Kai Kistenbrügger
Todesurteil
Kurzgeschichte
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Inhaltsverzeichnis
Titel
HOMO HOMINI LUPUS EST
HOMO SUM, HUMANI NIL A ME ALIENUM PUTO
NOSCE TE IPSUM
Impressum neobooks
Fassungslos starrte Alois Schmidt auf das Blatt Papier, das ich ihm nur wenige Minuten zuvor offiziell überreicht hatte. Ermutigend nickte ich ihm zu, und zeigte auf den Zettel mit dem dienstlichen Wappen unserer Regierungsbehörde.
„Bitte lesen Sie sich das Schriftstück gründlich durch. Falls Sie noch Fragen haben, bin ich gerne bereit, Sie Ihnen zu beantworten.“
Er nickte, fahrig, während seine Hand zitternd durch seine grauen Haare fuhr. Seine spröden Lippen bewegten sich leicht, als er wortlos die wenigen Zeilen überflog, die sein Todesurteil bedeuteten.
Viele meiner Kollegen hatten zu den elektronischen Medien gewechselt, um ihre Arbeit zu erledigen, aber ich bevorzugte nach wie vor den persönlichen Kontakt. E-Mail, Telefon, Chat und Videokonferenzen mochten durchaus eine Daseinsberichtigung besitzen, aber mir waren sie zu entseelt, zu unpersönlich. Ich liebte es, in die Gesichter meiner Klienten zu schauen, wenn ich ihnen den Vollstreckungsbescheid überreichte. Unsere Gesichter sind Spiegel unserer Seele, und dem geübten Auge erlauben sie den ungeschminkten Einblick auf die Facetten unserer Emotionen. Angst, Wut, Trauer, sie alle zeigen ihr hässliches Antlitz, wenn der Mensch mit seinem eigenen Tod konfrontiert wird. Der Tod, den ich ihnen brachte, offiziell, mit Segen der Regierung. Es war ein Blick auf die Urängste der Menschen, die normalerweise unter einer dicken Schicht antrainierter Verhaltensmuster verborgen lagen, und nur selten an die Oberfläche drangen.
Urinstinkte sind eine ungezügelte, rohe, uralte Kraft, und ich konnte nie vorhersehen, wie meine Klienten angesichts ihres Todes reagieren würden. Gewalttätig? Ängstlich? Ich wusste es nie. Manche fügten sich ihrem Schicksal, in gewisser Weise des Lebens müde, während andere mit einer bewundernswerten Verbissenheit um das klägliche Leben kämpfen, das ihnen bis zu dem besagten Zeitpunkt gestattet worden war.
Mein jetziger Klient gehörte definiert zur letzten Kategorie. Irgendwo in ihm regte sich sein angeborener Überlebenswille. Erst blitzte er nur schwach in seinen Augen auf, doch irgendwann explodierte er in einer emotionalen Geste der Verzweiflung. Kaum hatte er den letzten Satz gelesen, zerknüllte er das offizielle Papier mit seiner rechten Hand und warf mir die kläglichen Überreste vor die Füße. Als ob diese bemitleidenswerte Geste irgendetwas an seiner Situation geändert hätte! Das Papier hatte sein Urteil längst über ihn gefällt. Der letzte Satz lautete: Vollstreckung sofort.
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