Josef Giger-Bütler
»Endlich frei«
Schritte aus der Depression
Diese Buch ist auch als Printausgabe erhältlich
ISBN 978-3-407-85741-5
Besuchen Sie uns im Internet:
www.beltz.de
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.
© 2007 Beltz Verlag • Weinheim und Basel
Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de, Stephan Engelke (Beratung)
Konvertierung e-book Zentrale Medien, Bochum
ISBN 978-3-407-22247-3
Einleitung |
Teil 1 Erschöpfung, Brüchigkeit und Überforderung |
1. Kapitel Die Müdigkeit als Weg zum Verstehen des depressiven Menschen |
Wenn die depressiven Menschen sprechen würden |
Latente und manifeste Depression – Die Depression, das unheimliche Leiden |
Müdigkeit und Überforderung |
Die Müdigkeit als erster Schritt des Verstehens |
Die eigene Müdigkeit als Zugang zum Verstehen depressiven Erlebens |
Der weitere Weg des Verstehens |
2. Kapitel Brüchigkeit und Überforderung als wesentliche Faktoren bei der Bildung einer depressiven Entwicklung |
Brüchigkeit |
Erfahrung der Brüchigkeit |
Brüchigkeit in der Familie und ihre Auswirkung auf die Kinder |
Erfahrung der Brüchigkeit und ihre Auswirkung auf das Erleben und Verhalten erwachsener depressiver Menschen |
Erfahrung der Brüchigkeit und ihre Auswirkung auf das Verhalten in Beziehungen |
Was Kinder brauchen |
Reaktionen der Kinder auf brüchige familiäre Situationen |
Die Entwicklung der Depression als ein Prozess der Entfremdung |
Überforderung |
Überforderung der Eltern |
Auswirkungen der Überforderung der Eltern auf die Kinder |
Darstellung einer familiären Überforderungssituation |
Formen der Überforderung |
3. Kapitel Verhalten und Erleben depressiver Menschen |
Auflistung einzelner depressiver Muster |
Das Leben depressiver Menschen mit ihren Überforderungsmustern |
Die depressiven Menschen in ihrem Umfeld |
Der Suizid als Ausweg |
Die depressiven Muster und speziell das Muster: Erfüllen von Erwartungen |
Das Muster »Erwartungen erfüllen« und die depressive Lebensstrategie |
»Sie haben es doch gut gemeint« |
4. Kapitel Depression und heutige Zeit |
Wirkung auf die Eltern und die Familie |
Überforderung und Scheidung |
Teil 2 Der Weg des Ausstiegs |
Einleitung |
5. Kapitel Der Weg aus der Depression |
Den Weg gehen heißt auch |
Die depressiven Menschen gehen ihren Weg |
Der Prozess des Ausstiegs verläuft nie gradlinig |
6. Kapitel Verändern der depressiven Muster |
Der Weg aus der Depression hat mit Verändern zu tun |
Im Hier und Jetzt sein |
Verändern heißt Lernen neuer Verhaltensweisen |
Weg des Veränderns |
Der Weg vom Müssen zum Wollen |
7. Kapitel Verstehen als Weg der Veränderung |
8. Kapitel Besonders entscheidende Aspekte des Ausstieges |
Einleitung zu den Teilaspekten |
Sich Zeit nehmen |
Aushalten unangenehmer Gefühle |
Gefühle wahrnehmen und ernst nehmen |
Gefühle in Worte fassen |
Die depressiven Menschen auf dem Weg aus der Depression und ihr Umfeld |
Abschließende Bemerkungen |
Literaturverzeichnis |
Wie beim ersten Buch, »Sie haben es doch gut gemeint«*, war es auch diesmal eine große Zahl von Klienten, die mir geholfen haben, das Erleben, Denken und Fühlen depressiver Menschen noch präziser zu erfassen. Sie haben mir ermöglicht, ihr Erleben unmittelbar und aus großer Nähe kennen zu lernen und damit das Leiden in seiner ganzen Härte und Intensität beschreiben zu können. Ich bin quasi ins Auge des Hurrikans getreten, habe mich im Epizentrum des Bebens positioniert. Es ist mir ein Anliegen, dass die Beschreibung des depressiven Lebens unter die Haut geht, dass wirklich ersichtlich wird, wie schwer und brüchig depressives Erleben und Denken sind. Sehr viele depressive Menschen erfahren ihr Leben in der beschriebenen Härte. Anderen wiederum gelingt es, die emotionale Intensität unter Verschluss zu halten und ihr Erleben in Watte zu packen, wie sie es als Kinder gewohnt waren. Sie erfahren ihre körperliche Erschöpfung mehr als eine Müdigkeit des Kopfes durch das ständige »Müssen« und »Unter-Druck-Sein«. Aber auch sie spüren immer und immer wieder ihren fehlenden Boden und den kalten Atem der Heimatlosigkeit. Das macht Angst, Angst, irgendwann einmal von den Gefühlen überschwemmt zu werden und die Kraft zur Kontrolle und zum Überleben nicht mehr aufbringen zu können.
Dank den vielen Gesprächen mit depressiven Menschen ist es mir möglich, auch die Schritte, die aus der Depression führen können, konkreter und ausführlicher zu beschreiben.
Waren beim ersten Buch die Beschreibung der Entstehung depressiver Muster und das depressive Erleben Schwerpunkte der Ausführungen, so soll diesmal, neben einer noch genaueren Erfassung der Herkunft depressiven Erlebens und Handelns, der Ausstieg aus der Depression im Zentrum stehen. Es soll einsichtig gemacht werden, wie aus der Entstehung der Depression und ihrer Entwicklung zur depressiven Lebensstrategie sich nachvollziehbare Schritte für den Ausstieg aus der Depression ableiten lassen. Die Begriffe Brüchigkeit und Überforderung als entscheidende Begriffe sowohl bei der Entstehung wie auch beim Erleben depressiver Menschen werden in ihrer Bedeutung ausführlicher beschrieben.
Es zeigt sich immer wieder, wie schwierig es für die depressiven Menschen ist, ihr Erleben zu verstehen und anzunehmen. Das ist ein ungeheurer Brocken, der für sehr viele Menschen fast nicht zu verdauen ist. Wer sich nie verstanden und nie die Erfahrung gemacht hat, verstanden zu werden, bleibt sich und den anderen fremd und ist allein und einsam. Wer sich nicht versteht, kann sich auch nicht helfen.
Depressiv ist nicht nur jemand, der sich als depressiv erkennt, sondern die Mehrzahl depressiver Menschen weiß nicht, weshalb sie sich immer unter Drück fühlt.
Man ist nicht erst, wenn man sich die Diagnose gibt oder sie vom Arzt erhält, depressiv.
Depressive Menschen überfordern sich ständig, leben physisch und psychisch über ihre Verhältnisse, treiben Raubbau mit ihren Kräften, weil sie Grenzen nicht spüren oder dann nicht ernst nehmen. Sie sind gefangen in starren Mustern von Verhaltensweisen, und zwar in solchen, die sich gegen sie richten, ihnen schaden und sie an den Rand der Erschöpfung bringen. Die Depression ist in den meisten Fällen versteckt, oder wie ich sage, latent, und erst ab einem gewissen Punkt an offensichtlich, manifest und als solche leichter erkenn- und erfassbar. Und dieser Punkt kommt, wenn die depressiven Menschen sich mit ihrem Verhalten so verausgabt und sich so erschöpft haben, dass sie gar nicht mehr in der Lage sind, in der gleichen Art weiterzuleben. Dann kommt es zu einem Zusammenbruch und die Depression wird offensichtlich. Das nur kurz als Erläuterung meines Depressionsverständnisses, das den weiteren Ausführungen zugrunde liegt:
Depressiv ist, wer sich im Teufelskreis der Überforderung befindet.
Der depressive Umgang mit Überforderung zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht zu einer Auflösung, sondern im Gegenteil zu neuen Überforderungen kommt.
Die Depression ist über Jahre hinweg latent, nicht so leicht als solche erkennbar und kann, wenn es zu einem Zusammenbruch kommt, manifest und für alle offensichtlich werden.
Weil depressives Erleben nicht nur den psychischen Bereich umfasst, sondern immer auch ein körperliches Leiden beinhaltet, kann es für viele depressive Menschen leichter und vielleicht der Zugang sein, die Erschöpfung, und zwar die psychische und die physische, zum Ausgangspunkt des Verstehens und Annehmens zu nehmen.
Die Erschöpfung der depressiven Menschen ist so ausgeprägt und so bestimmend in ihrem Leben, dass auch kein Verleugnen oder Verkennen möglich ist. Das heißt aber noch nicht, dass sie die Müdigkeit ernst nehmen und sich darauf einstellen. Sie erleben sie nicht als ein Zeichen des Körpers, das ihnen sagen will: »Hör doch endlich auf dich, und tritt um Gottes willen kürzer.« Nein, für sie ist die Müdigkeit nur lästig. Sie hindert sie, so zu leben, wie sie möchten, und sie erschwert ihnen das Leben. Dass sie einen Zusammenhang zwischen ihrer Müdigkeit und einer Depression herstellen könnten, liegt außerhalb ihres Denkvermögens.
»Alle die Jahre habe ich mich durchs Leben geschleppt. Ich kannte nichts anderes als dieses Leben. Dass ich depressiv sein könnte, daran habe ich nicht im Traum gedacht, bis mir ein Arzt sagte, ich solle mir einmal überlegen, ob ich nicht vielleicht depressiv sein könnte.
Dass es mir körperlich nicht gut ging, wusste ich. Ich war ständig am Limit und erschöpft, froh, über die Runden zu kommen, aber ohne die geringste Spur von Lebensfreude. Es war ein normaler Zustand, ein anderes Leben kannte ich nicht. Klären Sie die Leute auf, geben Sie all den Erschöpften einen Namen für ihren Zustand. Wie sollen sie sonst dazu kommen, sich als depressiv zu betrachten? Alles kostet so unendlich viel Kraft, ohne dass man je an ein Ziel gelangt, ohne dass es je für diesen gewaltigen Einsatz eine Befriedigung, ein anderes Leben gibt. Natürlich gibt es dazwischen Momente, die anders sind, Farbtupfer, ohne aber dass sie das Leben verändern könnten. Ich habe viele Strategien gelernt, damit die Erschöpfung nie zu groß wird, aber ich bewegte mich ständig am Abgrund, ohne zu fallen, ohne Weg vorwärts oder rückwärts, ohne Ausstieg. Es ist ein lauwarmes Leben, ohne wirkliche Freude, nur funktionieren, überleben, über die Runden kommen, aber ständig mit Gedanken an Flucht, an ein besseres Leben. Manchmal spüre ich die Müdigkeit gar nicht mehr, weil sie so zu meinem Leben gehört. Aber was ich immer spüre, ist, dass ich dieses Leben, dieses immer währende Abmühen satt habe, nicht weiß, warum ich das alles mache, wenn es mir doch nichts bringt.
Es gibt doch so viele Menschen, die so leben, die auch kein Ziel und keinen Ausweg kennen. Sagen Sie denen, dass sie nicht so leben müssen, dass ein anderes Leben möglich ist. Selber werden sie nicht darauf kommen.«
Ja, so muss man nicht leben. Es gibt ein anderes Leben, auch wenn man schon zwanzig oder vierzig Jahre so gelebt hat. Es gibt einen Weg, den man gehen kann. Zuerst aber muss man einsehen, dass man so nicht weiterleben kann und will. Man muss zuerst in den Spiegel schauen und sich fragen: »Was für ein Scheißleben führe ich eigentlich?« Erst dann kann es anders weitergehen.
Die Erschöpfung gehört ganz wesentlich zur Depression, was man heute gar nicht so klar zur Kenntnis nimmt. Depression verbindet man noch zu stark mit Stimmungen wie Niedergeschlagenheit und Freudlosigkeit, als dass man die Schwere der Erschöpfung als eindeutiges Zeichen der Depression anerkennen kann. Wer so leben muss, wie es die depressiven Menschen tun, kann nur erschöpft sein und muss ständig in diesem Zustand fehlender Kraft und Energie sein Leben meistern. Das ist depressives Leben, auch wenn es nach außen ganz anders aussehen mag.
Depression hat zu tun mit Überforderung und Überforderung führt zu Erschöpfung.
Überforderung und Müdigkeit zusammen haben zu tun mit den depressiven Überforderungsmustern, in denen die depressiven Menschen gefangen sind.
Die Depression ist in den meisten Fällen nicht als solche erkennbar. Sie ist latent, aber deswegen nicht weniger depressiv und leidvoll.
Depressive Menschen stecken in diesem Teufelskreis von Überforderung und Erschöpfung, ohne Möglichkeit auszubrechen. Hier öffnet sich ihnen ein Weg, ihr Leben einmal unter einem neuen Gesichtspunkt zu betrachten. Unter dem Aspekt der Erschöpfung fällt es ihnen leichter, zu merken, wie sehr sie in solchen Mustern der Überforderung stecken, die sie bisher gar nicht realisiert haben. Sie können Fallen sehen, in die sie immer wieder tappen: wie sie nie Nein sagen können, wie sie Ja sagen, obwohl sie gar keine Kraft mehr haben, wie sie immer noch mehr machen müssen, um dann zu merken, dass es für ihr Gefühl doch nie genug ist. Wenn sie sich auf eine solche Sichtweise einlassen, kann ihnen auffallen, wie sie ständig das Gefühl haben, zu müssen, wie sie immer unter Druck sind und sie dieser Stress müde und fertig macht. Es ist erstaunlich, wie vieles anders aussieht, wenn man es unter dem Aspekt der Überforderung betrachtet. Depressives Verhalten ermüdet, auch wenn man es nicht als depressives Verhalten kennt oder gar nicht in diesen Zusammenhang stellt. Wenn depressive Menschen gezwungen sind, kürzerzutreten, weil der Körper nicht mehr mitmacht, ist der Weg, dem Körper auch Erholung zu geben, noch weit weg und bis dahin, mit dem Ausstieg wirklich ernst machen zu wollen, kann es noch einmal sehr lange dauern. Aussteigen aus der Depression heißt, das Leben verändern. Sehr, sehr viele Menschen sind den Weg schon erfolgreich gegangen. Mit und trotz aller Zweifel und Widerstände haben sie es geschafft, sich der depressiven Muster zu entledigen. Ich werde das noch viele Male wiederholen, weil es nicht oft genug gesagt werden kann, dass es einen Ausstieg gibt und dass er machbar ist.
Darüber hinaus ist Erschöpfung ein Zustand, den alle Menschen in mehr oder weniger ausgeprägter Weise irgendwann einmal in ihrem Leben erlebt und erlitten haben, so dass auch für nicht depressive Menschen die Erschöpfung ein Weg sein kann, depressive Menschen zu verstehen. Es kann für sie ein Weg sein zu verstehen, wie grauenvoll ein solches Leben sein muss, wenn die Erschöpfung ein Dauerzustand und ein lebenslanger Begleiter ist. Vielleicht helfen auch eigene Erfahrungen, wie etwas, was man gern machte, im Zustand der Ermüdung nichts mehr bedeutet, wie das beste Essen, wenn man krank ist, nicht mehr schmeckt, wie im Zustand des Stresses die Lust auf Sex verloren geht und man sich nichts Sehnlicheres wünscht, als in Ruhe gelassen zu werden und einfach nur schlafen zu können, wie man nach einem harten Tag nichts lieber hat, als ohne Verpflichtung zu Hause sein zu können.
Und wenn man von diesen Erfahrungen einen Gedanken weiter geht, kommt man dem depressiven Erleben noch einen Schritt näher: Die depressiven Menschen kennen nichts anderes, als gerade in diesen Situationen sich aufzuraffen, sich zu überwinden und so zu tun, als wenn es das Schönste der Welt wäre – und das immer und überall, als ihre Art zu leben, die keine Ausnahme und keine Entschuldigung erlaubt.
Wer depressiv ist, ist es immer und überall. Genau das ist das Erschütternde und Grausame der Depression – und das Erfreuliche ist, dass es nicht immer so bleiben muss.
Und grausam ist, wie viele Menschen latent depressiv sind, ohne es zu wissen, die leiden, ohne zu verstehen, weshalb, die nichts anderes kennen, als dieses sorgenvolle und kaum zu bewältigende Leben: ständig am Limit, immer im Gefühl des Müssens, der Pflicht und immer im Gefühl, dass es erwartet wird. Für Tausende und Abertausende ist das ein normaler Zustand, für den sie keinen anderen Namen kennen als »Das ist Alltag, das ist mein Leben, das bin ich«.
Aus den vielen Rückmeldungen auf das erste Buch habe ich von vielen Menschen erfahren, die in Behandlung sind oder waren – bei Ärzten, Psychologen und Psychiatern. Auch die meisten dieser Fachleute haben die Erschöpfung als Zeichen der Depression weder thematisiert noch erkannt.
Dabei ist dieses Leiden all der latent Depressiven, diese Erschöpfung, ein so sinnloses Leiden, dass ich hoffe, mit diesem Buch auch diese Menschen ansprechen zu können. Man muss nicht so leben. Es gibt ein anderes Leben, auch für diese Menschen, die vielleicht schon lange keine Hoffnung mehr haben, sondern nur mit dem geheimen Wunsch leben, zu fliehen, und mit der Hoffnung, dass alles bald ein Ende haben wird.
Die Depression ist kein Joch, das man zeit seines Lebens tragen muss, kein Schicksal, das man erdulden, und keine Strafe, die man abbüßen muss. Die Depression kann man überwinden, es gibt ein Leben ohne sie.
Ich hoffe, mit diesem Buch Wege aufzeigen und Hoffnung geben zu können für ein besseres, lebenswerteres Leben. Vieles, was mir wichtig ist, werde ich in der einen oder anderen Art wiederholen. Für einige wird das anfangs irritierend sein, für andere, wie ich aus vielen Rückmeldungen gehört habe, aber von Beginn an sehr hilfreich. Für die meisten latent und manifest depressiven Menschen tönt das Gesagte fremd, schwer nachvollziehbar, und sie müssen es immer und immer wieder hören, bis der Groschen fällt. Was früher nie sein konnte und nie sein durfte, braucht lange, bis es ins Bewusstsein aufgenommen und emotional nachvollzogen werden kann. Für die Schnellen unter den Lesern hoffe ich, dass sie das nötige Verständnis dafür aufbringen.
Vor allem für all die depressiven Menschen, ob sie sich nun so sehen oder nicht, ist dieses Buch gedacht. Ihnen soll es helfen, sich besser zu verstehen und sie auf dem Weg aus der Depression zu unterstützen. Es ist nicht nötig, dass depressive Menschen alle Energien nur darauf verwenden, über die Runden zu kommen. Noch weniger nötig ist es, dass es zu einem Zusammenbruch kommt. Es gibt immer und jederzeit Ausstiegsmöglichkeiten.
Die Beschreibung der Schritte aus der Depression soll einen wichtigen Platz einnehmen in diesem Buch. Es ist kein Rezeptbuch, das ich geschrieben habe. Rezepte gibt es nicht und würden auch nichts bringen. Aber Hinweise, Anregungen sind hilfreich, weil sie den Menschen helfen, sich mit sich zu beschäftigen und sie dorthin führen, wo auch die zentralen Aspekte des Ausstieges aus der Depression liegen. Ich werde immer wieder betonen, mit welchen Schwierigkeiten der Ausstieg verbunden ist. Ich mache das nicht, um abzuschrecken, sondern um aufzuzeigen, dass diese Probleme zum Prozess des Ausstieges gehören. Die Tendenz depressiver Menschen, sich abzuwerten und zu entwerten, erschwert ihnen den Weg. Sich abwerten ist vielfach der erste Schritt zum Aufgeben und den Bettel hinzuschmeißen. Mit der Schilderung der Beschwerlichkeit des Weges möchte ich nur sagen: »Der Weg ist schwierig, nicht du bist unfähig. Gib nicht auf, es lohnt sich!« Am Fuße eines Berges stehen ist immer verbunden mit Gedanken voller Zweifel und Unsicherheit, ob man den Aufstieg überhaupt schafft, ob er überhaupt zu bewältigen ist. Mit jedem Schritt, den man geht, wächst das Vertrauen, und mit jedem Meter, den man hinter sich bringt, kommt ein Gefühl der Befriedigung auf und wächst die Überzeugung, dass man diesen Weg gehen will und auch gehen kann. So ergeht es den depressiven Menschen, wenn sie voller Angst und mit dem Gefühl des Unvermögens beginnen, ihre depressiven Muster zu verändern. Schon bei den ersten Schritten aber spüren sie, und mit jedem Tag mehr, dass sie diesen Weg gehen wollen und dass er richtig ist und für sie stimmt. Sie erfahren, dass es dabei um sie selbst geht und sie zutiefst betrifft. Ihre Zähigkeit und enorme Belastbarkeit schaffen die besten Voraussetzungen für ein erfolgreiches Gelingen. Für sie ist kein Berg zu hoch und kein Weg zu schwierig. Deshalb werden sie auch ihren Ausstieg aus der Depression schaffen.
Ich bin überzeugt, dass heute ein Umdenken nötig ist, was die Behandlung der Depression anbelangt. Aus depressiven Mustern aussteigen ist ein langwieriger Prozess, der nicht mit Medikamenten abgekürzt werden kann. Es ist ein Prozess, der viel Zeit und Geduld erfordert und nur in kleinen Schritten gegangen werden kann. Es geht um mehr als um bloße Verhaltensänderungen. Wie soll denn eine depressive Entwicklung, die sich langsam aufgebaut und dann jahrzehntelang zementiert hat, innerhalb weniger Stunden verändert werden? Veränderungsprozesse, die so sehr die Persönlichkeit betreffen, müssen geduldig angegangen und sorgfältig geführt werden.
Ein langsamer Weg aus der Depression ist der schnellste und der kürzestmögliche Weg.
Natürlich ist das Leben heute schwieriger, sind die Anforderungen an den Einzelnen größer. Aber auch unter den heutigen Umständen ist ein Ausstieg aus der Depression möglich, ist es nicht zwingend, so zu leben. Mit der Beschreibung der heutigen Lebenssituation geht es darum, zu sehen, unter welchen Lebensumständen heutzutage viele Menschen leben und was das bedeutet bezüglich der Entstehung und der Ausweitung der Depression. Nur ein paar Aspekte zur Illustration: Es gibt keine Sicherheit des Arbeitsplatzes mehr, immer mehr muss in den Betrieben in immer kürzerer Zeit mit immer weniger Menschen erledigt werden, fehlende Wertschätzung am Arbeitsplatz und schwierigere Lebensbedingungen für Partnerschaften und Familien. Es ist mir wichtig, aufzuzeigen, wie die Brüchigkeit der Lebensumstände Einzug hält in die Familie, diese maßgebend prägt und vor allem, was das für die Kinder bedeutet und was es ihnen abverlangt. Der Begriff der Brüchigkeit trifft das Wesentliche depressiven Lebens in einer Prägnanz, wie das wahrscheinlich kein anderer Begriff tun kann. Ich hoffe, dass es mir gelingt, mit dieser Schilderung sichtbar zu machen, wie Kinder die Brüchigkeit der gesellschaftlichen und familiären Konstellation aufnehmen und wie gerade ihre Art, darauf zu reagieren, die unheilvolle Entwicklung in eine spätere Depression zugrunde legt und die Weichen stellt für einen Lebensstil, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt.
Entstehung der Depression und Wege des Ausstieges sind zentrale Themen dieses Buches und das Verbindende sind die Begriffe der Brüchigkeit und der Überforderung.
Wie die verschiedensten Menschen sich in diesem Buch ehrlich und offen äußern, so ist auch für mich dieses Buch ein sehr persönliches und offenes Zeugnis meines Denkens und Schaffens.
Josef Giger-Bütler: »Sie haben es doch gut gemeint«. Depression und Familie. Beltz: Weinheim/Basel 2003
Teil 1
1. Kapitel
Depressive Menschen sprechen nicht über sich, sie sagen nicht, wie es in ihnen aussieht. Sie erwarten aber auch nicht, dass sich jemand für sie interessiert. Sie wollen keine Aufmerksamkeit, sondern in Ruhe gelassen und nicht befürsorgt werden. Würden sie aber sprechen, dann wären alle erstaunt. Man könnte sehen, welche Höllenqualen sie durchleben und wie groß ihr tägliches Leiden ist. Die depressiven Menschen sollen es wissen, damit sie sehen, wie sehr auch andere leiden. Ihr Erleben ist nicht etwas, für das es keine Worte gibt. Vielleicht können sie, wenn sie dieses Buch lesen, sich besser verstehen und zulassen, dass ihr Leben eben doch so grausam ist, wie sie es empfinden, dass sie ihren Gefühlen vertrauen können und sie sich nicht einfach etwas vormachen. Ich beschreibe das aber auch für all diejenigen, die nicht depressiv sind, damit sie sehen können, was sich im Innern depressiver Menschen abspielt. Es würden sich Abgründe auftun, wenn sie schildern, wie sie sich geplagt fühlen, sich Vorwürfe machen, weshalb sie etwas so und nicht anders gemacht haben, wie sie alle möglichen Varianten durchspielen, bevor sie etwas angehen und es doch nicht umsetzen, wie sie sich ständig unter Druck und unsicher fühlen. Es ist beklemmend, zu hören, wie sie sich nichts zutrauen, an allem zweifeln, obwohl sie doch eigentlich wissen müssten, dass sie das können, wie sie Dinge scheinbar souverän und kompetent erledigen und doch das Gefühl haben, nicht zu genügen, wie sie sich immer gefangen, unfrei, gehetzt und überfordert fühlen und wie sie den Zwang verspüren, immer alles so zu machen, wie sie glauben, dass es von ihnen erwartet wird. Man könnte noch viel aufzählen, um aufzuzeigen, wie viel in depressiven Menschen vorgeht: Wie es ständig in ihrem Kopf denkt, wie sie von Ängsten, Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen geplagt sind, wie sie sich nicht auf sich verlassen können, wie wenig sie sich kennen, und wie sehr es sie belastet und unsicher macht, von sich nichts zu wissen, sich nicht zu kennen und nicht mit sich vertraut zu sein. Die Gefühle der Unvertrautheit, der bodenlosen Unsicherheit und der Lebensangst fressen sie auf, vermiesen alles und zerstören jegliche Lebensfreude.
»Auch arbeiten und sich ablenken helfen nicht gegen die depressiven Gedanken und Gefühle. Im Gegenteil. Das Anschauen von eigentlich schönen Dingen verstärkt nur die öden und verzweifelten Empfindungen der Sinnlosigkeit.«
Sie kommen sich klein und lächerlich vor, wenn sie die anderen sehen, wie diese alles leicht nehmen, sich kaum Gedanken machen und doch gut und zufrieden leben können. Es ist erschütternd, zu erfahren, wie sehr depressive Menschen leiden müssen. Beim noch genaueren Hinsehen und Hinhören zeigen sich Zusammenhänge und lässt sich eine innere Logik erahnen, die der Schlüssel ihres Erlebens und Verhaltens ist.
Und der wichtigste Schlüssel, quasi der Königsweg des Verstehens, ist die Erfahrung der Müdigkeit und der Erschöpfung, die die treuesten Begleiter der depressiven Menschen sind. Sie sind allgegenwärtig. Um sie herum kommen sie nicht, auch wenn sie viele ihrer Handlungen und Gefühle nicht verstehen und verwirrt sind durch das ständige Auf und Ab, das ständige Gedanken- und Gefühlswirrwarr und sie sich weder auf Gefühle noch auf Gedanken verlassen können. Die Müdigkeit ist wie ein riesiger Stein auf ihrem Weg, der sie immer wieder bremst und alle ihre Handlungen und Gefühle bestimmt. Um die Müdigkeit kommen sie nicht herum. Sie verfolgt sie, sie ist Teil ihres Lebens, lässt sich nicht abschütteln und nicht auf die Seite legen. Und das, obwohl sie es immer wieder versuchen. Denn müde sein, nicht das machen und so machen können, wie sie es wollen, ertragen sie kaum. Alles andere wäre einfacher auszuhalten als diese immer währende Müdigkeit. Und deshalb ist auch das Akzeptieren dieser Müdigkeit für sie so schwer, kommen ihnen auch die fehlende Geduld und das fehlende Verständnis für sich in den Weg. Es ist nicht allein die Müdigkeit, die sie schlecht ertragen, es ist genauso die Erfahrung, dass sie mit ihr dünnhäutig und verletzlich sind, kompliziert und umständlich. So sehen sie sich nicht gern, das macht sie unzufrieden mit sich und übel gelaunt. Und aus diesem Frust heraus verstärken sie ihre Anstrengungen noch, machen noch mehr, laden sich noch mehr auf, um nur nicht von dieser Müdigkeit in die Knie gezwungen zu werden. Was ihnen genauso das Bein stellt, ist ihre Ungeduld. »Müde kann man ja sein, aber doch nicht über Wochen und Monate hinweg.« Die Ungeduld ist es auch, die alles so schwierig macht, wenn es darum geht, diese Müdigkeit anzunehmen und sich Ruhe zu gönnen. Das ist ein riesiger Energieaufwand, den sie erbringen müssen und der ihnen um vieles schwieriger erscheint, als alles wieder so zu machen wie früher. »Sich annehmen ist ja schon recht, aber doch nicht so und in diesem Zustand.« Wenn sie es trotzdem versuchen, wird die Angst, die sie schon die ganze Zeit in sich tragen, übergroß: Angst vor der Leere, vor dem Loch, Angst vor der Zukunft und vor dem, was noch kommen könnte.
Zum depressiven Erleben gehört also ganz wesentlich die Müdigkeit, und zwar sowohl die psychische wie auch die physische als Grund- und Dauerzustand. Es gibt nichts in ihrem Leben, was nicht auch entscheidend von ihr geprägt ist. Depressive Überforderung führt zwangsläufig zu Ermüdung und zur körperlichen Erschöpfung. Ständig müssen, immer über die eigenen Verhältnisse leben, zehrt unweigerlich an den Kräften. Leben müssen, obwohl sie sich dem Leben nicht gewachsen fühlen, kostet Kraft, und mit zunehmender Dauer übersteigt das ihre gewohnte Belastbarkeit und wird zu einem Gehen auf dem Zahnfleisch.
»Ich bin nur damit beschäftigt, über die Runden zu kommen, so beschäftigt mit allem, was noch gemacht werden muss, was noch fertig gestellt werden muss, dass ich immer meine, dass ich es nicht mehr schaffe. Ich habe das Gefühl, dass es an allen Ecken und Enden brennt. Ich habe fast keine Kraft mehr und muss mit letzter Anstrengung versuchen, all das zu machen, was ich noch machen muss. Ich bin ständig am Rennen und für mich habe ich gar keine Zeit. Ich weiß nicht, was ich für mich tun könnte, wann ich überhaupt die Zeit und die Kraft hernehmen könnte, etwas für mich zu tun. Ich bin immer am Laufen und Röcheln und immer mit dem Gefühl: ›Jetzt schaffe ich es dann nicht mehr.‹
Ich bestehe nur noch aus Müssen. Ich muss im Beruf, muss für die Kinder da sein, auch meine Frau will etwas von mir. Und was immer ich mache, mache ich mit schlechtem Gewissen, weil es eh nicht genügt, was ich tue, und in diesem Zustand erst recht nicht. Es genügt nie, was ich mache, ich schaffe nie, was ich meine erreichen zu müssen. Es hört nie auf, und die Angst ist immer da, was ist, wenn ich nicht mehr mag, wenn ich nicht mehr durchkomme. Manchmal wünsche ich mir das, dann hat alles ein Ende.«
Die Erschöpfung bestimmt und prägt ihre Stimmung und Verfassung, macht ihnen alles so unendlich mühsam und die kleinste Verrichtung zur Schwerstarbeit. Alles, was sie mit links erledigen könnten, ermüdet, wie wenn sie tagelang im Steinbruch arbeiten würden. Nie fühlen sie sich ausgeruht, nie stark, unbelastet und frei. Sie erleben sich wie nach einer schweren Krankheit geschwächt, saft- und kraftlos und ohne Energie. Immer fühlen sie sich matt und schwach, obwohl sie nach außen genau das Gegenteil davon ausstrahlen: immer bereit und voller Initiative, unermüdlich und mit einem riesigen Durchhaltevermögen, wie wenn sie Energie für zwei hätten.
»Ich mag nicht mehr, ich kann nicht mehr. Ich bin froh, wenn mich die anderen in Ruhe lassen. Es ist eine tiefste Erschöpfung, mit der ich schon jahrelang lebe. Es ist nicht wie nach einer Wanderung. Es ist eine Erschöpfung, von der sich nicht erholen lässt, die nicht nachlässt und die macht, dass ich in mir, in meinem Körper, in der Beziehung, überall, nicht zu Hause bin. Ich fühle mich nie frei, nie erholt, immer unter Druck, eingeengt, unfrei, belastet. Es sind auch nie Impulse da, was ich tun möchte oder könnte, sondern nur Anforderungen: Ich sollte das oder das tun und das immer mit dem Gefühl ›Aber ich mag doch nicht‹ oder ›Das wird doch nie besser‹. Aber ich will nicht, dass andere sehen, wie es mir geht. Dann wäre ich abgeschrieben, dann hätte das Durchbeißen all die Jahre keinen Sinn gehabt.«
Auch wenn sie ihre als krankhaft erlebte Müdigkeit nicht verstehen, bei allem Suchen und Nachdenken nicht herausfinden, woher sie kommt, sie als unverhältnismäßig, übertrieben und ungerechtfertigt erleben, kommen sie nicht umhin, sie als gegeben und dominant anzuerkennen. Sie ist zu bestimmend und beherrscht zu sehr ihr Leben. Wenn sie in die Zukunft schauen, stellt sie sich in den Weg und alles, was sie sich ausmalen, ist gefärbt und geprägt von ihr. Schauen sie zurück, ist es wiederum dieselbe Müdigkeit, die sie als dominant und bestimmend erfassen, und in der Gegenwart ist sie es, die alles durchdringt. Sie verunsichert auch deshalb, weil sie nicht wissen, ob sie das noch lange durchhalten können und wollen. Und mit dieser Müdigkeit verbunden ist häufig und mit zunehmender Dauer der Wunsch, einmal nicht mehr zu müssen, einmal nicht mehr aufstehen und sich nicht mehr plagen zu müssen. Der Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, vor allem aber nicht mehr zu müssen, kann übermächtig werden und damit auch der Wunsch immer bohrender und zwanghafter, diesem elenden Leben ein Ende zu setzen. Deshalb ist im Zusammenhang mit der Depression der Suizid so nahe und auch so nachvollziehbar.
Sehr viele depressive Menschen leben in dauernder Müdigkeit , die sie aber als zu ihrem Leben gehörend empfinden. Viel störender und belastender aber ist das Gefühl des Gehetztseins, das Gefühl, nie zur Ruhe zu kommen, ständig auf Trab gehalten zu werden. Sie erleben sich als müde vom ewigen Müssen, müde von ihrem Leben, das so viel fordert und sie ständig überfordert. Sie fühlen sich immer unter Druck, immer gezwungen, Dinge zu machen, die sie nicht wollen, nie abschließen und abschalten zu können. Sie erleben den Druck und die Überforderung von außen wie von innen. Immer ist eine Stimme da, die sie antreibt: »Du machst zu wenig, du müsstest noch das und jenes, noch schneller, im Vorbeigehen noch dieses erledigen …« Immer meldet sich das schlechte Gewissen, ständig erleben sie einen Druck nach Noch-mehr, nach Noch-besser. Es sind innere Antreiber, die nie Ruhe geben, die nie zufrieden sind, die immer noch mehr wollen. Sie erleben die depressiven Menschen so stark. Von ihnen haben sie genug, von ihnen fühlen sie sich überfordert und schikaniert. Sie belasten stärker als die physische Müdigkeit und sie verschleiern den Blick auf die ganzheitliche physische und psychische Müdigkeit. Depressive Menschen sehen nicht, dass alle psychischen Überforderungen sie auch körperlich fordern. Ständig das Gefühl haben, zu müssen und gehetzt zu werden, macht auch körperlich müde. Deshalb müssen depressive Menschen beim Verändern ihres Verhaltens zuerst diese Zusammenhänge kennen lernen, erkennen, wie ihre eigenen Erwartungen sie fordern und quälen, sensibel werden, wie sehr sie auch körperlich müde und erschöpft sind und wie sehr der Körper nicht mehr mag.
Das Überforderungsverhalten ist so integriert, dass sie gar nicht merken, wie sehr sie ständig belastet sind. Sie realisieren nicht, wie ihr Verhalten sie Kraft kostet und wie sehr sie dadurch, dass sie immer auf dem letzten Zacken laufen, noch mehr Energie mobilisieren müssen. Es ist sicher nicht einfach, einzusehen, dass etwas, was so zu ihrem Leben gehört, körperlich ermüdet. Wenn man sich aber vorstellt, dass depressive Menschen alles ohne das Gefühl von Sicherheit machen, es immer um alles oder nichts geht, kann man sich vorstellen, dass ein solches Leben ermüden muss. Aber zu dieser Einsicht müssen die depressiven Menschen erst kommen. Meist denken sie andersherum. »Ich habe nie anders gelebt und es ist doch immer gut gegangen. Ich helfe doch gern, ich mache doch den anderen gern eine Freude, ich bin doch gern für die anderen da. Was kann denn daran falsch sein? Wenn es bis jetzt gut ging, weshalb denn jetzt nicht mehr?«
Sich der Müdigkeit zu stellen, sie zu sehen und anzuerkennen ist der erste und wichtigste Schritt zum Sichselbsterkennen, sich ehrlich und real zu sehen und so einen ersten Schritt auf sich zuzugehen.
Erkennen und Annehmen der Müdigkeit, auch wenn man sie nicht versteht, sind der Anfang der Selbsterkenntnis, des Sichverstehens und damit der erste Schritt zur Veränderung.
»Ich lerne die Müdigkeit zu erkennen, und versuche sie als mildes, aber deutliches Haltesignal zu verstehen. Je mehr ich auf mich schaue, umso mehr sehe ich, wie ich nur Müdigkeit bin. Ich merke aber auch, wenn sie zunimmt, und spüre auch ganz fest, wie sie von mir Besitz nimmt, wenn ich nicht achtsam mit mir umgehe. So werden denn im Moment meine Kreise nicht größer, im Gegenteil viel kleiner, weil ich vieles nicht auch noch mache, das ich vorher noch schnell im Vorbeigehen erledigt habe. Was von außen wie ein Auf-der-Stelle-Treten aussieht, spüre ich innen als gesteigertes Wohlbefinden und als Zufriedenheit, wenn ich die Haltesignale beachte. Die letzten Wochen geben mir zunehmend Sicherheit auf meinem Weg, und ich bin glücklich, dass überhaupt Regeneration und Umlernen und damit Heilung möglich werden. Es ist wie ein zweites Leben, das mir geschenkt wurde. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich war nahe am Tod über lange Zeit. So übe ich weiter im Befragen und Spüren, im liebevollen und achtsamen Umgang mit mir selbst, das ist wichtig. Und wenn ich mich wieder vergesse, dann sage ich: ›Halt, stopp, komme zu dir, verlier dich nicht schon wieder.‹ Es darf nicht schneller gehen, ich brauche die kleinen Schritte. Wenn ich für jedes Übertreten des Haltesignals eine Buße hätte bezahlen müssen, dann wäre ich jetzt mausarm.«
Sich selbst laufend zu überfordern und nicht aus dieser Überforderung herauszukommen schafft ein Lebensgefühl, das nie tragend und befriedigend ist, sondern so, dass der depressive Mensch sich fühlt, wie wenn er sich ständig wie auf Eis bewegen würde, nie wissend, wann es einbricht. Oder um ein anderes Bild zu gebrauchen: Der depressive Mensch bewegt sich auf einem schmalen Grat, von dem er bei einem Fehltritt abstürzen könnte. Er bewegt sich immer am Rand des Abgrundes, immer mit einem Bein am Rande des Verderbens. Dass ein solches Leben keine Sicherheit vermittelt, nicht anregt für mutige und neue Schritte, liegt auf der Hand.
Das, was bis jetzt über die Depression ausgesagt und geschildert wurde, spielt sich in den depressiven Menschen ab, ohne dass das nähere Umfeld etwas davon mitbekommt. Sie merken oder spüren intuitiv, dass davon die Umwelt nichts erfahren darf. Auf jeden Fall wollen und können sie nicht zeigen, wie sehr sie immer kämpfen müssen, um dieses Leben meistern zu können. Sie verstecken sich, wollen so tun, wie wenn es ihnen gut ginge. Sie machen das so erfolgreich, dass kaum jemand sie durchschauen und erfassen kann – vor allem wollen sie mit allen Mitteln verhindern, als depressiv zu gelten. Ihr Leiden ist unsichtbar für andere, weil sie das so wollen. Sie wollen kein Mitleid und wollen auch nicht, dass man sie als wehleidig, jammernd und schwach bezeichnen könnte. Ihr Leiden ist unheimlich, weil sie für ihren Zustand meist keinen Namen und keine Worte finden. Sie können, auch wenn sie noch wollten, gar nicht viel von und über sich sagen.
Sie merken und wissen natürlich sehr genau, dass sie mit ihrem Leben und Leiden in der Gesellschaft keine Lorbeeren ernten, keinen Gewinn einfahren können. Sie wissen oder ahnen, dass ihr Zustand und die Depression, wenn sie ihren Zustand als solchen bezeichnen, ihnen keinen Respekt, keine Achtung und Zuwendung entgegenbringen, sondern im Gegenteil sie noch mehr isolieren, als sie es schon selbst tun. Je größer die innere Not, umso stärker spüren sie in sich den Druck, ihr eigentliches Empfinden verstecken und nach außen etwas vorspielen zu müssen. Ein unsichtbares Leiden ist immer ein unheimliches Leiden.
»Wirklich zu sagen, wie es mir geht, traue ich mich schon lange nicht mehr, sosehr mich ein solches ›falsches‹ Verhalten beschämt und mir total gegen den Strich geht. Ich bin nicht so, ich möchte ehrlich sein, aber Ehrlichkeit ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann.«
Unheimlich ist die Depression auch, weil sie sich still und heimlich formt, sich ebenso unsichtbar entwickelt und in einer Art wirksam ist, dass selbst die Menschen, die unter ihr leiden, wie wir gesehen haben, häufig selbst nicht wissen, dass sie depressiv sind. Depressive Muster, nach denen sie leben und die sie dauernd überfordern, sind so automatisiert und internalisiert, dass sie sie nicht erkennen können, nichts von ihrer Dynamik erfassen, sondern nur ihre Auswirkung erfahren: die dauernde Ermüdung und Erschöpfung. Und zu etwas, das so zu einem gehört und automatisch abläuft, kann man nichts sagen. Und dieses Nichtwissen und keine Worte für den Zustand zu finden verstärken das Leiden, sind unheimlich und bedrohlich – und machen die depressiven Menschen noch wortloser, stummer, als sie an sich schon sind. Sie können aber auch gar nicht von sich sprechen, weil sie es nicht gewohnt sind. Sie wissen nicht, was sie von sich sagen müssten, und glauben nicht, dass es jemanden geben könnte, der sich für sie interessiert. Ihre Angst, sich nicht verständlich machen zu können und nicht verstanden zu werden, lässt sie noch mehr verstummen und degradiert sie zu bloßen Zuhörern. Wer nicht spricht, kann tatsächlich nicht verstanden werden. Für sie aber ist das nur eine weitere Bestätigung, anders zu sein, nicht beachtet zu werden, nicht wichtig oder interessant zu sein für die anderen. Und wer nicht interessant ist, wird auf die Seite geschoben und übergangen. Das ist ihre Erfahrung und ihre felsenfeste Überzeugung.
Wesentlich zum depressiven Verhalten gehört, dass die automatisierten depressiven Muster immer und überall wirksam sind. Wer so eingebunden und geleitet ist von diesen Überforderungsmustern und ständig in der Angst lebt, irgendwann einmal die Kraft nicht mehr aufzubringen, versteckt sich noch mehr hinter einer Fassade. Wer ständig geplagt wird von der Angst, ertappt und in seiner Minderwertigkeit und Bedürftigkeit entlarvt zu werden, muss sein Verhalten als Theater und Schwindel und dieses Leben als erniedrigend und beschämend erleben. So eine Person will und muss auch schweigen. Und zudem kostet das Verstecken der wirklichen psychischen Verfassung Kraft, und bei ihnen, die dauernd müde sind, wirkt sich das katastrophal aus. Es geht immer um Sein oder Nichtsein und damit auch um alles oder nichts.