Peter Mayle
Der Coup von Marseille
Roman
Aus dem Englischen
von Ursula Bischoff
Karl Blessing Verlag
Peter Mayle
Der Coup von Marseille
Roman
Aus dem Englischen
von Ursula Bischoff
Karl Blessing Verlag
Dem Gedenken an Allen Chevalier gewidmet,
einem guten Freund, der einen wunderbaren Wein machte.
1. Kapitel
Der Schock hat stets eine ebenso eisige wie ernüchternde Wirkung, vor allem, wenn er in Form einer unverhofften Begegnung mit einem Mann erfolgt, den man unlängst um Wein im Wert von drei Millionen Dollar erleichtert hat. Sam Levitt zog fröstelnd den Frotteebademantel enger um seinen Körper, der vom frühmorgendlichen Bad im Pool des Hotels Chateau Marmont noch klamm war.
»Hier, trinken Sie das.« Der Mann auf der anderen Seite des Tisches – lächelnd, braun gebrannt und makellos gekleidet – schob Sam eine Tasse Kaffee zu. »Zum Aufwärmen. Danach würde ich mich gerne mit Ihnen unterhalten.« Er lehnte sich zurück und sah zu, wie die erste heiß ersehnte Tasse des Tages geleert wurde und eine weitere Dosis des belebenden Gebräus folgte, während Sams Gehirn auf Hochtouren arbeitete.
Der Name des edlen Spenders lautete Francis »Sissou« Reboul. Das letzte Mal waren er und Sam sich in Marseille begegnet, bei einem Glas Champagner im Palais du Pharo, Rebouls hochherrschaftlichem Anwesen, das auf einer Felsenklippe thronte und eine Aussicht auf das Mittelmeer bot, die eines Milliardärs würdig war. Sam hatte im Auftrag einer internationalen Versicherungsgesellschaft nach einigen Hundert Flaschen erlesenem Bordeaux-Wein gefahndet, die aus der Villa von Danny Roth bei Los Angeles gestohlen worden waren, einem Rechtsanwalt mit einer Klientel aus dem Showbiz und einer Schwäche für edle Tropfen. Die abenteuerliche Jagd hatte Sam Levitt von der amerikanischen Westküste nach Paris, Bordeaux und Marseille geführt, wo er die kostbaren Flaschen in Rebouls geräumigem Weinkeller entdeckte. Und da er ein Mann war, der unverzügliches Handeln langen und ermüdenden Verhandlungen mit den Behörden vorzog, hatte er sie umgehend zurückerbeutet. Damit war der Fall erledigt – hatte Sam zumindest gedacht. Eine saubere Sache, bei der mit Beschwerden seitens des Opfers wohl kaum zu rechnen war. Doch das Opfer war wider Erwarten aus der Versenkung aufgetaucht, saß nun höchstselbst im Garten des Chateau Marmont in Los Angeles und benahm sich wie ein Bekannter, der sich die größte Mühe gab, ein Freund fürs Leben zu werden.
»Vielleicht hätte ich Sie vorwarnen sollen«, fuhr Reboul achselzuckend fort. »Aber meine Maschine ist erst gestern Abend in Los Angeles gelandet – geschäftliche Angelegenheiten, die meine Anwesenheit erfordern –, und da dachte ich, ich nutze die Gelegenheit, Ihnen meine Aufwartung zu machen und bonjour zu sagen.« Er holte eine Visitenkarte aus der Brusttasche und schob sie über den Tisch. »Sehen Sie? Hier ist das kleine Souvenir, das Sie mir bei unserer letzten Begegnung überreicht haben.«
Sam begnügte sich mit einem flüchtigen Blick auf seine eigene Visitenkarte, deren stilvolle Gestaltung ihm natürlich vertraut war. »Nun, Mr Reboul …«
Der Franzose winkte lässig ab. »Ich bitte Sie. Sagen Sie Francis zu mir, und ich werde Sie Sam nennen, wenn es recht ist. Das klingt weniger förmlich, non?« Er nickte lächelnd, als fände er den Gedanken an ein entspanntes Miteinander erheiternd. »Ich möchte Ihre Zeit nicht verschwenden, deshalb werde ich gleich auf den Punkt kommen.« Er trank den letzten Schluck Kaffee und schob die Tasse samt Unterteller mit einem tadellos manikürten Zeigefinger beiseite. »Fakt ist, die geschäftliche Angelegenheit, die mich nach Kalifornien führt, sind Sie.«
Reboul hielt inne und zwinkerte Sam verschwörerisch zu, bevor er fortfuhr. »In Marseille ist eine Situation eingetreten, die eines Mannes – im Idealfall eines Amerikaners, wie Sie gleich sehen werden – mit besonderen und ziemlich ungewöhnlichen Talenten bedarf. Und angesichts unseres früheren Zusammentreffens scheint es mir, als wären Sie genau der Richtige für diese Aufgabe. Was würden Sie zu ein paar Wochen in Marseille sagen? Die Stadt zeigt sich zu dieser Jahreszeit, bevor die sommerliche Bruthitze einsetzt, von ihrer angenehmsten Seite. Ich könnte Ihnen einen außerordentlich anregenden und höchst lukrativen Aufenthalt garantieren.«
So gleichmütig Sam sich auch gab, war er doch überrascht und innerlich aufgewühlt. Der Argwohn kämpfte mit der Neugierde, aber Letztere trug den Sieg davon. »Lassen Sie mich raten.« Sam zwinkerte zurück. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr Vorhaben nicht ganz legal ist?«
Reboul runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als sei Sams Unterstellung völlig unangemessen. »Legalität ist an und für sich ein schwer fassbarer Begriff, finden Sie nicht auch? Wenn er sich leichter definieren ließe, wären die meisten Anwälte auf der Welt arbeitslos, was vielleicht keine schlechte Sache wäre. Aber, mein lieber Sam, gestatten Sie mir, Ihr Gewissen zu beruhigen: Ich würde Ihnen nie im Leben etwas vorschlagen, was ungesetzlicher wäre als ein harmloses kleines Täuschungsmanöver – und nach Ihrem bühnenreifen Auftritt als Buchverleger bei unserem letzten Zusammentreffen sollte das für einen Mann mit Ihren Talenten ein Kinderspiel sein. Nichts weiter als eine soupe de fèves, wie wir in Marseille sagen.« Rebouls Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als sich eine Frau den Weg durch den Garten bahnte und auf ihren Tisch zusteuerte. »Bezaubernd«, sagte er, glättete seine Haare und erhob sich. »Wir bekommen Besuch.«
Sam drehte sich um und sah Elena Morales in ihrer sogenannten Kundenkluft – schwarzes Kostüm, schwarze High Heels und schwarzes schmales Aktenköfferchen, wobei die strenge Aufmachung durch einen Hauch schwarzer Spitze, die dezent aus dem Dekolleté ihrer Kostümjacke hervorlugte, eine spielerische Note erhielt. Sie ragte hoch über Sams Stuhl auf, tippte ungeduldig auf ihre Uhr und musterte ihn tadelnd wie eine Studienrätin. »Ist das deine Vorstellung von der legeren Freizeitkleidung, mit der man freitags zur Arbeit erscheinen darf? Oder hast du die geschäftliche Besprechung vorsichtshalber gleich ganz vergessen?«
»Ach du meine Güte«, erschrak Sam. »Stimmt, da war doch noch was! Die Besprechung. Gib mir fünf Minuten zum Umziehen, okay?« Plötzlich wurde ihm bewusst, dass der Franzose erwartungsvoll hinter ihm Aufstellung genommen hatte. »Darf ich bekannt machen? Elena, das ist Mr Reboul.« Elena reichte dem Franzosen lächelnd die Hand. »Aus Marseille«, fügte er hinzu.
Reboul ergriff Elenas Hand, als wäre sie zerbrechlich und ein Kunstobjekt von unermesslichem Wert, beugte sich mit gekonntem Schwung darüber und küsste sie. »Enchanté, Mademoiselle, enchanté.« Er verpasste der Hand einen zweiten Kuss. Sam widerstand dem Drang, Reboul darauf hinzuweisen, dass man nicht mit vollem Mund spricht.
»Wenn ihr beide mich jetzt entschuldigen würdet«, sagte er. »Ich kehre zurück, sobald ich meine kugelsichere Weste angelegt habe.«
Reboul rückte einen Stuhl für Elena zurecht. »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Verzeihen Sie mir, dass sich Sam meinetwegen verspätet hat, aber die Überraschung ist mir offensichtlich gelungen. Wir sind uns das letzte Mal in Marseille über den Weg gelaufen, und er hat gewiss nicht damit gerechnet, mich jemals wiederzusehen.«
»Dessen bin ich mir sicher. Ich weiß, was in Marseille geschehen ist – Sam hat mir alles erzählt«, entgegnete Elena. »Tatsächlich war er in meinem Auftrag dort. Ich bin für Knox tätig, den Versicherungskonzern.«
»Aha, Sie sind also Kollegen!«
»Hin und wieder. Aber wir sind auch … befreundet. Sie verstehen?«
Reboul zwinkerte abermals mit den Augen. »So ein Glückspilz. Vielleicht können Sie mir helfen, ihn zu überreden, einen kleinen Auftrag für mich zu übernehmen. Oder besser noch – vielleicht hätten Sie Lust, ihn zu begleiten.« Er tätschelte ihre Hand. »Es wäre mir eine große Freude.« Elena war sich bewusst, dass er gerade versuchte, sie mit seinem Charme einzuwickeln. Sie war sich auch bewusst, dass sie dieses Spiel genoss. »Und wo wäre dieser kleine Auftrag zu erledigen?«
»In Marseille. Eine faszinierende Stadt. Wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen gerne mehr darüber.«
Als Sam zum Tisch zurückkehrte, wirkte er auf den ersten Blick geschäftsfähig, denn er hatte den Bademantel gegen Anzug und Krawatte ausgetauscht. Allerdings waren Reboul und Elena in ein angeregtes Gespräch vertieft, und es war nun an ihm, hoch über Elena aufzuragen, ungeduldig auf seine Uhr zu tippen und eine selbstzufriedene Miene aufzusetzen.
Elena musterte ihn von oben bis unten und schmunzelte. »Sehr elegant. Nur schade, dass du die Socken vergessen hast, aber seien wir nicht kleinlich. Wir müssen los. Wo steht das Auto?« Und an Reboul gewandt, fügte sie hinzu: »Wir sehen uns dann heute Abend. Um halb acht im Restaurant?«
Der Gast aus Marseille neigte den Kopf. »Ich kann es kaum erwarten.«
Sam schwieg, bis er sich in den Verkehr auf dem Sunset Boulevard einfädeln konnte und auf den Wilshire Boulevard abgebogen war. Erst dann ergriff er das Wort. »Was ist mit heute Abend?«
»Francis hat uns zum Essen eingeladen, damit er uns mit den Einzelheiten des Auftrags vertraut machen kann.«
»Uns?«
»Er hat mich nach Marseille eingeladen. Und ich könnte in Versuchung geraten. Ehrlich gestanden, mehr als das – ich würde wahnsinnig gerne hinfliegen. Ich habe noch jede Menge Urlaub, war noch nie in Südfrankreich und Marseille …«
»… zeigt sich um diese Jahreszeit von seiner besten Seite, ich weiß.« Sam wechselte auf die linke Spur und überholte den feuerroten Hummer, der ihm wie ein Panzer im Schneckentempo den Weg versperrte. »Der Mann vergeudet keine Zeit, wie ich sehe.«
»Er ist süß. Und ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Weißt du was? Mir hat noch nie jemand die Hand geküsst.«
»Das würde auch gegen die amerikanischen Gesundheits- und Hygienebestimmungen verstoßen.« Sam schüttelte den Kopf. Aus leidvoller Erfahrung wusste er, dass Elena einen eisernen Willen besaß: Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es sinnlos, sie umstimmen zu wollen. Und abgesehen davon musste er zugeben, dass ihre Gesellschaft den Auftrag wesentlich erfreulicher machen würde – falls er beschloss, ihn anzunehmen.
Doch zuerst galt es, eine wichtige geschäftliche Besprechung, die mit Sicherheit unerfreulich verlaufen würde, unbeschadet über die Bühne zu bringen. Sie befanden sich auf dem Weg zu Danny Roth, um noch ein paar Dinge zu klären, die bei der Wiederbeschaffung des gestohlenen Weins und der Rückführung in die Vereinigten Staaten unerledigt geblieben waren. Dazu gehörte nicht zuletzt auch die Frage des beträchtlichen Finderlohns, der Sam zustand. Obwohl dieser jeweils zur Hälfte von Roth und Knox Insurance zu entrichten war, rechnete Sam mit Problemen: bestenfalls mit einer Hinhaltetaktik, aber wahrscheinlicher waren Wut und die offene Weigerung, den fälligen Obolus zu zahlen.
Er parkte direkt vor dem Kubus aus getöntem Glas, in dem sich die Kommandozentrale von Roth and Partners befand (Partner waren seine Mutter und seine Buchhalterin), und stellte den Motor ab. »Klar zum Gefecht? Erwarte lieber nicht zu viele Handküsse.«
Sie wurden im Empfangsbereich von Roths Vorstandssekretärin abgefangen, der hochgewachsenen, hochherrschaftlichen und völlig inkompetenten Cecilia Volpé, die ihren Verbleib in dieser Position ihrem einflussreichen Vater Myron verdankte; er gehörte zu der Handvoll mächtiger Männer, die Hollywood hinter verschlossenen Türen regierten.
Cecilia wankte ihnen auf zwölf Zentimeter hohen Stiletto-Absätzen entgegen und strich sich die lohfarbene Mähne aus der Stirn, um Elenas Ausstattung besser beäugen zu können. »Schöne Schuhe«, murmelte sie. »Louboutin?« Dann schien sie sich an ihre Pflichten zu erinnern und fügte hinzu: »Mr Roth hat heute einen randvollen Terminkalender. Bleiben Sie lange?«
Sam schüttelte lächelnd den Kopf. »Nur so lange, wie man braucht, um einen Scheck auszustellen.«
Cecilia dachte einen Moment angestrengt über Sams Antwort nach, bevor sie entschied, dass man sie nicht ernst nehmen musste. Sie erwiderte das Lächeln und enthüllte dabei erlesen überkronte Zähne im Wert von mehreren tausend Dollar. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen!« Sie machte kehrt und trippelte den Gang entlang, wobei sich ihr Rock an zwei Gesäßbacken mit perfektem Muskeltonus klammerte, die ein Eigenleben zu führen schienen und bei jedem Schritt zuckten. Sam war gebannt. Aber nur für einen kurzen Moment, denn Elenas Ellenbogen bohrte sich in seine Rippen. »Verkneif dir jede Bemerkung. Konzentrier dich lieber auf die Arbeit.«
Cecilia ließ die beiden auf der Schwelle zu Roths Büro allein zurück. Er saß am Schreibtisch, hatte ihnen den Rücken zugewandt, sein kahler Schädel glänzte im Sonnenlicht, das den Raum durchflutete. Er schwenkte auf seinem Drehstuhl herum, hielt den Telefonhörer ein Stück weit vom Ohr entfernt und musterte die Besucher mit zusammengekniffenen, unfreundlichen Augen. »Bleiben Sie lange?«
»Ich hoffe nicht, Mr Roth.« Elena nahm unaufgefordert Platz und holte einige Unterlagen aus ihrem Aktenkoffer. »Ich weiß, dass Sie ein vielbeschäftigter Mann sind. Aber es gibt ein oder zwei Dinge, die wir klären müssen.«
Roth deutete mit einer ruckhaften Kopfbewegung auf Sam. »Und was macht er hier?«
»Ich?« erwiderte Sam. »Oh, ich wollte nur meinen Scheck abholen.«
Roth blickte ihn entgeistert an. »Scheck? Scheck? Sind Sie sicher, dass Sie nicht auch noch einen Verdienstorden haben wollen? Verdammt.«
Elena seufzte. »Der Finderlohn. Mr Roth. Wie im Versicherungsvertrag festgelegt.«
Sie blieben fast zwei Stunden, während Roth sich durch den Vertrag kämpfte, Zeile für Zeile, und selbst die harmlosesten Klauseln anfocht, wobei sein Verhalten befürchten ließ, dass er jeden Moment einen Schlaganfall erleiden könnte.
Als es endlich überstanden war, wurde Cecilia herbeizitiert, um sie zum Fahrstuhl zu eskortieren. »Wow«, staunte sie. »Normalerweise verbringt er mit niemandem so viel Zeit. Er muss euch beide echt ins Herz geschlossen haben.«
Elena drehte die Klimaanlage im Auto auf und lehnte sich auf ihrem Sitz zurück. »Wenn ich noch einen weiteren Vorwand gebraucht hätte, um mich aus dem Staub zu machen, dann wäre es dieser. Roth ist ein Monster. Ich verrate dir was: Marseille kommt mir von Minute zu Minute reizvoller vor.«
»Na gut, schauen wir doch mal, was Monsieur Reboul uns zu sagen hat.«
»Lass dir ja nicht einfallen, ihm einen Korb zu geben. Dann nehmen wir dich beide in die Mangel.« Sie beugte sich zu Sam hinüber und küsste ihn aufs Ohr. »Widerstand ist zwecklos.«
2. Kapitel
Elena und Sam hatten sich verspätet. Jetzt eilten sie durch den Gang zum Aufzug, der sie nach unten in das Restaurant des Chateau Marmont fuhr.
Sie waren von Elenas Ehrgeiz aufgehalten worden, ihrem brennenden Wunsch, Reboul vor Augen zu führen, dass die Französinnen nicht die einzigen heißen Feger auf der Welt waren, wie sie es auszudrücken beliebte. Nach mehreren Fehlstarts und langatmigen Diskussionen hatte sie sich für ein Kleid entschieden, das gerade als der letzte Schrei galt: schwarz, hauteng und megakurz.
Während sie auf die Ankunft des Aufzugs warteten, legte Sam den Arm um ihre Taille, bevor seine Hand sanft hinabglitt, um die oberen Hanglagen der wohlproportionierten Morales-Kehrseite zu erkunden. Plötzlich hielt seine Hand inne, bewegte sich abwärts und geriet abermals ins Stocken.
»Elena? Trägst du irgendetwas unter diesem Kleid?«
»Nicht viel. Nur ein paar Tropfen Chanel.« Sie schaute mit ihrem unschuldigsten Lächeln zu ihm auf. »Das liegt an dem Kleid, weißt du. In dem ist nur Platz für mich.«
»Mhm.« Sam blieb jeder weitere Kommentar erspart, als sich die Türen des Aufzugs öffneten und den Blick auf einen Mann mit Blazer und ziegelroter Hose freigaben, passend zu seinem ziegelroten Gesicht. Er hielt ein halb leeres Martiniglas in der Hand, mit dem er ihnen zuprostete. »Bin auf eine Gartenparty eingeladen«, nuschelte er. »Dachte, ich übe schon mal.« Als der Aufzug hielt, leerte er das Glas auf einen Zug, verstaute es in der Tasche seines Blazers, straffte die Schultern und eilte leicht schwankend von dannen.
Reboul saß bereits am Tisch, den Champagnerkübel in Reichweite, und blätterte in einem Stapel Papiere. Als er Elena erspähte, sprang er auf und ergriff ihre Hand, wobei er sich dieses Mal auf einen einzigen Kuss und ein gemurmeltes »ravissante, ravissante« beschränkte. Elena neigte anmutig den Kopf, während Sam die Augen verdrehte. Der Ober schenkte Champagner ein.
Reboul war ein Mann, auf den der Begriff »elegant« wie zugeschnitten schien. Heute Abend glänzte er in einem schwarzen Seidenanzug (das kleine scharlachrote Ordensband der Légion d’Honneur, der ranghöchsten Auszeichnung Frankreichs, die Menschen mit besonderen Verdiensten um das Vaterland vorbehalten ist, verlieh dem Revers einen Hauch Farbe) und einem Hemd von zartestem Blau. Ein blendend weißes Taschentuch, ebenfalls aus Seide, steckte im Ärmelaufschlag seines Jacketts. Wie bei vielen vom Glück gesegneten Männern des Mittelmeerraumes hieß seine Haut die Sonne willkommen, und sein glatter, hell mahagonifarbener Teint bildete einen höchst schmeichelhaften Kontrast zu den in perfektem Weiß gehaltenen, akkurat geschnittenen Haaren. Sogar seinen Augenbrauen war die fachkundige Aufmerksamkeit eines Meisterbarbiers zuteilgeworden, wie Elena nicht umhin konnte zu bemerken. Die braunen Augen unter den perfekt gestylten Brauen zeichneten sich durch eine gehörige Portion Humor aus. Er war der wandelnde Beweis für die kleinen Freuden der Gutbetuchten. »Trinken wir auf den Erfolg unseres kleinen Vorhabens«, sagte er und hob sein Glas.
Sams Hand mit dem Glas hielt auf halbem Weg zum Mund inne. »Es liegt mir fern, Ihnen den Spaß zu verderben«, sagte er. »Aber ich würde gerne einiges mehr über meine kleinen Vorhaben erfahren, bevor ich in Begeisterungsstürme ausbreche.«
»Das werden Sie, mein lieber Sam, das werden Sie.« Leutselig reichte er Sam die Weinkarte. »Doch darf ich Sie zuerst bitten, den Wein für uns auszuwählen? Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie ein Händchen für einen guten Tropfen.« Seine Worte wurden von einem Stirnrunzeln und einem verschwörerischen Nicken des Kopfes begleitet, als würde er ihm ein Geheimnis anvertrauen.
Es war das erste Mal, dass Reboul – wenn auch indirekt – auf Sams Rolle beim Raub von mehreren Hundert Flaschen Wein anspielte, dessen Beschaffung ihn so große Mühe gekostet hatte. Doch der Vorfall belustigte den Mogul aus Marseille offenbar, wie man aus seinem wohlwollenden Verhalten und der lächelnden Miene schließen konnte. Ein trügerischer Schein? Vielleicht war das nicht der richtige Moment, um dieser Frage nachzuforschen, dachte Sam. Er schob die Weinkarte beiseite, ohne einen Blick hineinzuwerfen. »Ich hoffe, Sie sind einverstanden, aber der Wein ist bereits bestellt. Ich habe mir hier einen kleinen Weinkeller angelegt, leider nicht mit Ihrem zu vergleichen, und zwei Flaschen ausgewählt, die Sie interessant finden könnten. Einen Châteauneuf-du-Pape – einen weißen – und einen unserer lokalen Weine, den Sie vielleicht noch nicht probiert haben: den Beckstoffer Cabernet aus Napa Valley. Wie klingt das?«
Reboul blickte von der Speisekarte auf. »Vorzüglich. Und nun sagen Sie mir, meine liebe Elena, was soll ich essen? Frauen wissen das immer am besten. Ich gebe mich ganz in Ihre Hände.«
Elena tätschelte seinen Arm. »Überlassen Sie das ruhig mir.« Sie vertiefte sich ein paar Minuten in die Speisekarte. »Soupe au pistou? Nein, lieber nicht, ich schätze, eine provenzalische Gemüsesuppe bekommen Sie überall in Ihrer Heimat. Die Meeresfrüchte sind hier ausgezeichnet; als Vorspeise würde ich vorschlagen, Krebsküchlein an Avocadopüree …«
Reboul hob die Hand. »Halt, sagen Sie nichts mehr! Ich bin ganz versessen auf Krebsküchlein. Dafür würde ich sogar einen Mord begehen.«
»Aber doch nicht hier. Eher schon in Marseille, oder? Hoffen wir, dass sich das erübrigt.« Elena blickte von der Speisekarte auf. »Was für einen Tag haben wir heute? Dienstag? Sehr gut – die Spezialität des Hauses ist heute Kaninchenschmorbraten mit Pappardelle und Waldpilzen. Köstlich, glauben Sie mir.«
»Erstaunlich«, erwiderte Reboul. »Ich wusste nicht, dass Amerikaner Kaninchen essen.«
»Eine Amerikanerin wie ich schon.«
Die Bestellungen wurden aufgegeben, die Flaschen entkorkt, und der Champagner wurde mit der gebührenden Aufmerksamkeit bedacht. Reboul zuckte entschuldigend mit den Schultern, weil er bei Tisch geschäftliche Angelegenheiten zur Sprache brachte, bevor er in groben Zügen den Grund seines Besuches zu schildern begann.
»Sie müssen wissen, Marseille ist eine außergewöhnliche Stadt«, begann er. »Sie wurde vor mehr als zweitausendsechshundert Jahren gegründet, bevor Paris auch nur dem Namen nach zu Paris wurde. Und hat riesige Ausmaße. Die Grundfläche von Marseille ist heute doppelt so groß wie die von Paris. Doch wie Sie sich vorstellen können, ist das Land entlang der Küste von Marseille – Land, das sich mit den Füßen im Mittelmeer befindet, wie wir sagen – beinahe vollständig erschlossen.« Er hielt kurz inne, um einen Schluck Champagner zu trinken. »Mit Ausnahme einer idyllischen kleinen Bucht, der Anse des Pêcheurs, die sich östlich des Vieux Port, des Alten Hafens, befindet. Ich möchte Sie nicht mit historischen Details langweilen, sondern mich darauf beschränken, dass dieses Areal in Bestlage hundertzwanzig Jahre lang von Kommunalpolitikern und Bauunternehmen mehrerer Generationen heiß umkämpft wurde. Es gab deswegen etliche Schmiergeldaffären auf beiden Seiten, mehrere Gerichtsverfahren und mindestens einen Mord. Doch vor zwei Jahren fiel die Entscheidung, die Anse des Pêcheurs nun doch zu erschließen. Das Projekt liegt mir sehr am Herzen, ich habe bereits viel Zeit und Geld investiert, aber …«
Die Ankunft der Krebsküchlein veranlasste Reboul, eine Pause einzulegen, die Serviette in den Kragen seines Hemdes zu stopfen, den weißen Châteauneuf zu kosten und Sam zu seiner Wahl zu gratulieren.
»Sagen Sie, was hat die Leute nach hundertzwanzig Jahren doch noch zu einem Sinneswandel bewogen?«, erkundigte sich Sam.
Reboul nahm einen längeren, achtsameren Schluck Châteauneuf, behielt ihn eine Weile im Mund und nickte zustimmend, bevor er antwortete. »2010 wurde Marseille zur Europäischen Kulturhauptstadt des Jahres 2013 gewählt mit dem Ziel, die ›Entwicklung zu beschleunigen‹, wie es im offiziellen Sprachgebrauch hieß. Ich denke, das gab letztlich den Ausschlag. Wie dem auch sei, öffentliche Ausschreibungen und Ideen für die Erschließung der Bucht waren willkommen, und drei Vorschläge kamen schließlich in die engere Wahl. Einer von ihnen – der beste meiner Meinung nach – stammt von mir. Außerdem muss man wissen, dass meine beiden Konkurrenten einen Nachteil haben: Sie sind Ausländer, vertreten eine Interessengemeinschaft aus Paris und ein englisches Konsortium. Keiner von beiden hat auch nur einen Funken Fantasie gezeigt. Beide wollen Hotels bauen, gigantische Bettenburgen mit allen Schikanen des modernen Lebens – Swimmingpool auf dem Dach, Wellnessoase, Shoppingmall der Luxusklasse, immer das gleiche geistlose Konzept. Ganz nach dem Geschmack der Touristen, aber weniger erbaulich für die Bewohner von Marseille. Und was die Bauweise betrifft, so würden damit nur die nächsten hässlichen Glas-und-Beton-Klötze hochgezogen.« Er wischte den letzten Rest Avocadopüree mit einem Stück Brot von seinem Teller und tupfte den Mund mit der Serviette ab.
»In L. A. gibt es auch einige von der Sorte«, meinte Elena. »Und was schwebt Ihnen vor?«
»Ach, etwas für die Marseiller. Eine Wohnanlage – mit niedrigen Häusern, maximal dreistöckig – inmitten terrassierter Gärten, die zum Meer hinunterführen. Und ein kleiner Hafen, nicht für die protzigen Jachten, sondern für die kleinen Boote, die sich vielleicht im Besitz ortsansässiger normaler Sterblicher befinden. Ich kann Ihnen ein maßstabgerechtes Modell des Projekts zeigen, sobald wir in Marseille sind.« Er runzelte die Stirn und blickte von Sam zu Elena. »Et voilà. Was halten Sie davon?«
»Klingt erheblich besser als Betonklötze«, erwiderte Sam grinsend. »Trotzdem habe ich das Gefühl, dass mehr dahintersteckt als Architekturpläne.« Er lehnte sich zurück, während der Ober mit dem Hauptgang erschien. Tatsächlich schien ihm diese Angelegenheit eine Spur zu harmlos, um vollständig wahr zu sein.
Reboul seufzte. »In der Tat. Es gibt da nämlich ein kleines Problem.« Er betrachtete den Teller, der vor ihm landete, dann senkte er den Kopf, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen und atmete tief den Duft ein. »Aber bevor ich erkläre, worum es geht, sollten wir uns mit diesem vortrefflichen Kaninchen befassen.«
Dem vortrefflichen Kaninchen wurde die gebührende Aufmerksamkeit zuteil, der Beckstoffer Cabernet gekostet, in höchsten Tönen gelobt und abermals gekostet, und die Unterhaltung wechselte von der Weinherstellung zu den Reizen von Cassis (einer kleinen Hafenstadt in Marseilles benachbartem Weinanbaugebiet) und schließlich zu Elenas neuester Marotte. Sie hatte unlängst ein Weinseminar abgeschlossen und war von einem reichlich herablassenden Kursleiter in jenes überladene Fachvokabular eingeweiht worden, für das Weinexperten bekannt und berüchtigt sind.
»Ich bin sicher, der Mann versteht etwas von seinem Metier«, erklärte sie. »Und wenn man den Geschmack von Wein mit Bleistiftspan, Trüffeleiche oder einem Hauch Tabak vergleicht, kann ich das noch halbwegs nachvollziehen, obwohl kein Mensch weiß, warum jemand den Wunsch haben sollte, Bleistiftspan zu trinken, aber als dieser Weinpapst anfing, die Aromen bestimmter Weine mit nassen Hunden zu vergleichen, habe ich mich dann doch ausgeklinkt.« Sie sah Reboul an, die dunklen Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. »Sie haben dort hoffentlich keine Weine, die nach nassen Hunden schmecken, oder?«
Reboul schüttelte den Kopf und lachte. »Ich habe einmal gehört, wie ein Weinhersteller sein Erzeugnis mit den Worten ›Comme le petit Jésus en pantalon de velours‹ – wie das Jesuskind in Samthosen – beschrieb.« Er zuckte die Schultern. »Weinhersteller sind hoffnungslose Schwärmer. Ich denke, man sollte ihnen die kleinen Übertreibungen verzeihen. Sie versuchen etwas zu beschreiben, was oft unbeschreiblich ist.«
Der Käse wurde serviert – genauer gesagt, drei verschiedene Sorten –, mit einem großzügig bemessenen Klecks Feigenmarmelade, und Reboul kam wieder auf sein Fischerbucht-Projekt zurück. »Wie ich bereits andeutete, gibt es da ein Problem, und sein Name lautet Patrimonio. Jérôme Patrimonio. Er ist der Vorsitzende des Stadtplanungsausschusses, der in letzter Instanz über die Vergabe des Auftrags entscheidet, und als Vorsitzender reicht sein Einfluss natürlich über sein persönliches Stimmrecht hinaus.« Reboul war damit beschäftigt, die Käsesorten auf seinem Teller zu sortieren, während er versuchte, seine Gedanken zu sammeln. »Patrimonio hasst mich. Er würde alles tun, um zu verhindern, dass ich die Ausschreibung gewinne. Und wenn ich sage, alles, dann meine ich alles.«
Die beiden Amerikaner zuckten merklich zusammen: Das Ganze klang recht bedrohlich und gefährlicher als Sams erste Mission in Frankreich. Elena fing sich als Erste und stellte die naheliegende Frage. »Verzeihen Sie meine Neugierde, aber was haben Sie angestellt? Warum hasst Sie dieser Patrimonio so sehr?«
»Ach.« Reboul schüttelte den Kopf und seufzte. »Es gab da mal eine Frau.« Er blickte Elena an, als sollte das unter intelligenten Erwachsenen als Erklärung ausreichen. »Und was für eine Frau!« Die ferne Erinnerung zauberte die Andeutung eines Lächelns auf sein Gesicht. »Das ist lange her, gewiss. Doch Patrimonio ist Korse.« Wieder ein Blick, der jede weitere Erläuterung überflüssig machen sollte. »Er ist stolz wie alle Korsen. Und er hat ein außerordentlich gutes Gedächtnis wie alle Korsen.«
»Damit wir uns richtig verstehen«, warf Sam ein. »Sie wissen, dass dieser Kerl, der Sie – nun ja, auf den Tod – nicht ausstehen kann, den Vorsitz über diesen Ausschuss führt. Und dennoch glauben Sie, dass Sie eine Chance haben?«
»Ich bin noch nicht fertig, Sam. Patrimonio hat keine Ahnung, dass ich beteiligt bin. Mein Name erscheint nirgendwo in den Ausschreibungsunterlagen, und ich habe darauf geachtet, keine französische Firma einzubeziehen, was sich leicht überprüfen ließe. Mein Angebot wurde von Langer & Troost, einer sehr alten und diskreten Schweizer Privatbank, und Van Buren & Partners eingereicht, einer amerikanischen Architekturfirma, die sich im Besitz von Tommy van Buren befindet, einem meiner langjährigen engen Freunde; wir kennen uns aus unserer gemeinsamen Studienzeit in Harvard. Die spielentscheidende Präsentation vor dem Ausschuss wird der Leiter der Sparte Internationales Marketing der Firma Van Buren übernehmen. Und hier, mein lieber Sam, treten Sie in Erscheinung, so hoffe ich zumindest.«
»Als Architekt, der keinen blassen Schimmer vom Bauwesen hat? Und zudem noch Amerikaner, also Ausländer ist?« Sam schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Francis. Ich denke, dafür fehlt mir die eine oder andere Qualifikation.«
Reboul tat solche Lappalien mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. »In dieser Phase sind fundierte Architekturkenntnisse noch nicht erforderlich. Das kommt später. Im Moment geht es nur darum, eine Idee zu verkaufen: einen Ort zum Leben statt zum Besichtigen. Wohnraum, der für Marseille einzigartig ist, umweltfreundlich, eine harmonische Ergänzung zum Meer …«
Sam hob die Hand. »Okay. Das klingt nach einer netten, unkomplizierten Präsentation. Aber warum ich? Warum keinen Mitarbeiter von Van Buren damit betrauen?«
Reboul lehnte sich zurück und breitete lächelnd die Arme aus. »Ich brauche jemanden mit ganz besonderen Eigenschaften – einen Verkäufer der Spitzenklasse, überzeugend, einfühlsam und verschwiegen. Und genau diese Anforderungen erfüllen Sie, wie Sie während Ihrer früheren beruflichen Laufbahn als ›Verleger‹ bewiesen haben. Erinnern Sie sich?« Er beugte sich zu Sam hinüber. »Es ist Ihnen gelungen, sogar mich zu täuschen. Den Ausschuss können Sie mit Sicherheit leichter hinters Licht führen.«
Sam leerte sein Glas und überließ es Reboul nachzuschenken. »Obwohl ich Ausländer bin?«
»Aber Sam, es gibt verschiedene Arten von Ausländern.« Reboul hielt einen Finger in die Höhe. »Die Marseiller verabscheuen die Pariser, schon seit Jahrhunderten. Das liegt uns im Blut.« Er hob den zweiten Finger. »Die Engländer nehmen wir notgedrungen hin. Da Frankreich nur durch den Ärmelkanal von ihnen getrennt ist, sind sie uns ein wenig zu nahe, und deshalb bleibt es nicht aus, dass wir bisweilen auf ihnen herumtrampeln.« Der dritte Finger folgte. »Die Amerikaner mögen wir, nicht nur wegen ihrer vielen Tugenden, sondern weil Amerika so weit entfernt ist. Deshalb könnte ich mir vorstellen, dass mein Projekt mit einem kleinen Vorsprung an den Start geht.«
Elena hatte den verbalen Austausch aufmerksam verfolgt, ihr Kopf ging wie bei einem Tennismatch hin und her. »Angenommen, Sie erhalten tatsächlich den Zuschlag«, wandte sie sich nun an Reboul. »Würde es Ihnen dann nicht schwerfallen, Ihre Anonymität zu wahren? Woher stammt beispielsweise das Geld? Ich meine, sind mit solchen öffentlichen Ausschreibungen nicht alle möglichen Leistungsgarantien und Offenlegungspflichten verbunden – oder sind das wunderliche amerikanische Sitten und Gebräuche aus längst vergangener Zeit?«
Reboul hatte während Elenas Rede mehrmals genickt. »Ein sehr gutes Argument, meine Liebe. Ich werde Ihnen erklären, wie ich dieses Problem zu lösen gedenke.« Er winkte den Kellner herbei und bestellte Kaffee und Calvados für alle drei. »Ich habe für ausreichendes Startkapital bei Langer & Troost gesorgt – ausgehend von Konten in Dubai, damit sich die Spur nicht nach Frankreich zurückverfolgen lässt; die Mittel decken die Finanzierung der ersten Bauphasen ab. Sobald diese abgeschlossen sind und das Projekt läuft, wird ein unvorhergesehenes und völlig unerwartetes Cashflow-Problem eintreten, ein finanzieller Engpass sozusagen.« In gespieltem Entsetzen riss er Mund und Augen auf. »Doch zum Glück ist nicht alles verloren. Hilfe naht in Gestalt eines mitfühlenden lokalen Investors. Er erklärt sich mit Blick auf das übergeordnete Wohl von Marseille bereit, die finanzielle Verantwortung für die Fertigstellung des Projekts zu übernehmen.«
»Und dieser edle Ritter werden Sie sein«, schloss Elena.
»Sie haben es erfasst.«
»Und in dieser fortgeschrittenen Bauphase sind Patrimonio die Hände gebunden.«
»Genau.«
»So weit, so gut. Dann brauchen wir jetzt nur noch den Verkaufsrepräsentanten.« Elena wandte sich an Sam. »Womit wir zu dir kommen, großer Zampano.«
Levitt wusste, dass es für ihn kein Entkommen gab. Er konnte es nicht riskieren, sich Elenas Enttäuschung und Zorn zuzuziehen, wenn er den Auftrag ablehnte und sie um den ersten Urlaub ihres Lebens in Südfrankreich brachte. Aufgrund seiner früheren Erfahrungen mit Elena, deren Blut leicht in Wallung geriet, war diese Aussicht höchst unerfreulich. Abgesehen davon schien eine Präsentation wie die von Reboul geschilderte ein Kinderspiel zu sein, notfalls auch im Kopfstand durchzuführen. Und überdies könnte der kleine Ausflug in Frankreichs südliche Gefilde sogar Spaß machen. Das Einzige, was ihm Sorge bereitete, waren die Andeutungen, dass dieser Korse namens Jérôme Patrimonio vor körperlicher Gewalt nicht zurückschreckte.
»Na gut, ihr habt gewonnen«, erwiderte er. Er hob sein Glas und prostete zuerst Elena und danach Reboul zu. »Auf den Erfolg unseres kleinen Abenteuers.«
Reboul strahlte, sprang auf und eilte pfeilschnell um den Tisch herum. »Bravo!«, rief er. »Bravo!« Und küsste den verdutzten Sam unverzüglich auf beide Wangen.