Die Autorin dankt dem Kanton Thurgau für den Förderbeitrag Literatur und der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia für den Werkbeitrag.

Der Verlag dankt der Kulturförderung Kanton St.Gallen und dem Lotteriefonds des Kantons Thurgau für die Unterstützung.

Gehör schenken. Schwachsinn! So wirst du das Spiel nie und nimmer gewinnen, Kamm. Schenken Sie mir Ihr Ohr, das linke oder das rechte, oder Ihr Herz, lieben Sie mich doch einfach, so wie Sie den Teddybären Ihrer Kindheit liebten.

Ich versuche, in den Rissen und Flecken an den Wänden Formen zu erkennen, Menschen, Tiere oder Monster. Wie damals als Kind, wenn ich krank war und im Bett bleiben musste. Doch die Tapeten meiner Kindheit hatten einen seidenen Glanz und phantastische Muster, Flecken waren da nie.

Irgendwann wird der Tag kommen, Kamm, dein grosser Tag, und darauf musst du vorbereitet sein. Du musst dir eine Vorstellung davon machen, musst wissen, wie du dich dann präsentieren willst. Vielleicht Jeans, ein helles Hemd und eine dezent gemusterte Krawatte? Schwieriger ist die Wahl der Schuhe. Ob sie eher zu Hemd und Krawatte oder zu den Hosen passen müssen? Nicht in Frage kommen Sneakers. Lederschuhe, Halbschuhe müssen es sein. Eventuell dunkelbraune Mokassins, nein, keine Mokassins, blankgeputzte Sonntagsschuhe mit Schnürsenkeln, ordentlich gebunden. Und die Haare müssen bis dann nachgewachsen sein, was für ein Eindruck das machen würde, dieser kahlgeschorene Schädel.

Geben Sie mir fünf Minuten, nur fünf Minuten, und Sie erfahren, wie es wirklich war!

So geht das nicht. Ich bin doch kein Marktschreier, ich will keine fünf Minuten, ich will einen Einstieg. Darauf muss ich mich konzentrieren. Es geht um mein Leben, und das ist, zumindest für mich, nicht wenig.

So fühlt es sich an, wenn man am Ende ist.

Kamm, du bist am Ende, aber da willst du nicht sein, da will keiner sein, obwohl es immer und bei allem darauf hinausläuft.

Ich kann Ihnen nichts versprechen, sagte ich, vielleicht wird es ein zusammenhängender Bericht, vielleicht aber auch nicht. Frau Kesselring übergab mir lächelnd eines dieser edlen schwarzen Notizbücher mit Gummiband und meinte: Sie schreiben das nicht für mich, Ihnen soll es helfen.

Ja, so ist es, Olivier Kamm hat Sitzungen bei einer Psychotherapeutin. Und weil er derzeit, oder vielleicht war das schon immer so, nicht gern über sich selbst redet, schreibt er. Doch wie gesagt, versprechen kann er nichts.

Was Kamm, kahlgeschoren, umgeben von Wänden mit Rissen und Flecken, fehlte, war jemand, mit dem er hätte reden können. Zum Beispiel darüber, wie es ist, wenn es von ganz oben nach ganz unten geht. Und oben, wohlverstanden nicht ganz oben, war er schon immer. Unten war er nie. Nicht einmal in der Mitte. Immer oben, und von da auf dem Weg nach ganz oben. Als dann alles zusammen mit ihm den Bach runterging, war er bereits ganz oben angekommen.

Doch geschenkt wurde ihm nie etwas, nur das Leben und das Glück, in eine Familie hineingeboren worden zu sein, die ihm den Weg nach ganz oben ebnete, aber auch erwartete, dass er sich auf diesen Weg machte. Ein Wunderkind war er nie. Kein Fünfjähriger mit Violine. Kein Klassenüberspringer. Da waren keine Abklärungen wegen Hochbegabung nötig. Guter Durchschnitt in allem, im Ehrgeiz überdurchschnittlich, und gerade das hielt ihm für den Weg nach ganz oben die Türen offen. Später hätte er in die Politik gehen können, Bundesrat, warum nicht. Eine neue Spielwiese hätte sich da aufgetan. Er mochte Spiele, vor allem Rollenspiele. Nicht um zu gewinnen, sondern um weiterzukommen. Immer das Ziel vor Augen: nach ganz oben. Da ist die Aussicht am schönsten.

Nach dem Medizinstudium hängte er den Facharzt in Rechtsmedizin an, denn ihn interessierte, was in den Menschen drin war, und ihm war lieber, wenn sie dabei stillhielten. Das mit dem Stillhalten kam jeweils in einer Runde von medizinischen Laien ausserordentlich gut an. Überhaupt fanden es die Leute meistens sehr interessant, wenn er von seinem Beruf erzählte, damit fand er sofort Zugang zu den Menschen, vor ihrem Tod und auch danach.

Mein Kopf ist rasiert, ist bequemer so, die Stoppeln spüre ich wie die Borsten einer Nagelbürste, wenn ich aus Gewohnheit über meinen Schädel fahre und dabei erwarte, in volles Haar zu greifen.

Ganz oben: das hiess, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin, da war Kamm gerade mal Mitte dreissig. Leider war es nur ein kleines Haus, die interessanten Fälle fehlten, und kurz bevor es ihm langweilig wurde, kam eine Anfrage des Bundesamtes für Polizei, an einer grossangelegten Untersuchung mitzuarbeiten, einem Projekt in Zusammenarbeit mit Europol. Dano, sein Freund aus Kindertagen, hatte ihn empfohlen. Früher hatte Dano seiner Familie nicht gepasst, da seine Mutter und er zur Miete wohnten und sie selber putzten und es keinen sichtbaren Vater gab.

Heute ist Dano stellvertretender Bundesanwalt, heute passt er.

Ziel der grossangelegten Untersuchung war es, die Kinderpornographie im Internet zu bekämpfen. Das wiederum passte Kamm: die Suche im Inneren der Cyberwelt, des Unsichtbaren, des Göttlichen. Ein befristetes Projekt, er sagte zu.

Feuer im Hals, Magensäure, meine Speiseröhre verätzt. Es hilft nicht, das Gesicht ins harte Kissen zu drücken und an nichts zu denken, also denke ich mich in den Obduktionssaal zurück, versuche den Geruch zu erinnern, den ich noch nie beschreiben konnte, den ich aber von Anfang an mochte. Stelle mir vor, dass ein Mensch vor mir liegt, wie ein offenes Buch, sichtbar die Magengeschwüre und die vernarbte Speiseröhre. Zu viel Stress, Adalbert, flüstere ich, wahrscheinlich von allem zu viel.

Ich will, dass man mich versteht, dass man weiss, wovon ich rede, da bin ich wohl etwas eigen. Ich sage nicht etwa Gastrektomie, sondern Magenentfernung, und erkläre immer wieder den Unterschied zwischen einem Rechtsmediziner und einem Pathologen. Doch hier interessiert das keinen.

Wenn etwas nicht gut ist, reagiert der Magen zuerst. Oder sollte ich besser Psyche sagen? Einige medizinische Termini sind mittlerweile im Sprachumgang vertrauter als die deutschen: Hypochonder, Depression, Infarkt. Frauenarzt hat bereits einen trivialen Touch, Gynäkologe klingt seriöser.

Ich muss mein Gehirn trainieren, in Schuss halten, würde Mutter sagen. Also: Das Bundesamt für Polizei heisst Fedpol. Die Operation gegen Kinderpornographie im Internet wird in Österreich Typhon genannt, in der Schweiz Falcon, in Deutschland … der Name ist weg. Erschrocken richte ich mich auf, und sofort ist wieder Feuer in meinem Hals.

Laufend verliere ich Wörter, manche kommen zurück, aber nur kurz, und verschwinden dann gleich wieder. Ich fürchte, dass sie endgültig weg sind. Wie hiess der Internetprovider in Norwegen, den wir als Ersten überführten? Auch der ist weg. Wie nennt man Blutarmut? Anämie. Wenigstens das.

Es gab den Internetfreak, der ohne Pause am Bildschirm klebte und lautstark Rotz die Nase hochzog, bis das an einer Sitzung thematisiert wurde und er sich verwundert am Kopf kratzte und fragte: Ihr wollt mich doch nicht etwa verarschen? Ausserdem gab es den Psychologen, der derart leise und langsam sprach, dass man ihn am liebsten geschüttelt hätte. Meistens hatte es Kamm aber mit Fotografen und Informatikern zu tun, denn seine Aufgabe war es, Bilder zu analysieren. Tausende von Fotografien zogen an ihm vorbei, hässliche und entsetzlich grausame. Nahaufnahmen von Geschlechtsteilen. Er musste bezüglich Alter und Nationalität von Täter und Opfer mutmassen. Und sie hatten Erfolg: Schlag gegen Kinderpornoring in Norwegen, Italien, Schweden! Die Mediensprache faszinierte ihn, die Schlagzeilen wirkten wie öffentliches Lob. Die Bilder aber blieben haften. Darauf folgten Träume, auch solche, in denen er die Seite wechselte, zum Überläufer wurde, ein Täter. Albträume.

Vielleicht liess er sich zu sehr auf die Materie ein, und die Idee, ein Buch über Kinderpornographie im Internet zu schreiben, war doch nicht so gut.

Er war davon ausgegangen, dass ihm das alles nichts anhaben könne, dass er an vieles gewöhnt sei, alles problemlos wegstecken könne. Die Arbeit bei Fedpol liess sich jedoch mit der Rechtsmedizin nicht einmal im Ansatz vergleichen. Auf seinem Tisch waren stets reale Leichen gewesen, die er aufschneiden und in denen er nachsehen konnte. Es gab Gerüche und Geräusche. Es gab Untersuchungen und Analysen mit Resultaten, die man auswerten und aus denen man etwas ableiten konnte.

Hier hingegen gab es nur Vermutungen, sie bewegten sich im luftleeren Raum. Meistens waren es nur klägliche Versuche, in Räume vorzudringen, die vielleicht nicht einmal vorhanden waren, eine Art Herumkriechen an Ort und Stelle. Heute, beim Versuch, sein bisheriges Leben wenigstens schreibend auf die Reihe zu bekommen, weiss er, was ihm damals fehlte: Es gab nichts zu tasten, zu riechen oder zu schmecken. Selbst die Augen kamen nur einseitig zum Einsatz, Bilder ohne Tiefe, nur am Bildschirm, keine, die man in die Hände nehmen konnte. Und doch frassen sie sich in seinen Schlaf. Irgendwann liessen sie ihn gar nicht mehr einschlafen. Kamm wusste nicht, ob es den anderen ähnlich erging. Sie hatten ein ungewöhnliches Verhältnis zueinander, und so, wie sie in den virtuellen Räumen herumkrochen, schlichen sie auch umeinander herum. In den Sitzungen rapportierte jeder aus seinem Bereich, von dem bereits sein Nachbar kaum mehr etwas verstand. Mag sein, dass es nur Kamm so erging, doch daran glaubte er nicht wirklich.

Er verfasste Berichte, Zwischenberichte und Gutachten, gab sogar Interviews, und dann schrieb er das Buch, es wurde übersetzt und befand sich nun in fast jedem Polizeipräsidium Europas.

Kurze Zeit nach der Publikation wurde ihm nahegelegt, eine Auszeit zu nehmen, da er deutlich mehr aus der Haut fuhr als die anderen, seine Hände unübersehbar zitterten und er nicht mehr schlafen konnte. Für ihn kam das ohne Vorwarnung und wurde unter dem Punkt Varia an einer Sitzung thematisiert.

Es machte ihm jedoch nichts aus, dass er aus dem Projekt aussteigen musste, im Gegenteil, und die anderen schienen erleichtert, dass er sich einsichtig zeigte und sich bereit erklärte zu gehen. Es ergehe früher oder später allen gleich, wurde ihm gesagt. Doch das war ihm zu jenem Zeitpunkt egal, denn die Sehnsucht nach Ruhe machte sich mit der Gewissheit, gehen zu können, mit grosser Macht bemerkbar. Er ahnte, dass er bald nicht einmal mehr in der Lage gewesen wäre, den Computer hochzufahren.

Ob man das Versagen nannte, fragte er sich nicht, er wollte nur weg und vielleicht später einmal darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte.

Den Auftritt im Kopf durchspielen, falls es plötzlich so weit ist und unangemeldet zwei Aufseher in der Zelle stehen, mir Handschellen anlegen und sagen: Mitkommen, Kamm, das Hohe Gericht erwartet Sie. Ich kann mir nicht vorstellen, Handschellen zu tragen. Wie sollte ich so die Damen und Herren des Gerichts begrüssen? Ihnen die gefesselten Hände entgegenstrecken?

Ich darf mich jetzt nicht in Details verlieren. Das wird sich alles ergeben, und ich werde es nehmen müssen, wie es kommt, da bleibt mir gar keine Wahl. Wichtig ist, dass ich mein Gehirn trainiere, es muss wieder in Form kommen. Liegestütze wären auch nicht schlecht, meine Oberarme sind schlaff, die Schultern schmaler geworden. Auf keinen Fall darf ich als Schwächling vor Gericht erscheinen. Jeans, Hemd und Krawatte und dazu vielleicht einen grauen Blazer. Gepflegt und doch nicht überheblich. Mit geradem Rücken dastehen, die Arme locker neben dem Körper, die Schultern nicht hängend, aber auch nicht explizit die Brust raus, ein offener Blick.

Ich werde meine Geschichte erzählen, nicht die der anderen, die der anderen würde mir schaden.

Sie machen es mir nicht leicht, meine Damen und Herren, denn ich weiss nicht, wo ich anfangen soll. Ich fürchte, wenn ich nicht ganz von vorn beginne, können Sie nicht erkennen, wer da vor Ihnen steht. Sie können mich nicht ganzheitlich erfassen. Meines Erachtens ist das wichtig.

Um sich zu erholen, reiste Kamm nach Finnland, als Auftakt eine Woche Helsinki. Die Vorstellung, dass er nichts tun musste ausser essen und schlafen, gefiel ihm. Wobei Schlafen immer noch nicht ging, jede Nacht verbrachte er Stunden am Fenster des Hotelzimmers und beobachtete den dank der isolierten Scheiben tonlos schleichenden Verkehr. Er fühlte sich verloren und schaffte es in kein Museum, in keine Kirche und in keine Galerie. Nicht einmal Nachrichtensendungen konnte er sich ansehen, nur Kinderfilme oder Musikbeiträge. Er wünschte, wieder der zu sein, der er gewesen war. Ein Akademiker um die vierzig, einer, der erreichte, was er sich vornahm, vollkommen frei war und sich auch so fühlte. Er wollte wieder schlafen können, wenigstens für ein paar Stunden, ohne aufzuschrecken und nicht zu wissen, weshalb. Es war noch kein Jahr her, da begrüsste er seine Schlaflosigkeit, sprang aus dem Bett, setzte sich an den Computer und arbeitete die Nächte durch, stolz darauf, mit so wenig Schlaf auszukommen.

Nun war er an einem Punkt angelangt, wo er sich ausrechnete, wie viele Jahre seines Lebens er bereits verbracht hatte, und sich fragte, ob sich die restlichen überhaupt zu leben lohnten. Dann und wann lockte ihn der Dom, und er stellte sich vor, sich in die Tiefe zu stürzen. Sein Leben fiel vor seinen Augen auseinander. Allein körperliche Anstrengung und Alkohol lenkten ihn ab, also trainierte er im Fitnessbereich des Hotels, bis er jeden Muskel spürte, und betrank sich danach.

Nach einer Woche checkte er aus, um nach Lappland weiterzufliegen. Es ging ihm nicht besser, eine Unruhe war in ihm, seine Hände flatterten, die Knie schlotterten, und als er dem Taxifahrer sagte, dass er zum Flughafen wolle, zitterte sogar seine Stimme. Gleich würde er ohnmächtig werden oder einen Herzinfarkt erleiden, aber er verlangte keinen Arzt, und dem Taxifahrer fiel nichts auf. Das geht vorüber, dachte er und versuchte, ruhig durchzuatmen.

Das gleichmässige Brummen des Flugzeugs, das ihn in die Stille des Nordens brachte, und ein doppelter Whisky verschafften ihm etwas Ruhe.

Am Flughafen in Kittilä wartete ein Mann mit einer Tafel, auf der »Äkäslompolo« stand. Kamm und ein Ehepaar mit Kind steuerten auf ihn zu. Der Mann drehte sich ohne ein Wort um, und sie folgten ihm zu einem Kleinbus. Kamm setzte sich auf die hintere Sitzbank und behielt den Rucksack zwischen den Knien. Das Paar und das Kind vor ihm hatten kurzes dunkelbraunes Haar mit einem tief angesetzten Wirbel. Immer wieder verglich er die drei Hinterköpfe und konnte bis auf die Grösse keinen Unterschied feststellen. Auf der einstündigen Fahrt wurde nicht gesprochen.

Bei einer Ansammlung von Häusern hielt der Fahrer, drehte den Kopf und blickte auf Kamm. Dieser quetschte sich an der reglos sitzen gebliebenen Familie vorbei, der Fahrer zeigte auf ein Gebäude, offensichtlich das Informationszentrum, und fuhr ohne Gruss weg. Gern hätte er ihm ein Trinkgeld gegeben, aber der Mann hatte dafür gesorgt, dass sich keine Gelegenheit dazu bot. Das Thermometer an der Aussenwand zeigte minus einundzwanzig Grad. Kamm überkam eine unerklärliche Ruhe.

Das Informationszentrum war noch geschlossen. Eine Mitteilung neben der Eingangstür informierte ihn auf Englisch: Die Langlaufausrüstung und der Schlüssel für die gemietete Blockhütte seien im Skiverleih im Untergeschoss abzuholen.

Nicht Blockhütte, das ist ein Blockhaus, wurde er dann beim Skiverleih in eindringlichem Ton korrigiert, als ob er das nie wieder vergessen, niemals mehr zu einem Blockhaus Blockhütte sagen dürfe. Der Mann schien nervös und gereizt und schimpfte sofort drauflos, als Kamm ihn gefragt hatte, woher er denn komme. Er wetterte über Österreich, dieses Vorarlberg, dieses unsägliche, aus der Enge und dem Geschrei habe er weggewollt, weg von Frau und Kindern, der unmöglichen Familie, eine Wohnung in Wien habe er noch. Das schon. Wien sei Wien und nicht zu vergleichen mit Vorarlberg. Und hier in Lappland ein Blockhaus, fast schon eine Blockvilla. Ob er Fotos sehen wolle? Kamm bat stattdessen um einen Plan. Damit ich mich nicht in Schnee und Eis verlaufe, sagte er, mich nicht in der Stille verliere, dachte er.

Schönen Aufenthalt, sagte der Österreicher und drückte ihm die Langlaufausrüstung in die Arme, legte einen Loipenplan auf die Theke und den Schlüssel für das Blockhaus daneben.

Ich werde vor Gericht mit Lappland beginnen. Aber zwischen dem Aufenthalt in Äkäslompolo und dieser Gegenwart mit dem kahlen Kopf und der Säure im Hals liegen Welten. Da hat eine Art Umkehrung sämtlicher Adjektive stattgefunden, mit denen man mich hätte beschreiben können. Meine Identität ist obduziert, und einzelne Teile sind entnommen, bestimmt verfaulen sie irgendwo. Nichts passt mehr zu mir und ich nirgends mehr hin. Und erst recht nicht hierher, wo immer das ist. Keine Folie. Niemals mit so etwas gerechnet. Der Druck von unten schafft es nur bis zur Kehle, bis zur Säure. Eine unerträgliche Enge entsteht da zusammen mit den Säften, ich kann nichts dagegen tun, auch nichts gegen die Tränen.

Derselbe Fahrer brachte ihn nun zum Blockhaus, wartete, bis er Rucksack und Langlaufausrüstung ausgeladen hatte, wendete und fuhr weg. Wieder hatte er kein Wort gesprochen. Kamm betrat das Haus. Es gab ein Wohnzimmer mit einer kleinen Küche und einem Holzofen. Auf einem niedrigen Tisch lag die Bedienungsanleitung für die Heizung. Es war kalt. Eine schmale Tür führte in ein Bad mit einer winzigen Sauna, gegenüber ein Schlafzimmer. Über eine enge Holztreppe gelangte er in einen offenen Raum, der mit mehreren Betten verstellt war. Wie vergessen stand ein altes Fernsehgerät auf dem Holzboden, ein loses Kabel daneben, das mit keiner Steckdose verbunden war. Aus den Räumen kroch Einsamkeit, und Kamm beschloss, zurückzugehen und das Blockhaus gegen ein Hotelzimmer einzutauschen. Er wünschte sich ein kleines Hotel mit gesetzten, unaufdringlichen Gästen.

Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen, und dass er beim Gehen Geräusche machte, war er nicht gewohnt. Hingegen gehörte die Kälte wie selbstverständlich hierher, so dass das sonst bei ihm übliche Schlottern bei plötzlichem Temperaturwechsel ausblieb. Er marschierte zügig, atmete tief ein und aus, und der Rucksack verlor zusehends an Gewicht.

Hier gab es kaum Strassen, dafür grosse weisse Flächen, die von sieben Hügeln umstellt waren, und in der Mitte eine zugefrorene Seelandschaft. Dazu Flecken mit Sträuchern und halbhohen Bäumen, die ihre kahlen weissen Äste in das Blau des Himmels reckten und sich verhielten wie Skulpturen. Das untere Drittel der Hügel war bewaldet, aber auch da gab es kein Grün. Die Strassenränder waren von hohen Wänden aus pickelhartem Schnee gesäumt. Die Stille zum Greifen. Ein Blockhaus, drei Kilometer von der kleinen Ansammlung von Häusern entfernt, die sich Dorf nannte, wäre zu viel der Stille gewesen.

Lieber ein Hotel?, fragte der Mann hinter der Theke im Informationszentrum.

Kamm nickte und sah sich um: viel Holz, dazu grosse Fensterflächen mit Sicht auf das unendliche Weiss, Erwachsene und Kinder mit Rucksäcken und Koffern, allesamt mit erwartungsvollen Gesichtern und in kribbeliger Vorfreude. Sie schauten bunte Prospekte an, auf denen Schlittenfahrten mit Huskys und Rentieren angepriesen wurden. Jetzt wünschte sich Kamm doch wieder in das Blockhaus zurück.

War mit dem Haus etwas nicht in Ordnung?, wurde er gefragt.

Er erklärte, dass er wohl Ruhe suche, aber nicht völlige Abgeschiedenheit.

Am See sei ein kleines Hotel, ob man da für ihn anrufen solle?

Wieder nickte er und erinnerte sich an den zugefrorenen See, der durch das Fenster des Busses wie eine grosse, verschneite, baumlose Wiese gewirkt hatte. Wie in Zeitlupe hatten darauf Langläufer ihre Runden gedreht.

Sie werden gleich abgeholt, sagte der Mann und wandte sich einer Frau mit blonden Haaren zu.

Kamm wartete am Ausgang und musste sich wieder die Geschichte von Vorarlberg und Wien anhören, da der Österreicher vom Skiverleih gerade nichts anderes zu tun hatte. Übrigens, ich heisse auch Oliver Kamm, wie Sie, grinste er.

Ich heisse aber Olivier, betonte Kamm unfreundlich.

Mich nennt man Oli, kam es mit ungebremster Fröhlichkeit zurück.

Darauf reagierte Kamm nicht mehr, woraufhin der andere sich entfernte. Kamm ärgerte sich über den aufdringlichen Kerl und spürte die Kälte jetzt als Gesamtpaket, nicht wie sonst von den Füssen her.

Wieder derselbe Fahrer, der sich nun in holprigem Englisch als Erik vorstellte. Sie fuhren zu seinem Hotel, wo Kamm dann Eriks Frau Urte kennenlernte. Sie war klein, hatte eine breite Stirn, eine auffallende Stupsnase und mochte um die dreissig sein, ihre hellen Augen waren ausdruckslos, die langen Haare zu einem lockeren Knoten am Hinterkopf festgesteckt. Erik, gross und dunkelhaarig, war so ziemlich das Gegenteil von ihr. Als sie hereinkamen, stand Urte hinter der Theke und nickte ihnen abwesend zu. Der Raum war nur gerade dort, wo sie stand, gut ausgeleuchtet, der Rest lag in düsterem Halbdunkel. Allmählich stellte Kamm fest, dass noch mehr Leute da waren. Sie sassen an den wenigen Tischen, und bis auf die leise Musik war es ruhig. An das Schweigen der Leute hier würde er sich gewöhnen müssen.

Urte machte eine vage Handbewegung, und da sie einen Schlüssel in der Hand hielt, folgte er ihr, als sie sich Richtung Treppe drehte. Sie ging voraus, und einen Augenblick dachte er daran, dass es lange her war und ihm die Wärme einer Frau fehlte, ihr Geruch. Dass ihm dies ausgerechnet bei einer Frau wie Urte einfiel, wunderte ihn. Langsam bewegte sich ihre schmale Gestalt die Treppe hinauf.

Urte zeigte ihm ein kleines Zimmer mit einem schmalen Bett. Das Bad auf dem Gang. Als er den Kopf schüttelte, meinte sie: Wir haben grössere. Er war überrascht, dass sie Deutsch konnte. Das können Sie ja auch, sagte sie in gleichmütigem Ton und schloss die Tür zu einem Doppelzimmer mit Bad auf. Hier wohnten ihre Eltern, wenn sie aus Deutschland zu Besuch kämen, er könne es haben, es koste aber mehr. Auf seine Frage, wie sie denn hierhergekommen sei, antwortete sie: Ich nehme an, so wie Sie, über Helsinki und dann weiter bis Kittilä.

Er musste sich nicht nur an das Schweigen der Leute hier gewöhnen, sondern auch an Urtes Unzugänglichkeit.

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