Peter Zingler

Der Tod des Schamhaars

20 Stories aus 30 Jahren

verlegt bei Vitolibro

Vitolibro ist ein neuer Verlag. Der Schwerpunkt des Programms liegt auf der Wiederentdeckung zeitlos guter, zu Unrecht vergriffener Bücher. Und www.wiederlieferbar.de ist ein Forum für Neuausgaben in Form von Ebooks – für die Backlistpflege der Autoren und die Entfdeckerfreude der Leser.

Impressum

Diese Geschichten wurden von

Peter Zingler neu zusammengestellt.

©Vitolibro (Vito von Eichborn e. K.), Malente, März 2015

Umschlag- und Innengestaltung: Maja Wibben

Motiv: Doris Lerche

Foto: Margot Hammerschmidt

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Weiteres finden Sie unter www.vitolibro.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Der Tod des Schamhaars

Das Strafmandat

Die Hamstertour

Mindestens eine Million

Der Totengräber

Arbeit?

Zur letzten Unruh

Schilfrohr

Das Päckchen

Frankfurter Würstchen

Jackpot

Lisa

Louisa

Das Haus in den Bergen

Eine nasse Nummer

Das Bedürfnis

Mehmet an der Rotlichtfront

Wir bleiben hier, wo wir sind!

Nur vom Feinsten

Bahnhofsviertel

Die Quellen

Bio-/ Biblio- und Filmographie

Weitere Bücher

Vorwort

Als ich vor etwa 30 Jahren, damals noch im Gefängnis, mit dem Schreiben begann, waren es Kurzgeschichten, immer wieder, immer weiter Kurzgeschichten. Es gab so viele Themen, und ich fand es einfacher, sie kurz und bündig zu erzählen. Ich konnte gar nicht verstehen, warum man unbedingt Romane braucht, um eine gute Geschichte zu erzählen. Später waren meine Reportagen auch immer auf den Punkt. Warum muss Erzähltes ausufern, nur weil man es aufschreibt? Ich wollte viel erzählen und deshalb kurz. Da einen die Dinge am meisten beschäftigen, die einem fehlen, ist es nur verständlich, dass im Gefängnis die Erotik zum Thema Nummer eins wird und Phantasien und Erzählungen geradezu erzwingt. Wer hungrig ist, denkt laufend ans Essen, und das Erträumte ist oftmals viel besser als das, was wirklich auf den Tisch kommt.

Die hier vorliegenden erotischen Stories, Beziehungsgeschichten, Krimis oder Alltagsereignisse sind teilweise Jahrzehnte alt, aber sie haben nichts an Aktualität verloren.

Peter Zingler 2015

Der Tod des Schamhaars

Betrachtungen eines nostalgischen Schwärmers

Die so genannte gute alte Zeit war für den, der sie erlebt hat, meist eine schwierige oder aus damaliger Sicht sogar eine schlechte neue Zeit. Trotzdem gab es feste Größen, auf die man sich verlassen konnte. Eine davon war der Griff ins weibliche Höschen und das Wühlen in seidig-weichem oder wahlweise bürstigem Schamhaar. Mann war am Ziel. Fast. Mensch war das schön! Und heute?

Wo selbst moralisch unverdächtige Presseorgane sich mit dem Thema beschäftigen, muss man einfach einmal darüber reden! Weibliches Schamhaar ist mittlerweile so selten geworden, wie der vom Aussterben bedrohte Bär. Nach dem Verschwinden von Achsel- und Beinbehaarung ist seit einigen Jahren auch an der Scham die Vollglatze angesagt. Eine Mode, der flächendeckend vor allem junge Frauen erliegen, aber neuerdings gibt es auch mehr und mehr Männer, die sich ihren Brust- und Schamhaarschmuck restlos entfernen. Was ist da los? Schließlich ist das Schamhaar ein Zeichen von Reife. Früher, in der Pubertät, wurde es heiß ersehnt und, als es endlich da war, heimlich vorgezeigt: Schaut her, das IST ein HAAR! Hurra ich bin erwachsen!

Bei Männern erklärt sich die neue Körperenthaarung wohl mit der steigenden Selbstverständlichkeit des Homosexuellen und dem Eingeständnis femininer Züge. Oder einfach mit der Forderung des Weibes, warum nur Du? Auch ich will alles sehen! Starker Bart-, Bein- oder Achselbewuchs bei Frauen erweckte bei uns Jungs die Illusion eines riesengroßen „Bären“, wie wir das Schamhaardreieck ehrfürchtig nannten. Wer wie ich, ein Leben lang in die Sauna geht, weiß genau, wann der weibliche Kahlschlag begann. Etwa 25 Jahre sind es her, es war noch eine der „Montags-Damen, Dienstags-Herren, Mittwochs gemischt Saunen“.

Das Zauberwort war „GEMISCHT“! Dort zeigte Frau ihr Bärchen, wobei der Schwarzbär die am meisten verbreitete Gattung war, dann folgte der Braunbär.

Am Blondbärchen hingegen erkannte man die echte Blondine. Damals sah ich die erste Totalrasur bei einer deutschen, nicht muslimischen Frau, Seitdem geht’s bergab mit den Bären, besser gesagt haarab.

Gegen die Körperbehaarung im Allgemeinen kämpfen weibliche Schönheitsfreaks schon sehr viel länger. Im letzten Jahrhundert, zwischen den Weltkriegen, wurde es modern, die Achseln zu rasieren. Das hat nichts mit der Körperfunktion zu tun, denn die Schweißdrüsen arbeiten nach wie vor. Aber ist es wirklich hygienischer? Gründlich gewaschen riechen die Achseln, rasiert oder nicht, stets nach frischem Schweiß. An diesen Stellen Haare zu zeigen, schien den prüden Amerikanern, besonders den Sittenwächtern in Hollywood und den Frauen selbst auf einmal zu provokant.

Als der Neue-Deutsche-Welle-Star Nena vor 25 Jahren in London auftrat, waren der Presse ihre 99 Luftballons weniger Text wert als die schwarzen Haarbüschel, die frivol unter ihren Achseln hervor lugten.

Als Kind im Rheinland aufgewachsen erinnere ich mich an den passenden Spruch: „Herrjöttche steh mir bei - unter de Arme hat se auch noch zwei.“

Damit ist die Männerphantasie klar beschrieben. Und Madonna pflegte als Teenie ihre Achseln nicht zu rasieren, nur um zu signalisieren: „Seht her, so wie hier oben sehe ich untenrum auch aus.“ Die Beinbehaarung wurde in den dreißiger Jahren zum Feind der Frau, weil sie in den neu erfundenen Nylonstrümpfen platt gedrückt wurde und aussah, wie eine schlecht gemähte Wiese. Dabei galt weibliche Behaarung früher (für viele gilt das noch heute) als Aphrodisiakum für Männerhirne. Als Buben suchten wir gierig im Schwimmbad nach Frauen, aus deren Schritt im Badeanzug ein paar vorwitzige Schamhärchen herausschauten und kriegten prompt rote Ohren und nicht nur das.

In der klassischen Malerei des letzten Jahrtausends fehlte das Schamhaar stets, weil es zu erotisch gewirkt hätte. Stattdessen gab es immer nur rosa Venushügel ohne weitere Details. Erst bei den frühen erotischen Fotos des späten 19. Jahrhunderts wurde Wert auf starke Schambehaarung gelegt. So dicht, dass das eigentliche Geschlechtsteil unsichtbar blieb. Und Helmut Newtons „starke Frauen“ sind auch erst 30 Jahre her!

Alles war früher nur nach aufregender Suche zu finden, während es sich heute ohne Schutzhaar dem Betrachter geradezu aufdrängt. Seht her, so sehe ich da unten aus! Neue Frauenpower? Oder warum entblößen sich immer mehr Frauen dort, wo die Natur ein Geheimnis verborgen hat?

Die westliche Kultur begriff das Schamhaar als gottgegeben, im Gegensatz zu den Muselmanen, deren Frauen sich schon immer intim rasieren mussten. Gibt es da kulturübergreifende Effekte? Kopftuch nein, Intimrasur ja?

Ich befragte etliche Frauen aus meiner Umgebung und bekam von den jüngeren spontane und freimütige Antworten: Ja, sie rasierten sich, das sei hygienischer, das mache frau doch heutzutage, oder: das sei für alle ihre Freundinnen selbstverständlich. Aber einen triftigen Grund für die schwierige Intimdepilation wusste keine. Religion schlossen sie immerhin aus. Es sei halt „in“ oder „cool“, oder „die Männer wollen es halt so“, war die häufigste Antwort.

Einige glaubten allerdings, ein paar Härchen müssten bleiben, damit es nicht aussehe wie bei einem Kind. Sonst käme man ja auf die Idee, der eigene Mann sei ein Pädophiler.

Wohin das führen kann, erlebte jetzt erst die berühmte Hollywoodschauspielerin Kate Winslet. Für ihre Oskar gekrönte Rolle in „Der Vorleser“, der in den Fünfzigern spielt, musste die Dame ein „Schamhaar Toupet“ zur Hilfe nehmen, weil durch ihr jahrelanges Waxing auch bei Nichtrasieren kein dichtes Scham-Dreieck mehr entstehen wollte. Also wurde eine „Scham-Perücke“ aufgeklebt, bestehend aus echtem Schamhaar. Ob die Dame von der das Original stammt, für ihre Leistung auch einen Oskar bekommen hat, ist nicht bekannt geworden.

Bei den meisten begann die Rasierlust in der „Bikinizone“ im Sommer, dann folgten der „Irokesenschnitt“ oder der „Landestreifen“, später forderte dann der Freund mehr Glatze, weil er genau wissen wollte, auf was er sich einließ. Oder waren es die Freundinnen, die den Frauen einredeten, haarlos sei „mega chic“?

Bei Charlotte Roches Romanfigur Helen war es ein Schwarzer der sie, statt in die Bar, zu sich nach Hause zum Rasieren einlud. Für Männer keine schlechte Alternative! Rasieren statt Saufen, keine teuren Diners mit Champagner und anschließender Disco mehr, sondern nur ein paar neue Rasierklingen, und man ist bald da, wo man sowieso hin wollte.

Aber vielleicht ist alles auch nur Ergebnis einer geschickten Werbekampagne der Rasierklingen-Industrie, deren Kassen heute übervoll sein dürften? Rasierende Frauen sind umworbene und begehrte Kundinnen, zumal die topdesignten Plastikrasierer und ihre Klingen ekelhaft teuer sind.

Tatsächlich trifft das alles nicht den Kern der Sache, oder doch alles. Intimrasur bei Frauen ist Kult, und wie Kult entsteht, konnte noch keiner erklären. Dabei ist das Enthaaren an einer so schwer zugänglichen Stelle für Selbstrasierer keineswegs eine Kleinigkeit. Trockenrasierer schaffen es kaum und Epilieren tut sauweh, besonders an dieser sensiblen Stelle. Das gilt auch für die Wachsstreifenmethode. Die so genannte Fotoepilation schmerzt ein bisschen weniger, kostet aber etwa 1500 Mäuse pro Muschi. Bleibt die Nassrasur, aber die ist eben nicht ohne Risiko. Wenn die Klinge stumpf ist, riskiert man Verletzungen mit anschließenden Entzündungen, die Härchen wachsen zuweilen nach innen und vereitern. Außerdem jucken die nachwachsenden Stoppeln wie verrückt und lassen die Damen sich völlig undamenhaft benehmen, was wiederum den Gentleman an Filzläuse denken lässt. Außerdem ist dieser „Dreitageintimbart“ für männliche Glieder das reinste Nadelkissen: ein Ausrutscher und schon brennt der Baum!

Noch unangenehmer kann‘s werden, wenn die eng sitzenden Strings, auch „Ritzenputzer“ genannt, die Stoppeln in der Kerbe wund scheuern. Denn zur totalen Rasur gehört auch die Gegend um den Anus. Und genau das hat „Helen“, die Titelheldin von „Feuchtgebiete“, nach einem Rasierunfall auf den Operationstisch gebracht, eine Analfissur. Auf Deutsch: sie hat sich beim Rasieren in den Arsch geschnitten! Wenn daraus dann am Ende noch ein Bestseller wird, hat sich das Ganze immerhin und irgendwie gelohnt.

Das Strafmandat

Die deutsche Grenze hatten sie schon lange hinter sich gelassen und bewegten sich in Richtung Rhonetal.

Hinter Zürich war es bereits dunkel, Marcel beschloss, die Nacht über durchzufahren. So würden sie am Morgen in Nizza ankommen. Er hatte es zwar nicht eilig, das Ziel zu erreichen, konnte sich aber nicht vorstellen, diese Nacht mit seiner Frau gemeinsam in einem Bett zu verbringen. Vielleicht ging‘s ja morgen besser.

Er war keineswegs in Urlaubsstimmung, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Unruhig zündete er sich eine Zigarette an, suchte das Loch, um den Anzünder zurückzustecken, ließ die Fahrbahn einen Moment unbeobachtet und musste, als er wieder aufsah, mit einem kurzen Schlenker die Richtung korrigieren. Der Porsche gehorchte sofort.

Die Stimme seiner Frau war gereizt: »Pass doch auf! Musst du andauernd qualmen? Ich krieg‘ kaum noch Luft, außerdem zieht‘s in der Scheißkarre.«

Er antwortete nicht. Was sollte er auch sagen? Dass sie es war, die im Sommer unbedingt auf dem Kauf des Targa bestanden hatte, obwohl er selbst für das Coupe plädiert hatte? Oder dass sie sehr gut wusste, dass jedes Cabrio auch im geschlossenen Zustand nicht ganz frei von Zugluft ist?

Er dachte nicht daran, denn er war mies drauf und er wusste, dass ein Wort das andere geben und alles in Mord und Totschlag enden würde. Er war schon einmal in einer ähnlichen Situation nach einem Angriff von ihr in den Graben gefahren.

Stattdessen hing er seinen Gedanken nach.

Diese blöde Nizza-Reise! Wie kam er überhaupt dazu, jetzt mit seiner Frau nach Nizza zu fahren? Er wollte gar nicht dorthin! Da sie den Sommerurlaub gemeinsam mit dem Kind in Taormina verbracht hatten, war vereinbart worden, dass im Herbst jeder nochmals alleine Urlaub machen könne, während der andere bei der Tochter bleiben sollte.

Er hatte die Reise sorgfältig geplant. Nach Rom wollte er, Freunde besuchen — und natürlich Rosanna. Vor zwei Tagen hatten sie noch miteinander telefoniert. Er hatte sie in ihrer schönen, alten Wohnung in Trastevere erreicht, mit der von Weinranken zugewachsenen Terrasse, mit den kleinen und großen ineinander-übergehenden Räumen ohne Türen. Er konnte sich vorstellen, wie sie seinen Anruf entgegennahm — vor der alten Truhe auf dem Boden sitzend, so wie immer, wenn ein Gespräch länger dauerte. Rosanna, die siebenundzwanzigjährige Inhaberin einer „Parfumeria“, die er, nur einige Monate zuvor, in Roms Horror-Disco „Much more“ kennengelernt hatte.

Es war eine Freitagnacht gewesen und dass sie sich bereits am Samstagvormittag im dreihundert Kilometer entfernten Asolo in der Villa Cipriani als Ehepaar eintrugen, um ein spontanes Liebeswochenende zu genießen, sagte wohl alles über ihre gegenseitigen Gefühle. Auch während des Familienurlaubs hatte er sich zwei Tage fortgeschlichen und heimlich mit Rosanna in Acireale ein Zimmer genommen. Am nächsten Tag waren sie auf den Aetna gestiegen.

Nie im Leben würde er dieses Erlebnis vergessen. Der Vulkan war im April ausgebrochen und schickte immer noch einen dicken Lavastrom ins Tal. Mit dem Landrover waren sie fast bis zum Gipfel vorgestoßen. Den Rest liefen sie zu Fuß. Oben lag noch Schnee und es war kalt. Dann wurde der Schnee schmutziger, war mit Asche bedeckt. Schließlich tasteten sie sich über warme Steine durch einen dichten, von der Hitze gebildeten Dunst näher an den Krater.

Es wurde heiß, und bald stockte ihnen der Atem. Wenige Meter vor ihnen zischte brodelnd und spritzend ein vier Meter breiter und einen Meter dicker Strom glühenden Gesteins aus der Erde und verschwand bergab nach zwanzig Schritten im Nebel. Beeindruckt stand er vor dem gewaltigen Naturereignis. Er kam sich winzig klein vor, suchte Rosannas Hand und fühlte sich ihr sehr nah. In der Liebe war Rosanna sanft und zärtlich, nicht so aggressiv wie seine Frau, mit der Marcel, ob er es wollte oder nicht, alle seine Sexpartnerinnen verglich. Einen Schönheitsvergleich wollte er jedoch nicht anstellen, dazu waren beide zu unterschiedlich: Rosanna südländisch, dunkel und weich; seine Frau dagegen hellblond, groß gewachsen, mit hohen nordischen Wangen; zudem war sie athletischer.

Dafür war sie kälter, dachte er, wusste das aber nicht zu erklären, denn im Bett war sie keineswegs ein Eisblock, und trotz der langen Ehe schliefen sie fast täglich miteinander.

Er hasste seine Frau in diesem Moment, auf dem Weg nach Nizza, und er begriff nicht, warum auf einmal noch alles gekippt war. Vorgestern hatte er zur ihr gesagt:

»Schatz, mein Kurzurlaub beginnt übermorgen, ich muss nach Italien und hänge noch ein paar Tage Viareggio dran.« Für ihn stand alles fest. Umso überraschter war er, als er sie sagen hörte: »Wieso du? Ich will übermorgen nach Paris!« Erstaunt sah er auf, dann antwortete er kurz und bestimmt: »Das geht nicht. Ich muss meine geschäftlichen Termine einhalten. Fahr du eine Woche später!« Aber sie stellte sich quer

»Kommt überhaupt nicht in Frage. Ich fahre nach Paris, und du bleibst bei dem Kind.« Nun wurde er misstrauisch. Hatte sie was gemerkt? Wie viele Männer überzeugt davon, dass es ihnen vorbehalten sei, fremdzugehen und nicht der Frau, wurde er unsicher.

»Mit wem willst du nach Paris? Hast wohl ‚nen Typen aufgerissen?« fragte er höhnisch, war aber innerlich fest davon überzeugt, dass er ihr eine rethiorische Frage gestellt hatte Ich fahre allein, zur Pret á Porter, hab‘ schon alles organisiert. Ich fahre mit niemandem und wenn einer jemanden aufgerissen hat, dann wahrscheinlich du«, sagte sie lauter als normal, jedoch ebenso überzeugt, dass das wohl nicht zuträfe.

Nicht umsonst forderte sie ihn fast täglich im Bett, so war sie sicher, dass seine Kraft für andere Frauen nicht mehr reichte. Ihre Aggressionen prallten aufeinander. Sie konnten sich nicht einigen. Als der Streit den Höhepunkt überschritten hatte und beide sich mit gezeichneten Gesichtern und hasserfüllten Gedanken gegenüberstanden, sagte sie:

»Also gut, nach Rom, aber dann ich fahr‘ mit. Morgen kommt das Kind zur Oma!« Nach mehreren vergeblichen Appellen an ihre Muttergefühle blieb ihm nichts übrig, als halb zuzustimmen. Es fühlte sich an, wie eine Niederlage.

»Schön, bringe das Kind zur Oma, aber wir fahren nicht nach Rom, wir fahren nach Paris, weil du da ja, wie du sagst, alles vorbereitet hast. Das möcht‘ ich sehen!«

»Wieso Paris?« fuhr sie hoch. »Jetzt will ich nicht mehr nach Paris, Du hast mir alles verleidet. Ich fahre mit dir nach Rom. Zu Deinen angeblichen Geschäften. War wohl alles gelogen?« Ihre Stimme war wieder laut geworden.

»Nichts ist gelogen, ich sage in Rom alles ab, Du hast mir die Laune gründlich verdorben, ich will jetzt mir Dir nach Paris!«

Auch diese Debatte endete mit einem Kompromiss. Sie einigten sich auf Nizza. Er stimmte zu, weil er nicht wollte, dass sie allein nach Paris fuhr, weil er sich nun in seinem Verdacht bestätigt sah, dass sie ihn betrügen wollte, und weil er lieber auf sein Vergnügen verzichtete, als ihr eines zu gönnen. Mit ihr nach Rom fahren, wollte er aus nachvollziehbaren Gründen nicht.

Er steckte sich wieder eine Zigarette an. Seine Frau schnaubte hörbar auf, dann holte sie den Silberfuchs vom Rücksitz, legte ihn über die Schultern und öffnete anschließend das Ausstellfenster. Der kalte Luftzug traf ihn im Nacken.

Verdammter Mist, dachte sie, blödes Nizza, was soll ich in Nizza? Da waren wir erst im vorigen Jahr, als wir von Antibes kamen. Aber bevor ich ihn zu seiner Schnalle nach Rom fahren lasse, fahr‘ ich lieber mit ihm nach Nizza.

Jetzt, um diese Zeit, hatte sie längst mit Fritz in Paris sein wollen. Fritz, der Anwalt der Familie, der seit Monaten ihr Liebhaber war, hatte dort einige Tage zu tun. Sie hatten alles bis ins Detail geplant, wussten es schon länger. Sie hatte nur nicht zu früh damit herausrücken wollen, damit ihr Mann nicht misstrauisch würde und, ihren Plan zu durchkreuzen versuchte. Kurz hatte sie daran gedacht, ihn nach Rom fahren zu lassen, das Kind zu ihrer Mutter zu bringen und doch noch nach Paris zu reisen. Oh, wie sehr hatte sie sich gefreut … auf Fritz und auf die Stadt an der Seine, die sie so liebte. Nicht nur wegen der Pret á Porter-Schau, die dort gerade stattfand. Auch auf die Brasserie Flo in Saint Denis freute sie sich, und aufs Tanzen im Le Bilboquet in San Michele, wo immer gute Bands spielten.

Aber besser mit ihm nach Nizza, als ihn alleine nach Rom reisen zu lassen! Sie stimmte zu, weil sie nicht wollte, dass er allein nach Rom fuhr, weil sie ihn jetzt doch im Verdacht hatte, sie betrügen zu wollen, und weil sie lieber auf ihr Vergnügen verzichtete, als ihm seines zu gönnen. Nach Paris wollte sie aus erklärlichen Gründen nicht mit ihm.

»Mach das Fenster zu«, knurrte er.

»Rauch nicht so viel! Und dann auch noch diese Gitanes! Du stinkst danach aus dem Mund, dass mir jegliche Lust vergeht!« erwiderte sie gehässig. Ihm schwoll der Kamm. Er drückte aufs Gaspedal. Der Drehzahlmesser zeigte dreitausendfünfhundert Touren, hundertfünfzig Sachen im vierten Gang. Den Tacho hatte er einige Monate nachdem er den Wagen neu gekauft hatte abgeklemmt. Sie schwieg und schloss nach einer Weile das Fenster.

Wer waren sie beide schon, dachte er, — nichts als die hasserfüllte Ruine einer Ehe, die da umhüllt von einem attraktiven Blechkleid aus Zuffenhausen durch die Nacht raste.

Erst als er die Kelle sah, erwachte er aus seinen Gedanken.

Der Streifenwagen überholte sie, verlangsamte das Tempo, fuhr an den Straßenrand und hielt an Marcel blieb dahinter stehen. Einer der beiden Polizisten stieg aus, setzte die Mütze auf und trat an die Fahrertür. Das Fenster glitt hinab, der Uniformierte beugte sich nieder, legte die Hand an den Mützenrand und sagte: »Gruezi, wissen Sie, dass Sie viel zu schnell gefahren sind?« Ehe Marcel antworten konnte, stieß seine Frau ihn sanft an.

»Wieso, wie schnell darf man denn hier fahren?« zog sie das Gespräch an sich. »Achtzig Stundenkilometer.«

»Viel schneller sind wir bestimmt nicht gefahren«, meinte sie. »Aber ja. Wir sind mindestens drei Kilometer hinter Ihnen her gefahren. Mich wundert, dass Sie uns nicht längst entdeckt haben, oder haben Sie etwa Alkohol getrunken?«

»Idiot« zischte seine Frau, »dass Du sie nicht gesehen hast!«

»Nein, ich habe nichts getrunken«, sagte Marcel wahrheitsgemäß, »ich war lediglich in Gedanken. Kann sein, dass ich ein bisschen zu schnell war, ich weiß es einfach nicht.«

»Ein bisschen ist gut«, mischte sich der Kollege, ein älterer Beamter ein, der an die Beifahrertür getreten war.

»Mindestens hundertzwanzig bis hundertdreißig, das ist mehr als ein bisschen zu viel.«

»Was soll das?« fragte Marcel unwirsch.

»Haben Sie ein Messergebnis?«

»Das brauchen wir nicht,« übernahm wieder der Jüngere.

»Wir beide sind Zeugen.« Der Ältere nickte.

»Nun machen Sie mal keinen Aufstand. Zahlen Sie dreihundert Franken, und die Sache ist erledigt!«

Es waren nicht die dreihundert Franken, die ihn ärgerten. Es war der ganze Stress der letzten beiden Tage. Und als er Luft holte, um seine Frau anzuschreien, dass sie, nur sie, an alldem schuld sei, sagte sie kurz und frech zu den Beamten:

»Wir haben kein Geld einstecken. Schicken Sie uns ein Strafmandat zu. Guten Abend.« Sie ließ ihr Fenster so schnell hoch, dass der Alte erst im letzten Moment die Hand von der Scheibe ziehen konnte.

»Es tut mir leid«, widersprach der jüngere Polizist, »aber so geht es nicht. Sicher haben Sie dreihundert Franken dabei, wenn Sie mit einem solchen Auto unterwegs sind.«

»Wir haben kein Geld«, kreischte die Frau. Ihre Lippen waren zu einem Schmollmund nach unten gezogen wie bei einem trotzigen Kind. Die Wut hatte die Schönheit ihres Gesichts ausgelöscht.

»Bitte, geben Sie mir Ihre Autoschlüssel«, sagte der Ältere jetzt unversöhnlich. »Wir werden unsere Zentrale um Direktive bitten und möchten nicht, dass Sie sich auf Ihr schnelles Auto verlassen. Wir rasen nicht gerne hinterher und brechen uns womöglich das Genick und von der Waffe machen wir auch ungern Gebrauch.« Dabei tippte er an sein Pistolenhalfter. Widerwillig gab Marcel ihm den Schlüssel.

»Du bezahlst nichts!« fauchte seine Frau ihn an, als die Beamten in ihr Fahrzeug zurückgekehrt waren. »Zu Hause regst du dich auf, wenn ich mal ein paar hundert Mark mehr für Klamotten ausgebe, und hier rast Du wie ein Idiot durch die Nacht und wirfst das Geld zum Fenster raus. Und dass Du die Bullen nicht siehst, wo sie so lange hinter uns herfahren, ist wieder mal typisch … Du wirst eben alt«, sagte sie abfällig und hüllte sich in ein lauerndes Schweigen.

Marcel hingegen wurde ganz ruhig. Mit einem Mal war ihm alles egal. Er hätte jetzt eiskalt einen Mord begehen können, an seiner Frau, an den Polizisten, sogar an sich selbst. Die Polizisten kamen zurück. »Entweder fährt die Dame mit uns, der Kollege mit Ihnen, oder er setzt sich hinter Sie auf die Notsitze«, eröffnete ihnen der Jüngere. »Sie müssen mit zur Wache, um die Sache zu klären.« Marcel flüsterte:

»Am besten, wir zahlen.« Ohne ihm darauf zu antworten, öffnete sie die Tür und stieg aus: »Ich fahre mit Ihnen« Während der zehn Minuten dauernden Fahrt zur Polizeistation begann der Ältere ein Gespräch; es wurde zum Monolog:

»Sie können uns nicht weismachen, Sie hätten kein Geld dabei. Wir Schweizer lassen uns nicht gerne für dumm verkaufen. Gleich hinter der Grenze werfen Sie das Strafmandat aus dem Fenster. Nein! Das haben wir schon zu oft erlebt. Ich rate Ihnen, zu zahlen!«

Vor der Wache musste Marcel aussteigen. Der Beamte nahm Fahrzeugpapiere und Schlüssel an sich. Umständlich verschloss er das Auto. Alle vier stiegen die Stufen hinauf und betraten eine typische Polizeistation. Marcels Frau setzte sich auf eine Bank und blickte mies gelaunt drein.

Die Polizisten berieten sich flüsternd mit zwei Kollegen, dann gingen sie ins Hinterzimmer zu einem weiteren Beamten, der in die Türöffnung trat, es war der Diensthabende. Er trug Zivil und die anderen berichteten ihm.

Marcels Frau fing an zu nörgeln:

»Wie lange soll denn das noch dauern? Wir müssen weiter. Sie können uns wegen so einer Lappalie nicht festhalten, das rechtfertigt doch keine Verhaftung.«

»Sie sind keineswegs verhaftet, nicht einmal festgenommen«, antwortete der Wachhabende,

»Sie können jederzeit gehen!«

»Warum sagen Sie das nicht gleich?« giftete sie, stand auf, trat vor, hielt die Hand auf und befahl:

»Schlüssel und Papiere.«

»Tja«, kratzte sich der Chef am Kopf.

»Mit dem Auto ist das was anderes, das ist schon so was wie verhaftet. Es sei denn, Sie bezahlen die Strafe oder hinterlegen einen Wertgegenstand in der Höhe von dreihundert Franken … vielleicht Ihren Pelzmantel?«

Sie blickte verächtlich auf den Polizisten herab, als sei er das letzte Stück Dreck und als habe er ihr soeben einen unsittlichen Antrag gemacht. Ein beleidigendes Schimpfwort lag ihr auf den Lippen, doch sie schluckte es hinunter. Der Polizist sah sie lauernd an, er wartete förmlich darauf. Sie und auch ihr Mann waren sich darüber im Klaren, dass sie es sich bei diesen Polizisten verscherzt hatten. Der Ältere versuchte es ein letztes Mal gütlich.

»Haben Sie wenigstens Schecks bei sich? Euroschecks? Sie müssen doch Geld dabei haben, machen Sie uns doch nichts vor!. Ohne zu zahlen kommen Sie nicht weg von hier.«

»Wir haben keine Schecks!« schrie sie.

»Tja, dann müssen wir wohl …« Er unterbrach seine Rede und folgte den Kollegen zur erneuten Beratung ins angrenzende Büro. Nach einer Weile kamen sie zurück. Man sah ihren entschlossenen Mienen an, dass eine Entscheidung gefallen war. Der Chef ging ans Telefon, alle hörten mit.

»Ja, bitte, geben Sie mir den Nachtdienst, den Bezirksanwalt … Ja, es ist dringend … jetzt noch, verbinden Sie mich ..Hallo … hier ist die Polizeiwache 5 in Lausanne, wer ist dort, bitte? — Der Bezirksanwalt? Aha … Grüß Gott, Herr Doktor … wie bitte? — Nein, nein, nein … wir haben einen Deutschen … was? Nein, keinen Terroristen … er will dreihundert Franken Strafe nicht bezahlen … ist viel zu schnell gefahren … Was …? Einen Porsche Carrera Targa, fast neu … Wie? Wollten Sie auch schon immer mal haben? Tja, dann wird er wohl versteigert, wie? Gleich morgen? Aber wir brauchen eine Beschlagnahmeverfügung … Füllen Sie gleich aus? Gut, schicken Sie sie oder sollen wir einen Wagen schicken, um sie abzuholen? — Gut … wird gemacht … Augenblick, Herr Doktor, ich sehe gerade, dass die Deutschen doch noch 300 Franken gefunden haben, einen Moment bitte …« Er hielt die Sprechmuschel zu und wandte sich an den Älteren: »Zählen Sie nach, Herr Pflümli, ob‘s passt«

Pflümli zählte nach und nickte. Der Chef sprach wieder ins Telefon: »Alles in Ordnung, Herr Doktor … ja, er hat bezahlt, tut mir auch leid … ja, Herr Doktor, wenn wir wieder einen solchen Wagen finden, rufe ich Sie … jawohl, Herr Doktor … entschuldigen Sie die Störung. Eine gute Nacht« Er legte auf.

Sie hatte Marcel in dem Moment nach vorne gestoßen, als klar wurde, dass die Polizisten Ernst machten. ”Warum zahlst du nicht? Die nehmen uns das Auto weg! Los, mach schon!” Er besaß keine Schweizer Franken, also hatte er einen Fünfhundertmarkschein auf die Theke gelegt. Pflümli rechnete um: “macht in DM 365,-- einschließlich des Telefongespräches”. Aber es war nicht genügend Wechselgeld da. Zuerst leerten sie ihre Geldbörsen, brachten aber bloß Geldstücke zum Vorschein. Danach öffneten sie den Getränkeautomaten und kippten 2 Kilo Hartgeld auf die Theke. Pflümli zählte konzentriert und langsam. Es schien keinen einzigen Geldschein in der ganzen Schweiz zu geben, nur Fränkli und Räppli. Marcel war klar, dass er und seine Frau jetzt die Quittung für ihre Arroganz bekamen. Aber über die Polizisten ärgerte er sich nicht mehr. Seine Frau war der Feind. Er schaufelte die Münzen, mindestens zwanzig Mark fehlten noch, in beide Hände und rannte hinaus. Dort schleuderte er das Kleingeld auf die Straße und lief zum Auto, wo er merkte, dass ihm der Schlüssel fehlte. Auch die Papiere waren noch in der Wache. Seine Frau trat heraus und schwenkte beides in der Hand.

»Ohne mich vergisst du noch mal deinen Kopf. Jetzt haben wir wegen Dir drei Stunden verloren, ich habe Durst und muss aufs Klo. Warum hast Du nicht gleich bezahlt?«

Er war ganz ruhig, schaute sie an wie ein Löwe das Gnu, nahm den Schlüssel, öffnete ihr die Beifahrertür, ließ sie rein, ging dann ums Auto, rutschte hinters Steuer, setzte zurück und fuhr an, Richtung Frankreich, während sie plapperte und plapperte, ihm Vorwürfe machte und immer wieder auf ihren Durst und ihr Bedürfnis hinwies. An der nächsten Raststätte fuhr er, immer noch schweigend, bis zum Toiletten-Pavillon. Sie stieg aus und eilte hinein. Dann legte er den Gang ein und fuhr weiter. In Rom war das Wetter im Oktober ohnehin besser.

Die Hamstertour