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© für die Originalausgabe und das eBook:

2013 LangenMüller in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

Einige Passagen dieses Werks sind in z. T. abweichender Form in Tanja Langers Roman »Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte« 2006 im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen.

In einigen Fällen folgen wir der alten Rechtschreibung

Umschlag: Wolfgang Heinzel

Motiv: Selbstporträt ca. 1904, Bridgeman Art Library, Berlin © The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group /
VG Bild-Kunst, Bonn 2013
Satz und eBook-Produktion:

Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

www.Buch-Werkstatt.de

ISBN 978-3-7844-8169-2 

Er legt die Hand auf die Schulter der Frau, die er liebt.

Er berührt den Stoff ihres roten Kleides und ihre seidige Haut am Schlüsselbein. Er küsst die Mulde des Schlüsselbeins.

Aufspringen. Sich ineinander verkeilen. Den Rock hochzerren, die Hose hinunter.

Verlangen, Küsse, Wut.

Die Liebe macht die Menschen sanft, sagt Tulla.

Was redest du da, murmelt er. Wer soll das gesagt haben?

Als Munchs Tante Karen beerdigt wird, lässt er sich mit dem Wagen hinbringen. Als sie sich dem Friedhof nähern, sehen sie den Zug der Trauergäste und die Männer in den schwarzen Anzügen, die ihren Sarg tragen.

Fahr weiter, sagt der Maler zu seinem Chauffeur. Sie rollen langsam an allen vorbei, bis der Zug von der Straße abbiegt, in das Friedhofstor hinein.

Nach Hause, sagt Munch und schließt die Augen.

I
Warnemünde

Im Hof in Warnemünde steht ein Baum. Ein Birnbaum, hundert Jahre alt, knorrig, die Blätter der riesigen Krone bilden im Sommer ein Dach. Nielsen fegt den schmalen Hof; Munch malt ihn. Er lotet die Tiefe des Raumes aus, der Hof wirkt auf dem Bild weitaus tiefer als in Wirklichkeit. Es ist eine freundliche Tiefe.

Neuerdings benutzt er auch gern die Perspektive eines Weitwinkelobjektivs, er hat Aufnahmen davon in einer Zeitschrift gesehen, überrascht, welche Möglichkeiten die neuen Apparate bieten. Er zieht die Gegenstände und Gesichter vorn ganz nah heran und öffnet nach hinten die Räume. Sie erhalten eine eigene Dichte und, nicht selten, durch die Verzerrung, eine Bedrohlichkeit. Die Flasche auf dem Tisch vorn im Bild mit dem grünen Zimmer gefriert zur Eissäule, das Paar kann seinen Blick nicht von ihr nehmen, als wäre die Flasche der Dritte in der Liebesgeschichte oder als enthielte sie den kondensierten Raum, den sie in ihrem Miteinander nicht überwinden können und den sie hassen und in dem sie Schutz suchen zugleich. Wie sie ihren Hass absitzen. Welche Hoffnung treibt sie?

Munch nimmt Zuflucht im Draußen. In dem, was nicht er selbst ist.

Es ist etwas mehr als noch ein Jahr bis zu seinem vollkommenen Zusammenbruch in Kopenhagen. Er steht auf der Kippe. Er will sich selbst helfen. Isst Haferschleim und Fisch; versucht, nicht zu trinken. Doch allzu oft gewinnt der Raum eine erschreckende Tiefe; der Tisch schiebt das Paar, das daran sitzt, an die Seite; die Tapete ist überdeutlich; alles ist verzerrt. Rot und Schwarz lodern roh und die Figuren bekommen aus Eifersucht und Leidenschaft grüne Krötenmäuler, rosafarbene Schweinsgesichter und gelbe Affenfratzen. Die Farbe wird fett aus der Tube gequetscht. Rot, grün, alles dreht sich. Der runde Tisch, auf einem anderen Bild, wächst wie ein widerliches Monster und quetscht das seinem Misstrauen ausgelieferte Paar auf das Sofa dahinter.

Er schlägt den Kopf gegen die Wand und malt.

Hier aber, auf dem Bild mit dem Birnbaum, auf dem Carl Nielsen den Hof fegt, ist die Tiefe freundlich, gewinnt dieser schmale Hof am Alten Strom 53 die Kraft einer eigenen Welt. Geschützt vom Betrieb auf der Promenade, am Hafen, an der Mole und im Ort. Munchs Refugium, an den Tagen, an denen er sich außerstande sieht, an den anderen Menschen vorbei zum Strand zu laufen. Wie groß wird sein Entsetzen sein, wenn er im kommenden Winter aus Berlin zurückkehrt, wohin er von hier aus immer wieder fährt, und den alten Nielsen tot im Haus auffindet, stinkend schon, verwesend. Er wird im Haus nicht bleiben können, er wird umziehen müssen, ein paar Häuser weiter. Die Anwesenheit der Toten ist zu groß in ihm, einen weiteren, noch dazu so frisch, so real, erträgt er nicht.

Aber noch ist das fern. Noch blickt er vom oberen Stockwerk aus dem kleinen Fischerhaus, das er gemietet hat, auf die roten Dachziegel der angrenzenden Dächer, auf die roten Backsteine und den prächtigen alten Birnbaum. Er hat es sofort gemocht hier, im Ostseebad Warnemünde; es erinnert ihn gerade so viel an zu Hause, dass es ihm angenehm ist, und unterscheidet sich genug, ihn nicht allzu wehmütig zu stimmen. Die Menschen rufen sich mit kräftigen Stimmen ihren Gruß zu, als stünden sie auf Booten bei starkem Wind auf hoher See; sie bereden alles und ausführlich, so langsam und breit, dass er sie versteht. Das Licht hat an manchen Tagen die Helligkeit des Nordens, in dem Häuser und Bäume, Fischerkähne und Menschen gestochen scharf und plastisch erscheinen. Und überall gibt es die roten Klinker, die er mag. Hier, wo er auf sie schaut, auf den Dächern, öffnet sich der Himmel darüber und schenkt ihm Augenblicke des Glücks. Glück ist nicht gerade der Zustand, in dem er sich befindet. Er schleppt schwer an seinen Gespenstern und, schlimmer noch, an seiner schreienden Sehnsucht nach Berührung, die ihn vollkommen menschenscheu macht.

Oft sitzt er hinter der Gardine seiner Loggia und sieht den Kindern, Frauen und Männern draußen zu, beim Leben. Nimmt Briefe, Zettel und Notizbücher aus dem Koffer, den er immer mit sich trägt, in alle Städte, in alle Wohnungen, und liest, was er schrieb.

Die Pause, in der die Welt ihren Lauf anhält

Dein Angesicht enthält alle Schönheit dieses Erdreichs

Deine Lippen karmesinrot wie die kommende Frucht

Gleiten voneinander wie im Schmerz

Das Lächeln einer Leiche

Jetzt reicht das Leben dem Tod die Hand

Munch lässt das Blatt sinken, mit den Zeilen in seiner eigenen, zittrigen Handschrift. Er sieht durch die dünnen Gardinen in der Loggia des Hauses am Alten Strom hinaus auf die Passanten auf der Straße, auf die Warne, die in der untergehenden Sonne die Farben auf ihren Wellen tanzen lässt.

Er verbringt viel Zeit auf diese Weise, unsichtbar, neben ihm sein geliebter Koffer mit den Briefen und Notizen, den er immer, wohin er auch geht, mit sich herumschleppt, den er mitnimmt wie sein zweites Ich, ohne das er nicht ist, neben seinen wichtigsten Bildern, die er nicht hergeben will, die ihn begleiten, als wären sie seine Kinder. Immer wieder nimmt er die Aufzeichnungen aus dem Koffer, als könnte er sich so einer Kontinuität seines Daseins versichern, die er nicht immer fühlt, die ihm oft innerlich wegbricht, obwohl er sie andererseits – und das weiß er mit einer messerscharfen Genauigkeit – in seiner Haut, seinem Körper, seinen Sinnen trägt, seiner Wahrnehmung.

Er erinnert sich an seinen Freund Stachu in Berlin, den verrückten Polen, wie er sich mitten im Februar, in einer eiskalten Nacht, splitternackt auf einen Stapel Holz im Hof gesetzt hatte.

»Was tust du?«, hatte er gerufen.

»Ich will das Mysterium des freien Geistes fühlen. Ich will mich über den Körper erheben.«

Über den Körper würde er, Munch, sich nie erheben. Sein Körper spricht eine eigene Sprache. Meldet Sodbrennen, Rheuma, Rückenschmerzen. Schmerzen, wenn das Wetter wechselt, im angeschossenen Mittelfinger. Was ihn beschäftigt, ist eine Dimension des Körperlichen, die man nicht sehen kann. Eine Art Vibration, die aus dem Seelischen in das Umfeld des Körpers tritt und zugleich aus dem hervorgeht, was ein Mensch an Erlebtem und sogar seinen persönlichen Toten mit sich herumträgt.

Manchmal bleibt er auf der Straße stehen und starrt die Fischer an: Wie gesund und kräftig sie sind. Er läuft lange am Strand entlang und schwimmt im Meer. Isst Haferschleim und Fisch.

Er besucht spiritistische Versammlungen. Er wird sich selbst immer durchsichtiger. Er fotografiert. Das Haus am Strom, den Badewärter, die Boote im Abendlicht, sich selbst, sein Modell Olga, ihre Schwester Rosa, mit hochgerutschten Röcken am Strand, die Füße und die Knie, abgeschnitten.

»Nun schau mal ganz streng«, sagt er zu seiner Haushälterin, eine hübsche schmale Person mit klarem Blick und scheuem Mund.

»Sitz gerade«, sagt er. Sie sitzt immer gerade. Er drückt auf den Auslöser.

»Und jetzt halt die Linse zu!«

Sie hält die Linse zu. Er drückt, läuft in die Belichtungszeit hinein zum Tisch, lässt sich auf den Stuhl fallen.

»Weg mit der Hand!«, schreit er.

So ist er auf dem fertigen Foto wie eine durchsichtige Projektion vor der hinter ihm liegenden Holzwand in der Loggia zu sehen.

»Das ist verrückt«, sagt sie, als er ihr das Bild zeigt. Der Tisch drängt die beiden in den Raum hinein. Vor seinen Gemälden läuft sie davon. Wie könnte sie sonst an einem Tisch mit ihm sitzen und essen?

Eine Zeit lang macht er immer neue Experimente mit seiner Kodakbox, mit den doppelten und mehrfachen Belichtungen, Fotografien, in denen er während der Belichtungszeit in das Bild hinein und wieder hinaustritt, sodass er wie ein durchsichtiger Schemen darauf erscheint. Er will etwas optisch fassbar machen, als lieferte es ihm den Gegenbeweis zu seinem grauenhaften inneren Verschwinden, dieser ätzenden Auslöschung, die ihn immer wieder heimsucht.

Er fotografiert sich selbst vor seinen Bildern: Das Bild des kranken Kindes hinten in der Mitte, vorne rechts das Bild mit dem alten Nielsen im Hof und links das Bild mit den Kindern in Warnemünde. Als er die Abzüge sieht, ist er hochzufrieden: Man sieht durch ihn hindurch die Bilder. Ich bilde einen Fries mit ihnen, denkt er, genau so will ich es: Kindheit, mittleres Mannesalter (ich), Alter (Nielsen). Nielsen mit dem Bart, der Mütze, dem leicht gebeugten Rücken.

In der Mitte des Lebens musst du fragen: Woher komme ich, wer bin ich, wohin gehe ich? Sonst bist du des Menschseins nicht würdig. Es wird höchste Zeit.

Einmal hatte er mit seinem Vater gestritten, über die Dauer des Lebens, der Ewigkeit, der Hölle.

»Tausend Jahre dauert sie«, hatte er gesagt, »das ist entsetzlich lang.«

»Nein«, hatte der Vater entgegnet, »tausend mal tausend Jahre!«

»Das ist ja lächerlich, tausend Jahre sind doch schon entsetzlich lang!«

Er war damals dreizehn oder vierzehn Jahre alt, und tausend Jahre umfassten eine Zeitspanne, die er sich nicht vorstellen konnte.

»Du hast überhaupt keinen Begriff von der Ewigkeit«, hatte der Vater gesagt. Seine Stirn hatte sich schrecklich gekraust, schwarze Linien, seine Augen hatten jene sorgenvolle dunkelgrüne Färbung angenommen, die Edvard so gut kannte und fürchtete. Es war zu spät um einzulenken. Tausend Jahre Hölle für ein paar menschliche Sünden!

»Tausend mal tausend Jahre«, hatte der Vater gereizt erklärt, »sind nur ein Bild, ein Ausdruck, die Veranschaulichung dessen, was der Mensch gar nicht denken kann. Philosophen und Theologen und Dichter haben sich den Kopf darüber zerbrochen, da werden wir beide es nicht so ohne weitere Anstrengung verstehen. Tausend mal tausend: Das soll heißen ohne Ende.«

Das Wort »tausend« hatte angefangen, Edvard in den Ohren zu sausen. Unter seinen Lidern, die er vor Erschöpfung schloss, tanzten rote Punkte auf einer hellen Fläche. Das Gesicht des Vaters, das er so sehr liebte, hatte sich zu einer schmerzlichen Fratze verzerrt. Was musste er sich auch so entsetzlich über die Ewigkeit grämen? Wozu? Seit einer Stunde war er bereits dabei, seinem Sohn zu erklären, wie groß die Strafe für die Sünden sei, die man gedankenlos Tag um Tag beging, wenn sie in der Ewigkeit abgegolten würden. Einen Tag mehr für jeden sündigen Gedanken. Einen Tag mehr, noch einen Tag: so lange dauerte die Hölle.

»Jede einzelne an jedem einzelnen Tag dieser tausend mal tausend Jahre!«, hatte er gesagt.

»Du willst mich doch nur klein kriegen!«, war es aus Edvard herausgeplatzt. »Du willst mir die Ewigkeit androhen, damit ich pariere!«

Der Streit hatte eine seltsam kreisende, eiernde Form angenommen. Als schlingerten sie in einem Boot in einem Wasserstrudel.

Munch konnte sich jetzt nicht mehr genau erinnern, wie sich der Streit entwickelt hatte. Ihm fehlten die einzelnen Worte; er war sich sicher, dass er sie bereits in jenem Augenblick nicht mehr hatte hören können, weil alles ihm verschwommen war. Der Vater hatte zu schreien begonnen, er selbst hatte geschrien, und irgendwann hatte er es nicht mehr ausgehalten und war auf die Straße gerannt. Türenschlagen! Türenschlagen! Das hatte er schon immer gekonnt. Das hatte ihm der Vater beigebracht, das saß ihm in Fleisch und Blut.

Jetzt bewegt er sich durch die dunkle Zone seines Inneren, zum wer weiß wievielten Mal. Rot hat er sie gemalt, braun und gelb. Die Hölle. Im Schneckentempo bewegt er sich, als liefe er gegen einen schweren Widerstand in der Luft an. Er erlebt alles noch einmal. Die Rückkehr damals, als er nach langem Umherlaufen nach Hause gekommen war. Er erlebt alles noch einmal, bei klarem Bewusstsein, eigenartig vertraut und doch mit der gleichen Spannung wie damals, als wäre es tatsächlich das erste Mal, zugleich aber wusste er, dass es nicht so war. Es war betäubend und stechend, das Grauen schlechthin, diese Zwangsläufigkeit, mit der sich das Entsetzliche wiederholte. Es war unmöglich, den Ausgang der Situation als etwas beruhigend Bekanntes zu erleben, geschweige denn einzugreifen und den Ablauf zu verändern. Er fiel in die Pein des Jungen zurück, wie durch einen Tunnel, er war Edvard in der Pubertät, Edvard, der den Vater abgöttisch liebte, und Edvard, der sich gegen den Vater auflehnte, einen ungeheuerlichen, unbegreiflichen, verstörenden Widerwillen gegen ihn wachsen spürte.

Als er damals ins Haus gerannt gekommen war, hatte er gleich die Treppe zum Zimmer des Vaters genommen und die Tür aufgerissen, bevor ihn der Mut und seine Sehnsucht nach Versöhnung wieder verließen. Der Vater hatte vor dem Bett gekniet. Er hatte den Oberkörper auf das Bett geworfen. Er hatte die Hände gefaltet und zur Wand erhoben, an der ein Kreuz hing. Er hatte geflüstert, geschrien und gemurmelt: Edvard hatte die Worte mehr geahnt als verstanden, mit denen der Vater heiße Gebete zum Himmel schickte.

»Vater«, hatte er leise gesagt. Doch er hatte schon aufgegeben. Er war auf sein Zimmer gegangen, hatte in einer eigentümlichen Versenkung Papier und Stifte hervorgeholt und den betenden Vater gezeichnet. Er hatte um sein Leben gezeichnet, so war es ihm damals vorgekommen; und er hatte um das Leben seines Vaters gezeichnet, sein Seelenheil. Er hatte gezeichnet, um den Eindruck zu begreifen und um ihn loszuwerden, beides. Es hatte in seinem Kopf gebrannt, und in seinen Fingern; es brannte die Fläche der Hand, mit der er das Papier berührte. Er dachte an die Lampe, die ihr gelbes Licht auf das weiße Nachthemd des Vaters geworfen hatte. So lange war er fort gewesen! Dass der Vater schon im Nachthemd war! Das Licht war so mild, eine solche Milde hätten sie beide gebraucht. Das Licht, das Licht, das war die Rettung, Licht war Farbe, was sonst, Farbe war Licht. Also hatte er den Farbkasten genommen und die Farbe entschlossen auf die Zeichnung gesetzt: So kam ein wenig Milde für sie herein, für sie beide!

Damals hatte er das Bild betrachtet und war in seinen Kleidern eingeschlafen.

Jetzt holt er sich eine Flasche Cognac aus der Küche und trinkt.

Wenn er genug getrunken hat, um sich selber auszuhalten, geht er zur Leinwand und fängt mit der Arbeit an.

Er probiert etwas Neues aus, mit dem alten Material, er deutet es immer wieder neu, er sucht es in immer neue Formen und Farben zu verwandeln, nur so trotzt er der Pein das Leben ab. Das hat er von Anfang an getan. Alles, was er erlebt hat. Dummerweise führt ihn das immer wieder zu den Verletzungen, die er erlitten hat, mit denen er nicht fertig geworden ist. Die Tragödie mit Tulla. Die Eifersucht. Das Betrogensein. Das Verlassenwerden. Ihre Grausamkeit.

Wenn ich dem Elend in mir freien Lauf lasse, denkt er, begreife ich vielleicht etwas und kann es hinter mir lassen. Ich mache es den anderen nutzbar, dann war es wenigstens nicht umsonst. Er glaubt es, es tröstet ihn.

Und so versucht er, der Ohnmacht auf den Grund zu gehen. Die Ohnmacht, die keiner denken will. Die Ohnmacht, in die ihn die Liebe versetzt hat.

Dein Angesicht enthält alle Zärtlichkeit der Welt

es gleitet der Mondschein über dein Gesicht,

das voll von der Schönheit und dem Schmerz der Welt ist.

Der Anfang. Wie sie sich zum erstenmal getroffen hatten. Mathilde Larsen, hieß es, Tochter des Weinhändlers Larsen, sieh dich vor, eine Frau mit Ansprüchen. Im Café, mit den Freunden, Krogh, Heiberg, Jaeger. Sie kam herein im eng geknöpften schmalen Kleid, die Brust flach eingesperrt wie eine Amazone, die Bewegungen im schwingenden Rock ungestüm. Über das Herrische darin hatte er hinweggesehen, oder, genauer, er hatte es gesehen, ohne es sich einzugestehen. Er gestand sich nicht ein, dass es ihm gefiel, ihn reizte, ihn anzog, diese ungeheure Sicherheit, wie sie sich dort vor allen Leuten gab, die Ungezwungenheit, die er nur von – sehr wenigen – Männern kannte. Das Burschikose ließ das verwirrend Weibliche an ihr noch mehr hervortreten. Wein für alle!, hatte sie gerufen und ihr Hütchen auf den Tisch geschleudert (später wurden es übertrieben große Hüte mit Blumen, die sie über die Krempe wuchern ließ.) Das Ungezähmte an ihr lockte ihn, der helle, biegsame Hals, den sie beim Lachen freilegte, ein wenig vulgär, wie ein Hund seinen Hals dem andern, der sagen will: Ich unterwerfe mich. Ich unterwerfe mich, hatte Munch gedacht. Mathilde. Es war, als griffe sie in seine Knochen und holte das Mark aus ihnen heraus. Als nähme sie sein Herz und betrachtete es wie Salome das abgeschlagene Haupt Jochanaans, dein Körper, so weiß wie die Lilien auf dem Feld, liebevoll, verlangend und ohne jedes Bewusstsein, es ihm abgeschlagen zu haben, oder, in seinem Fall, das Herz ihm herausgerissen zu haben, das er malen würde als blutende Blume. So wie Salome nicht wahrhaben wollte, dass die Lippen, die sie nun endlich küssen durfte, einem abgeschlagenen, leblosen Kopf angehörten. Das alles war Tulla. Mathilde.

Sie rührte an eine Lebenslust, fern, fern, in seinen allerersten Jahren, die er gekannt, vor dem frühen Tod der Mutter, eine Unbeschwertheit und Zärtlichkeit. Die Mutter, die ihn angesehen und gelacht, ihn an ihr Gesicht gedrückt. Tullas weiße Haut: als berührte er die Haut der Mutter, obwohl sie keinerlei Ähnlichkeiten mit ihr hatte. Es war nur das Gefühl. Das war ihr Leimpfad, ihr Lockmittel, ihre Macht, der er folgte, um einer noch größeren sich auszuliefern, der Macht ihrer vorbehaltlosen körperlichen Begegnung. Eine Nacktheit, in die sie ihn und sich hineinriss, mit ihren gierigen offenen Küssen, der unbändigen Zunge, die sich in seine Mundhöhle bohrte und windete bis in die letzten Winkel seines Hirns und seines Herzens. Sie nahm ihn wie die Huren im Bordell es in ihren besten Stunden taten, und er war hingerissen, das alles bei einer Bürgerlichen zu finden und ihre Enthemmung auf sich beziehen zu können. Und erschrocken.

Ein Schrecken, der ihn atemlos machte und den er mit Wein im Zaum zu halten suchte. Er beneidete sie um ihre finanzielle Freiheit. Ihre Verwöhntheit, ihren Glanz. Ihre eigenartige Hingabe.

Doch die Mutter hatte manchmal auch diese kalten abweisenden Augen gehabt. Manchmal. Das war ihre andere Seite.

Warum nahm man überhaupt eine Beziehung zu einem anderen Menschen auf? War es nicht besser, immer nur zu arbeiten?

Meine Madonna. Wie er neben ihr gesessen hatte, den Arm um ihre Taille gelegt. Wie es ihn bewegte, ihr so nah zu sein, jede Wimper konnte er einzeln sehen, jeden grünen Sprenkel in ihren Augen, die Zartheit ihres Haars, die durchscheinende Haut in ihrem Gesicht.

Er berührt ihre Lippen mit den Kuppen seiner Finger. Sie sind weich, warm, fest, er fühlt, wie sie zu lächeln beginnen, er fühlt ihre Bewegung, seine Finger zittern. Sie wendet ihm den Kopf zu und sieht ihn an, ihre Augen glänzen. Er legt den Kopf an ihre Brust und hört ihr Herz wild klopfen, ihr Haar fällt um ihn wie ein großer, schützender Vorhang, ihr Mund brennt auf seinem Nacken.

So bleiben, für immer, nichts sonst.

Wieder und wieder wird er das einzufangen suchen, diese Empfindung, diese Verschmelzung in Küssen, Umarmungen. Und die Leute werden schreien und die Männer werden ihren Frauen die Augen zuhalten, unmöglich! Diese Küssenden und Umarmenden und dann noch am Fenster, wo jeder sie sehen kann, unmöglich!

Dabei war die Liebe ein großes Gebet.

Du bist die Frau, die durch die Straßen läuft und alle Männer strecken ihre Hände nach dir aus. Du bist der Vampir, der mich aussaugt. Du bist die Frau, die voll Zärtlichkeit meinen Nacken küsst. Du bist mein Tod. Meine Liebe zu dir wirft mich in eine Einsamkeit, aus der ich nur durch den Verzicht auf dich hinausfinde.

Ich hasse dich.

Ich liebe dich.

Ich gehe ohne Ruhe in meinem Zimmer umher. Ich kann nicht malen, nicht zeichnen. Ich warte auf die Spannung, die eigene Stimmung, den Sprung, aus dem heraus allein ich arbeiten kann.

Du zerstörst all das.

»Du willst mir den Pinsel führen«, sagt Munch.

»Nein«, sagt Tulla und lächelt.

»Du lässt mich nicht in Ruhe arbeiten«, sagt er.

»Nein«, sagt sie.

»Was willst du«, fragt er.

»Ich will alles«, sagt sie. »Ich will mit dir leben, mit dir reisen, ich will alles wissen von dir, was du denkst, was du fühlst, was dich bewegt. Ich will alles mit dir teilen. Ich will dir sagen, was ich denke.«

Sie küsst ihn.

Er hat Angst zu ersticken.

Der Vater. Die pietistische Inquisition.

Die Aufgabe des hart erkämpften inneren Raums.

Du willst mir ins Hirn.

Mich manipulieren.

Die gespenstischen Augen der Mutter; sie waren nicht kalt, sondern ihm fortgenommen, es war sein Schock, als Kind, als sie ihre Augen nicht mehr aufschlug, auf dem Totenbett, und nie wieder danach. Manchmal muss er um die Erinnerung an ihre lebendigen Augen kämpfen, gegen die Augen der unterdrückten sinnlichen Lust. Bei aller Liebe des Vaters. Bei aller Zärtlichkeit. Gefesselte körperliche Leidenschaft. Da ist ein eingesperrtes Tier in ihr, das muss sie töten, das macht ihre Augen so starr. Nicht immer. Aber manchmal, unerklärlich und überraschend für den kleinen Edvard. Unheimlich. Dass ein Kind so etwa registriert! Oder ist es seine Phantasie? Hat er diese Augen vielleicht doch eher bei Inger gesehen, oder Tante Karen?