Tobias Rüther
Männerfreundschaft
Ein Abenteuer
Rowohlt E-Book
Tobias Rüther, geboren 1973, studierte Geschichte und Deutsche Literatur in Berlin und St. Louis, absolvierte die Henri-Nannen-Schule und arbeitete unter anderem als Textchef beim Kunstmagazin «Monopol». Von 2006 an war er Redakteur in verschiedenen Ressorts der FAZ und FAS, seit Januar 2010 gehört er dem Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» an. 2008 erschien sein Buch «Helden» über David Bowie.
Winnetou und Old Shatterhand, Goethe und Zelter, Ernie und Bert, Jonathan Franzen und David Foster Wallace – die Beziehung zum besten Freund ist etwas Besonderes im Leben jedes Mannes. Wenn es glückt, verbringt man dieses Leben von klein auf miteinander, träumt vom Großwerden, vom Abhauen und noch von mehr: Unternehmen zu gründen, Frauen zu lieben, die Welt zu regieren. Freunde helfen sich und stehen einander bei, falls was schiefgeht. Eine Freundschaft kann in Krisen die Rettung sein oder selbst zur Krise werden, abkühlen, zerbrechen. An einer Freundschaft muss man arbeiten, Freunde gehen ein Risiko ein. Tobias Rüther, einer der profiliertesten jüngeren deutschen Kulturjournalisten, erzählt von besten Freunden, von Prinzen und Lastwagenverkäufern, Richtern und Schriftstellern. Er beschreibt alte Rollen und neue Lebensmuster, pointiert, kulturhistorisch versiert und sehr persönlich. Nicht zuletzt geht es um die Chance eines ganz anderen Männertyps, jenseits von Machos, Patriarchen und Rivalen. Sein Buch ist eine scharfsinnige Analyse unseres Zusammenlebens – und ermuntert zu einem der größten Abenteuer, das ein Mann erleben kann.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2013
Copyright © 2013 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung Frank Ortmann (Abbildung: Panthermedia; Images.com/Corbis)
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Printausgabe 978-3-87134-748-1 (1. Auflage 2013)
ISBN E-Book 978-3-644-11411-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-11411-1
Für Uli
Everything is copy.
Nora Ephron
Mir ist es selbst passiert. Nicht nur einmal.
Es ist mir passiert, da war ich siebzehn, vielleicht achtzehn, und wir hatten ein Auto und sind einfach losgefahren. Im Radio lief die falsche Musik, es gab keinen Kassettenrecorder, aber vor uns lagen die Felder, und es war kurz vor den Zeugnissen, also hatten wir Zeit und freuten uns, nicht ganz allein auf der Welt zu sein. Keiner sagte was. Und später, auf dem Heimweg, inzwischen war es Nacht geworden, schalteten wir das Licht am uralten Opel aus und fuhren im Mondlicht dahin und kamen uns zweitausend Meter groß vor.
Bis plötzlich, im Dunkeln auf der Landstraße, ein Mann auf dem Mittelstreifen vor uns auftauchte und wir wahnsinnig bremsen mussten. Er winkte, wir fuhren rechts ran, um ihm zu helfen, der Mann war aber nur betrunken und wollte nach Hause. Dass wir das am Ende alle wollen, zurück nach Hause, aber dass kein Weg zurückführt, das habe ich erst viel später verstanden. (Nicht in dem Moment, sondern als Lebenstraum, siehe Thomas Wolfe, «You can’t go home again».) Damals war ich zu jung. Damals wohnte ich ja sogar noch zu Hause und wollte eigentlich nichts lieber als weg. In diesem Augenblick aber dachte ich nur daran, was für ein Glück wir Idioten gehabt hatten. Wie glimpflich es ausgegangen war. Denn das Leben, von dem wir träumten, das wir uns wünschten und immer wieder neu ausmalten, hätte mit dem ausgeschalteten Licht des uralten Opels in dieser Nacht ja ein für allemal vorbei sein können. Nach diesem Moment und wahrscheinlich deswegen sagte erst recht keiner mehr was. Das Radio blieb aus. Und noch etwas später, zwanzig Jahre später, habe ich diese Szene – nicht genauso, aber ungefähr, diese Stimmung, dieses Auto, diese Rastlosigkeit, Unschlagbarkeit, die Felder und die Fehler – im Roman eines Schriftstellers gelesen, der überhaupt nicht dabei war und offenbar trotzdem davon wusste.
Das war unheimlich.
Es ging aber auch andersherum.
Da war ich zwölf, vielleicht dreizehn, der Schulbus kam nicht, und so beschlossen wir, einfach auf den Bahngleisen nach Hause zu laufen. Es war wie in dem Film, der kurz davor ins Kino gekommen war und bei dem wir alle geheult hatten, was wir natürlich erst Jahre später freiwillig zugegeben hätten. Mir kam es jedenfalls so vor wie in dem Film. Aber es spielte sich ja sowieso alles in meinem Kopf ab. Am Ende stellte es sich als riesiger Umweg heraus, die Gleise entlangzulaufen, zu Hause warteten die Mütter mit dem Mittagessen, und eine Leiche haben wir natürlich auch nicht gefunden und keine Hamburger über offenem Feuer gegrillt, noch nicht mal ein Reh haben wir gesehen, es kam auch kein Zug hinter uns her, aber ich dachte die ganze Zeit, genau wie der Junge in diesem Film, aus dem ein Schriftsteller wurde, es im Rückblick über sich selbst sagt: Ich hatte später nie wieder solche Freunde wie damals, als ich zwölf war.
Doch, hatte ich. Habe ich. Ich hatte Freunde, mit denen ich so eng war, dass ich heute, wo es vorbei ist, nicht mehr mit ihnen reden kann, eben weil es vorbei ist. Als seien es Liebesbeziehungen gewesen, wie die mit den Frauen, mit denen ich heute, wo es vorbei ist, auch nicht mehr rede. Aber es sind ja auch Liebesbeziehungen gewesen, randvoll mit sentimentalem Quatsch, großen Schwüren und noch größeren Plänen, was man aus seinem Leben machen kann, wenn man erwachsen ist. Und jetzt, wo ich erwachsen bin, habe ich immer noch so einen Freund, und der sentimentale Quatsch ist nicht weniger geworden, im Gegenteil, er wird eher mehr.
Schwer zu sagen, ob es an diesen Büchern und Filmen und Liedern lag: Ob «Stand by Me» – so hieß der Film, den ich mit zwölf auf den Bahngleisen nachspielte, die Verfilmung einer Erzählung von Stephen King – mich zu dem gemacht hat, der ich bin. Ob ich also wegen einer Geschichte von besten Freunden schon als kleiner Junge von einem besten Freund geträumt habe. Ob ich da etwas sah, was ich auch haben wollte. Oder ob es in Wahrheit andersherum ist: dass ich deshalb bis heute magisch von solchen Geschichten angezogen werde, weil ich mir Antworten in ihnen erhoffe, auf die Frage, warum ich so wurde, wie ich bin. Dass ich Bestätigung in diesen Geschichten suche, mit dieser Sehnsucht nach besten Freunden offenbar nicht ganz allein zu sein. Dass es anderen ähnlich geht. Sonst würde es Romane wie Wolfgang Herrndorfs «Tschick» doch gar nicht geben, wo zwei Jungs ohne Führerschein in einem alten Auto einfach losfahren und beinah nicht mehr zurückkommen. Dann wäre so ein Roman doch auch nicht so wahnsinnig erfolgreich. Herrndorf erzählt darin eine Geschichte, die mir unheimlich bekannt vorkommt, auch wenn ich es natürlich anders erlebt hatte. Bei uns war es ein Opel, bei Maik und Tschick, den zwei Freunden im Buch, ist es ein Lada. Aber das sind Spitzfindigkeiten.
Denn es hat viel mit Einbildungskraft zu tun, glaube ich, wenn man einen besten Freund hat. Mit Möglichkeitssinn. Und wahrscheinlich auch mit Prägung. Von meinem eigenen Vater weiß ich nicht, ob er einen besten Freund hatte. Ich habe ihn nie danach gefragt, und jetzt ist es zu spät. Aber ich erinnere mich daran, wie er uns Kindern immer wieder von einem Buch erzählt hat, das er als Junge gelesen hatte und das von zwei Freunden handelte, irgendwo im hohen Norden, Island wahrscheinlich, er wusste es nicht mehr genau. Ein Abenteuerbuch. Den Titel hatte er auch vergessen, was ihn ärgerte, denn die Geschichte ließ ihn sein Leben lang nicht los. Wenn er gesucht hätte, dann hätte mein Vater als Kind und später noch viele andere Geschichten über beste Freunde gefunden. Mein Großvater auch und dessen Großvater genauso: Man kann in den Jahrhunderten zurückgehen, jede Generation hat sich diese Freundschaftsgeschichten von neuem erzählt. Die Romantiker wahrscheinlich am lautesten und triefendsten, aber sogar im Alten Testament stehen sie, im Ersten Buch Samuel: «Und Jonathan schloss mit David einen Bund, weil er ihn lieb hatte wie sein eigenes Leben. Und Jonathan zog den Mantel aus, den er anhatte, und gab ihn David, auch seine Rüstung und sogar sein Schwert, seinen Bogen und seinen Gürtel.»
Männerfreundschaft. Ein Leitmotiv, eine Lebensmelodie der Kunst. Aber auch eine anthropologische Konstante, würde ich sagen. Allerdings hat nicht jeder Mann diesen einen, besten Freund. Manche haben auch mehrere. Und wieder andere Männer kommen ganz ohne besten Freund aus. Das war das Nächste, was mir im Laufe der Zeit auffiel: Es gibt Männer, die kennen das gar nicht. Die haben keinen Lebensgefährten. Die sagen vielleicht, dass ihre Frauen ihre besten Freunde sind. Oder dass sie mit dieser Art von Sentimentalität und Blutsbrüderschaft nichts anfangen können. Dass sie das nicht brauchen. Ich will nicht behaupten, dass es deswegen nüchterne Männer sein müssen, wie käme ich dazu, oder dass sie nicht träumen oder dass sie nicht auch mal gern einfach auf und davon fahren würden. Diese Männer holen sich das, was ich in meinen besten Freunden gesucht habe, bestimmt irgendwo anders.
Meine besten Freunde. Es gab nicht nur einen. Aber für manche kann es nur einen geben, und das war wieder etwas, was mir irgendwann auffiel: dass es eine exklusive Sache sein kann. Bei mir ist es jedenfalls immer so gewesen, Eifersucht inklusive. Es ist schwer, mit jemandem, der mal dein bester Freund war, danach etwas weniger eng zu sein. Ich zumindest habe das bislang nicht geschafft. Nur warum? (Weil Intimität unter Männern so schwierig ist, sagen die Genderforscher. Weil sie im Konfliktfall schweigen. Weil Männer Angst haben, verletzt zu werden, und die schlimmste Verletzung die Beschämung ist, dass etwas öffentlich wird, was vorher privat und geheim war.)
Aber ich will mich in diesem Buch nicht auf die Wissenschaft verlassen. Ich will vor allem Geschichten erzählen, ein paar meiner eigenen und ein paar von Freunden, die mir ihre verraten haben.
Vor ein paar Jahren war ich zum Beispiel zum Geburtstag des Vaters meines besten Freundes eingeladen. Und auch der beste Freund des Vaters war da und auch die Frauen dazu, und wir haben viel getrunken und geraucht und viel zu viel gegessen, und es war herrlich. Irgendwann stand der beste Freund des Vaters dann auf und hielt eine Rede auf seinen alten, siebzigjährigen Freund: Erzählte, wie sie sich kennengelernt hatten, vor mehr als fünfzig Jahren. Wie das mit ihnen beiden sofort zu etwas ganz Besonderem wurde. Wie sie zusammen auf Reisen gingen. Und langsam gemeinsam erwachsen wurden. Zu Männern, Vätern. Und dass er an seinem Freund immer den Witz und die Geistesgegenwart so gemocht hat. Aber dass es auch eine Phase gab, in der sie nicht mehr miteinander geredet hätten, die glücklicherweise irgendwann wieder vorbei war, und dass sie seitdem noch unzertrennlicher wären als vorher, falls man Unzertrennlichkeit überhaupt steigern kann. Am Ende der Rede heulten alle. Und ich saß da und sah diese besten Freunde an und meinen besten Freund und heulte auch ein bisschen und hakte im Kopf die Stationen ab, been there, done that, und ich dachte: Das gibt’s doch gar nicht. Bei uns war es fast genauso. Ist das vererbbar? Kann man das lernen? Oder ist das einfach nur ein kosmischer Zufall?
Und das will ich in diesem Buch herausfinden. Warum werden Jungen und Männer zu besten Freunden? Muss man dazu eine Ader haben, oder kann das jedem passieren? Spielt Natur eine Rolle? Sind es die Umstände, das Alter, ist es Fügung oder Talent? Fehlt da was im Leben, oder wächst einfach etwas zusammen, was zusammengehört? Wie lernt man sich überhaupt kennen? Gibt es da Tricks? Woran wird einem klar, dass der andere der ist, auf den man immer gewartet hat? Wartet man überhaupt auf diesen einen? Und was macht man, wenn er nicht kommt? Was macht man vor allem, wenn er wieder geht? Und was sagen die Frauen überhaupt dazu? Kennen Frauen so etwas auch? Und was ist dieses Etwas eigentlich – Liebe? Das würden Männer doch nie zugeben! Aber warum eigentlich nicht? Und was, wenn sie es doch tun? Und warum nur ist die Geschichte von zwei Freunden, die ein Leben lang zueinanderhalten, so eine wahnsinnig gute Geschichte? Eine fürs Kino. Für Rocksongs, für Bücher und für Regentage und für immer.
Ich will also ein bisschen Männerforschung betreiben. Und sie beginnt mit den vielen Büchern und Filmen und Songs über beste Freunde, die ich im Laufe der Zeit gesammelt habe. Mit diesem Material, mit dem man seinem Leben Halt gibt, es vielleicht auch ein bisschen formt. Mit all den Szenen, die man irgendwo gelesen hat und unbedingt nacherleben will, und den Augenblicken, die man in Büchern findet und erst erschrocken und dann total begeistert über die legt, die man selbst erlebt hat. Die unglücklichen Szenen gehören natürlich auch dazu. Und die Tragödien, von denen man am liebsten gar nichts hören möchte, die aber von der anderen, dunklen Seite der Freundschaft erzählen, die es natürlich auch gibt und die genauso dazugehört. Neid, Eifersucht, Unverständnis, Enttäuschung, Entfremdung, Kapitulation. Nicht alle Abenteuer in diesem Buch haben ein Happy End.
Die Liste des Materials ist theoretisch unendlich lang, sie reicht bis zum Alten Testament und den alten Griechen zurück – es ist ja eine Menschheitsgeschichte. Aber ich habe versucht, mich kurzzuhalten. Auf meiner Liste steht ein Roman von Evelyn Waugh, der so etwas wie die Regelpoetik der Männerfreundschaft enthält. Und ein Song von Bruce Springsteen, ohne den ich dieses Buch nie geschrieben hätte. Und noch ein Film, der auf der Nordsee endet oder vielleicht dort erst anfängt. Und noch ein paar Songs und noch ein paar Filme. Ein Satz von Joan Didion steht darauf, ein Comic von Fil, zwei Gedichte von Donald Justice und ein Bild von Edward Hopper. Ich hab auch noch ein paar Fotos von mir mit dazugetan, weil es ohne die eigenen Erinnerungen nicht geht. Und ohne «Tschick» von Wolfgang Herrndorf wäre es gleich gar nicht gegangen.
Das ist der Stoff, aus dem die Träume sind.
Das andere sind die besten Freunde, die mir aus ihrem Leben erzählt haben. Wie sie sich fanden und warum und wie es dann weiterging. Was sie jahrzehntelang zusammenhielt, was sie auseinanderbrachte, was sie gemeinsam auf die Beine gestellt haben. Ob sie Vorbilder für ihre Freundschaft hatten oder ob sie sich das selbst erfinden mussten. Ich habe einen Richter und einen Betriebsleiter befragt. Einen Kinderarzt und einen Professor. Einen Journalisten und einen Anwalt. Ich habe einen Schriftsteller interviewt, der einen besten Freund verloren hat und einen großen Roman über zwei Freunde schrieb, deren Freundschaft beinah scheitert, aber dann doch gut ausgeht. Und einen anderen Schriftsteller, der in seinen Romanen auch über beste Freunde schreibt, ohne selbst so einen Freund zu haben. Ich habe all diese Männer nach ihren Vätern gefragt. Nach ihren Frauen. Nach ihren Büchern und Liedern. Was sie tun, wenn sie sich treffen, worüber sie reden, worüber sie streiten, wie sie leben, miteinander, woher sie die Zeit dazu nehmen, trotz Familie, Frau und Kindern. Ich habe sie danach gefragt, wie sie das nennen würden, was sich zwischen ihnen abspielt. Und ob sie ohne ihren besten Freund ein anderer Mensch geworden wären.
Denn das interessiert mich: Welche Rolle andere Männer dabei spielen, wie Männer zu dem werden, was sie sind. Ich habe diesen berühmten Satz vom Philosophen Carl Schmitt, «Der Feind ist die eigene Frage in Gestalt», immer absichtlich falsch verstanden und war mit meiner Version viel glücklicher: Ich glaube nämlich, die eigene Frage in Gestalt ist der Freund. Im Grunde ganz viele Fragen, nicht nur eine: Wer war ich bis jetzt? Wer kann ich werden? Wie komisch bin ich? Wie tapfer? Wie aufrichtig, großzügig, verlässlich, wie blöd, wie klug? Wie falsch liege ich, wie richtig? Wie geht es jetzt weiter? Das kann dir doch alles deine Frau beantworten, könnte man jetzt einwenden, und das stimmt natürlich, aber die Antworten fallen dann vielleicht ganz anders aus als die eines Freundes. Vielleicht auch nicht.
Aber das ist nicht mein Thema. Obwohl ich auch mit Frauen über Männerfreunde geredet habe, denn ohne ihre Sicht geht es nicht. Ich habe zwar erst gedacht, ich könnte einen großen Bogen um die ewig andauernde, sogenannte Geschlechterdebatte machen, aber dann stellte mir fast jeder, dem ich von diesem Buch über Männerfreunde erzählte, Männer wie Frauen, die gleichen Fragen: Ob ich darauf hinauswollte, dass die Freundschaft zwischen Männern etwas Besonderes sei? Womöglich tiefgehender und bedeutender als die zwischen Frauen? Ob ich eventuell nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte? Ich glaube, ich habe eine Antwort gefunden, ob es einen Unterschied zwischen Männerfreundschaft und Frauenfreundschaft gibt. Sie wird alle enttäuschen, die auf Krawall hoffen.
Überhaupt bin ich oft auf die gleichen Reaktionen gestoßen, wenn ich von diesem Buch erzählte. Ah, Männerfreundschaft, hörte ich zum Beispiel, dann schreibst du bestimmt über Politiker / über Homosexuelle / über Winnetou und Old Shatterhand. Dann musst du doch auch über Konkurrenz schreiben, erklärte man mir, über Erfolg, über Macht, über Fußball, über Ehrgeiz, Stress und Bier. Das mache ich auch, über Autos schreibe ich sogar ganz besonders oft – aber vor allem habe ich versucht, um solche Stereotype herumzukurven, die ständig im Weg stehen, wenn es um Männer geht. Dies soll nämlich kein Buch über weiche Männer sein. Oder harte. Über Männer, die heulen, und Männer, die schweigen. Über Männer mit Schals und Männer in Cowboystiefeln. Diese Bücher gibt es nämlich schon, jede Menge sogar. Bücher für solche Männer wie Bücher gegen solche Männer. Dieses hier handelt, wenn es überhaupt auf Geschlechterdebatten eingeht, von dem Missverständnis, das man Maskulinität nennt: ein Begriff, um den seit Ewigkeiten gerungen wird, in jeder Geschlechterdebatte von neuem, der aber am Ende immer nur irgendwen ausschließt. «Männer sind so» – nein, sind sie nicht, denn sie sind auch so und so und so und auch nicht so und wieder ganz anders.
Denn selbst wenn man das Männerbild einer Gesellschaft erneuern will, wenn man sich dafür starkmacht, alte Rollen abzuschaffen und neue zu etablieren, behauptet man ja damit auch, dass es ein gefestigtes Ideal gibt, das man renovieren könnte, den Zeiten anpassen, optimieren, revolutionieren. Das will ich nicht tun. Das interessiert mich nicht. Mich interessieren die vielen Versionen, nicht das eine Muster, an das man sich halten soll. Dies ist ein Buch über Einzelfälle. Schon irgendwo auch eine große Geschichte, aber in vielen kleinen erzählt. Ich will davon berichten, was mir aufgefallen ist an Männern, wenn man sie durch die Augen ihrer Freunde betrachtet. Wenn man sie als Freunde betrachtet, zu zweit, nicht allein.
Aber so einfach geht das nicht, denn natürlich mischen sich meine Erfahrungen in das, was mir auffällt. Ich bin nicht objektiv. Aber ich habe eben auch kein festes Männerbild, erst recht kein Ideal. Hoffe ich jedenfalls. Es gibt erstaunliche Parallelen zwischen den Männern, die in diesem Buch vorkommen werden, ja. Es passt aber wiederum vieles, was ich beobachtet habe, nicht zu dem, was die Geschlechterforschung herausgefunden und verallgemeinert hat. Alle meine Interviewpartner zum Beispiel reden und reden und reden miteinander, seit der ersten Minute, in der sie sich kennengelernt haben. Die Wissenschaft sagt: Kommunikation ist weiblich, Männer verbindet dagegen ihr Hobby. Kein einziges meiner Freundespaare hat aber nun ein gemeinsames Hobby. Die Praxis schlägt die Theorie immer wieder, zumindest in den Geschichten, die ich in diesem Buch erzählen will.
Mir sagen Theorien sowieso nicht viel, Bilder, Geräusche viel mehr.
Der Augenblick, wenn man klingelt und dann hört, wie er die Treppe runterkommt.
Oder ein Ball springt auf.
Und Zigaretten im Herbst.
Eine Plastiktüte voller Platten, die im Gehen ans Knie baumelt.
Und die Nadel senkt sich auf die Platte, es knistert kurz, und dann singt eine Männerstimme: «Pst, erschrick dich nicht, es sind bloß Robert und ich …»
Ein Motor springt an.
Und dann geht es los.
Erstes Kapitel
Oxford, 1923.
Und Cambridge, 1980.
Im Metroland, 1963, auch.
Weimar sowieso. Göttingen, Tübingen fast zur gleichen Zeit, eigentlich überall im 18. Jahrhundert.
Oder in Freehold, 1965.
Oder in Maine, fünf Jahre vorher. Und in Boston.
Und in Hamburg, nach dem Krieg und Mitte der siebziger Jahre und in Berlin nach der Wende und in Berlin gerade eben.
Wann hat das eigentlich angefangen? Ich gehe durch die Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte und finde in jedem ein neues Beispiel, ein neues Paar beste Freunde, aus dem echten und dem erfundenen Leben: Charles und Sebastian in Oxford (die hat sich Evelyn Waugh ausgedacht), Fry und Laurie in Cambridge (die leben bis heute). Es gibt sie im London, das Julian Barnes mal beschrieben hat, in Wolfgang Herrndorfs Roman «Tschick» und im Spätherbst 1730 in Küstrin.
Wobei es dort eher zu Ende ging. Aber auch damals begann es, wie meistens, mit dem Traum, einfach abzuhauen. «Die guten Geschichten», sagt Stephen King, der selbst genau so eine geschrieben hat, Maine 1960, «sind Geschichten übers Unterwegssein.» Er sagt «journey», was in den letzten Jahren im amerikanischen Jargon zu einem etwas esoterischen Wort geworden ist, um Lebenswege zu beschreiben, mit all ihren Höhen und Tiefen und Abzweigungen und den Unfällen entlang der Strecke, halb Oprah Winfrey, halb Bildungsroman. Alles folgt, in dieser Logik, einem Plan, auch wenn der unterwegs erst geschrieben wird.
Jedenfalls geht einer dieser Roadtrips am 6. November 1730 in Küstrin zu Ende, bevor er überhaupt begonnen hat. Eigentlich war es nur ein Traum. Vielleicht war es sogar nur Trotz und die ganze Sache ein Beispiel dafür, wie lebensgefährlich es werden kann, wenn man den Kopf verliert. Zwei Freunde, der eine will abhauen, über den Fluss und immer weiter, weil sein tyrannischer Alter ihn so oft schlägt, der andere hilft ihm dabei, obwohl er Skrupel hat. Es gibt sogar einen Plan, aber der ist total unausgegoren. Eigentlich gibt es nur das Drauflos. Es wird schon klappen, es wird schon alles zusammenpassen, irgendwie, später, wenn wir erst mal da sind. Die beiden fliegen auf, bevor es überhaupt losgegangen ist, und dann wird der eine zur Strafe des anderen enthauptet.
Eine preußische Geschichte, man merkt es an ihrem Ende. Es geht um Hans Hermann von Katte und den jungen Friedrich, der später der Große werden sollte. Im Grunde sind in dieser wahren Fluchtgeschichte von zwei Freunden die erfundenen schon angelegt, sie spiegeln sich darin auf eine Weise, dass es fast unheimlich ist. Als hätten diese Geschichten alle, irgendwie, immer schon voneinander gewusst. Als würden sie ihre Motive untereinander weiterreichen.
Friedrich hatte es also einfach nicht mehr ausgehalten – die Prügel seines Vaters, die Konflikte, die unterschiedlichen Vorstellungen vom Leben, wie man heute sagen würde, das Geschirr, in dem er steckte und das sein Vater, Friedrich Wilhelm I., ständig fester anzog. Der König war fromm und brutal, ein gläubiger Schläger, der Prinz ein Flötenspieler und Feiertyp. Und er ist achtzehn Jahre alt. Genau das richtige Alter. Es reicht ihm jetzt.
«Ich bin in der größten Verzweiflung», gesteht Friedrich seiner Mutter 1729 in einem Brief. «Ich trat heute Morgen wie gewöhnlich in sein Zimmer. Kaum hatte er mich erblickt, als er mich am Kragen packte und in der grausamsten Weise mit seinem Stock auf mich losschlug. Ich suchte vergeblich, mich zu wehren; er war in einem so schrecklichen Zorn, dass er sich nicht mehr beherrschte, und hielt erst inne, als sein Arm vor Müdigkeit erlahmte. Ich habe zu viel Ehrgefühl, um derartige Behandlungen zu ertragen, und bin entschlossen, auf diese oder die andere Weise ihnen ein Ende zu machen.»
Der Vater ist genauso entschlossen, ihm reicht es nämlich auch. «Ich hasse meinen Sohn», hat er angeblich einmal gesagt, «und ich weiß, dass mein Sohn mich hasst.» Unklar, was davon wahr war, der König ist depressiv, der Sohn in der Pubertät. Jedenfalls wäre es dem Vater am liebsten, dass Friedrich verzichtet und die Thronfolge seinem jüngeren Bruder überlässt. Aber das wäre ja noch schöner, wird Friedrich gedacht haben. Und noch viel schöner wäre es, den Vater vor den Augen der Welt mal so richtig vorzuführen.
«Ich gehe, um nicht wiederzukommen», schreibt der Kronprinz seiner Schwester Wilhelmine. «Ich kann den Schimpf, der mir zugefügt wird, nicht mehr ertragen, meine Geduld ist zu Ende.» Und Hans-Hermann von Katte, Leutnant des Kürassierregiments Gens d’Armes, acht Jahre älter, soll ihm dabei helfen. Die beiden treffen sich seit einiger Zeit oft am Nachmittag und hören zusammen Musik. Katte sei gekommen, wann immer er wollte, behauptete Friedrichs Kammerdiener später, «und wann er beim Kurfürsten gewesen, hätte niemand dabei sein dürfen.»
Wilhelmine kann diesen Katte nicht leiden, sie findet ihn zwar gebildet, aber wichtigtuerisch und vor allem hässlich, wegen seiner Blatternarben. Außerdem trägt Katte ein Bild der Prinzessin bei sich, der unverschämte Kerl. Friedrich soll seiner Schwester jedenfalls anvertraut haben, es gäbe da Freunde in seinem Leben, die bereit wären, wenn es darauf ankäme, ihm «an das Ende der Welt zu folgen». Katte wird der einzige sein, der dort ankommt.
Das ist der Plan bis ans Ende der Welt: Friedrich will sich auf einer gemeinsamen Reise mit seinem Vater absetzen, Katte soll später zu ihm stoßen. Von Ansbach aus will der Prinz über den Rhein erst nach Paris, dann weiter nach England. Katte rät, noch etwas abzuwarten, es lieber über Wesel und Holland zu versuchen. Aber Friedrich brennt der Boden unter den Füßen, wie Fontane später schreiben wird, er will weg. Jetzt. Nur stellt er sich am frühen Morgen der Flucht – es ist der 5. August 1730, die Reisegesellschaft macht Station in Steinsfurt im Kraichgau – dann so superdusslig an, dass sich seine Begleiter sofort zusammenreimen, was er vorhat: Friedrich trägt zum Beispiel einen roten Rock, obwohl jeder weiß, wie sehr der König derart Modepüppchenhaftes an ihm hasst. Der Prinz wird festgesetzt. Katte, der in Berlin wartet, auch.
Quälende Wochen folgen, Verhöre, Briefe, Gebete, Gnadengesuche, nichts hilft, der König, der seinen Sohn natürlich zwischendurch noch einmal durchgeprügelt hat, lässt sich nicht erweichen. Im Gegenteil. Er hebt ein erstes, milderes Urteil auf und beschließt: Katte, der Deserteur, muss sterben – besser so, erklärt Friedrich Wilhelm I., «als dass die Justiz aus der Welt käme». Der Prinz soll bei der Hinrichtung in der Festung Küstrin zuschauen, damit es ihm eine Lehre sei. Es ist eine preußische Geschichte, wie gesagt. (Und dass hier eine noch ältere Geschichte weitererzählt wird, ist schon den Augenzeugen aufgefallen: Der Garnisonsprediger Besser, der Katte auf dem Weg zur Hinrichtung begleitet, die Friedrich übrigens wohl doch nicht mit ansehen musste, nannte die beiden Jonathan und David – wie die besten Freunde aus dem Alten Testament also. Die Geschichte der beiden steht im Ersten Buch Samuel: David – das ist der, der Goliath erschlug – erregt den Zorn und die Eifersucht von König Saul, Jonathans Vater: Der fürchtet David, weil er glaubt, Gott könnte ihn bevorzugen. Und er gibt nicht nach, auch wenn David dem König wieder und wieder seinen Gehorsam erweist, ihn sogar verschont, als David selbst die Chance hat, sich zu rächen. Der König ist nicht davon abzubringen, er will den Kopf des besten Freundes seines Sohnes. Am Ende fallen dann aber Vater und Sohn im Kampf mit den Philistern – und David muss sie beide begraben.)
Wilhelmsburg, zweihundertfünfzig Jahre nach Küstrin. Beziehungsweise eigentlich keine Minute später: «Ich trat heute Morgen wie gewöhnlich in sein Zimmer», erzählt der junge Uwe Schiedrowsky, dreizehn, Mutter im Supermarkt an der Kasse, Vater Hafenarbeiter, trinkt Bier am Steuer, schickt den Stiefsohn Zigaretten holen und ahnt dabei nicht, dass einer vom Kippenholen auch mal nicht zurückkommen könnte. Jedenfalls Uwe ungefähr so: «Kaum hatte er mich erblickt, als er mich am Kragen packte und in der grausamsten Weise mit seinem Stock auf mich losschlug. Ich suchte vergeblich mich zu wehren; er war in einem so schrecklichen Zorn, dass er sich nicht mehr beherrschte, und hielt erst inne, als sein Arm vor Müdigkeit erlahmte. Ich habe zu viel Ehrgefühl, um derartige Behandlungen zu ertragen, und bin entschlossen, auf diese oder die andere Weise ihnen ein Ende zu machen.»
Erst flieht Uwe nur zu Dschingis Ulanow, vierzehn. Der lebt bei seiner Mutter, will sie fragen, ob Uwe ein paar Tage bei ihnen übernachten kann, aber die Mutter hat was dagegen, das sei kriminell! «Es kann doch nicht gegen die Gesetze sein, wenn man Uwe hilft», jammert Dschingis, aber die Mutter ist stur. Besser so, sagt sie, als dass die Justiz aus der Welt käme. Da fasst Dschingis einen Entschluss: «Jetzt hauen wir beide zusammen ab.» Und das tun sie dann auch.
So ganz genau wortwörtlich war es natürlich nicht. Denk doch mal logisch, würde Uwe sagen, der junge Star aus Hark Bohms Film «Nordsee ist Mordsee», so redet ja kein Dreizehnjähriger: Ich habe zu viel Ehrgefühl, um derartige Behandlungen zu ertragen. Uwe sagt vielmehr zu Dschingis: «Es wird der Tag kommen, wenn er besoffen ist, und er macht mich an, da kriegt er solch ein’ in die Fresse» – und er ballt seine Faust.
«Nordsee ist Mordsee» – das ist einer der lustigsten und schönsten Funde, wenn man auf der Suche nach besten Freunden so durch die Jahrhunderte geht. Der Film spielt im Hamburger Ghetto, Wilhelmsburg, sozialer Wohnungsbau: Damals, in den Siebzigern, auf dem besten Weg in die desolateste Scheußlichkeit.
Aber die Hochhäuser sind nahe am Wasser gebaut. Hafen, Kanäle, Elbe – Sehnsuchtswasser, Abhauwasser, es ist fast immer so: Tom und Huck müssen über den Fluss, der junge Friedrich muss über den Fluss, Uwe und Dschingis müssen über den Fluss, erst im selbstgebauten Floß, dann im geklauten Segelboot. Am Ende, nachdem die zwei am Strand von Hahnöfersand übernachtet haben, einer Elbinsel mit einer Jugendstrafanstalt, die schon Siegfried Lenz in «Deutschstunde» beschrieb, nachdem die beiden einen Kiosk geknackt und die Polizei ausgetrickst haben, segeln sie eigentlich immer nur in eine Richtung: nämlich um die entscheidende Frage herum, wohin es eigentlich geht. «Ich kann doch dem Wind nicht sagen, wie er wehen soll», sagt Dschingis zu Uwe – und das beantwortet alle Fragen, die man an die beiden noch haben könnte. Zum Beispiel auch die, ob Dschingis, der wie Uwe ziemlich gut Karate kann, jetzt die Wiedergeburt von Bruce Lee ist oder doch eher ein zweiter Bob Dylan.