Zunächst geht es hier um die Frage, was unsere Welt für jeden Einzelnen ausmacht: Ist die Welt wirklich das, was sie für uns zu sein scheint? Oder ist sie nur das Resultat unserer kollektiven Vorstellung, die Essenz der gerade herrschenden gesellschaftlichen Meinung, die wir uns gegenseitig suggerieren und die wir mit allen anderen teilen?
Denken wir uns in unsere Kindheit zurück: Ist es nicht so, dass uns Vater und Mutter zum ersten Mal erklärten, wie die Welt war, wie wir sie wahrzunehmen hatten, und plötzlich entpuppte sich der geheimnisvoll schillernde Lichtfunke als ein ganz gewöhnlicher Glasaschenbecher, den Vater benutzte, um seine Zigarette darin auszudrücken. Die ganze magische Zauberwelt wurde in den nächsten Jahren auf ihre Funktionalität reduziert, d.h. jedes Ding verlor seinen Glanz in der märchenhaften Atmosphäre, die wir als Kinder wahrnahmen, und schrumpfte auf die Funktion, die ihnen von den Erwachsenen zugeordnet wurde. Und so wuchsen wir langsam in die normale überlieferte Welt der Menschen hinein, und je mehr wir die Älteren davon überzeugen konnten, dass wir die Welt genauso sahen wie sie, desto mehr durften wir ihren Applaus und ihre Anerkennung in Anspruch nehmen. Als wir älter wurden, übertrugen uns die Erwachsenen ihre religiösen Bilder. Man klärte uns darüber auf, wie die Welt entstanden war und was es mit den Zielen und dem Sinn des Menschseins auf sich hatte. Da unsere kindliche „Festplatte“ ja noch unberührt war, waren wir dankbar, die ersten Begriffe zu erhalten, mit denen wir die Außenwelt nach unseren anerzogenen Vorstellungen erkunden und wahrnehmen konnten. Da das überlieferte Konzept meist auch der einzige Maßstab war, wie wir die Welt da draußen erleben konnten, besaß diese Lernerfahrung oder Lektion zusätzlich den überaus nützlichen Nebeneffekt, nämlich dass sich uns die Welt immer gerade so zeigte, wie wir sie wahrzunehmen gelernt hatten. Dass es dabei gar keine Möglichkeit gab, die Welt anders zu betrachten, konnten wir zu diesem frühen Zeitpunkt ja noch nicht erahnen. Andererseits können wir aus unserer heutigen Sicht erfahren, wieso es so unheimlich schwierig ist, die familiären oder religiösen Frühabspeicherungen zu verändern, denn sie sind so tief in uns verankert, dass wir sie wie den berühmten blinden Fleck gar nicht erkennen können.
Was können wir erkennen?
Deshalb ist es auch wichtig zu beachten, dass unsere anerzogene Wahrnehmung immerhin ein Konstrukt ist, das uns unser gesellschaftliches Nebeneinander sichert. In einer übervölkerten, hochdifferenzierten Welt, die alle natürlichen Ressourcen längst hinter sich gelassen hat, ist gesundes, natürliches Überleben schon lange nicht mehr möglich. Unser Wirtschaftssystem ist ein wucherndes Krebsgeschwür, das sich nur dadurch im Gleichgewicht halten kann, weil es ständig wächst. Unsere komplexe Gesellschaft könnte ohne künstliche Bedürfnisse das Bruttosozialprodukt gar nicht mehr erwirtschaften, um den Lebensstandard ihrer Konsumenten zu sichern. Die Welt stünde mit einem Schlag still, wenn wir auch nur einen Moment die Stellung der Banken, der Geldsysteme oder die Funktionen der menschlichen Bilder und Vorstellungen nicht akzeptierten. Stellten wir die eigenen Grundlagen in Frage, auf denen wir stehen, verlören wir den Boden, auf dem wir unsere Existenz abstützen können: Die Welt verflösse vor unseren Augen oder zerfiele wie ein vertrocknetes Kuchenstück.
Andererseits sind Krisen immer auch ein notwendiger Teil der Entwicklung. Es ist das Sichtbarwerden eines Prozesses, der im Menschen selbst liegt und den man mit Angst und Gier umschreiben könnte. Die internationalen Verknüpfungen im Internet-Zeitalter haben das Ganze weiter beschleunigt, und es ist auch nicht die Aufgabe des Menschen, daraus zu lernen. Das – so zynisch es klingt – würde den Fortschritt hemmen. Das menschliche Wachstum lag noch nie im Zurückbuchstabieren oder in der Umkehr, der Rückkehr, sondern darin, dass es in den Lösungen von heute die Probleme von morgen schafft, die dann wiederum nach Lösungen von übermorgen verlangen. Das ist wichtig zu wissen, wenn wir der Zukunft gelassen ins Auge blicken wollen: Es gibt nie ein Paradies, das wir finden können, oder eine Erlösung, die uns glücklich macht. Es gibt stets nur Ziele, die uns die Illusion verkörpern, dass wir eines Tages glücklich werden würden, wenn wir sie erreichen könnten. Umgekehrt ist es aber so, dass diese Ziele gerade deshalb nicht erreicht werden können, weil glückliche Menschen nicht bereit sind, die gesellschaftlichen Vorgaben nach immerwährendem Wachstum zu erfüllen. Denn sobald der Mensch aufhören würde, wachsen zu wollen, bräche alles zusammen. Das bedeutet: Wir müssen uns auf ein Paradies ausrichten, das wir ständig zu erreichen suchen, ohne zu merken, dass es das Ende unserer Entwicklung wäre, wenn wir dieses Paradies wirklich erreichen würden.
Die unterschwelligen Mechanismen unserer gesellschaftlichen Modelle
Deshalb müssen wir erkennen, dass die Errungenschaften, die uns die Lebensgrundlagen schaffen, erhalten und verbessern, dieselben sind, die auch ebendiese untergraben und zerstören. Man sagt, dass alle Krisen von Menschen ausgelöst werden, aber das ist nicht ganz präzise: Krisen werden von den Inhalten und Systemen, die sich Menschen gegenseitig beibringen, ausgelöst, wenn sie sich in der Welt verwirklichen wollen. Selbsternannte Lehrer und Polizisten erkennen deshalb oft nicht, dass sie im Bestreben, Unrecht zu verhindern und zu sühnen, Unrecht und die Voraussetzungen für weiteres Unrecht schaffen. Indem sie gegen das so genannte Böse mit allen Mitteln vorgehen, verfolgen sie anstelle ihres eigenen, unerkannten Bösen „das Böse im anderen“. Damit erklimmen sie den Gipfel unbewusster Selbstverstrickung: Der Schatten versteckt sich vor sich selbst, indem er sich in der Vernichtung seiner eigenen Projektionen im Bild der anderen von seiner „verkehrten“ Lösung überzeugt. Denn es ist immer das menschliche Ringen, das, in den Fesseln der Materie liegend, nach Freiheit und Vollkommenheit strebt und dabei doch meistens in jenem tief greifenden Zustand des Ungleichgewichts endet, den unsere religiöse Tradition „Hölle“ zu nennen beliebt.
Trotzdem sind Modelle nicht nur nützlich, sondern sie sind das einzige Mittel, unserer subjektiven Blindheit eine objektive Kurzsichtigkeit entgegenzusetzen, und das ist auf dem Weg des Wissens nicht nur der erste, sondern auch der wichtigste Schritt. Wir können uns nur über das Denken ergründen, da wir aber die Welt nur so sehen, wie wir sie über das Denken erleben, müssen wir uns zuerst ein Bild über unser Denken machen – und dazu brauchen wir Modelle. Im Grunde sind Modelle dazu da, unsere Gedanken um einen Fokus zu bündeln, sodass wir im Austausch mit anderen eine gemeinsame Grundlage haben, darüber zu philosophieren. Wenn wir schlau wären, müssten wir eigentlich erkennen, dass Wahrheit mit denkerischen Mitteln gar nicht zu erzwingen ist, denn im Denken erkennt sich immer nur das Denken, also das, was wir als Maßstab dazu erkoren haben, sich selbst auszumessen. Wenn wir das beherzigen, dann können wir die Modelle dazu benutzen, um unsere Psyche zu erforschen, aber nicht, indem wir die Wahrheit erkennen, sondern indem wir uns unserer individuellen Modell-Fixierung bewusst werden, wie wir uns – was bleibt uns auch anderes übrig – an die kollektive Beschreibung der Welt anpassen.
Selbstzerstörerisches Handeln als Weg der Entwicklung
Fassen wir zusammen: Wir Menschen sind Wesen, die sich nur über schmerzhafte Erfahrungen entwickeln, und ein gütiger Geist hat uns die Gabe mitgegeben, dass wir trotzdem wachsen, ganz egal, wie schmerzhaft der Verlust oder wie groß die Katastrophe ist. Nur wenn ein arglistiger Dämon uns überreden würde, herauszufinden, auf welchen materiellen und geistigen Grundlagen wir wirklich stünden, müsste das Ganze zusammenbrechen, denn wir suhlen uns im kollektiven Wahn in einem Haufen virtueller Scheiße. Wir sind mit den ganzen Systemen und Modellen so hoffnungslos verschmolzen, dass wir untergehen würden, wenn wir sie auch nur einen Augenblick in Frage stellten, und deshalb lassen wir es auch gar nicht zu. Damit das Ganze funktionieren kann, sind wir gezwungen, zu lügen. Wir müssen so tun, als ob wir das alles gar nicht wüssten, damit der Motor nicht ins Stottern kommt. Das Beste an der menschlichen Entwicklung ist der Umstand, dass sich die Szenerien immer wieder selbst aussteuern. Deshalb ist sogar das selbstzerstörerischste Handeln aus der Sicht des Ganzen letzten Endes nicht nur ein Scheitern, sondern immer auch ein Weg, der die Menschheit vorwärts treibt.