Anonyma
Plötzlich ein Sorgenkind
Aus dem Leben
einer aufmerksamkeits-
gestörten Familie
Deutsche Verlags-Anstalt
Anonyma
Plötzlich ein Sorgenkind
Aus dem Leben
einer aufmerksamkeits-
gestörten Familie
Deutsche Verlags-Anstalt
Copyright-Hinweise
Zitat aus Vincent will Meer: Olga Film GmbH
Zitat aus Shari L. Thurer, Mythos Mutterschaft, © für die deutsche Fassung
1995 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Zitat aus »Nur noch kurz die Welt retten« von Tim Bendzko: Freibank Musikverlags- und -vermarktungs GmbH
Zitat aus »Einfach klein sein« von Deine Freunde: Universal Music Publishing Group
1. Auflage
Copyright © 2013 Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Regina Carstensen, München
Typografie und Satz: DVA/Brigitte Müller
Gesetzt aus der Meridien
ISBN 978-3-641-09275-7
www.dva.de
Für meine beiden Kinder, die mein Leben so wunderschön machen. Auch wenn es sich im Folgenden nicht immer so anhört …
Für meinen Mann, der mich gerettet hat und für den noch so viel Liebe übrig ist. Auch wenn es sich im Folgenden nicht immer so anhört …
Inhalt
1
Eltern, die aus Wolken fallen
Ohnmacht, die erste
Bildungskatastrophe ganz privat
2
Kleine Schulschwänzer, faule Hirnforscher
und die Frage: Was ist los mit ihr?
Unser Wake-up-Call
Der Diagnosemarathon
Im Reich der Synapsen
Die begabte Träumerin oder Konferenzen im Kopf
Mit Multiple Choice zur Aufmerksamkeitsstörung
3
Ergokuchen, fliegende Elefanten,
Ritalin und die Frage:
Wer oder was kann helfen?
Schussel, Hypie und Panix, unsere neuen Freunde
Neurologen gegen Psychologen und in der Mitte ein Kind
Work-Streit-Balance
Pappmaché-Gemetzel und hyperaktive Mitstreiter
4
Frühe Unfälle und andere
Verwarnungen
Mein Freund, der Hirnforscher
Hagelschauer und Fledermausohren
Fremdbetreutes Gewissen
Tränentagebuch
Mütter-Bashing und Schlüsselkinder
Krippen-Burnout und brennende Haare
5
Aufmerksamkeitsgestörte Eltern –
eine Selbstdiagnose
Baby an Bord, Mutter auf Stand-by
Das resettet sich. Nicht. Der ganze normale Alltagswahnsinn
Versagereltern in hellblauer Dämmerung
Bewusste Erziehung und andere Gefühllosigkeiten
Beziehungsstörungen und weitere Unaufmerksamkeiten
Mütterliche Handicaps
Elternzeit ist Reisezeit ist Strapaze
Sind wir wirklich da, wo wir gerade sind?
6
Grundschule meets Turbo-Abi
Scheißtage mit Happy End
Selbst organisiert im Chaos versinken
Kleine Reportage aus dem PISA-Versuchslabor
Aufgabenbuffets und weitere Materialschlachten
Fördergruppe versus Fördermuttis
Der Stempel auf der Stirn
Lenjas Underdog-Stolz
Engagierte Täter-Mütter und ein Mädchen, das sich selbst hilft
Jungs sind so: hyperaktive Genies gegen nervige Traumsusen
Brief an einen Jungsförderer
7
Katastrophenalltag und Kicheralarm
Anfang vom Ende her
Gestreute Turnbeutel, Teil I
Gestreute Turnbeutel, Teil II
Wie die Mutter, so das Kind
Hirnstörung oder Kulturstörung?
Die Unruhe und mein Kind
Lenja holt sich Verstärkung
Fehldiagnose: das ungeschickte Kind
Der Anschiss und die Sache mit der Lebensfreude
Fast ein Jahr später
Neurologische Vielfalt
Chill dein Leben
Literatur
1
Eltern, die aus Wolken fallen
Deine Kinder sind nicht Deine Kinder …
Du kannst ihrem Körper ein Heim geben,
aber nicht ihrer Seele, denn ihre Seele
wohnt im Haus von morgen, das Du
nicht besuchen kannst, nicht einmal
in Deinen Träumen.
Khalil Gibran, Der Prophet
Ohnmacht, die erste
Es gibt schlimme und schreckliche Momente im Leben. Die schrecklichen Momente erkennt man daran, dass sie trotzdem für eine Anekdote gut sind – eine Situation, die außer Kontrolle gerät, implodiert und sich dann nach kurzer Zeit wieder beruhigt. Ich habe ein Bild vor Augen, wie sich der Fahrradanhänger mit meiner Tochter bei voller Fahrt überschlägt. Zunächst regt sich nichts, für ein paar Sekunden bin ich überzeugt, dass sie sich das Genick gebrochen haben muss, und mein Herz bleibt stehen. Im nächsten Augenblick krabbelt sie lachend aus dem zerbeulten Gefährt mit der Klingel in der Hand. Lenja war damals vielleicht zwei Jahre alt, ein abenteuerlustiges Kind. Seinerzeit dachte ich noch, es sei das Schwerste, meine Tochter unversehrt durch die Kleinkindjahre zu manövrieren, ab der Grundschule läuft dann alles geradeaus. Das war zumindest meine Vorstellung, an der ich unbedingt festhalten wollte.
Vielleicht habe ich deshalb so lange gebraucht, um Lenjas wirkliche Not zu begreifen. Das war an einem Frühsommertag, in einem der schlimmsten Momente meines Lebens. In einem schlimmen Moment gerät ebenfalls etwas aus den Fugen und implodiert, aber im Gegensatz zu den schrecklichen Augenblicken pendelt sich die Situation nie wieder ganz ein, die Schrecksekunde dehnt sich aus zu einer hartnäckigen Angst, die bleibt.
An diesem Tag kommt meine Tochter spät von der Schule nach Hause, für einen Weg von zehn Minuten benötigt sie mehr als eine halbe Stunde. Kein gutes Zeichen. Sie trödelt selten, wählt immer den schnellsten Weg, weil sie in der Schule oft nichts isst und einen Bärenhunger mitbringt. Aber vielleicht hat sie sich, so mein Gedanke, vor den Jungen aus ihrer Klasse versteckt, die manchmal vor den Schultoren auf sie warten, um mit ihrer Tasche Fußball zu spielen. So wie es schon häufiger passiert sein musste, ohne dass Lenja darüber sprechen wollte, aber der Zustand ihrer Tasche ließ keinen anderen Schluss zu. Sie konnte uns auch nicht erklären, warum ihre Klassenkameraden ausgerechnet ihre Schultasche im Visier haben. In den vergangenen Monaten war es immer schwerer geworden, an sie heranzukommen, wenn sie zur Tür hereinschlappte, still und blass.
Ich habe mir den Nachmittag freigehalten, um mit ihr etwas zu unternehmen. Endlich klingelt es an der Tür, und ich begrüße sie an der Schwelle mit einer Umarmung. Das heißt, ich versuche sie zu umarmen, während sie in ihrem Schlurfschritt kurz innehält, mit leerem Blick, die Schultern hochgezogen. Wortlos geht sie an mir vorbei, die Schultasche gleitet von der Schulter und knallt aufs Parkett. Ich schaue ihr nach, wie sie ihr Zimmer ansteuert und sich dort aufs Bett fallen lässt.
»Möchtest du dich erst mal ausruhen, bevor wir starten?« Es ist eher eine Feststellung als eine Frage, denn sie liegt auf der Matratze wie ein angeschossenes Tier, die Augen auf die gegenüberliegende Wand gerichtet.
Sie antwortet auf keine meiner hilflosen Fragen, schaut mich auch nicht an. Nach einer kleinen Ewigkeit, in der ich tatenlos und gedrückt neben ihr sitze, flüstert sie: »Mein Leben ist scheiße. Ich will nicht mehr leben.«
Wie viel Zeit vergeht, bis diese zwei Sätze meinen Verstand erreichen, weiß ich nicht mehr. Nur noch, dass ich lange mit geöffnetem Mund den Kopf schüttele und mich vergebens anstrenge, einen Gedanken zu formulieren. Aber das Einzige, was mir einfällt, ist, dass diese zwei Sätze nicht zu einem sechsjährigen Kind passen. Ich bekomme beides nicht zusammen, die Worte und das Mädchen im blau-roten Kleid, Größe 128, das sich vor neun Monaten eine Schultasche mit aufgedruckten Meerjungfrauen ausgesucht hat, voller Vorfreude auf die Einschulung. Mir wird übel, eine körperliche Ahnung von Unglück. Ich muss mich verhört haben.
»Was hast du gesagt?«
Sie wiederholt beide Sätze, tonlos, dreht sich um und weint fast geräuschlos. Ihr kleiner Körper bebt, ihre Hände hat sie an die Schläfen gepresst, als wollte sie den Kopf gleichzeitig ruhig halten. Vor mir liegt meine Tochter, der ich alles Glück der Erde wünsche. Sie ist so verzweifelt und einsam, wie kein Kind es jemals sein sollte, und mir fällt nichts Besseres ein, als hohle Formeln zu stottern, ohne einen Satz zu beenden. »Es scheint nur so … Das Leben ist manchmal … Schule ist doch auch nur …« Vielleicht hätte ich mich einfach danebenlegen, sie umarmen sollen. Hätte, wäre, wenn …
Seit diesem Tag verfolgen mich unzählige Grübeleien und Sätze in der Möglichkeitsform wie ein Fluch. Im Laufe der Zeit habe ich Hunderte Szenen aus dem Gedächtnis hochgezerrt, auf der Suche nach der einen Schlüsselszene oder Fehlentscheidung, die zu diesem Moment im Frühsommer führte und den vielen durchheulten und aussichtslosen Tagen danach. Aber eine solch entscheidende Szene, einen solchen Wendepunkt gibt es nur in Drehbüchern, und die Suche danach dient eher der Selbstbestrafung als irgendeiner Erkenntnis.
Wie auch immer – damals habe ich mich also nicht neben Lenja gelegt, wie es richtig gewesen wäre. Ich habe sogar den Raum verlassen, aus Angst, dass sie sich umdrehen und meine hilflose Miene sehen könnte. Aber vor allem, weil ich mich schäbig und ohnmächtig fühlte. Bis heute schäme ich mich für meinen Impuls, in diesem Augenblick die Flucht ergriffen zu haben. Und dafür, dass ich wer weiß wie lange im Flur stand, den Rücken an die Wand gepresst, und panisch gelauscht habe, während meine Tochter weinte, weinte, weinte … und irgendwann einschlief. Ich hatte Lenja noch nie mit Kummer oder Tränen allein gelassen und war schockiert über meine eigene Hilflosigkeit. In derselben Nacht habe ich kein Auge zugetan. Heute kann ich mir meine Reaktion nur als eine Art Totstellen erklären. Wie in einer lebensbedrohlichen Situation, nur dass es hier die Seele betraf.
Ich habe nie herausgefunden, was genau an diesem Tag passiert war. Aber ich weiß, dass es einer zu viel war von den endlosen, jämmerlichen Tagen, an denen meine Tochter die Welt nicht mehr verstand und dafür auch noch einstecken musste. Manchmal nicht nur psychisch.
Am Abend saß ich – als Nichtraucherin – rauchend auf dem Balkon, mein Mann war auf Dienstreise. Am Telefon versuchte ich ihm zu erklären, dass etwas Schlimmes passiert war. Etwas Einschneidendes, obwohl es keinen Unfall gab, niemand gestorben war und beide Kinder schliefen, Lenja und Mia, ihre jüngere Schwester. Dass wir unser Leben irgendwie ändern, zumindest ein paar grundlegende Dinge infrage stellen müssten. Eine Einschätzung, die Michael nicht teilen wollte – bloß nicht gleich überreagieren, versuchte er mich zu beruhigen. Es würde »von selbst« besser werden. Wurde es aber nicht.
Bildungskatastrophe ganz privat
Lenja ist ein sehr intelligentes, schöpferisches und lustiges Mädchen, das mit fünf Jahren eingeschult wurde, weil sie sich in der Kita langweilte. Beim Vorstellungstest war die Schulleitung begeistert gewesen – von ihrem Scharfsinn und ihrer Wortgewandtheit. Danach dauerte es nur ein paar Monate, bis sie das erste Mal mit ihrem neuen Leitspruch nach Hause kam: »Ich hasse die Schule.« Einige Zeit später erzählte eine ihrer Lehrerinnen meinem Mann und mir mit einem bedauernden Lächeln, dass Lenja sich oft freiwillig zum Aufräumen melden würde, um auch mal ein Lob zu bekommen. Die Lehrerin betonte, dass man in der ersten Klasse bewusst auf jede Benotung verzichte, sagte aber: »Trotzdem sollten Sie wissen, dass Lenjas Leistungen im Schnitt bei einer Fünf, bei den Schreibübungen oder bei der Mitarbeit manchmal sogar darunter liegen.«
Lenjas Selbstachtung hatte zu diesem Zeitpunkt schon längst einen Tiefpunkt erreicht. Sodass sie, wie wir später erfuhren, die Mobbingattacken eines Klassenkameraden als angemessene Reaktion auf ihre »Blödheit« verbuchte. Jede falsche Antwort von ihr kommentierte er mit dem Zuruf »Lenja – heute ganz ohne Hirn!«, und nach einer Weile stimmten ein paar Mitschüler regelmäßig mit ein. Zu Hause weinte sie immer öfter, häufig beim geringsten Anlass, oder steigerte sich in Wutanfälle, die nur durch Erschöpfung gestoppt wurden. Nachts machte sie ins Bett, wachte von Albträumen auf.
Bestimmt lag es Lenjas Lehrerinnen fern, ihr zu schaden, dennoch waren die ersten Schuljahre für unsere Tochter offenbar eine einzige Beschämung. Ihre erste Erfahrung in der Welt, in der sie allein bestehen sollte, war die des Scheiterns. Daraus zog sie schon nach einem halben Jahr ihre eigenen Schlüsse: »Das Leben ist scheiße.«
Die kläglichen Versuche von Michael und mir, mit dieser Situation umzugehen, kann ich rückblickend nur in Stichworten erklären: Schockstarre, Verdrängung und Aktionismus. Mit all unserer Rat- und Hilflosigkeit haben wir Lenja wohl weiter verunsichert. Gleichzeitig spürte ich bei jedem Gespräch mit anderen, bei jedem Versuch, diese Abwärtsspirale irgendwie aufzuhalten, eine gewisse Ungeduld bis hin zu Unverständnis beim Gegenüber. Immer stand die Frage im Raum: Wenn Michael und ich es nicht schaffen, unser Kind auf den Weg zu bringen, wer dann? Als bildungsnahe Eltern aus der Mittelschicht sollten wir doch wohl mit unseren diversen Kompetenzen, unserem Einkommen und unseren Kontakten dafür sorgen können, dass unsere Tochter eine Chance bekommt, die ihren Potenzialen entspricht.
Falls sie welche hat – und das war der schlimmste aller versteckten oder unausgesprochenen Vorwürfe, die uns im Laufe der Jahre zugetragen wurden: dass es möglicherweise nichts als gekränkte Eitelkeit sei, die uns glauben lässt, unser Kind könne irgendwann Abitur machen – nur weil es für uns kein Problem war. Dass wir sie mit unserem Ehrgeiz quälen. Statt verdammt noch mal zu akzeptieren, dass sich die vielversprechenden Gene in diesem Fall eben nicht weitervererbt haben. Pech gehabt. Das passiert in den besten Familien. So unverblümt sagt das niemand, aber durch die Blume klingt es kaum besser: »Wenn eines von euren beiden Kindern später studiert, dann ist das doch schon ein Erfolg.« Oder: »Ein guter Realschulabschluss ist auch was wert.« Oder wir bekamen hinter vorgehaltener Hand einen Tipp für dieses und jenes Internat, gern im Ausland, das dafür bekannt ist, die »schweren Fälle irgendwie durchs Abi zu schleifen«. Kostet natürlich ’ne Kleinigkeit, aber daran soll es ja nicht scheitern …
Gerade unter Akademikerfamilien ist die Häme besonders groß, wenn das Kind der anderen versagt. So groß wie die heimliche Angst vor dem eigenen Versagen. Oder wie die Angst davor, den errungenen Platz in der Gesellschaft zu verlieren – weil das eigene Kind es nicht schafft. Das Einzige, was gegen diese diffuse Unsicherheit hilft, ist der ständige Abgleich mit anderen Familien. Auch wenn vordergründig Mitgefühl waltet – so manche einfühlsame Frage anderer Eltern oder aus dem Bekanntenkreis hat vor allem den Zweck, dem Fragenden zu bestätigen, dass er oder sie, im Gegensatz zu uns, alles richtig gemacht hat.
Wer als privilegiert angesehen wird, muss mindestens eine schwere Krankheit oder eine Privatinsolvenz vorweisen, damit ihm ein echtes Problem zugestanden wird. Allein schon aus Anstand gegenüber den Verhältnissen in sozial schwachen Familien hat man angesichts der eigenen kleinen Verzweiflung Haltung zu bewahren. In gut situierten Familien gilt Schulversagen als eine vorübergehende Herausforderung, die man bei der Hochzeitsfeier der Tochter in einer Anekdote über die störrischen Anfänge verpackt. Eltern wie wir – von uns wird erwartet, dass wir so ein Problem en passant und ohne viel Aufhebens regeln. Wie bei einem Burnout oder wenn ein Elternteil zum Pflegefall wird. Schließlich können wir auch unsere Haushaltshilfe, die Kinderbetreuung oder das (polnische) Pflegepersonal selbst organisieren und zahlen.
Aber gerade deshalb funktioniert dieses Modell nur auf Kosten der eigenen Familie, nur um den Preis, dass gemeinsame Zeit und die schönen Momente viel zu kurz kommen. Und es ist extrem störanfällig. Fällt ein Steinchen um – die Kinderfrau wird krank, die Beziehung bröckelt, ein Einkommen bricht weg –, reißt es alles andere mit.
Um ein paar weitere Eckpunkte zu nennen: Wir sind ein Akademiker-Doppelverdienerhaushalt mit vielen Bücherregalen und einem Klavier. Für die neue Familienpolitik könnten wir als »role model« herhalten: Nach der Elternzeit haben mein Mann Michael und ich wieder gearbeitet, beide Kinder werden seit ihrem ersten Lebensjahr »fremd betreut« und sind darüber hinaus Mitglied in Sport- und Musikvereinen. Wir haben zwei Karrieren, zwei Kinder und eine langwierige Altbausanierung gewuppt, engagieren uns in Ehrenämtern und haben den Anspruch, ab und zu Sport zu treiben. Das heißt: Jahrelang haben wir am äußersten Rand balanciert. Das gilt heute als normal. Eigentlich ist es irre …
Unseren Turbo-Lebensstil haben wir nie grundsätzlich bezweifelt, weil unsere eigene Erziehung und Ausbildung bis zur Familiengründung genau auf dieses – fragwürdige – Ziel hinauslief. Inzwischen stellen wir alles infrage: den täglichen Schweinsgalopp, das »double income«, das Leben im Takt des Outlook-Kalenders und das Geld, das vor allem dafür draufgeht, Lücken zu füllen, die durch fehlende Zeit entstehen. Zeit, die uns unter anderem zur Beobachtung fehlte: dasitzen und dem Kind zuschauen, zuhören, ohne ein Angebot, einen »sinnvollen« Vorschlag zu machen oder zu irgendeinem Kurs zu rennen – vielleicht hätten wir etwas bemerken, irgendwelche Signale, irgendeinen Hinweis darauf richtig deuten müssen, dass unsere Tochter in der Schule versagen könnte. Oder dass die Schule an ihr versagt? Aber das gehört schon zu den ketzerischen Gedanken, die uns reflexhaft zurückgespielt werden: »Wenn das behütete Kind abschmiert, wird gleich das ganze System infrage gestellt, damit man sich nicht der eigenen Verantwortung stellen muss.«
Als ich heulend vor einem Professor saß, der unserer Tochter alle möglichen Handicaps bescheinigte (ohne sie ein einziges Mal gesehen zu haben), wurde mir erklärt, dass es nicht folgenlos bleibt, wenn man die eigenen Ambitionen auf Kosten des Kindes verwirklicht: »Ist es denn wirklich nötig, dass das Kind nachmittags in einen Hort geht? Sie könnten doch auch weniger arbeiten …« Als hätte es darüber nicht schon lange Gefechte mit meinem Mann gegeben, bis zu dem Gedanken an Trennung. Dann würde wenigstens an dieser einen Front Ruhe einkehren.
Lenja ist keine statistische Größe in der jährlichen PISA-Studie, denn da werden Kinder, die schlau sind, aber trotzdem scheitern, nicht erfasst. Lenja hat qua Geschlecht auch keinen Anteil an der »Jungenkatastrophe«, wonach männliche Schüler durch die Übermacht weiblicher Grundschullehrerinnen benachteiligt werden. Und sie gehört nicht zu dem »Sockel der Abgehängten«, die es nicht schaffen, weil ihre bildungsfernen Eltern keine Bücher besitzen.
Unsere Tochter fällt durch jedes Raster. Insgeheim warten wir immer noch auf den Anruf einer Person, die uns versichert, dass alles wieder gut wird, dass wir ab jetzt jeden Rat und Beistand bekommen, den wir brauchen. Jemanden, der uns erklärt, wie es so weit kommen kann. Dass ein Kind in der Schule so unglücklich ist und lieber ganz aufs Leben verzichtet, als weiter dort hinzugehen. Aber dieser Anruf wird nie kommen. Wer sollte dafür auch zuständig sein? Niemand außer uns wird alles daransetzen, damit unsere Tochter irgendwann ihren Weg an die Universität findet. Wenn sie will. Aber wie weit wird sie kommen, wenn ihr schon in der Grundschule vermittelt wird, dass sie weder die »Kompetenz« noch das »Potenzial« hat, um mitzuhalten? Anders ausgedrückt: wenn sie am Ende von vier Jahren selbst glaubt, sie sei zu blöd für die Schule?
Die Reaktionen von Pädagogen, Psychiatern oder anderen Eltern erschöpfen sich meist in einem verlegenen Schulterzucken. Dabei halte ich das Scheitern von Lenja für einen Skandal und für ein Versagen der Schule. Lenja funktioniert nicht im Sinne des Lehrplans. Ihr Wesen verlangt Zeit, Geduld und viel Aufmerksamkeit. Sehr viel weniger als ein impulsiver Rabauke, der auf Schultische springt, aber sicherlich mehr als eine der lernfreudigen Einserkandidatinnen, die stets alle Zusatzaufgaben schaffen. Nach einem absurden Testmarathon und vielen falschen Beurteilungen bleibt nur eine Diagnose, die alles erklären würde: Lenja könnte an einem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom leiden, kurz ADS. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Bis dahin hatte ich immer von ADHS gelesen, also mit einem zusätzlichen H im Kürzel für »hyperaktiv«. ADHS-Kinder kannte ich vor allem als rastlose Jungen, die permanent auf Hochtouren laufen, sich an keine Regel halten und jede Gruppe sprengen. Und denen alle Eltern schon im Bekanntenkreis, in der Kita oder in der Schulklasse des eigenen Kindes begegnet waren. Dass es ebenso die umgekehrte Variante derselben Störung gab, war für mich neu. Während die Hyperaktiven mit ihrem Temperament alles über den Haufen rennen, schalten die geistesabwesenden ADSler eher auf Rückzug, wenn es zu laut wird – das klang tatsächlich nach Lenja. Beide leiden jedoch an einer »neurobiologischen Besonderheit in den Informations-Verarbeitungsprozessen ihres Gehirns«, wie es in dem Klassiker zum Thema, dem A. D. S.-Buch, heißt.
Hinzu kommen bei Lenja eine Rechtschreibschwäche und ein unterdurchschnittliches Arbeitstempo, wofür aber auch ihre fehlende Konzentration verantwortlich sein könnte. Über all diesen Testergebnissen schwebt ein Intelligenzquotient von 138, das einzige unverrückbare Ergebnis aus allen Untersuchungen. Aber der hohe IQ birgt ebenso ein Problem, wie uns eine Beraterin der Schulbehörde irgendwann erklärte, denn durch die Diskrepanz von Intellekt und schlechten Noten entwickelt Lenja ein negatives Selbstbild, das auf die Leistungen drückt. Noch Fragen? Wir haben sie, Hunderte. Aber bis heute haben wir keine eindeutigen Antworten bekommen.
Für Experten wäre unsere Tochter sicher ein Streitfall, vorausgesetzt, jemand würde sich ihrem Fall widmen. Fest steht nur, dass die ersten Grundschuljahre das Problem erheblich verstärkt haben. Genau genommen hat Lenja nie an etwas gelitten, sie leidet erst seit ihrer Einschulung. Bis zu ihrem fünften Lebensjahr war sie ein unbekümmertes und mutiges Mädchen, eine kreative Bummlerin mit einem sonnigen Gemüt. Was auch immer sich hinter einer Aufmerksamkeitsstörung verbirgt, für uns ist sie bisher die einzige schlüssige Erklärung für ein Leiden, das sie traurig macht – und manchmal verzweifeln lässt. Für uns Eltern ist diese Diagnose ein Strohhalm zum Festhalten. Eine Aufmerksamkeitsstörung ist zumindest ein Begriff, mit dem die meisten irgendetwas assoziieren. Wir müssen keine langen Erklärungen abgeben, wenn jemand wissen will, was mit Lenja los ist, warum sie in der Schule nicht mitkommt. Trotzdem sind wir bis heute nicht sicher, ob uns die Diagnose ADS wirklich entlastet oder weiter verunsichert, denn in Deutschland gibt es für Kinder mit Lenjas Handicap weder Notenschutz noch eine spezielle Förderung innerhalb der Schule. Obwohl die Zahl der betroffenen Kinder auf eine Million geschätzt wird.
Im Grunde haben wir Lenja aus Ratlosigkeit testen lassen. Aus heutiger Sicht war das ein großer Fehler, denn am Ende stellte sie sich selbst die Diagnose, dass sie wohl krank im Kopf sei.
Ich glaube nicht, dass wir die einzigen Eltern sind, die nah dran waren, den Glauben an das eigene Kind zu verlieren. Auf diese Weise hätte Lenja dann ihre einzigen Anwälte verloren. Auch deswegen habe ich dieses Buch geschrieben – damit es nicht wieder so weit kommt. Um wieder meine wunderbare Lenja zu sehen. Und nicht nur das Sorgenkind. Aber noch stecken wir mittendrin in dieser Odyssee. Bis jetzt kann ich nur sagen, dass stimmt, was Psychologen behaupten: Die Liebe wächst mit der Gefahr.
Aber der Reihe nach. Erst einmal Lenjas Geschichte. Und nebenbei die einer aufmerksamkeitsgestörten Familie …