Marina Fiorato
Die
Heilerin VON
San Marco
Historischer Roman
Aus dem Englischen von Nina Bader
Marina Fiorato
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Heilerin VON
San Marco
Historischer Roman
Aus dem Englischen von Nina Bader
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Die Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel »The Venetian Contract«
bei John Murray, London.
Der Limes Verlag ist ein Unternehmen der
Penguin Random House Verlagsgruppe.
Copyright © der Originalausgabe 2012 by Marina Fiorato
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013
by Limes Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-11287-5
V002
www.limes-verlag.de
Für Ileen Maisel, die mich darauf gebracht hat, über Palladio zu schreiben.
Und als das Lamm das vierte Siegel auftat, hörte ich die Stimme der vierten Gestalt sagen: Komm und sieh! Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, dessen Name war: der Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen wurde Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten mit Schwert und Hunger und Pest und durch die wilden Tiere auf Erden.
offenbarung 6, 7 – 8
Teil 1 – Das schwarze Pferd
Prolog
venedig
jahr 1576 nach christlicher zeitrechnung
Sebastiano Venier, der Doge von Venedig, blickte mit Augen, die so aufgewühlt waren wie das Meer, aus seinem steinernen Vierpassfenster.
Sein von vielen auf See verbrachten Jahren geschärftes Auge hatte den Sturm schon seit drei Tagen aufziehen sehen. Er ballte sich am Horizont zusammen und rollte über in einem fahlen Amethystton leuchtende Wellen. Jetzt war der Mahlstrom bei ihnen angelangt, und er hatte etwas weit Unheilvolleres mitgebracht als schlechtes Wetter.
Der Doge mit seinem wehenden weißen Bart und der würdevollen Haltung war von Tintoretto gemalt und mit Neptun, der gleichfalls über ein Wasserreich herrschte, verglichen worden. Manchmal hatte man hinter vorgehaltener Hand sogar einen Vergleich mit Gott gewagt. Als gottesfürchtigem Mann hätte dem Dogen jeder dieser Vergleiche aus verschiedenen Gründen zutiefst missfallen, aber heute hätte er alles dafür gegeben, über die Allmacht zu verfügen, Venedig vor seiner schwärzesten Stunde zu bewahren.
Er beobachtete, wie sechs zum Schutz vor den Elementen dicht zusammengedrängte Gestalten über das bereits vom aufgepeitschten Wasser überschwemmte Dock eilten und die einsetzende Ebbe an den Säumen ihrer schwarzen Gewänder zerrte. Die mit Kapuzen versehenen Umhänge verliehen ihnen das Aussehen von Mönchen, aber diese sechs Männer hatten sich nicht der Religion, sondern der Wissenschaft verschrieben. Sie befassten sich mit dem Leben und dem Tod. Sie waren Ärzte.
Als sie näher kamen, konnte er ihre Masken deutlich erkennen; Schnäbel von der Farbe ausgebleichter Knochen, die sich raubvogelartig unter den dunklen Kapuzen krümmten. Die Masken allein wirkten schon Furcht einflößend genug, aber der Grund, aus dem sie sie trugen, war noch bedrohlicher.
Sie waren seine Medici della Peste. Pestärzte.
Es waren sechs Gelehrte aus guten Familien, an den besten medizinischen Lehranstalten ausgebildet, einer für jedes der sestieri, der sechs Stadtteile Venedigs. Diese sechs Ärzte zusammen zu sehen war ein böses Omen. Sebastiano Venier bezweifelte, dass sie sich zuvor überhaupt schon einmal begegnet waren, und sie schienen ihm wie schwarze Krähen über einem Grab zu schweben. Vielleicht seinem eigenen. Er ließ einen Moment lang die Schultern sinken und fühlte sich plötzlich sehr alt.
Er sah zu, wie die Ärzte die einzigartige Riva degli Schiavori entlanggingen, eine der prächtigsten Straßen der Welt, und wusste, dass sie jetzt jede Minute seinen riesigen weißen Palast betreten würden. Der Doge fröstelte, als hätte ihn Gischt benetzt, lehnte den Kopf gegen die kühlen quadratischen Glasflächen des Fensters und schloss einen barmherzigen Moment lang die Augen. Hätte er das nicht getan, hätte er vielleicht eine venezianische Galeere gesehen, die rasch über das dunkle, auf- und abschwellende Wasser glitt. Doch er hielt die Augen ein paar Herzschläge lang geschlossen, um still dazustehen und die salzige Luft einzuatmen.
Den Geruch Venedigs.
Sebastiano Venier straffte sich, erinnerte sich daran, wer er war und wo er war. Er betrachtete die kunstvolle Steinmetzarbeit seiner Fenster, deren Scheiben aus feinstem venezianischem Glas seine Ohren vor dem Dröhnen des Meeres schützten. Dann blickte er auf, hob den edlen Kopf zur Decke und zu den unvergleichlichen roten und goldenen Fresken, die über Hunderte von Jahren hinweg von den besten Künstlern der Stadt gemalt worden waren und nun die gewölbte Fläche über ihm bedeckten. Und doch konnte all der Reichtum und die Pracht nicht die Pestilenz von seiner Tür fernhalten.
Der Doge nahm auf seinem mächtigen Stuhl Platz und wartete darauf, dass ihm die Ankunft der Ärzte gemeldet wurde. Sie strömten tropfnass in den Raum und bildeten wie Geier einen Halbkreis um ihn. Die in ihre Masken eingesetzten roten Kristallaugen glitzerten hungrig, als seien ihre Träger bereit, ihm das Fleisch von den Knochen zu picken. Doch sowie sie zu sprechen begannen, verlor der Doge jegliche Furcht vor ihnen.
»Wir haben es kommen sehen, Herr«, sagte einer von ihnen. »In den botanischen Gärten der Jesuiti hat es in der letzten Zeit ungewöhnlich viele Schmetterlinge gegeben – Hunderttausende von ihnen.«
Der Doge hob eine schneeweiße Braue. »Schmetterlinge?«
Der Arzt, dem der stählerne Unterton in Veniers Stimme entging, plapperte weiter. »Ihr wisst doch, Doge, dass Schmetterlinge als Vorboten der Pest bekannt sind.«
»Das ist wahr«, fiel ein anderer ein. »Aber es sind noch andere Zeichen gesichtet worden. Im Arsenal gibt es eine Bäckerei, und wenn man dort die Brotlaibe in zwei Teile bricht, beginnen sie zu bluten.«
Der Doge trommelte mit den Fingerspitzen auf der Lehne seines Stuhls herum. »Die Tatsache, dass die Pest Venedig erreicht hat, steht nicht zur Debatte. Die Frage ist, wie wir die Seuche am besten bekämpfen.«
Es war sinnlos. Ein Arzt wollte die Pest dadurch heilen, dass er seinen Patienten riet, eine tote Kröte um den Hals zu tragen. Der nächste schlug vor, eine lebende Taube rücklings in die angeschwollenen Beulen in Leistengegend und Achselhöhlen zu legen, damit die Schwanzfedern das Gift herausziehen konnten. Sie begannen sich gegenseitig zu übertönen, ihre Schnäbel prallten fast gegeneinander. Die Masken wirkten jetzt nur noch lächerlich, und die leisen, gelehrten Stimmen der Ärzte wurden immer schriller, bis sie dem Quaken einer aufgeregten Entenschar glichen.
Der Doge, dessen Verärgerung stetig wuchs, merkte, dass sich seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden begann. Diese Doktoren waren Scharlatane, Quacksalber, einer eingebildeter als der andere. Sein Blick wanderte zum Schatten eines Wandteppichs, wo ein Mann ungefähr seines Alters stand, zuhörte und darauf wartete, dass der Doge ihn zu sich rief und ihm mitteilte, warum er ihn herbefohlen hatte.
Der alte Mann im Schatten, der von Beruf Architekt war, lauschte dem Geschnatter gleichfalls nur halbherzig. Immer mehr an Gebäuden als an Menschen interessiert, bewunderte er die Art, wie die steinernen Kreuzpfeiler den Schwung der Decke unterstrichen und wie die Proportionen der viereckigen Stützpfeiler die großen Tafeln der Fresken ergänzten.
Genau wie der Doge hatte er anfangs einen Stich der Angst verspürt, als die Ärzte den Raum betreten hatten. Jeder, vom Dogen bis hin zu dem niedrigsten Bettler, wusste, was die Masken zu bedeuten hatten. Die Pest ging in der Stadt um. Aber der Architekt machte sich deswegen keine übermäßigen Sorgen. Vor zwei Jahren hatte es einen kleineren Ausbruch der Seuche gegeben, und er würde jetzt tun, was er damals getan hatte. Er würde die Stadt verlassen und sich nach Venetien zurückziehen, vielleicht in seine alte Heimatstadt Vicenza. Dort in den Bergen würde er ausharren und planen und zeichnen. Er würde Wein trinken, während er darauf wartete, dass die Pest ihren eigenen Durst stillte. Mit einem schnellen Boot nach Mestre und einem noch schnelleren Pferd nach Treviso konnte er bei Sonnenuntergang in Maser sein, im Haus seiner guten Freunde, der Brüder Barbaro. Für ihn würde es dort immer Platz geben, das wusste er, schließlich hatte er das Haus gebaut. Sowie er herausgefunden hatte, was der Doge von ihm wollte, würde er aufbrechen.
Der Doge hatte genug gehört. Diese Ärzte konnten Venedig nicht helfen. Sie würden ihre Tränke und Arzneien verkaufen und dabei gutes Geld verdienen, und einige Bürger der Stadt würden am Leben bleiben und andere sterben. Er umschloss die Armlehne, bis sich seine Knöchel weiß verfärbten und er voller Verzweiflung auf sie hinabblickte. Der Anblick seiner Hände deprimierte ihn – sie waren knorrig, von Adern durchzogen und mit Leberflecken übersät. Wie konnte ein alter Mann die Pest aufhalten?
Venier räusperte sich. Er musste handeln. Sein Vermächtnis durfte nicht darin bestehen, zugelassen zu haben, wie dieses Juwel von einer Stadt von der Pest zerstört wurde. Der Herzschlag des alten Dogen beschleunigte sich. Er erhob sich, wobei ihm das Blut in den Kopf stieg. »Ihr seid entlassen«, sagte er eine Spur zu laut zu den Ärzten. »Hinaus.« Er fuchtelte mit den Armen, als wolle er sie wegscheuchen wie die Krähen, die sie waren, und wartete, bis sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten. »Andrea Palladio.« Die Stimme des Dogen hallte in dem großen Raum wider. »Tretet vor.«
Palladio löste sich aus dem Schatten, ging auf den großen Stuhl des Dogen zu und blieb davor stehen. Der Wind rüttelte an den Fensterflügeln, begehrte Einlass und brachte seinen Passagier, die Pestilenz, mit sich. Palladio, der es eilig hatte, hier wegzukommen, scharrte unruhig mit den Füßen, doch der Doge, der seinem Zorn Luft gemacht hatte, hatte seinen Platz wieder eingenommen und schien sich in einer nachdenklichen Stimmung zu befinden.
»Habt Ihr schon einmal von dem Wunder des heiligen Sebastian von Giudecca gehört?«
Palladio runzelte leicht die Stirn. Obwohl er dem Dogen noch nie zuvor begegnet war, kannte er ihn vom Hörensagen – ein Seelord mit vierzigjähriger Erfahrung, tief gläubig, respektiert und klug genug, um viele aufeinanderfolgende Ratssitzungen der Zehn zu überstehen, ohne in einem der furchtbaren Gefängnisse der Republik zu enden. War Sebastiano Venier zu spät in dieses höchste Amt gelangt? War sein Geist mittlerweile verwirrt? Hinter den Fenstern konnte er die Insel Giudecca sehen, regengepeitscht, aber immer noch eines der schönsten sestieri von Venedig, das sich um den hinteren Teil der alten Stadt wand. »Ja, natürlich«, gab er bedächtig zurück, während er überlegte, worauf die Frage abzielen mochte. Der Doge ergriff erneut das Wort. Er schlug einen Ton an, als würde er eine Legende wiedergeben oder ein Gleichnis predigen.
»Als die Pest 1464 die Stadt fest in den Klauen hielt, kam ein junger Soldat an das Tor des Klosters Santa Croce auf Giudecca und bat um Wasser. Die Schwestern befanden sich alle in dem Gebäude, und die Äbtissin litt selbst an der Pest. Die portonera, eine Schwester Scholastica, ging an das Tor. Als ihr Blick auf den jungen Mann fiel, sah sie, dass er eine Rüstung aus schimmerndem Silber trug, Haare von goldenem Feuer und saphirblaue Augen hatte. Voller Ehrfurcht reichte sie ihm einen Becher mit Wasser aus dem Klosterbrunnen. Die Erscheinung dankte Scholastica und wies sie und alle ihre Mitschwestern an, Tag und Nacht zum heiligen Sebastian zu beten und das Wasser des Brunnens zu trinken. Wenn sie dies täten, würde das Kloster von der Pest verschont bleiben. Dann stieß er sein Schwert in den Boden und verschwand, als wäre er ein Lufthauch.«
Palladio, der darüber nachgegrübelt hatte, wie schnell er nach Mestre gelangen konnte, sowie der Doge zum Ende gekommen war, fühlte sich durch die plötzliche Stille bemüßigt, eine Frage zu stellen. »Was ist dann passiert?«
»Die Äbtissin erholte sich in dieser Nacht, ebenso wie jede andere kranke Nonne. Keine der anderen Schwestern wurde von der Pest befallen, und alle, die aus dem Brunnen tranken, wurden gerettet.« Der Doge erhob sich, trat von dem Podest herunter, auf dem sein Stuhl stand, ging zu Palladio hinüber und blickte von seiner beträchtlichen Größe auf ihn herunter. »Das Kloster war dann lange Zeit eine Pilgerstätte, und die Menschen nutzten das Wasser aus dem Brunnen, um sich vor der Pest und später vor anderen Krankheiten zu schützen. Als ich vier Häuser von Santa Croce entfernt im Venier-Palast zur Welt kam, wurde ich aufgrund dieses Wunders Sebastiano getauft. Aber jetzt ist das Kloster nur noch eine Ruine.« Er verstummte.
Nur das Pfeifen des Windes zerriss die Stille. Palladio, der jetzt zu wissen meinte, was von ihm verlangt werden würde, spürte, wie sein Herz schwer wurde. Seit Jahren schon wollte er auf Giudecca bauen, einer Insel mit einem guten Untergrund aus massivem Felsgestein und einem der besten Blicke auf die Lagune. Seit Jahren hatte er den Rat der Zehn erfolglos gebeten, ihm dort ein Stück Land zuzuteilen. Aber jetzt, wo er sich nichts anderes wünschte, als die Stadt zu verlassen, wurde ihm genau das angeboten, was er sich am meisten ersehnte. Palladios schmale Lippen krümmten sich zu einem leisen Lächeln. Manchmal fand er, dass der Allmächtige über einen gehörigen Sinn für Ironie verfügte. »Und Ihr wollt, dass ich das Kloster Santa Croce wieder aufbaue?«
»Nein, das eigentlich nicht.« Der Doge trat zum Fenster. »Schaut sie Euch an, Andrea.« Mit einem Schwenk seiner knorrigen Hand bedeutete er Palladio, auf die prächtige Fläche des Markusplatzes hinunterzublicken. Zwei Prostituierte schlenderten in ihren traditionellen rotgelben Gewändern unter dem Fenster her. Trotz des prasselnden Regens waren ihre Brüste entblößt und schwangen frei hin und her.
Palladio, zu alt, um bei einem solchen Anblick etwas zu empfinden, entdeckte jemanden, der weniger unbeteiligt blieb; einen Mann, der die beiden von den Arkaden der Procuratie Vecchie aus beobachtete, während seine Hand eifrig in seiner Leistengegend beschäftigt war. Der Zuschauer winkte die Frauen zu sich in die Arkaden, und sowie eine Münze den Besitzer gewechselt hatte, presste er eine Frau gegen eine der majestätischen Säulen der Loggia, schlug ihre Röcke hoch und nahm sie mit heftigen Stößen. Die andere schob eine Hand hinten in seine Hose, um dem Kunden zusätzliche Freuden zu verschaffen. »Auf der Straße, Andrea.« Der Doge wandte sich ab. »Auf offener Straße. Diese prachtvollen Säulen, die Euer Architektenkollege Sansovino errichtet hat, um diesen Platz zum schönsten der Welt zu machen, dient jetzt den Huren als Ort, um ihre Freier zu bedienen.« Er seufzte. »Die Zügellosigkeit und die Ausschweifungen werden immer ärger. Ein solches Benehmen gab es früher nur im Karneval, zwei kurze Wochen im Jahr lang. Jetzt ist es an der Tagesordnung. Wir sind im ganzen Ausland dafür bekannt, werden deswegen verhöhnt. Man spricht weder von Sansovinos Säulen noch von Euren eigenen Villen und Kirchen, sondern nur von den Huren, die ganz offen auf den Straßen ihrem Gewerbe nachgehen.« Der Doge legte eine Hand an den Fensterriegel und überprüfte ihn, wie um sich zu vergewissern, dass der Gifthauch der Seuche nicht in den Raum dringen konnte. »Und sowie es sich in der Stadt verbreitet, dass die Pest umgeht, wird alles noch viel schlimmer werden. Die Nähe des Todes verleitet einen Mann zu seltsamen Dingen – er achtet das Gesetz nicht mehr und meint, er müsste huren, stehlen, lügen und so viel Geld zusammenraffen, wie es nur irgend geht.«
Palladio versuchte, die einzelnen Fragmente der Rede des Dogen miteinander in Einklang zu bringen, das Wunder und die Dirnen.
»Nur ein einziger Mann kann diese liederlichen, wundervollen Menschen vor der Pest bewahren, und dieser Mann bin nicht ich.«
Palladio dachte an die sechs Ärzte der sestieri, von denen keiner ihm des Mantels des Erretters würdig zu sein schien. Dann wurde ihm bewusst, dass der Doge von Christus sprach, und er setzte rasch eine fromme Miene auf. Der Doge richtete seine wässrigen hellen blauen Augen auf ihn. Sie wirkten alt, geschlagen und müde. »Ihr seid dieser Mann.«
Palladios ehrerbietige Maske fiel von ihm ab, als ihm der Mund offen stehen blieb.
»Seht Ihr es denn nicht? Gott straft Venedig. Wir brauchen ein Opfer, eine Gabe, die groß genug ist, um Seinen Zorn von uns abzuwenden und Seine Hand davon abzuhalten, unsere Stadt auszulöschen. Wenn uns die Medizin nicht helfen kann, müssen wir uns dem Gebet zuwenden. Ihr, Andrea, werdet auf den Ruinen des Klosters Santa Croce eine Kirche erbauen. Ihr werdet in die Fußstapfen des heiligen Sebastian treten und eine so prächtige Kirche zum Ruhme Gottes bauen, dass sie mit dem Glanz Seiner Schöpfung wetteifern kann. Und wenn Ihr das getan habt, werden die Menschen zu Hunderten und Tausenden kommen und sich Gott zuwenden; sie werden Ihn mit ihren Stimmen preisen und Ihm auf Knien danken. Die Macht des Gebets wird uns alle erlösen.«
Palladio verlieh seinem Widerstreben Ausdruck. »Aber … ich hatte gedacht … natürlich fühle ich mich sehr geehrt, aber vielleicht könnte ich die Arbeiten von Vicenza oder vielleicht Treviso aus leiten …«
Der Satz erstarb unter dem Blick des Dogen, und der Wind heulte spöttisch auf. Der Doge ließ einen Moment verstreichen, bevor er erwiderte: »Andrea. Wir sind alte Männer. Die Zeit, die uns noch bleibt, ist kurz. Ihr werdet ebenso wie ich in Venedig bleiben. Ihr könnt Eurer Stadt keinen größeren Dienst erweisen als diesen. Begreift Ihr denn nicht?« Er umschloss Palladios Schultern mit einem erstaunlich festen Griff. »Ihr schließt einen Vertrag mit Gott selbst ab.«
Palladio erinnerte sich daran, dass er als junger Steinmetz immer Fossilien in den Steinen gefunden hatte, die er bearbeitete. Kein Tag war vergangen, ohne dass er nicht wenigstens auf einen Nautilus gestoßen war, eine perfekte, komprimierte und Tausende von Jahren lang im Carrara-Marmor begrabene gleichwinklige Spirale. Und jetzt saß er in einer ähnlichen Falle. Sein Auftrag legte ihn in Ketten; er war buchstäblich in Stein gefangen.
Aber er las die Hingabe in den Augen des Dogen und wusste, dass Sebastiano Venier keinen Widerspruch dulden würde. Wie konnte er diese Augen für die eines alten Mannes gehalten haben? Jetzt glühte in ihnen das blaue Feuer religiösen Eifers, das Feuer des heiligen Sebastian. Selbst wenn er den Mut aufgebracht hätte, sich zu weigern – die Nähe eines der Gefängnisse gab den Ausschlag. Palladio neigte in stummer Zustimmung den Kopf.
Der Doge, der eine Weigerung gar nicht in Betracht gezogen hatte, rief nach seinem Haushofmeister. »Camerlengo, bring Signore Palladio zu seinem Haus zurück und sorge dafür, dass er alles erhält, was er braucht. Und, Camerlengo«, bellte er, als der Haushofmeister sich anschickte, Palladio durch die mächtigen Türen zu folgen, »such mir jetzt einen richtigen Arzt.«
1
Konstantinopel
Jahr 983 nach osmanischer Zeitrechnung
Ein Monat zuvor
Feyra Adalet bint Timurhan Murad gab sich an diesem Morgen besondere Mühe mit ihrem Äußeren.
Ihr Vater hatte das Haus bereits verlassen, daher konnte sie nicht – wie sie es häufig tat – seine Kleider anlegen. In Konstantinopel war es unter den ärmeren Familien üblich, dass Frauen und Männer das Gleiche trugen; Männer- und Frauenkleider waren einander ohnehin so ähnlich, und oft reichte das Geld nur für eine Garnitur guter Kleider oder ein gutes Paar Schuhe. Feyra und ihr Vater waren dank Timurhan bin Yunus Murads Status als hochrangiger Schiffskapitän recht wohlhabend, aber Feyra hielt trotzdem an dieser Tradition fest: Sie half ihr, sich dahinter zu verstecken.
Heute musste ihr Vater eine wichtige Verabredung haben, und eine frühe noch dazu, denn als Feyra die geschnitzten Gitterläden ihres Fensters aufstieß, sah sie, dass die Sonne noch kaum über der Stadt aufgegangen war. Die Kuppeln und Minarette, die sie so liebte, bildeten immer noch bloße Silhouetten; dunkle Umrisse, die sich von dem korallenfarbenen Himmel abhoben. Feyra sog die salzige Luft tief ein.
Den Geruch Konstantinopels.
Sie blickte auf das Meer hinaus, eine silbrige Linie im Licht der Morgendämmerung, und fragte sich, was wohl dahinter liegen mochte. Einen Moment lang stieg Sehnsucht nach einem anderen Land in ihr auf, nach jenen Orten, die sie nur aus den Geschichten eines zur See fahrenden Vaters kannte.
Aber Feyras Tagträumerei hatte sie Zeit gekostet. Sie wandte sich von der Aussicht ab und blickte stattdessen in das in Emaille gefasste, auf Hochglanz polierte und nur von ein paar Dellen im Metall verunzierte Rechteck aus Silber, das an der Wand hing. Ihr Vater hatte es aus irgendeinem östlichen Land jenseits irgendeines östlichen Meeres mitgebracht, und es hatte in ihrem Raum gehangen, seit sie ein Baby war. Als Kind war der Spiegel eine Kuriosität für sie gewesen; er hatte ihr gezeigt, welche Farbe ihre Augen hatten, wie ihr Gesicht aussah, wenn sie Grimassen schnitt, und wie weit ihre Zunge reichte, wenn sie sie herausstreckte. Nun, wo Feyra zur Frau herangereift war, war der Spiegel ihr bester Freund.
Sie musterte ihr Spiegelbild eindringlich, versuchte zu sehen, was die Männer sahen. Als sie zuerst bemerkt hatte, dass Männer sie auf der Straße anstarrten, hatte sie begonnen, ihr Haar zu bedecken. Dann starrten sie ihren Mund an, also gewöhnte sie sich an, den yashmak, den Halbgesichtsschleier, zu tragen. Sie hatte sogar einen mit Ziermünzen am Saum gewählt, damit das Gold die Augen der Männer von den ihren ablenkte. Doch sie stierten sie immer noch an, also ging sie zu dem ormisi über, einem dünnen, eine Handspanne breiten Schleier, der über den Augen getragen wurde. Als auch das nichts fruchtete, schloss sie daraus, dass ihr Körper das Interesse der Männer wecken musste. Sie fing an, ihre knospenden Brüste so fest zu bandagieren, dass es schmerzte, und immer noch wurde sie angestarrt. Warum?
Feyra hatte genug Sonette und Oden liebestrunkener Poeten gelesen, um zu wissen, dass sie nicht den Idealen der osmanischen Dichter entsprach. Sie glich auch nicht den Mädchen, um die es in den zotigen Liedern ging, die die Seemannsfreunde ihres Vaters grölten. Sie hörte sie manchmal, wenn sie im Bett lag und die Männer unten beim Essen saßen und zu viel getrunken hatten.
Feyra hielt ihre bernsteinfarbenen Augen, die groß, aber leicht schräg stehend wie die einer Katze waren, für nicht rund und dunkel genug, um in Liedern gepriesen zu werden. Ihre kleine Stupsnase konnte gleichfalls keinen Anspruch auf Schönheit erheben. Ihre kaffeebraune Haut war nicht rauchig genug, um Männer zu Gedichten zu inspirieren; ihr Haar, das ihr in dichten Locken um die Schultern fiel, nicht seidig und glatt genug, und auch die Farbe stimmte nicht: Es wies alle Schattierungen von Dunkelbraun auf, aber nicht das tiefe Schwarz von Rabenflügeln. Und ihr breiter, roter Mund, dessen Oberlippe seltsamerweise größer war als die Unterlippe, war so großzügig geschnitten, dass ihn auch der romantischste Dichter nicht guten Gewissens mit einer Rosenknospe vergleichen konnte.
Ihrer Ansicht nach waren ihre Züge – sowohl einzeln als auch als Ganzes betrachtet – unauffällig, wenn nicht gar eigenartig. Aber sie schien irgendeine geheimnisvolle Macht auszustrahlen, die sie nicht begriff und die ihr ganz und gar nicht gelegen kam. Selbst ihre Verkleidung erzielte nicht immer die gewünschte Wirkung. Bedeckte sie ihre Augen, stierten die Männer auf ihren Mund. Bedeckte sie ihren Mund, starrten sie ihre Augen an. Bedeckte sie ihr Haar, musterten sie ihre Figur. Trotzdem durfte sie in ihren Bemühungen nicht nachlassen, denn die Unannehmlichkeiten, die ihre tägliche Maskerade mit sich brachte, war nichts im Vergleich zu den Folgen, mit denen sie rechnen musste, wenn sie sich nicht so sorgsam verhüllte.
Die Feyra vor dem Spiegel hob das Kinn leicht an, und das Spiegelbild ermutigte sie. Heute musste sie Frauenkleider tragen. Nun gut, sie würde das Beste daraus machen. Sie begann mit ihrem Ritual.
Nur mit ihrer weiten Pluderhose aus durchsichtiger Seide angetan, griff Feyra nach einer langen cremefarbenen Bandage, klemmte ein Ende in ihre Achselhöhle und wickelte den Stoff fest um ihren Oberkörper. Als ihre Brüste schmerzten und ihr das Atmen Mühe bereitete, empfand sie ein grimmiges Glücksgefühl.
Jetzt war es Zeit für das Gewand. Feyras Vater hatte ihr Roben aus gold- und silberfarbenen Satin sowie Ballen von Samit und leichter Damaszener Seide aus allen vier Winkeln der Welt mitgebracht, doch sie lagen unberührt in einer Truhe unter dem Fenster. Stattdessen hatte sie auf dem Bedestan-Basar ein schlichtes sackartiges Gewand, ein barami, erstanden. Das Kleid fiel ihr ohne Falten bis zu den Füßen und verdeckte ihre Gestalt. Darüber kam das ferace, das Oberkleid, dessen Mieder bis zur Taille geknöpft und dann offen gelassen wurde.
Dann kämmte und flocht sie ihr Haar, wand es wie eine Krone um ihren Kopf und kämpfte mit den Locken, die hartnäckig dem Schleier entschlüpften, egal wie sehr sie sich bemühte, sie zu bändigen. Sie zog einen dünnen Schleier über ihr Haar und befestigte ihn mit einem um die Stirn herum verlaufenden geflochtenen Band. Dann befeuchtete sie die Löckchen, die um ihr Gesicht tanzten, mit Rosenwasser und strich sie energisch zurück, bis keine einzige Strähne mehr zu sehen war.
Über all das stülpte sie den hotoz, eine viereckige Kappe, die unter dem Kinn geknöpft wurde, und bedeckte ihr ganzes Gesicht mit einem viereckigen yemine-Schleier. Dann schlang sie sich eine lange Bahn schlichten Tülls mehrmals um den Hals und blickte erneut in den Spiegel. So in Stoffhüllen eingewickelt, war sie nicht zu erkennen. Ihre Kleider waren in Sand- und Zimttönen gehalten, um sie mit der Stadt verschmelzen zu lassen und ihr Schutz zu bieten. Den einzigen Farbfleck bildeten die gelben Pantoffeln ihres Glaubens – Lederpantoffeln mit hochgebogenen Kappen, die über dem Spann befestigt wurden und praktisch, wasserfest und unempfindlich gegen die anderen, weitaus schädlicheren Flüssigkeiten waren, mit denen sie bei der Ausübung ihres Berufs in Berührung kam.
Als sie endlich fertig angekleidet war, verzichtete Feyra darauf, Schmuck anzulegen. Zwar besaß sie Gold genug – ihr nachsichtiger Vater hatte sie mit Tand überhäuft –, aber Arm- und Fußreifen hätten Aufmerksamkeit erregt und, schlimmer noch, sie bei ihrer Arbeit behindert.
Sie vervollständigte ihre Aufmachung durch ein letztes Kleidungsstück, das allerdings keinen modischen Putz, sondern eine Notwendigkeit darstellte: einen hässlichen, sperrigen Gürtel, den sie selbst angefertigt hatte. Er enthielt eine Reihe kleiner Glasfläschchen und Phiolen, die jeweils in einer Lederkapsel steckten und an einem breiten Lederriemen mit einer großen Messingschnalle hingen. Sie schnallte den Gürtel unter ihr ferace, sodass er komplett verborgen war, sie aber zugleich um die Taille herum plump wirken ließ und ihr die Silhouette einer doppelt so alten Frau verlieh.
Als sie fertig war, war die Sonne vollständig aufgegangen, und der Himmel schimmerte so blau wie ein Vogelei. Sie gestattete sich einen weiteren Blick auf die Stadt, die sie liebte und von der sich ihr jetzt im Tageslicht jede Einzelheit darbot. Die wundervolle Kurve der glitzernden Bucht; die Häuser und die Tempel, die sich wie ein juwelenbesetztes Halsband an der geschwungenen Küstenlinie entlangzogen. Darüber kauerte wie ein Wächter des Bosporus die große Moschee Hagia Sophia, von deren sonnenbeschienener goldener Kuppel sich die Falken des Sultans von der Thermik hoch in die Luft tragen ließen. Feyra vergaß einen Moment ihr Fernweh, sie wollte nicht mehr wissen, was hinter diesem Meer lag. Stattdessen schwor sie sich, diese Stadt nie zu verlassen.
Der klagende Gesang des Muezzins, der zur sabah, dem Sonnenaufgangsgebet rief, wehte von den Türmen der Sophia zu ihr herüber. Feyra drehte sich um und lief eilig die Stufen hinunter.
Sie war sehr spät dran.