Giulia Carcasi
Wörterbuch
der Liebe
Roman
Aus dem Italienischen
von Claudia Franz
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Tutto torna«
bei Feltrinelli, Mailand
1. Auflage
Copyright © 2010 by Giangiacomo Feltrinelli Editore, Milano
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013
beim C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: buxdesign, München, unter Verwendung
eines Bildes von Carla Nagel
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-09035-7
www.cbertelsmann.de
Rom, 12. September 2008
»Mein Kind, ich finde mein Kind nicht mehr«, schreit eine Frau und klammert sich an die Passanten.
Die sagen, beruhigen Sie sich, was ist denn passiert?
Das Kind möchte alleine laufen und nicht an der Hand gehen. Manchmal ist es so trotzig, dass sie es lässt, aber sie schaut ihm stets hinterher und passt auf. Es war nur ein Augenblick, das schwört sie, nur ein winziger Moment, und schon war das Kind nicht mehr da. Sie könnte sich selbst verfluchen.
Die Leute fragen, wie es aussieht, wie alt es ist, wie es heißt.
Es ist nicht gerne im Dunkeln, antwortet sie, als könnte man es so unter Tausenden von Kindern herausfinden. Nachts muss das Licht anbleiben, sonst kann es nicht schlafen. Gütiger Himmel, wenn alles dunkel ist, kann es passieren, dass es ein Riesentheater veranstaltet. Ihr graut allein bei dem Gedanken, dass es womöglich Angst hat. Niemand wird ihr Kind je so verstehen, wie sie es versteht, schon von Geburt an. Niemand kennt es so gut wie sie. Jetzt geht sie in die Knie und wiegt sich in ihrem Schmerz hin und her.
Als ich den Menschenauflauf sehe und sie mittendrin, fluche ich innerlich.
Ein Polizist bittet die Leute, Abstand zu halten, ein Kind sei entführt worden. Ich trete vor, um zu sagen, was ich zu sagen habe.
»Ihr Ammenmärchen können Sie auf dem Kommissariat erzählen«, unterbricht mich der Mann, als ich gerade mit meinen Erläuterungen beginnen will. Er fürchtet, dass ich die Ermittlungen behindern oder gar in die falsche Richtung lenken könnte.
»Ihre Papiere«, verlangt er, schaut dabei aber die Frau an und verspricht ihr Gerechtigkeit.
»Die Papiere«, wiederholt er, als ich noch danach suche und über die Absurdität des Ganzen nachdenke: Einem Gefühl wird Glauben geschenkt, die Wahrheit muss Beweise vorlegen.
»Finden Sie Ihre Papiere nicht?«, drängt er. Jetzt erkundige ich mich, ob er sie auch danach gefragt hat.
»Die Fragen stelle ich«, fährt er mich an. Er hat sie nicht danach gefragt.
Ich hole die Ausweise aus der Tasche, meinen und auch ihren. Der Polizist kontrolliert sie und zieht plötzlich ein Gesicht, als wäre die Nacht über ihn hereingebrochen.
»Nehmen Sie die Frau, und verschwinden Sie«, sagt er und warnt mich, dass so etwas nicht noch einmal vorkommen möge. Als hätten sie oder ich die Wahl.
Ich versuche, sie vom Boden hochzuziehen. Sie weist mich ab, so wie ich sie abgewiesen hatte, als sie nach meiner Hand greifen wollte. »Lassen Sie mich in Ruhe.« Sie wird sich nicht vom Fleck rühren, bis man ihr Kind gefunden hat.
Wieder beuge ich mich hinab und rede leise auf sie ein, es wird unser Geheimnis bleiben: Der Polizist hat gesagt, dass ihr Kind in Sicherheit ist. Man wird es direkt nach Hause bringen, deswegen müssen wir sofort aufbrechen und dort warten, damit es nicht vor verschlossener Tür steht.
»Stimmt das, was Sie da sagen?«
Jedes Mal, wenn sie mich nicht erkennt, entsteht dieser winzige, unermessliche Moment, in dem auch ich an mir zweifle.
Als ich es ihr versichere, weiß ich selbst nicht, ob ich es ernst meine oder nicht oder vielleicht beides. Ich weiß nur, dass ich mich nie daran gewöhnen werde, während sie nun wie verrückt lacht und dem Himmel dankt. Ich greife ihr unter die Arme. Die Leute starren uns an. Langsam erhebt sie sich, und ich wünschte, es würde schneller gehen, um der peinlichen Situation endlich entfliehen zu können. »Nun mach schon, Mama, lass uns gehen.«
Ich habe mich nicht verlaufen, und man hat mich auch nicht entführt.
Ich bin schon groß, aber das vergisst sie immer.
Nach dreißig Jahren sind die Schwarzstörche zurückgekehrt
Ich lese Zeitung. Sie hat zwanzig Tropfen genommen und schläft.
Im Wasserdampf ihrer Träume schiebt sich immer wieder das Kind vor die Dinge, die ihr einst gehörten: ein Abendkleid, in dem sie jetzt eine lächerliche Figur abgeben würde; ein Armband, von dem sie weiß, dass sie es irgendwohin gelegt hat, wo es nie war; das stumme Radio, das ihr Lieblingslied sendet, dessen Titel ihr nicht einfallen will.
Alles Staub, der sich nicht absetzt. Jedes einzelne Ding, das war, oder, wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sein sollen, alles Zwangsläufige oder Mögliche oder Unwägbare ihres Lebens befindet sich jetzt, wo sie sich befindet. Und in diesem bunten Treiben verliert sie die Orientierung.
Ich lese Zeitung, während die verstreuten Fragmente ihres Lebens durchs Zimmer kreisen.
Ein schmiedeeisernes Tischchen kommt mir gefährlich nahe. Ein Bein ist einen Millimeter kürzer als die anderen. Auf diesem wackligen Möbelstück haben wir im Sommer Karten gespielt, und sie hat durcheinandergebracht, wer gewonnen hat und wie hoch.
Vergessen zu können, setzt voraus, dass man sich erinnert, und sie erinnert sich nicht. Ein weißes Blatt Papier lässt sich nach Belieben füllen.
Um nichts herumliegen zu lassen und Platz zu schaffen, muss man sammeln, zuordnen, archivieren und dann die Archivtür hinter sich schließen.
Castiglione d’Adda: Die Schwarzstörche sind zurückgekehrt. Es handelt sich um scheue Vögel, die die Nähe des Menschen meiden. In der Bassa hat man sie im vergangenen Jahrhundert nur drei Mal beobachten können.
Im Wartezimmer lernt man zu lesen, man konzentriert sich auf die Seite. Während sich zahlreiche Wenn-Sätze in den Vordergrund drängen und einem die kühnsten Möglichkeiten vorgaukeln, konzentriert man sich auf die Seite.
Was wer wo wann warum.
Die Zeitung berichtet von Tatsachen und bringt sie in eine platzsparende Ordnung. Die eigentlichen Tatsachen sind anderswo und zudem einmalig. Obwohl sich sämtliche Morde irgendwie ähneln, gibt es immer eine Waffe oder ein Motiv, die ein Ereignis zu etwas Einzigartigem machen.
Jede Geschichte hat ihre eigene Schublade, und im Kopf entsteht kein Chaos.
»Roberto!«, ruft sie, als sie aufwacht.
»Ich bin Diego«, stelle ich klar.
Diego, Diego, Diego.
Was wer wo wann warum.
Ich gebe acht, in ihrem Nebel nicht irgendwo anzustoßen oder zu stolpern. Ich konzentriere mich auf die Seite.
Castiglione d’Adda: Die Schwarzstörche sind zurückgekehrt.
Die Federn der Schwarzstörche trudeln nicht aus der Zeitung heraus.