Ich fuhr zwei Wochen lang kreuz und quer durch Europa, mal in Transrapids, mal in alten Nahverkehrszügen, kurvte mit Tagestickets durch die U-Bahn-Netze von Hamburg und Köln, übernachtete in Squeeze-Motels in den Vorstädten von Brüssel, Antwerpen und Kopenhagen, verpulverte Geld, um mich von AirCabs irgendwo auf dem Land absetzen zu lassen, trampte und schlief einige Nächte im Freien, und als meine Rücklagen allmählich schwanden, bewegte ich mich in Richtung Berlin, denn dort würde ich früher oder später ohnehin landen. In den ersten Tagen las ich noch meine Emails, erhielt von Vezina Updates über das Projekt Hohmann und die Vorbereitungen für Pascals Therapie, aber als Deli mir einen kurzen Gruß schickte, ein paar belanglose, neutral formulierte Zeilen, schaltete ich das Notepad aus. Ich trug den letzten Augenblick, bevor ich sie und Pascal in Stuttgart aus den Augen verloren hatte, wie einen Schatz mit mir herum, eine Vision, an die ich mich klammerte und die mit jedem Tag weiter verblasste. Ich aß wenig, betrank mich mit Augenmaß und warf mir jede Menge von den milden Betablockern rein, die man in Drogerien kaufen kann. Mit der Zeit erreichte ich einen Zustand sanfter Dauerbetäubung, so gut austariert, dass ich die tägliche Reiseplanung und Suche nach einer Unterkunft einigermaßen vernünftig erledigen konnte, meine Gefühle aber unter einer bestimmten Schwelle gedämpft blieben. Ich vermisste meine Frau und meinen Sohn mit jeder Faser meiner Herzens, aber ich war stolz darauf, dass ich es mit einer gewissen Gleichmut hinnehmen und geduldig abwarten konnte, was noch geschehen mochte. Ich hatte das Gefühl, dass ich mein Leben abgeschlossen hatte, dass ich getan hatte, was ich tun konnte, und alles, was jetzt noch kommen würde, betrachtete ich als eine Gnade, ein Geschenk, das ich eigentlich nicht verdiente.
Ich lief Neurans Werkspolizei schließlich in die Hände, als ich mich in einem pakistanischen Imbiss in Kreuzberg nach einer Hinterhofabsteige erkundigte, die mir ein Student empfohlen hatte. Die drei Kleiderschränke, die vermutlich über meine kleine Action-Einlage in Stuttgart im Bilde waren, verdroschen mich ordentlich, brachen mir ein paar Rippen und warfen mich für eine Nacht in einen Arrestraum in ihrer Bezirkswache, aber es war nicht allzu schlimm. Als ich am nächsten Morgen ins Badezimmer gebracht wurde, behandelten mich die Burschen schon viel rücksichtsvoller. Ich bekam meine Klamotten ohne Blutflecken zurück, erhielt eine Bandage um die Brust und wurde in einem AirMobil zum Potsdamer Platz geflogen. Ich erkannte die Abteilung, in die man mich brachte, erst wieder, als ich vor Hohmanns Büro stand. Die beiden Gorillas, die mich begleiteten, blieben draußen stehen, und ich zögerte etwas, als mir einer die Tür aufhielt und mich hineinwinkte.
Als ich eintrat, kam es mir vor, als hätte ich einen Zeitsprung gemacht und sei an den Tag zurückversetzt, als ich Hohmann umgebracht hatte: Dasselbe riesige Büro, dieselbe düstere Beleuchtung, dieselben grafischen Spielereien auf den Displays und hinten an seinem Schreibtisch derselbe Mann, von unten und schräg von den Seiten beleuchtet, während er durch einen Stapel Unterlagen blätterte. Was anders war, erkannte ich erst beim Näherkommen.
»Setz dich, David«, sagte er und winkte mich heran.
Wieder saß ich auf einem niedrigen Stuhl und schaute zum ihm auf, aber diesmal fand ich es sogar ein wenig belustigend, so als spielten wir hier eine private Komödie, die nur wir verstanden und über die wir jeden Moment in lautes Gelächter ausbrechen konnten. Man hatte Hohmanns Klon künstlich altern lassen, damit er nicht wie frisch aus dem Ei gepellt aussah und geschäftliche Besucher irritierte, aber seine Haut war immer noch rosig wie ein Babyhintern und ziemlich glatt und die Alibifalten wirkten wie aufgemalt. Er las in Ruhe ein Papier zu Ende, stauchte den Stapel mit der Handkante zusammen und schob ihn zur Seite. Als er mich ansah, wusste ich, dass es gelungen war.
»Du hast da ein paar Schrammen«, sagte er. »Tut mir leid, ich habe deutliche Anweisungen erteilt, aber die Jungs sind etwas eigen. Vor allem wenn ihr Arbeitsethos gekränkt ist. Du hast dich nämlich ziemlich clever entzogen, trotz Utility Dust. Aber ich bin froh, dass sie dich in einem Stück abgeliefert haben.«
»Mit wem rede ich hier?«, fragte ich. »Mit Gasper? Oder mit einer Kreuzung von Gasper und Hohmann, etwas weichgespült? Oder hast du etwas aus dem Kopf meines Sohns mitgenommen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Weder Gasper noch Hohmann und auch nichts dazwischen. Eher was darüber. Ich versuche noch rauszufinden, wer ich bin, oder was. Die Mediziner haben meine Vorgesetzten und Mitarbeiter gewarnt, dass die Genesung etwas dauern kann, deshalb lässt man mich im Moment ziemlich in Ruhe, und ich kann mich in alles einarbeiten. Ich bin dreimal die Woche halbtags in der Reha und fühle mich sauwohl. Ein schöner neuer Körper.«
»Was wirst du machen?«
»Ich bin am Überlegen.« Er grinste. »Vielleicht Neuran von innen her zersetzen. Ich bin an einer Schaltstelle. Ich kann alles Mögliche machen und mich mit einem Haufen Kohle absetzen, bevor man mir auf die Schliche kommt. Was hast du vor?«
»Zurück nach Irland.« Ich hatte noch nicht darüber nachgedacht. Die Gorillas hatten mir meinen Stoff abgenommen, und ich war zum ersten Mal seit Tagen wieder ganz klar im Kopf. Es fiel mir spontan ein. »Auf dem Kontinent kann ich nicht bleiben. Aber ich brauche Geld. Das heißt, falls du mich überhaupt gehen lässt.«
»Wir können über alles reden. Aber ich möchte, dass sich damit unsere Wege trennen. Vezina soll alle Aufzeichnungen über den Strip-down vernichten. Es darf auf keinen Fall jemand herausfinden, was für ein lieber Kerl ich geworden bin. Wenn ich mir sicher sein kann, dass sich zwischen euch und mir keine Verbindung mehr herstellen lässt, verschaffe ich dir eine Starthilfe. Ich lass mich nicht lumpen, das verspreche ich dir.«
»Ich frage mich, wann Gasper Johns das letzte Mal ein Versprechen gehalten hat.«
»Ich bin nicht mehr Gasper Johns. Ich erinnere mich, was er war, aber ich bin froh, dass ich es nicht mehr bin.«
Was will ich in Irland?, fragte ich mich. Warum war mir diese Idee gekommen? Was spukte mir durch den Hinterkopf? »Ich habe noch eine letzte Bitte«, sagte ich.
»Wenn’s keine zu große Bitte ist.«
»Doch. Eine unverschämte Bitte. Eine ganz bescheuerte Idee.«
»Spuck’s aus. Ich werd’s überleben.«
»Welchen Einfluss hast du auf die Werkspolizei? Könntest du eine Einheit für eine kleine Aktion aufstellen? Eine Hundertschaft würde reichen, nehme ich an.«
Er kniff die Augen zusammen. »Willst du mich verkohlen? Was hast du denn vor? Brauchst du Geleitschutz?«
»Ich will ein bisschen Gesindel vertreiben, das sich auf einem Grundstück breitgemacht hat, das ihm nicht gehört. Ein kleiner Landstreifen in Kerry County, nördlich von Tralee. Du erinnerst dich vielleicht.«
Er machte große Augen wie ein Kind, das ein Weihnachtsgeschenk auspackt.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte er. »Du bist wirklich verrückt. Da könnte man auf philosophische Gedanken kommen: Kann sich die Geschichte wiederholen? Gibt uns das Schicksal eine zweite Chance? Oder wie war das, was Marx gesagt hat: Einmal als Tragödie und einmal als Farce. Was kommt jetzt?«
»Machst du’s?«
»Und was noch? Ein paar Millionen Starthilfe vielleicht?«
»Nur räumen. Und dafür sorgen, dass man uns in Ruhe lässt.«
»Ich werde sehen, was sich machen lässt. Könnte klappen, Hohmann hatte sehr weitreichende Kompetenzen. Aber danach sind wir fertig miteinander.« Er drückte einen Knopf auf dem Schreibtisch. Die Tür öffnete sich, und einer der Wachmänner steckte den Kopf herein. »Bringt diesen Herrn ins Hausrestaurant, damit er endlich mal wieder eine anständige Mahlzeit bekommt. Danach kann er gehen. Wenn er sich entschließen sollte, nach Tegel oder Tempelhof zu fahren und ein Ticket nach Dublin zu kaufen, wäre es sehr freundlich, wenn ihr ihn schnellstens dorthin bringt und die Unkosten auf mein Spesenkonto bucht.«
Der Wachmann warf mir einen irritierten Blick zu, nickte aber. Ich stand auf.
»Grüß Deli von mir«, sagte Gasper/Hohmann/Werauchimmer, bevor ich ging. »Ich glaube, sie liebt dich noch. Zumindest meint das dein Sohn.«
»Ich werde ihr gleich schreiben«, sagte ich. »Ich schicke ihr eine Einladung. Zu einem romantischen Date am Strand von Kerry County.«
»Ich drück dir die Daumen, dass sie kommt.«
Ich erhielt keine Antwort von Deli. Ich erhielt auch keine Nachricht von Gasper, wie die Aktion gelaufen war. Als ich an die Westküste zurückkehrte, fuhr ich an der Herberge vorbei und überlegte, ob ich Blaise danken und dort übernachten sollte, aber mir war nicht danach, und ich schlief im Wagen und fuhr am nächsten Tag in einigem Abstand am Südteil des Parzellengeländes vorbei. Der Graben war natürlich noch vorhanden, aber von dem Zeug in der Luft war nichts mehr zu erkennen. Auf dem Gelände regte sich nichts, und mehr wollte ich vorerst nicht wissen. Ein Gebäude hatte gebrannt und schwelte noch. Die Wachhäuschen waren niedergerissen. Der kalte Wind wehte Chemikaliengerüche heran. An dem Tag, zu dem ich Deli eingeladen hatte, parkte ich den Wagen in der Senke, wo einmal das Kinderland gestanden hatte, kletterte über die Dünen und stieg zum Strand hinunter.
Die ganze Gegend hatte sich dramatisch verändert, atmete Auszehrung und Verfall, aber Banna Beach war beharrlich, immer noch ein heller, schöner Sandstreifen unter einem klaren Himmel, immer noch angeströmt von weiten, ruhigen Wellen, die mir um die Füße strichen, immer noch erfüllt vom weichen Rhythmus des Meeresrauschens und den Geräuschen des Getiers, das sich in meinen Fußspuren oder oben zwischen den mit Frostreif bedeckten Büschen und Steinen versteckte. Ich spürte, wenn ich in diesem Leben noch einmal etwas als meine Heimat betrachten würden, dann diesen Strand, nicht das Stück Land auf der anderen Seite der Dünen, das nie wieder sein würde, was es einmal gewesen war, jedenfalls nicht ganz. Ich ging stundenlang den Strand auf und ab, bis zu den verfallenen Häusern von Ballyheigue und wieder zurück. Meine Gedanken verloren sich in der Ruhe und der Kälte, die mir unter die Kleidung kroch. Die Einsichten, die ich mir von einem Tag hier versprochen hatte, die tiefen Erkenntnisse über den Sinn all dessen, was geschehen war, wollten sich nicht einstellen. Es blieb nur diese Ruhe in mir, nur ein schweigendes, demütiges Hinnehmen der Umstände, unter denen ich hierher zurückgekehrt war und die ich nicht mehr ändern konnte. Banna Beach hatte von unseren Kämpfen, Hoffnungen und Leiden keine Narben davongetragen. Die Wellen würden noch in tausend Jahren gemächlich an den Strand rollen, und irgendwie hatte der Gedanke etwas Tröstliches.
Unterwegs vergaß ich meine Einladung an Deli fast. Ich war mir sicher, dass sie nicht kommen würde, und ich konnte es ihr nicht verdenken. Ich wünschte mir nur, ich hätte ihr noch etwas geben können, eine Kleinigkeit, um einen Bruchteil meiner Schuld aufzuwiegen, aber meine Möglichkeiten waren erschöpft. Ich träumte vor mich hin und stellte mir vor, dass sie mir am Strand entgegenkam, langsam, nachdenklich, in Zweifel, ob sie nicht doch umkehren und fortgehen sollte.
Es war spät am Nachmittag, es wurde schon dunkel, als ich zum dritten Mal aus Ballyheigue zurückkehrte und sie tatsächlich sah. Ich bemerkte zuerst Pascal, der über die Felsbrocken am Dünenhang balancierte, viel lebhafter, spielerischer als bei unserer letzten Begegnung. Er trug die Verkleidung nicht mehr, hielt immer wieder inne, stellte sich quer zum Wind und breitete die Arme aus, als genieße er es, sich von der auflandigen Brise durchfrieren zu lassen. Wieder ein Kind, dachte ich, als ich ihn sah. Vielleicht musste er vieles neu lernen, vielleicht war er in seiner Entwicklung weit zurückgeworfen, aber sein Leben konnte neu anfangen, ohne die Last der Vergangenheit, und schon dafür hatte sich mein Weiterleben gelohnt.
Deli schlenderte unten am Wasser entlang. Ich glaube, sie hatte mich schon gesehen, aber sie schaute nur aufs Meer hinaus, von derselben Ruhe erfasst wie ich, schien es mir. Ich verlangsamte meine Schritte, fühlte etwas wie Scham, eine Scheu, ihr als der zu begegnen, der ich nun einmal war. Das Gefühl verflog, als wir uns gegenüberstanden. Sie schien etwas müde, aber entspannt. Im kalten, salzigen Wind tränten ihr die Augen. Sie schaute mich an, als hätten wir den ganzen Tag miteinander verbracht und nur ein paar Sekunden unseren eigenen Gedanken nachgehangen. Es war etwas Forschendes in ihrem Blick. Sie versuchte mich ohne Anklage, ohne Vorwürfe, ohne Zorn zu betrachten, und sei es nur dieses eine Mal. Ich hoffte, dass sie etwas finden würde, was darüber hinausging.
»Also gut«, sagte sie. »Reden wir.«
Marek Yanner ist BioTech-Agent und führt für zwielichtige Geschäftemacher abscheuliche Aufträge aus. Der Mensch ist um die Mitte des 21. Jahrhunderts die wichtigste Handelsware für die Privilegierten, sein Nutzen so viel wert wie das, was Geist und Körper zu bieten haben. Damit Yanner nicht zu viel über sein Handeln nachdenkt und außerdem nicht eines Tages zum Erpresser werden kann, wird ihm jedes Mal nach Abschluss die Erinnerung genommen. Zugleich werden ihm für den nächsten Auftrag wichtige Informationen implantiert, zumeist von ehemaligen Mitarbeitern der Firmen, für die Yanner eingesetzt werden soll. Dabei geht eines Tages etwas schief: Yanner behält nicht nur einen Teil seiner Erinnerungen, sondern ein »Psyhack« zwingt ihn dazu, einen grausamen Mord an einem hohen Funktionär des Riesenkonzerns Neuran zu begehen. Verfolgt von Polizei, Neuran und den eigenen Leuten hat Yanner keine andere Wahl, als seine Vergangenheit wiederzufinden, um das Motiv für den Mord aufzuklären, von wem und wofür er benutzt wurde. Er beschreitet einen Pfad des Schreckens ...
Die ursprüngliche Novelle erhielt 2006 den Deutschen Science Fiction-Preis, 2008 errang der Roman den 2. Platz des Kurd Lasswitz-Preises und des Deutschen Science Fiction-Preises.
ISBN: 978-3-943570-55-7
© 2015 fabEbooks
Cover: Gabriele Behrend
© der Printausgabe 2007 (ISBN: 978-3-927071-13-1)
www.fabylon.de
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Für Gabriele & Andreas Brenger
The past is never dead, it is not even past.
- William Faulkner
Man sollte stolz auf den Schmerz sein.
Jeder Schmerz ist eine Erinnerung unseres hohen Ranges.
- Novalis
VORWORT DES AUTORS
NEURAN
DIE REKONSTRUKTION
HEIMKEHR
Eine Kurzfassung des vorliegenden Romans erschien 2005 in der achten Ausgabe des deutschen Science Fiction-Magazins Nova, hrsg. von Ronald M. Hahn, Olaf G. Hilscher und mir, und wurde 2006 mit dem Deutschen Science-Fiction Preis ausgezeichnet. Die Anregung zu einer Romanfassung verdanke ich vor allem meinen Lesern und Kritikern in den Diskussionsforen von SF-Netzwerk.de, die mich auf Möglichkeiten des Stoffs aufmerksam gemacht haben, die in der Novellenfassung unberücksichtigt geblieben sind. Ihnen allen herzlichen Dank für die freundliche Aufnahme, die meine Erzählungen in den letzten Jahren gefunden haben.
Ronald M. Hahn, Horst Pukallus, Helmuth W. Mommers sowie Sigrun und Stefan Schmidt danke ich für die jahrelange moralische – und manchmal auch materielle – Unterstützung meiner Arbeit. Ich hoffe, sie werden finden, dass das Ergebnis die Mühe wert war. Frank Hebben hat mir als eifriger und kritischer Leser meiner Storys zu Perspektiven verholfen, die mir bei der Arbeit an diesem Roman nützlich gewesen sind. Meinen Verlegern Uschi Zietsch und Gerald Jambor danke ich für eine unkomplizierte und engagierte Zusammenarbeit, wie sie sich kein Autor besser wünschen kann. Ich hoffe, weitere gemeinsame Bücher werden folgen.
MKI, Januar 2007
Das Schlimmste ist, dass ich mich erinnern will. Ich will wissen, was ich getan habe. Wie viele Jahre ich schon dabei bin. Wie viele Abscheulichkeiten ich auf mich geladen habe. Vermutlich wird mich nie jemand zur Rechenschaft ziehen, aber ich will mich zumindest selbst anklagen können. Irgendetwas stimmt nicht mehr mit mir. Ich sollte abgestumpft sein. Ich sollte über alle Skrupel hinaus sein. Es gibt ein paar Regeln in meinem Job, und in letzter Zeit habe ich gegen jede verstoßen. In ein paar Tagen wird mich die nächste Mnemotomie in einen Zustand zeitweiliger Unschuld zurückversetzen, und ich sollte froh darüber sein. Aber ich will nicht. Ich muss festhalten, was geschehen ist. Irgendwie muss ich mir selbst eine Botschaft zukommen lassen. Nichts darf verloren gehen. Nichts darf ungesühnt bleiben. Ich brauche den Schmerz, die Qual der Wahrheit. Ich will in den Spiegel sehen und das Monstrum erkennen, das ich bin.
Erste Regel: Zweifle nie daran, dass du zu allem fähig bist. Sei ein Profi und tu einfach, was der Job dir abverlangt. Es waren halbwüchsige Mädchen, Zehn-Dollar-Huren aus den Slums von La Paz, von Zuhältern und Freiern gefügig geprügelt, ohne die geringste Ahnung, was sie in ihren Gebärmüttern ausbrüten sollten. Wir hatten Mühe genug zu finden, die wir mit Antibiotika-Cocktails halbwegs fit spritzen konnten. Die Klinik, in der wir den Job durchzogen, war ein Drecksloch, schlecht ausgestattet, mit miesem Personal, vollgekoksten Ärzten und korrupter Verwaltung. Unsere Instrumente und die Nährtanks für das Stammzellengewebe waren das beste Equipment, das man dort seit Jahren gesehen hatte. Wir päppelten die Mädchen auf, pumpten sie mit Hormonen voll, sterilisierten ihre Gebärorgane. Die Prozedur ist kein Spaziergang. Ein gewisser Anteil stirbt in den ersten Tagen nach der Inkubation, andere überstehen die Abtreibung nicht. Zahlt man den Luden keine Ausfallprämie, gibt's Ärger, den ich für diskrete Geschäfte nicht gebrauchen kann, und bei mehr als zwei Drittel Ausfallquote rechnet sich die Sache nicht mehr. So muss man es sehen. So habe ich's mir eingeredet, als ich abends in der Hotelbar die Kalkulation durchgegangen bin. Behandle deine Brutmaschinen etwas pfleglicher, und unterm Strich macht es sich bezahlt. Alles Quatsch. Ich bin nur nicht so mitleidslos, wie ich sein müsste. Das ist das ganze Problem.
Zweite Regel: Bleib an der Oberfläche. Betrachte Menschen wie Gegenstände. Komm nie auf die Idee, dass dein Material innere Regungen hat, die dich interessieren müssten. Angel, ein hünenhafter Mestize, schweigsam, kahlköpfig und für hundert Dollar pro Woche unterwürfig wie ein Hund, ist einige Male mit einem Bündel Scheine nach El Alto raufgefahren und hat eine Vorauswahl getroffen. Ich habe jeweils zwanzig Mädchen in dem schäbigen Warteraum im Erdgeschoss antreten lassen. Alle in einer Reihe, einzeln vortreten und runter mit den Klamotten. Wenn's passt, zur gynäkologischen Untersuchung nach nebenan. Nach ein paar Jahren hat man ein Gefühl dafür, wer geeignet ist. Lass dich nicht von deinem Schwanz leiten. Am besten sind die, die schon ein bisschen verbraucht aussehen, mit schwammigem Fleisch und breit in den Hüften. Nichts für Sonderschichten abends im Hotelzimmer, aber robust. Man geht im Kopf eine Checkliste durch und hat sich daran gewöhnt, ihnen nicht in die Augen zu sehen. Wer von außen dazukäme, würde auf den ersten Blick merken, was die Mädchen hinter sich haben. Aber du musst blind dafür sein. Trotzdem passiert immer wieder etwas. Gestern hatten wir diese Mulattin, die unbedingt die Kohle brauchte, doch sie hatte eine Entzündung unten und hat geschrien wie am Spieß, als wir ihr den Inkubator einführten. Die beiden Krankenschwestern, die mir zur Hand gingen, sind viel cooler geblieben als ich. Mir hingegen war auf einmal, als hätte ich Jahre im Tiefschlaf verbracht und wäre genau in diesem Moment aufgewacht. Plötzlich habe ich diese jämmerliche Kreatur vor mir gesehen, kaum zwanzig, und schon zerknittert wie eine Greisin, mit schmerzverzerrtem Gesicht und weit aufgerissenen Augen, und ich wusste, ich hatte ihr das angetan. Ich musste raus, habe hinterm Gebäude gekotzt, und erst als ich mir was von dem Psychozeug reingeworfen habe, ging's wieder. Wann hört das endlich auf? Warum passiert mir das immer wieder? Und vor allem: warum passiert es in letzter Zeit immer öfter?
Dritte Regel: Das Ergebnis zählt. Du musst ein abstraktes Ideal des Vorgangs im Kopf haben, den du verwirklichen willst, und nichts darf dich davon abhalten, diesem Ideal möglichst nahe zu bleiben. In den ersten Tagen ist es eine gewöhnliche Schwangerschaft. Man implantiert vier bis sechs Embryonen, und in zwei Dritteln der Fälle muss die Inkubation wiederholt werden. Bevor die Organdifferenzierung einsetzt, spritzt man diese speziellen Mittel, und statt eines Fötus wächst ein dicker Schwamm aus Stammzellengewebe heran. Damit das Material möglichst sauber bleibt, muss man den Vorgang durch genau dosierte Hormon- und Nährstoffinfusionen austarieren. Ein kräftiges Mädchen kann in einem Monat zwei Kilo Rohware produzieren, aber um das Optimum zu erreichen, muss man an ihre körperlichen Grenzen gehen. Mit Augenmaß. Viele Mädchen dämmern im Fieberdelirium vor sich hin. Andere schlottern sich mit schweren Krämpfen durch. Am Anfang hatten wir zwei Dutzend, die in der eigens dafür hergerichteten Station unter Sauerstoffzelten lagen. Immer wenn eine ausgefallen war, hatte Angel sich drum gekümmert und die Leiche beseitigt. Ich hatte nicht viel zu tun, ging zwischen den Betten umher, las Messgeräte ab, schaute mir die Ultraschallbilder an, instruierte die Krankenpfleger. Eins von den Mädchen war mir aufgefallen, weil es so ruhig war. Sie lag apathisch da, ließ alles schweigend über sich ergehen, nur ein bisschen Schweiß auf der Stirn. Sie hatte ein Gesicht wie aus Wachs, matt, sehr hübsch, von einer Farbe wie heller Milchkaffee. Ich hätte sie höher einstellen müssen. Während sich die anderen mit ihren abnorm angeschwollenen Bäuchen kaum rühren konnten, hatte sie erst einen faustgroßen Klumpen ausgebrütet. Sie beobachtete mich die ganze Zeit. Ich wechselte ein paar Worte mit ihr und kam mir wie der größte Heuchler der Welt vor, als ich ihr erklärte, dass es keinen Sinn mit ihr hatte. Ich ließ einen sanften Abort einleiten und schickte sie mit mehr Geld nach Hause, als sie verdient hatte. Ich glaube, Angel hatte etwas davon mitbekommen, aber er sagte nichts. Es war ohnehin ein mieser Tag für unser Projekt. Er musste einen Lieferwagen besorgen, um sechs Leichen wegzuschaffen.
Hinterher musste ich einige Tage in einem der besseren Hotels am Teatro Municipal warten, bis ein Platz in einem Charter-Carrier frei wurde, der mich zur Scrambay vor der Küste von Panama brachte. Angel bewachte meine Tür und versorgte mich mit Medikamenten. Bei vierzig Grad im Schatten lag ich die meiste Zeit im Bett, quälte mich mit einer Darminfektion, und mir war, als schwebte ich in dem Lärm und Mief, der von der permanent verstopften Hauptstraße heraufdrang, wie in einer dicken, öligen Wolke. Nachts weckten mich immer wieder die Leuchtreklamen und die Scheinwerfer der AirCabs, die durch die verschlissenen Jalousien hereinflackerten. Einmal versuchte ich mich mit dem Stoff zu betäuben, den Gasper mir mitgegeben hatte, aber ich vertrug das gepanschte Zeug nicht und spuckte die Kloschüssel stundenlang mit blutigen Magensäften voll.
Gasper meldete sich einen Tag vor meiner Abreise. Am liebsten hätte ich mein Notepad an die Wand geworfen, als sein arrogantes, frettchenhaftes Gesicht auf dem Display erschien. Er saß in einer Bar, laut dem Login-Code irgendwo in Berlin. Hinter ihm standen halbnackte Flittchen an einer neonblauen Glastheke. Gedämpftes Stimmengewirr und die verhaltenen Akkorde eines Bluespianisten drangen aus dem Lautsprecher. Ich weiß nicht mehr, wann ich Gasper das letzte Mal persönlich getroffen habe. Er ist ständig unterwegs, reist zwischen den europäischen Metropolen hin und her, schläft nur in den teuersten Hotels, selbst unangreifbar, aber eine Plage, die mir ununterbrochen im Nacken sitzt.
»Du siehst beschissen aus, Marek«, sagte er mit einem Grinsen. Er hat immer besonderen Spaß daran, wenn's mir dreckig geht. Es war nicht auszuschließen, dass der miese Stoff einer seiner kranken Scherze war. Er kennt mich viel zu gut. Besser als ich mich selbst.
»Frag mich mal warum«, sagte ich.
»Weil du ein Weichei geworden bist, darum. Was ist wieder mit dir los? Psychosomatische Beschwerden, weil ein paar Gören, die keiner vermisst, den Weg in die ewigen Jagdgründe angetreten sind? Du lebst davon, du Spinner.«
»Ach, scheiß drauf.«
»Wie ist der Job gelaufen?«
»Zwanzig Kilo feinstes Frischfleisch. Die Ware ist schon unterwegs. Deine Demenzkranken können bald wieder ohne Windeln spazieren gehen.«
»Das hört man doch gern. Wie viel hast du ausgegeben?»
»Einschließlich Anreise, Team, Material und ein paar wohldosierten Bestechungen hat mich der Spaß etwa vierzigtausend gekostet.« Ja, die Gewinnspanne konnte sich sehen lassen. Ein einziger Bioreaktor, der pro Woche gerade 800 Gramm produziert, kostet bereits das Dreifache. Wir würden die Konkurrenz rausdumpen.
»Das ist eine Prämie wert, Marek. Wenn der Deal durch ist, gebe ich dir Bescheid. Phil erwartet dich schon. Es ist alles vorbereitet. Noch einmal die Zähne zusammenbeißen, und in drei Tagen hast du’s hinter dir.«
Es wurde Zeit, den Mund aufzumachen.
Gasper hat mich immer darüber im Unklaren gelassen, wie viele Mnemotomien ein Gehirn unbeschadet überstehen kann. Im Netz kursieren die widersprüchlichsten Angaben. Angeblich rekonfigurieren die Nanosonden nur die neuronalen Verknüpfungen, die sich seit dem letzten Scan gebildet oder verändert haben. Aber jeder Insider weiß, dass man nicht nur die Informationen vergisst, die einen nach getaner Arbeit nichts mehr angehen. Es wird an den Scans herumgepfuscht, es gibt Bugs in der Firmware der Sonden, und mit der Zeit verschwimmen alle Erinnerungen. Alles wird diffus, die Vergangenheit, die Gegenwart, man selbst.
Ich habe schon mein halbes Leben vergessen. Gasper weiß alles, aber ich habe keine Ahnung mehr, seit wann ich diesen Drecksjob mache, warum ich damit angefangen habe. Ich erinnere mich an Militärkommandanten in Nairobi, die ich bestochen habe, um an Slumbewohnern pharmazeutische Versuchsreihen durchzuführen; an Verhandlungen mit Organhändlern, die ich nie danach fragte, woher ihre Ware stammte; an Kinder, die ich aus Seuchengebieten in Bangkok und Manila verschleppen ließ, weil mich ihre Resistenz gegen bestimmte Erreger interessierte. Aber wann, für wen, unter welchen Umständen – das ist alles zu einem Nebel unter meiner Schädeldecke verblasst.
»Hör zu, Gasper«, sagte ich. »Ich muss aussteigen. Es geht einfach nicht mehr. Ich habe Kreislaufbeschwerden, Probleme mit dem Immunsystem, mit den Drüsen, alles Mögliche.« Bis dahin war‘s nicht einmal gelogen. »Noch eine Mnemotomie, und ich wache vielleicht gar nicht mehr auf. Es ist Schluss, ich muss raus.«
Gasper ist einssechzig groß, ein dürrer Kerl, auf Neo-Dandy gestylt, schwul mehr aus Attitüde denn aus Veranlagung, affektiert im Auftreten, aber ordinär, wenn er den Mund aufmacht. Ein gealterter Pimpf, den man leicht für einen Trottel hält. Ich weiß, wie gefährlich er sein kann.
»Was redest du für einen Scheiß?«, sagte er. »Meinst du, StrainTech würde dich nur einen Tag länger als nötig mit den Informationen rumlaufen lassen, die du im Kopf hast? Lass Phil bloß nicht warten, sonst bist du schneller tot, als du deine Konten leerräumen kannst.«
»Ich habe nicht vor, in diesem Rattenloch zu bleiben. Aber ...«
»Nichts aber. Weißt du, was dein Problem ist? Du bist einer der Besten in deinem Job, aber du hast einen ernsten Charakterfehler: Du hast ein Gewissen. Schön für dich, ist deine Privatsache. Aber wir sind nicht bei der Heilsarmee.«
»Hast du mich nicht verstanden? Ich bin am Ende.«
»Quatsch. Das höre ich schon seit Jahren. Und nach jeder Mnemotomie bist du wieder ganz der Alte. Sogar noch besser als vorher. Ich sag Phil Bescheid, dass er dich mal ordentlich durchcheckt.«
Damit war das Gespräch beendet.
Angel hatte vor der Tür mitbekommen, dass es zwischen mir und Gasper laut geworden war. Er streckte den Kopf rein, ich scheuchte ihn weg, und Minuten später klopfte jemand zaghaft an die Tür. Er meinte wohl, dass er mir etwas Gutes tat, indem er mir ein Mädchen aufs Zimmer schickte. Ich will nicht darüber spekulieren, welche Abartigkeiten er mir zutraute, dass er ein derart groteskes Geschöpf aussuchte. Ich schätzte die Kleine, die auf hohen Hacken in einer Wolke Parfüm zu mir hereinstakste, auf Anfang zwanzig, und sie wäre recht hübsch gewesen, ein Ketschua-Halbblut mit apart geschnittenem Gesicht. Allerdings war sie eine jener chirurgisch aufgemotzten Luxusnutten, die von Zuhältern im oberen Viertel der Hierarchie an gehobenen Standorten auf Kundenfang geschickt werden. Sie hatte monströs aufgespritzte Blowjob-Lippen, war am Körper völlig haarlos, knabenhaft schmächtig, aber mit überproportional prallen Brüsten und Arschbacken. Sie setzte sich zu mir aufs Bett und ging mir auf eine so mechanische Weise an die Hose, dass mir schlecht wurde bei dem Gedanken, wie viele europäische Bumstouristen sie in ihrem kurzen Leben schon bedient hatte. Ich schob ihre Hände weg, befahl ihr, sich an den Tisch am Fenster zu setzen, und als der Zimmerkellner kam, verwirrte ich sie damit, dass ich sie zum Abendessen einlud und hofierte wie eine Dame.
Gasper rief noch einmal an, und am nächsten Mittag saß ich in einem Scramjet, der mit Mach 14 in Stratosphärenhöhe über den Atlantik donnerte.
Die Scrambay Puerta de Mundo ist auf einer künstlichen Insel im Golf von Panama erbaut, einige Kilometer außerhalb der Hoheitsgewässer von Panama und Kolumbien. Ein schmaler Landstreifen, der kaum fünfzig Meter aus dem Meer ragt, aufgeschüttet aus komprimiertem Müll aus den nordamerikanischen Metropolen, zwei Kilometer breit, aber vierzig lang, fast vollständig eingenommen von vier Start- und Landebahnen. Am südlichen Ende schmiegt sich ein Komplex aus Terminals, Hangaren und Hotels von den Ausmaßen einer Kleinstadt um die spiegelglatten Betonpisten. Wer zum ersten Mal über die Puerta de Mundo reist, lässt sich selten das Spektakel entgehen, den Start eines der riesigen Vögel zu beobachten, die majestätisch langsam anrollen und fast acht Minuten brauchen, bis ihre Stautriebwerke genug Schub entwickeln, um die 1.500 Tonnen in die Luft zu wuchten. Von den Aussichtsgalerien der Terminals sieht es so aus, als ob die Startbahnen, leicht ansteigend, in der Ferne nahtlos in den Himmel übergehen. Ich mag diese Gigantomanie nicht. Dem Blick werden Freiheit, Weite, grenzenlose Möglichkeiten vorgegaukelt, aber all das existiert für mich nicht. Ich kenne nur ein Voranschreiten von einer Zwangslage in die nächste.
Gasper hatte veranlasst, dass mich am Touristen-Check-in des US/Europe-Terminals ein Arzt abfing, der sich darauf spezialisiert hatte, gestresste Geschäftsleute während ihres Aufenthalts körperlich auf Vordermann zu bringen. In einer Kompaktpraxis, die sich im Obergeschoss des Terminal-Malls zwischen einen Tattoo-Salon und einen vietnamesischen Imbissstand zwängte, nahm er mich in die Mangel, verpasste mir eine Blutwäsche, eine Lymphdrainage und injizierte mir einen Schwarm künstlicher Leukozyten, die für einige Stunden mit merklichem Rumoren in meinen Eingeweiden damit beschäftigt waren, Schlacken aus den Geweben zu lösen. Nachdem ich das Zeug in einem grünlichen Schwall wieder ausgepinkelt und mich in einem Transient Hostel geduscht, rasiert und einen neuen Anzug angezogen hatte, ging es mir besser. Was mir gar nicht recht war. Ich hätte viel darum gegeben, wirklich so verbraucht zu sein, wie ich es Gasper weismachen wollte.
Eine der Annehmlichkeiten meines Jobs besteht darin, dass ich mich zwar in den dreckigsten Winkeln der Dritten bis Vierten Welt rumtreiben muss, mein Spesenkonto aber genug hergibt, um zumindest in vollendetem Luxus an- und abreisen zu können. Während sich in den Unterdecks eines Scramjets bis zu zwölfhundert Billigtouristen zusammendrängen und bordeigene Sanitäter nonstop damit beschäftigt sind, Leute mit Kreislaufproblemen aufzupäppeln, genießt man in der Business Class Ruhe, Beinfreiheit, Druckdämpfung für die Beschleunigungsphase und den entgegenkommenden Service handverlesener Flugbegleiterinnen.
Als wir die Reiseflughöhe von 28 km erreicht hatten, wurden Appetithäppchen mit echten Krabben und als Hauptgang irgendein französischer Designerfraß serviert. Ich kippte mich mit Scotch voll, um nicht zu viel vom Gequatsche der silberblond gebleichten, zum Bersten gelifteten Lady mitzubekommen, die vom Platz gegenüber verzweifelt mit mir ins Gespräch zu kommen versuchte. Aus verschütteten Tiefen meines Ichs drängte sich das Gefühl auf, dass ich Momente wie diesen schon oft erlebt hatte, resigniert, erschöpft, mit bohrenden Schuldgefühlen im Bauch. Die Puerta de Mundo ist die Zwischenstation für allerlei halbseidenes Gesindel, das zwischen Lateinamerika und den USA oder Europa pendelt, und mit Sicherheit waren meine Mitreisenden nicht durchweg seriöse Geschäftsleute. Doch wenn ich mich umsah, die aalglatten Typen in teuren Naturfaseranzügen beobachtete, die mit den Fingerspitzen auf Notepads herumtippten, über Bordskype gelangweilte Gespräche führten oder sich auf den Displaywänden zwischen den Compartments Softpornos anschauten, kam ich mir so aus der Art geschlagen vor, als müsste mir jeder den Dreck ansehen, in dem ich gewühlt hatte. Ich betrachtete meine Hände, und mir schauderte bei dem Gedanken, dass ich damit Mädchen den Uterus ausgeschabt hatte, die vielleicht in diesem Moment an ihren inneren Verletzungen starben. Ich vergegenwärtige mir immer wieder die abscheulichsten Details des Jobs, als gelte es etwas festzuhalten, als sei ich den Mädchen, die Angel auf einer Mülldeponie vor der Stadt verscharrt hatte, etwas schuldig.
Nach knapp zwei Stunden gingen wir in den langen Landeanflug auf L'Aquila über, der größten Scrambay Europas in der Adria, und ein Carrier brachte mich noch am frühen Abend nach Frankfurt. Ich schickte Phil eine Nachricht und hatte im Hotel kaum mein Gepäck abgeladen, da standen schon seine beiden Anabolika-Gorillas vor der Tür. Sie fuhren mich in eine der Business-Arkaden im Bankenviertel, wo Phil ein Scanlabor gemietet hatte. Zwischen den Büros von Service Providern, Netzwerktechnikern und Bioinformatikfirmen führte ein unauffälliger Korridor in einen bestens ausgestatteten Labortrakt, den ein sonniges Atrium auflockerte. Phil werkelte am Holoprojektor bereits an den topographischen Daten eines Gehirnscans.
Ich kann ihn ganz gut leiden. Er ist straight, korrekt, arbeitet einigermaßen sauber, und vor allem ist er unter all den Verrückten normal geblieben, immer noch fett, trägt Billigklamotten, hat sich die krumme Nase nicht richten und die Hängebacken nicht liften lassen, raucht Selbstgedrehte, was ihn ein Vermögen kostet.
»Ah, Marek, klasse!«, sagte er und zeigte auf ein Sofa, das zwischen zwei Festspeicherkabinetten stand. Ringsum glommen Glasfaserbündel, und der Luftstrom aus den Kühlern wärmte mir den Hintern. Phils Assistenten waren in ihre Arbeit an den Workstations vertieft. Außer ihm beachtete mich niemand. »Deine beiden Scans sind inzwischen auch angekommen. Wir machen noch einen Virencheck, editieren die Scans, und dann kann‘s losgehen. Spätestens um 20 Uhr kannst du dich in die Wanne legen.«
»Was heißt beide?«, fragte ich.
»Na, dein Backup und der Scan von dem Typen, den wir dir reinkopieren sollen. Der Kerl hat mal für deinen nächsten Klienten gearbeitet. Könnte dir nützlich sein, was er weiß.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.« Aber mir schwante Übles. »Ich habe gerade einen schweren Job hinter mir. Gasper sagte, nach der Mnemotomie habe ich erstmal Urlaub.«
Phil starrte mich für einen Moment an und schüttelte den Kopf. »Habt ihr wieder Probleme, oder was? Zieht mich bloß nicht in eure Scheiße rein. Ich mach hier nur meine Arbeit.«
»Wieso regst du dich auf?«
»Wieso sollte ich mich nicht aufregen? Allmählich wird das zur Gewohnheit. Nach jedem Job jammerst du mir was vor, dass du Angst hast, dass dir etwas verloren geht, dass du aussteigen willst. Dann mach‘s doch, ist schließlich nicht meine Sache. Und währenddessen gurkt Gasper durch die Weltgeschichte und will unbedingt die ganz große Kohle mit Leuten machen, von denen er besser die Finger lassen sollte. Weißt du, wer mich eben angerufen hat?«
»Keine Ahnung.«
»Klar, du hast wie immer keine Ahnung. StrainTech macht mir mächtig Feuer unterm Arsch, damit ich dir heute noch alles rausbügle. Die verlangen Administrationszugriff auf mein Netzwerk, um sicher zu sein, dass ich nicht unter der Hand Scandaten verhökere. Gleichzeitig winkt Gasper mit Interpol, wenn ich nicht bei meinem Dealer in London anfrage, ob er einen Scan von einem Biologen oder Laboranten besorgen kann, der mal für Neuran gearbeitet hat. Neuran, stell dir das vor! Schnappt er jetzt völlig über? Die können eine ganze Bananenrepublik aus der Kaffeekasse bezahlen ...«
Neuran Inc. – für einen Moment war mir, als müsste mir zu diesem Namen etwas Wichtiges einfallen. »Darf ich auch mal was sagen?«
»Nein, darfst du nicht. Ich bin erledigt, wenn irgendwer spitzkriegt, was ich hier für euch mache. Dafür spiele ich nicht noch euer Kindermädchen.« Er wandte sich wieder dem Hologramm zu und starrte angestrengt in einen stark vergrößerten Ausschnitt des Scans, einen dichten Filz neuronaler Verknüpfungen. »Und jetzt verpiss dich. Um halb acht bist du wieder hier, sonst vergess ich, dass wir Freunde sind.«
Gasper war inzwischen weitergereist und hatte auch den Krypto-Provider gewechselt, was er zwei bis dreimal pro Woche tat. Ich kam nicht dazu, mich in Ruhe auf den Eingriff vorzubereiten, hockte stattdessen auf heißen Kohlen in meinem Hotelzimmer, zappte von einem News-Kanal zum nächsten und probierte in Abständen von zehn Minuten alle gängigen Satelliten-Hooks durch, um an ihn ranzukommen. Es blieben nur noch anderthalb Stunden bis zu Phils Deadline, als ich ihn endlich auf dem Display hatte.
»Was gibt‘s?« Er meldete sich aus einem pastellfarben gestrichenen, sparsam möblierten Foyer. Im Hintergrund standen einige düstere Typen, Osteuropäer vielleicht, in der offenen Tür eines Konferenzraums und schlürften leise plaudernd an ihren Drinks. Durch ein Panoramafenster schien eine tiefstehende Sonne herein, verlieh Gasper ein scharf ausgeleuchtetes Profil.
»Wo steckst du?«, fragte ich.
»Geht dich nichts an. Was ist los? Fass dich kurz, ich muss gleich wieder rein.«
»Ist mir egal. Ich war eben bei Phil. Wieso willst du mir einen Scan reinkopieren lassen? Soll ich nachher wieder mit den Erinnerungen von jemand anderem aufwachen? Wir hatten doch ...«
»Ja, stimmt. Lass es erstmal machen. Ich erklär‘s dir später.«
»Ich denke nicht daran. Ich bin diese gottverdammten Hacks leid. Ich erinnere mich an das Leben von jemand anderem, an die Bettgeschichten von jemand anderem, und von mir ist wieder ein Stück verschwunden.«
»Hör mal, ich kann jetzt nicht reden. Hier nicht.«
»Ich schmeiß die Brocken hin, ich warne dich.«
»Na gut, warte mal.«
Das Display wurde schwarz, als Gasper sein Gerät auf Standby schaltete. Eine Minute später war er wieder da. Diesmal lehnte er an einem Waschbecken, darüber ein Toilettenspiegel, in dem ich mich selbst auf dem Display seines Notepads sah.
»Okay, reden wir Klartext«, sagte er. »Hast du nicht gesagt, dass du aussteigen willst? Weißt du, was mich das im Jahr kosten wird? Du bist mein bester Mann, die anderen schaffen nicht halb so viel Umsatz.«
»Wie ich dich bedaure. Von den zwanzig Millionen auf deinem Konto kann wirklich kein Mensch leben.«
»Ach, das ist doch Kleinscheiß. Soll ich dir sagen, wo ich hier bin? Ist dir an den Leuten eben nichts aufgefallen? Ich bin von den russischen Bossen eingeladen worden. Sie wollen auf den europäischen Markt, aber dafür müssen sie Neuran anzapfen. Ein bisschen Industriespionage, ist doch mal was Neues für dich.«
»Heißt das, ich soll ...«
»Ein letzter Job. Dann bin ich im Geschäft, und du kannst in den Ruhestand treten und in der Provence französische Strohwitwen vögeln. Die Sache ist todsicher, glaub mir. Vier Wochen dürften reichen, dann kannst du untertauchen.«
»Wie soll das laufen?«
»Neuran hat einen Posten für die Entwicklungsabteilung in Berlin ausgeschrieben. Wir haben alles arrangiert, du hast am Freitag einen Vorstellungstermin. Medizinische Fachkenntnisse kannst du ja selbst vorweisen. Mit dem Scan, den wir dir reinkopieren, bist du außerdem ein Experte für neuronale Netzwerke. Der Typ, von dem der Scan stammt, kannte sich gut mit den Interna von Neuran aus. War ein persönlicher Bekannter des Entwicklungschefs. Du dürftest keine Probleme haben.«
Wieder dieses Gefühl. Tief in mir rief der Name Neuran eine Resonanz hervor, eine vage Vertrautheit.
»Haben wir nicht schon mal für Neuran gearbeitet?«, fragte ich.
Gasper stutzte. »Äh, nein ... Wie kommst du darauf?«
»Ich dachte, das kannst du mir sagen.«
»Keine Ahnung, was du vorher gemacht hast. Also, sind wir uns einig?«
»Als ob ich eine Wahl hätte.«
»Manchmal ist es gut, wenn man sich bewusst für das entscheidet, was am besten für einen ist.«
»Weißt du, dass du ein richtiges Arschloch bist?«
»Und? Mach ich Geschäfte, damit mich die Leute mögen?«
Er brach die Verbindung ab.
Bevor ich zu Phil zurückfuhr, tingelte ich etwas durch die Bars auf dem Messegelände. Es fand gerade eine Kosmetikmesse statt, und ringsum unterhielten sich Produktmanager über die neuesten Perversitäten von der Anti-Aging-Front, Plazenta-Präparate, Eigenhautkulturen, genetisches Reversing. Alles potenzielle Kundschaft, und ich hätte hier und dort sicher Nützliches aufschnappen können. Aber an diesem Abend interessierte es mich nicht. Assoziationen um Neuran Inc. und irgendeine Sache mit behinderten Kindern wirbelten mir durch den Kopf, vermischten sich mit Erinnerungen an die Mädchen, die wir in katastrophalem Zustand in Bolivien zurückgelassen hatten. Das Gespräch mit Phil hatte irgendetwas angestoßen, aber ich konnte es nicht dingfest machen.
Ich habe einmal gelesen, dass bei einer Mnemotomie keine neuronalen Verknüpfungen gelöst, sondern lediglich die Gewichtungen modifiziert werden, nach denen die Neuronen ihre Eingangsimpulse verrechnen. Manche Erinnerungen und Fähigkeiten, die man gemeinhin als gelöscht betrachtet, sind also potenziell noch vorhanden. Jeder, der sich öfter manipulierte Scans aufspielen lässt, kennt das Gefühl, dass ganz unberechenbar, ohne nachvollziehbaren Anlass, etwas davon aktiviert werden kann. Meist bleibt es vage.
Es war demnach möglich, dass ich einen Zipfel meiner Vergangenheit in Reichweite hatte, irgendein für mich bedeutsames Ereignis, das mit Neuran in Zusammenhang stand. Aber was sollte ich tun? Wenn Phil mit mir fertig war, wäre es ebenso verloren wie meine Erinnerungen an den Job in La Paz.
Mir kam erst eine Idee, als ich schon im Taxi saß.
Mein Notepad piepste, und ich sah im Email-Eingang, dass Gasper mir das E-Ticket nach Berlin geschickt hatte. Wie es der Zufall wollte, hielt der Fahrer gerade vor einem Kartenservice am Hauptbahnhof, und auf dem Plasmadisplay im Schaufenster fiel mir die Konzertwerbung für eine Ethno-Jazzband aus Zaire auf, die nur alle Jubeljahre durch Deutschland tourte. Eine wilde Truppe, die auf allem Musik machte, was kein Stromkabel hatte. Seit Jahren, soviel wusste ich noch, gierte ich danach, die Jungs einmal live zu erleben. Ich nahm an, Phil würde es für plausibel halten, dass Gasper auch meine privaten Vorlieben kannte.
Hinter der Theke stand ein schlechtes Neopunk-Imitat, ein dürres Mädchen mit fluoreszent gefärbtem Haar, bauchfreiem Top und gespaltener Zunge.
Ich zeigte auf die Anzeigetafel mit den aktuellen Ticketkursen.
»Dritte von oben«, sagte ich. »Noch was frei für Samstag in Berlin?«
Sie warf einen Blick auf ihren Monitor. »Gerade so. Wie viele Plätze denn?«
»Nur einen. Nicht für mich. Soll ein Geschenk für einen Freund sein.«
»Können wir machen. Wollen Sie was dazu schreiben?«
»Unbedingt. Wo kann ich?«
Sie zeigte in den hinteren Teil des Ladens. »Da vorn ist ein Bluetooth-Interface. Wenn Sie wollen, können Sie‘s direkt von Ihrem Notepad rüberschieben. Kostet aber exta.«
»Sie bringen mich ins Armenhaus, Lady.«
»Wie heißt denn Ihr Freund?«
»Yanner. Marek Yanner.«
Ich schrieb, soviel ich konnte, und stattete anschließend einer der kleinen Cracker-Kaschemmen hinterm Hauptbahnhof einen Besuch ab. Ich verspätete mich um fast eine Stunde, weil der junge Freak, den ich engagierte, Schwierigkeiten mit Gaspers Krypto-Provider hatte und einige Tricks aufwenden musste, um aus der Email, die der Kartenservice mir inzwischen geschickt hatte, einen Anhang zu Gaspers Mail zu basteln. Phil schwitzte Blut und Wasser, bis ich endlich splitternackt in der Infusionskammer stand, mit Schläuchen in Mund und Nase, einen Kranz aus Sensoren und Glasfasern auf dem Schädel. Zwei Männer in Plastikanzügen, gesichtslos hinter den getönten Visieren ihrer Kapuzen, halfen mir in den Tank, den eine milchige Flüssigkeit ausfüllte. Ich zögerte.
»Jetzt ist aber Schluss!«, hörte ich Phils Stimme aus den Lautsprechern. »Noch ein Mätzchen, und ich werde dich in der Brühe kochen.«
Bevor ich mich in den Tank sinken ließ, betete ich zum Himmel, dass mein Plan funktionieren würde.
Vor mir lagen vierzehn Stunden einer mühsamen Wiedergeburt.
Es ist wie ein langsames Empordämmern aus einem Delirium. Irgendwann ist man einfach da, anfangs nur ein vages Gefühl tief in einem unförmigen Klumpen Fleisch. Dann wird man allmählich seiner Proportionen gewahr, muss Beklemmungen und Schwindelanfälle durchstehen, während sich die Hormonpegel wieder einpendeln. Ich kenne nichts Ekelhafteres als die zähen Stunden des Übergangs, wenn jeder Herzschlag, jeder Atemzug einen erbrechen lassen möchte.
Unmittelbar danach sind die Sinne noch überempfindlich, und das leiseste Geräusch, der schwächste Lichtstrahl könnte einem einen Orkan durchs Gehirn jagen. Deshalb die flache Wanne, in der man in einer amniotischen Flüssigkeit schwebt. Deshalb die wohlige Finsternis, die kaum die Umrisse der Personen erahnen lässt, die einen hinter der Scheibe des Kontrollraums beobachten. Über Stunden ist es so, als ob sich langsam eine Leinwand hinter einem aufspannt. Nach und nach fliegen einem Bilder, Erinnerungen, Zusammenhänge zu, und irgendwann weiß man wieder, wer man ist.
Oder besser: wer man zurzeit ist.