale nur den reibungslosen Ablauf, die Kosten und die Vorschriften im Blick hatte. Also wurde ein Kompromiss geschlossen, indem man für sechs Monate einen Leuchtturmwärter zur Aushilfe einstellte und Docherty in dieser Zeit krankschreiben ließ.

»Für gewöhnlich schicken wir keinen ledigen Mann nach Janus. Die Insel ist ziemlich abgelegen, weshalb eine Frau und eine Familie nicht nur ein Trost, sondern auch eine praktische Hilfe wären«, meinte der Bezirksleiter zu Tom. »Aber da es ja nur vorübergehend ist … Sie brechen in zwei Tagen nach Partageuse auf«, fügte er hinzu und stellte einen Vertrag mit sechsmonatiger Laufzeit aus.

Vorzubereiten gab es nicht viel und auch niemanden, von dem Tom sich hätte verabschieden müssen. Und so ging er zwei Tage später, nur mit einer Reisetasche ausgerüstet, an Bord eines Schiffs. Die SS Prometheus tuckerte die australische Südküste entlang und machte auf der Fahrt von Sydney nach Perth in verschiedenen Häfen Station. Die wenigen für die Passagiere der ersten Klasse reservierten Kabinen befanden sich am Bug auf dem Oberdeck. In der dritten Klasse teilte Tom eine Kabine mit einem alten Seemann. »Ich mache diese Tour jetzt schon seit fünfzig Jahren. Die wären nie so frech, von mir zu verlangen, dass ich dafür bezahle. Das bringt nämlich Unglück«, verkündete der Mann gut gelaunt und wandte sich wieder der großen Flasche extrastarkem Rum zu, mit der er sich meistens beschäftigte. Um den Alkoholdünsten zu entfliehen, gewöhnte Tom sich an, tagsüber an Deck spazieren zu gehen. Abends wurde meistens unter Deck Karten gespielt.

Es war auf den ersten Blick zu erkennen, wer »in Übersee« gewesen war und wer den Krieg zu Hause ausgesessen hatte. Man konnte es an einem Mann regelrecht riechen, und die beiden Gruppen hielten Abstand. Der Aufenthalt in den Gedärmen eines Schiffs weckte Erinnerungen an die Truppentransporter, die sie erst in den Nahen Osten und dann nach Frankreich gebracht hatten. Und schon nach wenigen Minuten an Bord wusste jeder beinahe instinktiv, wer Offizier und wer ein einfacher Soldat gewesen war und wo derjenige gekämpft hatte.

Wie auf den Truppentransportern war es wichtig, eine sportliche Betätigung zu finden, um ein wenig Leben in die Bude zu bringen. Das Spiel, für das man sich schließlich entschied, war ziemlich einfach: wem es gelang, sich ein Souvenir aus der ersten Klasse zu sichern, hatte gewonnen. Allerdings ging es nicht um irgendein Souvenir. Bei dem begehrten Gegenstand handelte es sich um einen Damenschlüpfer. »Das Preisgeld verdoppelt sich, wenn sie ihn zum fraglichen Zeitpunkt anhat.«

Der Rädelsführer, ein Mann namens McGowan, der einen Schnurrbart und von seinen Woodbine-Zigaretten gelbe Finger hatte, sagte, er habe sich bei einem der Stewards nach der Passagierliste erkundigt. Die Auswahl sei begrenzt. Insgesamt gebe es zehn Kabinen. Ein Anwalt und seine Frau – um die mache man lieber einen großen Bogen. Einige ältere Ehepaare, zwei alte Jungfern – vielversprechend – und – am besten – die Tochter irgendeines hohen Tiers, die allein reiste.

»Wir sollten außen am Rumpf hinauf und dann durch ihr Fenster klettern«, verkündete er. »Wer ist dabei?«

Die Kühnheit des Vorhabens erstaunte Tom nicht. Er hatte seit seiner Rückkehr schon viele ähnliche Geschichten gehört. Männer, denen es zur Gewohnheit geworden war, aus einer Laune heraus ihr Leben zu riskieren – sie benutzten die Schranken an Bahnübergängen als Reithindernisse und schwammen in reißende Strömungen hinein, nur um festzustellen, ob sie auch wieder herauskommen würden. So viele Männer, die in Europa dem Tod knapp von der Schippe gesprungen waren, schienen nun süchtig nach seinen Verlockungen zu sein. Allerdings waren diese Männer jetzt frei in ihren Entscheidungen. Vermutlich war der große Plan nichts als leeres Gerede.

Da Toms Albträume in der folgenden Nacht schlimmer waren als sonst, beschloss er, ihnen zu entfliehen, indem er einen Spaziergang an Deck machte. Es war zwei Uhr morgens, und da er sich um diese Zeit an Bord frei bewegen konnte, schritt er das Schiff systematisch ab. Zuerst betrachtete er das Mondlicht, das sich im Wasser spiegelte. Dann stieg er zum Oberdeck hinauf, wobei er sich wegen der leichten Dünung am Geländer festhalten musste. Oben blieb er kurz stehen und genoss die frische Luft und die funkelnden Sterne am nächtlichen Firmament.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass aus einer der Kabinen ein Lichtstrahl kam. Offenbar litten selbst Passagiere der ersten Klasse unter Schlafstörungen, dachte er. Im nächsten Moment meldete sich sein sechster Sinn – das vertraute, nicht in Worte zu fassende Gefühl, dass es gleich Ärger geben würde. Er schlich zur Kabine und spähte zum Fenster hinein.

Im Dämmerlicht sah er eine Frau, die an die Wand gepresst dastand, wie angewurzelt, obwohl der Mann sie nicht berührte. Allerdings war sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, und es malte sich der lüsterne Ausdruck darauf, den Tom schon zu oft gesehen hatte. Er erkannte den Mann vom Unterdeck, und das Preisgeld fiel ihm ein. Verdammte Idioten. Als er am Türknauf drehte, ließ sich die Tür öffnen.

»Lassen Sie die Frau in Ruhe«, sagte er und trat ein. Sein Tonfall war zwar ruhig, duldete jedoch keinen Widerspruch.

Der Mann wirbelte herum und grinste bei Toms Anblick. »Mein Gott, ich habe dich schon für einen Steward gehalten! Du kannst mir helfen. Ich wollte gerade …«

»Ich sagte, lassen Sie sie in Ruhe! Raus, aber sofort.«

»Aber ich bin noch nicht fertig. Ich wollte ihr gerade eine kleine Freude machen.« Er stank nach Alkohol und abgestandenem Tabak.

Tom legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte so fest zu, dass der Mann aufschrie. Obwohl er etwa zwanzig Zentimeter kleiner war als Tom, wollte er nach ihm ausholen. Tom packte ihn am Handgelenk und verdrehte es. »Name und Rang!«

»McKenzie. Gefreiter 3277.« Die nicht verlangte Dienstnummer folgte wie ein Reflex.

»Gefreiter, Sie entschuldigen sich jetzt bei der jungen Dame und gehen wieder zu Bett. Bis wir anlegen, will ich Ihr Gesicht nicht mehr an Deck sehen. Verstanden?«

»Jawohl, Sir!« Er wandte sich an die Frau. »Entschuldigen Sie, Miss. Es war nicht so gemeint.«

Die immer noch verängstigte Frau nickte kaum merklich.

»Und jetzt raus!«, befahl Tom, worauf der Mann, schlagartig ernüchtert, aus der Kabine schlurfte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Tom die Frau.

»Ich … Ich glaube schon.«

»Hat er Ihnen etwas getan?«

»Er hat mich nicht …«, sie sprach ebenso mit sich selbst wie mit ihm, »er hat mich nicht angerührt.«

Er musterte das Gesicht der Frau, deren graue Augen inzwischen ruhiger wirkten. Das dunkle offene Haar fiel ihr in Wellen bis über die Arme, und sie hielt immer noch den Ausschnitt ihres Nachthemds mit den Fäusten zusammen. Tom nahm ihren Morgenmantel von einem Haken an der Wand und legte ihn ihr über die Schultern.

»Danke«, sagte sie.

»Das war sicher ein ordentlicher Schreck für Sie. Ich fürchte, einige von uns sind mittlerweile keine zivilisierte Gesellschaft mehr gewohnt.«

Sie antwortete nicht.

»Der wird Ihnen keinen Ärger mehr machen.« Er stellte einen Stuhl auf, der bei dem Zwischenfall umgekippt war. »Ob Sie ihn melden, bleibt Ihnen überlassen, Miss. Wahrscheinlich hat sein Verstand gelitten.«

Sie blickte ihn fragend an.

»Der Einsatz drüben verändert einen Mann. Zwischen Richtig und Falsch besteht für viele kein großer Unterschied mehr.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich aber an der Tür noch einmal um. »Es ist Ihr gutes Recht, ihn anzuzeigen, aber ich vermute, dass er auch so schon genug Schwierigkeiten hat. Wie gesagt, es bleibt Ihnen überlassen.« Mit diesen Worten verschwand er.

Kapitel 2

Point Partageuse hatte seinen Namen französischen Entdeckern zu verdanken. Sie hatten das Kap, das aus der südwestlichen Ecke des australischen Kontinents ragt, in einer Karte verzeichnet, lange bevor die Briten sich 1826 daranmachten, den Westen eilig zu kolonisieren. Seitdem waren zunehmend Siedler aus Albany im Norden und der Swan River Colony im Süden gekommen, um die jungfräulichen Wälder, die sich Hunderte von Kilometern weit erstreckten, für sich zu beanspruchen. Bäume, so hoch wie Kathedralen, wurden mit Handsägen gefällt, um Weideland zu schaffen, und blasse Männer mit Pferdegespannen trieben hartnäckig schmale Straßen Zentimeter um Zentimeter in die Landschaft. Und so wurde dieses Land, in dem noch nie zuvor ein Mensch Raubbau betrieben hatte, gerodet, verbrannt, kartografiert, vermessen und an die verteilt, die ihr Glück auf einem Erdteil versuchen wollten, wo sie entweder Verzweiflung und Tod oder ungeahnte Reichtümer erwarteten.

Die Ortschaft Partageuse hatte sich zusammengefunden, wie der Wind Staubflocken zueinanderweht, und zwar dort, wo sich die beiden Ozeane treffen, weil es hier Süßwasser, einen natürlichen Hafen und fruchtbaren Boden gab. Der Hafen machte Albany zwar keine Konkurrenz, erleichterte den Einheimischen jedoch das Verschiffen von Bauholz, Sandelholz oder Rindfleisch. Kleine Firmen waren entstanden und setzten sich fest wie Flechten an einer Felswand. Und irgendwann gab es auch eine Schule, ein paar Kirchen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Baustile, einige Häuser aus Stein oder Backstein und noch viele mehr, die aus Brettern und Blech bestanden. Mit der Zeit kamen diverse Läden, ein Rathaus und sogar eine Niederlassung der Landwirtschaftsbank Dalgety’s hinzu. Und Pubs. Viele Pubs.

In den Anfangsjahren herrschte in Partageuse die unausgesprochene Überzeugung vor, dass die wirklich wichtigen Dinge sich anderswo ereigneten. Neuigkeiten von der Außenwelt trafen tröpfchenweise ein wie Regenwasser, das aus Baumkronen herabrieselt: ein Gesprächsfetzen hier, ein Gerücht dort. Als 1890 eine Telegrafenleitung installiert wurde, beschleunigte sich die Nachrichtenübermittlung ein wenig, und inzwischen besaßen einige Leute sogar Telefon. 1899 hatte die Stadt Soldaten nach Transvaal geschickt und einige Männer verloren. Doch im Großen und Ganzen war das Leben in Partageuse eher eine Randerscheinung. Hier konnte weder etwas Schlimmes noch etwas Wundervolles geschehen.

Natürlich ging es in anderen Städten im Westen weniger beschaulich zu. In Kalgoorlie, einige hundert Kilometer im Landesinneren, verbargen sich unter dem Wüstenboden unterirdische Goldströme. Dort zogen Männer mit Schubkarren und Goldpfanne umher und fuhren in Automobilen, bezahlt mit einem Nugget so groß wie eine Katze, herum. Dass einige Straßen Namen wie »Croesus« trugen, war nur halb ironisch gemeint. Die ganze Welt wollte, was Kalgoorlie hatte. Das Angebot in Partageuse – Bauholz und Sandelholz – war verglichen damit Kinderkram und nichts, womit man das große Geld machen konnte.

Dann, 1914, änderte sich alles. Denn Partageuse stellte fest, dass es auch hier etwas gab, was die Welt brauchte: Männer. Junge Männer. Männer, die gut in Form waren. Männer, die ihr Leben damit verbracht hatten, eine Axt zu schwingen, einen Pflug zu führen und sich körperlich anzustrengen. Männer, die sich also ausgezeichnet dazu eigneten, auf den taktischen Altären am anderen Ende des Erdballs geopfert zu werden.

1914 drehte sich alles noch um Flaggen und nach neuem Leder riechende Uniformteile. Aber schon ein Jahr später sahen die Dinge allmählich anders aus. Man war plötzlich keine Randerscheinung mehr, denn anstatt ihre geliebten kerngesunden Ehemänner und Söhne zurückzubekommen, erhielten die Frauen Telegramme. Die kleinen Papierstücke fielen entsetzten Angehörigen aus den Händen und wurden vom peitschenden Wind davongeweht. Und in diesen Telegrammen hieß es, dass der Junge, den man gestillt, gebadet und getadelt und der einen oft zum Weinen gebracht hatte … nun, dass es ihn nicht mehr gab. Partageuse fand zwar erst spät Anschluss an die Welt, dafür aber auf eine sehr schmerzliche Weise.

Natürlich kam es öfter vor, dass Menschen ein Kind betrauern mussten. Es hatte noch nie eine Garantie dafür gegeben, dass eine Empfängnis auch zu einer Lebendgeburt führte oder dass diese Geburt ein langes Leben zur Folge haben würde. Die Natur gewährte nur den Starken und vom Glück Gesegneten Anteil an diesem jungen Paradies. Um das zu erkennen, brauchte man nur einen Blick auf die Innenseite des Buchdeckels einer x-beliebigen Familienbibel zu werfen. Auch die Friedhöfe berichteten von Kleinkindern, deren Stimmen nach einem Schlangenbiss, einem Fieber oder einem Sturz aus dem Wagen endlich dem Flehen ihrer Mütter um Ruhe nachgegeben hatten. Die überlebenden Kinder gewöhnten sich daran, bei Tisch ein Gedeck weniger aufzulegen, genauso wie sie klaglos zusammenrutschten, wenn ein neues Geschwisterchen zur Welt kam. Wie man auf Weizenfeldern mehr Körner verstreut, als je Wurzeln schlagen können, schien Gott überzählige Kinder zu verteilen und sie nach einem unerklärlichen göttlichen Kalender dahinzuraffen. Der Friedhof der Stadt erzählte wahre Geschichten, und die Grabsteine dort, von denen sich manche wie lockere, schmutzige Zähne zur Seite neigten, sprachen offen von Leben – zu früh niedergestreckt von der Grippe, Ertrinken, Unfällen beim Holzfällen und sogar Blitzschlägen. Nach 1915 begannen die Grabsteine jedoch zu lügen. Jungen und Männer aus dem Bezirk starben wie die Fliegen, und dennoch schwiegen die Friedhöfe.

Die Wahrheit war, dass die jungen Toten irgendwo in der Fremde im Schlamm lagen. Die Behörden taten ihr Bestes: Wenn die Umstände und die Lage auf dem Schlachtfeld es gestatteten, wurden Gräber ausgehoben. War es möglich, Gliedmaßen zusammenzusetzen und sie einem bestimmten Soldaten zuzuordnen, gab man sich große Mühe und beerdigte den Toten mit einer Art Trauerfeier. Verzeichnisse wurden angelegt. Später machte man Fotos von den Gräbern, und für die Summe von zwei Pfund, einen Shilling und Sixpence konnte die Familie eine offizielle Gedenkplakette kaufen. Noch später schossen dann die Kriegerdenkmäler aus dem Boden, die nicht vom Verlust sprachen, sondern davon, was damit erreicht worden und wie wundervoll es sei, gesiegt zu haben. »Siegreich und tot«, murrten einige, »ist ein erbärmlicher Sieg.«

Ohne Männer war die Stadt so voller Löcher wie ein Schweizer Käse. Und dabei war keiner von ihnen eingezogen worden. Niemand hatte sie gezwungen zu kämpfen.

Doch den grausamsten Scherz erlaubte sich das Schicksal mit denen, die als »Glückspilze« bezeichnet wurden, weil sie überhaupt wieder nach Hause gekommen waren. Nach Hause zu den für die Willkommensfeier herausgeputzten Kindern und dem Hund, der zur Feier des Tages eine Schleife am Halsband trug. Der Hund bemerkte normalerweise als Erster, dass etwas nicht stimmte. Nicht nur, dass dem Mann ein Auge oder ein Bein fehlte, sondern dass er eigentlich nicht anwesend war. Er war, obwohl körperlich präsent, auf dem Schlachtfeld geblieben. Billy Wishart aus Sadler’s Mill zum Beispiel – drei kleine Kinder und eine Ehefrau, wie ein Mann sie sich nur wünschen kann. In einen Gasangriff geraten, und jetzt kann er keinen Löffel mehr halten, ohne dass er wackelt wie ein Häcksler, sodass die Suppe überall herumspritzt. Außerdem zittert er so, dass er mit seinen Knöpfen nicht mehr zurechtkommt. Wenn er nachts mit seiner Frau allein ist, zieht er sich nicht aus, sondern rollt sich nur weinend auf dem Bett zusammen. Oder der junge Sam Dowsett, der die erste Landung in Gallipoli überlebt hat, nur um in Bullecourt beide Arme und die Hälfte seines Gesichts zu verlieren. Seine verwitwete Mutter sitzt die ganze Nacht wach da und fragt sich, wer ihren kleinen Jungen pflegen soll, wenn sie einmal nicht mehr ist. Schließlich wäre kein Mädchen im ganzen Bezirk so dumm, ihn jetzt noch zu nehmen. Löcher in einem Schweizer Käse. Etwas fehlt.

Lange Zeit trugen die Menschen die verdatterten Mienen von Teilnehmern an einem Spiel zur Schau, dessen Regeln plötzlich geändert worden waren. Sie gaben sich große Mühe, Trost in dem Umstand zu finden, dass der Tod ihrer Jungen nicht umsonst, sondern Teil eines gewaltigen Ringens für die richtige Sache gewesen war. Hin und wieder konnten sie das sogar glauben und den zornigen, verzweifelten Schrei hinunterschlucken, der in ihren Kehlen aufsteigen wollte wie Futter aus dem Schnabel eines Muttervogels.

Nach dem Krieg versuchten die Leute, Nachsicht mit den Männern zu haben, die nun ein wenig zu große Freude an einem Glas zu viel oder einer Schlägerei hatten oder keinen Arbeitsplatz länger als ein paar Tage halten konnten. Bald liefen die Geschäfte in der Stadt wieder wie gewohnt. Kelly war immer noch Inhaber des Lebensmittelladens. Die Metzgerei gehörte immer noch dem alten Len Bradshaw, obwohl es Len junior offenbar kaum erwarten konnte, das Geschäft zu übernehmen. Das erkannte man daran, wie er an der Theke seinen Vater unnötig beiseiteschob, wenn er sich vorbeugte, um nach einem Kotelett oder einer Schweinebacke zu greifen. Mrs. Inkpen – die keinen Vornamen zu haben schien, obwohl ihre Schwester sie unter vier Augen Popsy nannte – übernahm die Hufschmiede, als ihr Mann Mack nicht aus Gallipoli zurückkehrte. Sie hatte ein Gesicht so hart wie die Eisen, mit denen ihre Angestellten die Pferdehufe beschlugen, und auch das passende Herz dazu. Sie beschäftigte Hünen von Männern, doch es hieß immer nur: »Ja, Mrs. Inkpen. Nein, Mrs. Inkpen. Drei Säcke voll, Mrs. Inkpen«, obwohl jeder von ihnen sie mühelos mit einem Finger hätte hochheben können.

Die Leute wussten, wer anschreiben lassen durfte und wer sofort bezahlen musste. Sie wussten, wem man glauben konnte, wenn er Ware zurückbrachte und sein Geld wiederhaben wollte. Mouchemore’s Kurzwaren und Stoffe machte die besten Geschäfte an Weihnachten und Ostern, obwohl sich kurz vor dem Winter das Strickgarn glänzend verkaufte. Auch unaussprechliche Dinge für die Dame gingen gut. Larry Mouchemore tätschelte seinen spitzen Schnurrbart, wenn er Menschen verbesserte, die seinen Namen falsch aussprachen – »wie move, nicht wie mouse« – und beobachtete zornig und empört, wie Mrs. Turkle sich anschickte, gleich nebenan ein Pelzgeschäft zu eröffnen. Pelze? In Point Partageuse? So ein hanebüchener Unsinn! Als der Laden ein halbes Jahr später schloss, lächelte er nachsichtig, erbot sich, als »Akt der Nachbarschaftshilfe«, den restlichen Warenbestand aufzukaufen, und veräußerte ihn mit großem Gewinn an den Kapitän eines Dampfers mit Ziel Kanada, wo solche Dinge angeblich sehr gefragt waren.

Und so traf man 1920 in Partageuse die gleiche Mischung aus verhaltenem Stolz und auf dem harten Weg erworbener Erfahrung an wie in jeder anderen westaustralischen Stadt. In der Mitte des taschentuchgroßen Rasenstücks an der Main Street stand der nagelneue Obelisk aus Granit mit den Namen der Männer und Jungen, einige von ihnen kaum sechzehn Jahre alt, die nicht zurückkommen würden, um die Felder zu bestellen, die Bäume zu fällen oder ihren Schulabschluss zu machen, auch wenn manche in der Stadt weiter mit angehaltenem Atem auf ihre Rückkehr warteten. Allmählich verwoben sich die Leben der Einwohner wieder zu einem praktischen Stoff, in dem jeder Faden den anderen immer wieder durch Schule, Beruf und Hochzeit kreuzte und Verbindungen knüpfte, die für Außenstehende nicht zu erkennen waren.

Und Janus Rock, das nur viermal im Jahr von einem Schiff angefahren wurde, das den Proviant lieferte, hing am Rande dieses Stoffstücks wie ein loser Knopf, der jeden Moment in die Antarktis stürzen konnte.

Der lange, schmale Landungssteg in Point Partageuse bestand aus dem gleichen Dscharraholz, das auch klappernd darauf per Schienenbahnwaggon zu den Schiffen befördert wurde. Die breite Bucht, über der die Stadt gewachsen war, war klar und türkisblau. An dem Tag, als Toms Schiff anlegte, schimmerte sie wie poliertes Glas.

Männer hasteten hin und her, luden und beluden Schiffe und wuchteten, begleitet von einem gelegentlichen Ausruf oder Pfiff, schwere Frachtstücke. Am Ufer setzte sich das geschäftige Treiben fort, und die Menschen steuerten mit entschlossener Miene mit Pferd und Kutsche oder zu Fuß ihrem Ziel entgegen.

Die einzige Ausnahme von dieser zur Schau gestellten Tüchtigkeit war eine junge Frau, die einen Möwenschwarm mit Brot fütterte. Lachend warf sie jede Kruste in eine andere Richtung und sah zu, wie sich die Vögel kreischend um die Beute zankten. Eine Möwe fing einen Bissen im Flug auf, schluckte ihn hinunter und stürzte sich schon auf den nächsten, worauf das Mädchen wieder zu lachen begann.

Tom schien es, als seien Jahre vergangen, seit er zuletzt ein Lachen gehört hatte, das weder derb noch verbittert war. Es war ein sonniger Winternachmittag; im Moment wurde er weder irgendwo erwartet noch hatte er etwas zu tun. In einigen Tagen würde man ihn nach Janus bringen, nachdem er mit den richtigen Leuten gesprochen und die nötigen Formulare unterschrieben hatte. Doch im Moment mussten keine Protokollbücher geführt, keine Prismen poliert und keine Tanks nachgefüllt werden. Und hier war jemand, der einfach nur Spaß hatte, für Tom plötzlich der Beweis, dass der Krieg wirklich vorbei war. Er setzte sich auf eine Bank unweit des Bootsstegs, ließ sich von der Sonne das Gesicht liebkosen und beobachtete das Mädchen beim Herumalbern. Die dunklen Locken wehten wie ein in den Wind geworfenes Netz. Er folgte ihren zarten Fingern, die sich vom Blau abhoben. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass sie hübsch war. Und es dauerte noch eine Zeit lang, bis ihm klar war, dass er vermutlich eine Schönheit vor sich hatte.

»Warum lächeln Sie?«, rief das Mädchen zu Toms Überraschung.

»Verzeihung.« Er spürte, wie er errötete.

»Fürs Lächeln braucht man sich nicht zu entschuldigen«, erwiderte sie in einem leicht traurigen Tonfall. Im nächsten Moment erhellte sich ihre Miene. »Sie sind nicht aus Partageuse.«

»Nein.«

»Ich habe schon immer hier gewohnt. Möchten Sie etwas Brot?«

»Danke, aber ich habe keinen Hunger.«

»Nicht für Sie, Dummerchen! Um die Möwen zu füttern.«

Mit ausgestreckter Hand hielt sie ihm eine Brotkruste hin. Vor einem Jahr, vielleicht sogar noch gestern, hätte Tom abgelehnt und wäre gegangen. Doch plötzlich sorgten die Wärme, die Freiheit, das Lächeln und noch etwas, das er nicht beim Namen nennen konnte, dafür, dass er annahm.

»Wetten, dass ich mehr Möwen anlocken kann als Sie«, sagte sie.

»Die Wette gilt!«, entgegnete Tom.

»Los!«, rief sie, und sie fingen an, die Stücke hoch in die Luft oder in trickreichen Winkeln zu werfen, und duckten sich, als die Möwen kreischend in den Sturzflug gingen und wütend mit den Flügeln nacheinander schlugen.

Schließlich war das Brot aufgebraucht.

»Wer hat gewonnen?«, fragte Tom und lachte.

»Oh, ich habe vergessen mitzuzählen.« Das Mädchen zuckte die Achseln. »Sagen wir, es ist unentschieden.«

»Einverstanden«, antwortete er, setzte den Hut wieder auf und griff nach seiner Tasche. »Dann gehe ich mal besser. Vielen Dank, das war lustig.«

Sie lächelte. »Es war nur ein albernes Spiel.«

»Nun«, meinte er, »danke, dass Sie mich daran erinnert haben, welchen Spaß alberne Spiele machen.« Er hängte sich die Tasche über die breite Schulter und wandte sich in Richtung Stadt. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag, Miss«, fügte er hinzu.

Tom läutete an der Tür der Pension in der Main Street. Sie war das Reich von Mrs. Mewett, einer Frau von gut sechzig Jahren und rund wie ein Pfefferstreuer. Sie nahm ihn sofort ins Gebet. »In Ihrem Brief stand, dass Sie Junggeselle sind und aus den östlichen Staaten stammen. Also wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich merken würden, dass Sie jetzt in Partageuse sind. Das hier ist ein christliches Haus, weshalb der Konsum von Alkohol und Tabak nicht geduldet wird.«

Tom wollte ihr schon für den Schlüssel in ihrer Hand danken, doch sie umklammerte ihn entschlossen, während sie fortfuhr. »Ihre ausländischen Angewohnheiten sind hier nicht erwünscht. Ich wechsle bei Ihrer Abreise die Laken, und ich beabsichtige nicht, sie schrubben zu müssen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Um zehn wird abgeschlossen, Frühstück gibt es um sechs, und wenn Sie nicht da sind, müssen Sie eben hungern. Das Abendessen wird um halb sechs serviert, es gelten dieselben Regeln. Zu Mittag essen müssen Sie anderswo.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Mrs. Mewett«, erwiderte Tom und entschied sich gegen ein Lächeln, nur für den Fall, dass er damit gegen irgendeine andere Vorschrift verstoßen sollte.

»Heißes Wasser kostet einen Shilling die Woche extra. Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie welches wollen. Meiner Ansicht nach hat kaltes Wasser einem Mann in Ihrem Alter noch nie geschadet.« Sie drückte ihm den Schlüssel in die Hand. Als sie den Flur entlang davonhinkte, fragte sich Tom, ob ihre Sympathien für die Männerwelt wohl einem Mr. Mewett zu verdanken waren.