„Sollte man eine Geschichte, die zu Ende ist, weitererzählen?“, fragt Andreas. Wenn sie zu Ende ist, ist sie zu Ende, findet Jakob. Und wer will das auch schon hören, wenn dann alles ganz anders verläuft, als die Zuhörer sich das gewünscht hätten? Aber Andreas lässt nicht locker: „Das Leben geht ja auch immer weiter, oder?“
Und so geht auch die Geschichte von Jakob und Elisabeth weiter, die sich im ersten Teil „Der Spielmann“ gefunden und wieder verloren hatten. Jakob zerreibt sich als König von Reupen zwischen seinen Überzeugungen und den politischen Notwendigkeiten, während Elisabeth sich zu ihrer Cousine Eleonore geflüchtet hat, fest entschlossen, den Rest ihres Lebens als alleinstehendes Fräulein zu verbringen.
Doch dann steht eines Morgens ein völlig unerwarteter Besucher vor Elisabeth, erschüttert nachhaltig die Ruhe ihres Refugiums und zwingt sie zum Handeln...
Roman
Impressum
Der König
Copyright© Ingrid Ganß
Frauenzimmer Verlag
Ringweg 19, 35321 Laubach
www.Frauenzimmer-Verlag.de
Satz und Layout Innenteil und Cover: Frauenzimmer Verlag
ISBN 978-3-937013-30-5
ISBN Print 978-3-937013-50-3
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Freundschaft ist der einzige Zement,
der in der Lage ist, die Welt zusammenzuhalten.
Thomas Woodrow Wilson
„Was meinst du“, sinnierte Andreas, sein Weinglas in der Hand drehend, den Blick auf die in rötlicher Glut zerfallenden Holzscheite gerichtet, „sollte man eine Geschichte, die zu Ende ist, weitererzählen?“
Philipp brummte ein kaum verständliches „Was?“, die Hand mit der Schreibfeder schwebte unschlüssig über den auf dem ganzen Schreibtisch ausgebreiteten Papierbögen.
„Eine Geschichte“, wiederholte Andreas geduldig. „So eine, die einen Anfang hat und alle möglichen Verwicklungen und dann, an der richtigen Stelle, hört sie auf. Sollte man es dabei belassen oder nicht?“
Philipp senkte die Feder und strich einen ganzen Abschnitt aus. „Wenn sie zu Ende ist, ist sie zu Ende, oder?“
Andreas nahm einen Schluck Wein. „Na ja“, wandte er ein. „Ganz so ist‘s ja auch nicht. Du erinnerst dich, wenn deine Großmutter Märchen erzählt hat, so welche, in denen ein Taugenichts die Prinzessin bekam und all so was - also, ich wollt‘ dann schon manchmal wissen, wie’s weitergeht. Ich mein‘, das Leben geht ja auch immer weiter, oder? Wird’s dem Taugenichts zu langweilig mit der Prinzessin? Macht er’s als König besser als der alte? Aber es erzählt einem ja keiner, was nachher passiert.“
„Das ist auch besser so“, lachte Philipp. Er blickte endlich von seinen Papieren auf und sah Andreas an, der bequem in einem gepolsterten Stuhl am Feuer saß, die Beine zur Wärme hin gestreckt. „Wer will das schon wissen, wenn schließlich vieles ganz anders verläuft, als die Zuhörer sich das gewünscht hätten? Wenn die Prinzessin sich mit ihrem Taugenichts in die Haare gerät? Wenn sie alt werden, unausstehlich, krank? Wenn das tägliche Leben öd wird, ereignislos? Nein, es ist gnädiger, an der besten Stelle aufzuhören - wenn auch weniger ehrlich.“
„Weniger ehrlich …“ Andreas ließ den Satz bedeutungsvoll im Raum schweben. „Sag mal“, Philipp legte die Feder beiseite, „wovon redest du eigentlich?“
Andreas sah Philipp in die Augen. „Du weißt, wovon ich rede.“
Die Falte zwischen Philipps Brauen vertiefte sich.
„Vielleicht“, sagte Andreas, „hab ich an gewisse Ereignisse gedacht, die für dich bis heute noch nicht ganz abgeschlossen sind.“
„Andreas“, ein warnender Ton schlich sich in Philipps Stimme. „Wage es nicht, Dinge auszusprechen, die dich nichts angehn!“
„Verdammt noch mal, Jakob, was heißt hier, es geht mich nichts an? Ich bin jeden Tag mit dir zusammen, und ich sehe, wie es dir geht und was du tust! Du hast alle ihre Briefe verbrannt, und ich wette, du hast keinen davon …“
Philipps Gesicht verhärtete sich. „Noch ein Wort …“
„Und dann, Sire?“ fragte Andreas kühl. „Was werdet Ihr tun, wenn ich weiterrede? Die Wachen rufen?“
Elisabeth beugte sich weit über die marmorne Balustrade. Der Stein war kühl unter ihren bloßen Unterarmen, der spitzenbesetzte Saum ihres Hemdes kitzelte ihre Haut. Der Himmel spannte sich in einem dunklen, samtenen Blau über den Park und das festlich erleuchtete Gebäude. Fackeln flackerten unter den Bäumen und beschienen die von einer dünnen Eisschicht überzogenen Wege.
Über ihr funkelten die Sterne klar und hell. Sie richtete sich auf, bog ihren Kopf weit in den Nacken und hatte nicht übel Lust davonzufliegen, weit, hoch und immer höher, um sich zwischen den unzähligen Lichtpunkten im Nichts aufzulösen. Eine Erinnerung streifte sie. Für einen Atemzug stand er dicht hinter ihr, sein Arm beschrieb einen weiten Bogen. „Seht …“ Seine Schulter berührte die ihre.
„Hier habt Ihr Euch verborgen!“
Hastig drehte sie sich um. Er war es nicht. Es war der junge Selm. Ausgerechnet. Sie war seine ewigen Nachstellungen leid. Kaum einen Tanz mit ihr hatte er ausgelassen, dabei gab es weitaus bessere Tänzer, nur ließ er ihnen kaum die Gelegenheit, in Elisabeths Nähe zu gelangen.
„Ich suchte Euch überall.“
Ich ahnte es, dachte sie und seufzte. „Mein Kopf schmerzte ein wenig. Die frische Luft tut mir gut.“
Besorgnis überzog sein knabenhaftes Gesicht. „Euch tourmentieren Schmerzen, ma chère, sollte ich Euch nicht …“
Sie winkte ab. „Es ist schon vorbei.“
„Alors …“ Für einen Moment starrte der junge Mann wortlos in den dunklen Park, dann gab er sich sichtlich einen Ruck. „Ma chère Princesse, das Schicksal muss mich durch die Nacht an Eure Seite geführt haben. Schon so lange liegt mir daran, Euch alleine zu rekontrieren. Unser Zusammentreffen permettiert mir finalement, Euch zu unterbreiten, was mir unter Anwesenheit anderer impossibel wäre.“
Ein netter Junge, im Grunde genommen, überlegte Elisabeth, ein einfacher Freiherr mit guten Manieren, nicht unvermögend, gute Aussichten, nicht dumm. Wenn er es nur unterließe, mich den ganzen Abend zu verfolgen.
„Wiederholt kam mir zu Ohren …“ Er räusperte sich. „Ich meine … Alors, Ihr mögt um gewisse Gerüchte wissen …“
Seine Ernsthaftigkeit rührte sie beinahe, aber mehr noch belustigte sie sie. Nur durfte sie nicht lächeln, das hätte ihn beleidigt.
„Mademoiselle!“ Er packte ihre Hände und presste sie unschicklich fest. „Ich werde diesem Gerede nicht den geringsten Glauben schenken, ohne Euch zuvor dazu befragt zu haben!“ Seine Hände waren feucht vor Aufregung. Wie hatte er sie nur im hintersten Winkel des Gartens gefunden? „Ich … alors, man sagt … Ihr hörtet certainement davon … Man sagt, es bestünde die Possibilité, dass nach dem Missgeschick im Verlauf Eures Balles vor Jahren …“
Missgeschick. Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Sie hatte ihre Freier beleidigt, einschließlich des jungen Herrn von Selm, der eben vor ihr stand. Und ausgerechnet den König von Reupen … Noch immer war ihr, als stünde er an ihrer Seite wie damals während des Balles auf dem kalten Innenhof des Schlosses von Messelstein.
„Ich weiß, dass Euer Vater Euch zur Strafe für Euer inkonvenantes Benehmen auf ein entferntes Landgut verbannte. Jedoch, ich osiere kaum es zu erwähnen, zuweilen werden Stimmen laut – ich weiß, ich weiß, manche Menschen ziehen abenteuerliche, lästerliche Geschichten der lauteren Wahrheit vor – aber nichtsdestotrotz werden Stimmen laut, die verbreiten, er hätte Euch zu jener Zeit mit einem Gaukler vermählt, nur zum Schein naturellement, aber allein der Gedanke! Zweifellos hätte er Euch sofort zurückholen lassen, doch … Oh, allein der Gedanke, Ihr hättet Stunde um Stunde mit einer dermaßen niederen Kreatur … außerhalb Eures Schlosses … Nein, sagt nichts! Ich werde dieser Bavardage niemals Glauben schenken!“ Er richtete sich auf, tapfer und entschlossen. „Es macht mir nichts aus. Was auch immer die Leute sagen, ich würde Euch zur Frau nehmen, falls Ihr …“
Wie großzügig, höhnte sie innerlich, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Auf diese Art käme er zu einer höhergestellten Gemahlin. Und ich müsste am Ende froh sein, überhaupt zu einem passablen Gatten zu kommen.
Mit einem Gaukler. Die Sehnsucht packte sie so heftig, dass sie ihre Hände fest um die Balustrade krampfte. Mit einem Gaukler Stunde um Stunde außerhalb des Schlosses.
„Ich bedaure.“ Höflich neigte sie den Kopf. „Sicherlich, Euer Angebot ehrt mich außerordentlich, aber Ihr solltet es noch einmal überdenken. Eine Frau mit meiner Reputation würde Euch mehr schaden als nutzen. Ich für meinen Teil gedenke, mich niemals im Leben zu vermählen.“
Die Enttäuschung in seinem Gesicht rührte sie erneut. Vielleicht tat sie ihm Unrecht. Er hatte das Angebot nicht aus Berechnung gemacht. Aus einer gewissen Abenteuerlust heraus möglicherweise. Eine Frau von schlechtem Ruf zu freien, eine Frau, die Erfahrungen gemacht hatte, von denen er nur zu träumen wagte, und dennoch eine Frau von Stande … Er war noch so jung, etwas jünger gar als sie selbst. Sie sollte „ja“ sagen. Was hielt sie davon ab? Der junge Selm, dachte sie schmerzlich. Damals der geringste unter ihren Freiern und nun eine erstrebenswerte Möglichkeit. Selbst Graf Eberhard, der für gewisse Zugeständnisse über ihre befleckte Ehre hinweggesehen hätte, war mittlerweile seit einem halben Jahr vermählt. Und das ausgerechnet mit …
„Es lag nicht in meiner Intention, Euch zu bedrängen“, versicherte der junge Selm. „Bedenkt mein Angebot noch einmal. Es mag, naturellement, ich konveniere, es mag zu plötzlich gekommen sein.“ Er verbeugte sich vor ihr, wandte sich um und ging zurück dorthin, wo das Licht aus den hohen Fenstern des Tanzsaales auf den reifüberzogenen Rasen fiel.
„Wie bewegend“, ertönte eine Stimme aus der Nacht. „Wie überaus ritterlich und reizend.“
Elisabeth zuckte zusammen. Hatte sie all das nicht schon einmal erlebt? Ein Mann nach dem anderen taucht aus dem Dunkel? Was für ein merkwürdiger Abend war das. Sie straffte sich und zog ihren Umhang fester um sich. „Zeigt Euch!“, befahl sie.
Ein Lachen war die Antwort.
„Ferdinand! Glaubt Ihr, ich wüsste nicht, dass Ihr es seid? Wie lange steht Ihr bereits hier?“
„Ich folgte dem Kleinen. Ich ahnte, dass er Euch leichter finden würde als ich.“
„Es schickt sich nicht, Monsieur, andere ohne ihr Wissen zu belauschen.“
Vom Stamm einer der gewaltigen Eichen löste sich die Gestalt Ferdinands von Münzfeld. Er lachte wieder. „Wie sollte man je etwas von Interesse in Erfahrung bringen, wenn man nicht hin und wieder heimlich lauscht, ma Princesse? Und“, er trat sehr nahe an sie heran, „es schickt sich ebenfalls nicht, mit einem Vagabunden auf und davon zu ziehen. Und mehr als das …“ Er zog den Handschuh von seiner Rechten und schob seine bloße Hand unter ihr Kinn. „Mit einem Gaukler“, er dehnte das Wort auf eine Weise, dass es aus seinem Munde nach Unrat klang, „Dinge zu treiben, die jeglicher Moral entbehren. Nie hätte ich derartiges von Euch gedacht, ma chère, von Euch, der Tugend in Person! Bei mir wirktet Ihr so zurückhaltend und scheu. Ich fürchtete damals, meine Abkunft sei Euch zu gering. Ihr mögt Euch meine Überraschung vorstellen, als ich erfuhr, dass Ihr, au contraire, eine Neigung zum Niederen …“
„Mäßigt Euch, Ferdinand“, schnitt sie kühl seine Worte ab und entzog ihm ihr Gesicht.
Dessenungeachtet zog er sie an sich heran, sein Mund berührte ihr Ohr. „Ich stellte es mir zuweilen vor, Elise“, raunte er. „Ihr, Euer Haar zerzaust, Eurer prachtvollen Roben gänzlich entledigt, auf dem bloßen Waldboden, in den Armen eines ungewaschenen, ungeschlachten Mannes …“
Die unverhohlene Lüsternheit in seiner Stimme beschmutzte sie mehr als seine Berührung. Ihr wurde leicht übel, dennoch lächelte sie ihn an. „Ferdinand“, sagte sie höflich und hatte für einen Moment Barbels Gesicht vor Augen, ihre Sommersprossen, ihr breites, lautes Lachen, „man sollte Euch Euren Schwanz abschneiden und Euch Euer dreckiges Maul damit stopfen.“ Galant klappte sie ihren Fächer auf und deutete einen Knicks an.
Seine Verblüffung war dermaßen groß, dass sie beinahe laut aufgelacht und sich auf die Schenkel geklopft hätte, wie Barbel es zu tun pflegte, wenn sie derartige Dinge sagte, so erstaunt und ungläubig sah er aus. Und das bei Ferdinand von Münzfeld, der sich solche Mühe gab, alle Zeit kühl, spöttisch und überlegen zu wirken.
Und gleich dem jungen Selm wandte sie sich nun ebenfalls dem hellerleuchteten Gebäude zu und ließ Ferdinand im Dunkel des Parks zurück.
Für den Rest des Abends ging ihr Ferdinand von Münzfeld tunlichst aus dem Wege.
Es war Elisabeths erster Ball seit jenem unseligen Maskenfest im Schloss ihres Vaters. Wie lange war das her? Der Vater hatte das Fest zu Beginn jenes Jahres anstellen lassen, in dessen Frühjahr sie an Jakobs Seite das Schloss verlassen hatte. Frühling, Sommer, früher Herbst mit Jakob in der Waldhütte. So wenige Monate nur, und doch ein ganzes Leben. Der lange Winter im Dorf von Jakobs Großmutter. Und der erneute Frühling, in dem sie mit Barbel auf und davon gezogen war. Was für ein erschreckender und doch eigentümlich schöner Sommer. Das Unglück. Der Rückzug in Eleonores kleines Palais. Die Cousine hatte sie ohne zu fragen aufgenommen. Und nun war sie schon über ein Jahr hier. Oh, mon Dieu, dachte Elisabeth, seit meinem letzten Ball sind drei ganze Jahre vergangen.
Desto mehr genoss sie an diesem Abend die Musik, den Klang des Cembalos und der Geigen, die lebhaften Tänze, die schillernden Roben der Gäste, den erlesenen Wein, die köstlichen, frischen Früchte. Im Dorf hatte es über Winter, sobald die kühl gelagerten Äpfel aufgegessen waren, kein frisches Obst mehr gegeben.
Sie war dankbar dafür, dass Ulrich sie zum Tanze bat. Es verlieh dem Abend eine gewisse Normalität, wenn sie tanzte, statt ausgestoßen am Rande zu stehen. Zugegeben, die Gäste behandelten sie höflich und ganz wie immer. Niemand fragte, niemand sprach sie auf irgendetwas an. Doch dass sie hinter vorgehaltener Hand munkelten und flüsterten, darüber war sie sich im Klaren. Vielleicht flüsterten sie nur darüber, dass die verwöhnte Prinzessin, die vor einiger Zeit ihre Freier brüskiert hatte, sich nun wieder in der Öffentlichkeit zeigte, bewerteten ihr Aussehen, ihr Benehmen. Vielleicht rätselten sie darüber, ob dieser öffentliche Auftritt nach langer Zurückgezogenheit bedeutete, dass sie schließlich Vernunft angenommen hatte und sich demnächst vermählen würde. Aber es mochte sich auch eine gewisse Anzahl unter ihnen befinden, deren Phantasie sich, ähnlich derjenigen Ferdinands, weitaus skandalösere, unschicklichere Dinge ausmalte.
Elisabeth selbst versuchte, gelassen zu wirken, zurückhaltend, in allem die brave Prinzessin, die im kleinen Palais ihrer Cousine ein stilles Leben führte und sich niemals hatte mehr zuschulden kommen lassen, als sich den Verheiratungsplänen ihres Vaters zu entziehen, ein Verhalten, das viele Anwesende für empörend genug hielten.
Ulrich neigte sich höflich vor ihr und dankte ihr für den Tanz. Als Eleonores ältester Bruder war er der zukünftige Erbe dieses prachtvollen Gutes und somit des Saales, in dem das heutige Fest stattfand. Und da sein Vater schon längere Zeit nicht mehr bei bester Gesundheit war, agierte er bereits als Herr über dieses kleine Reich. Ein gesetzter Herr für seine jungen Jahre, bedächtig in allem, was er tat, es sei denn, es ging um Pferde. Wenn es um Pferde ging, legte er eine gewisse Leidenschaft an den Tag. Er war blond und hellhäutig wie Eleonore, aber längst nicht mehr so schlank wie sie. Seine fade, kleine Gemahlin hatte ihm drei Kinder geboren, sicherlich waren sie dabei, das vierte zu erarbeiten. Dass dieser Kindersegen einer weiteren Leidenschaft Ulrichs entsprang, vermochte Elisabeth sich kaum vorzustellen, sie vermutete dabei eher ein hohes Maß an Pflichtbewusstsein. Nun, sie mochte sich täuschen. Aber dass er lediglich mit ihr tanzte, um den Schein zu wahren, darin täuschte sie sich nicht. Seht her, besagte diese Geste, ich tanze mit ihr, es liegt kein Makel auf meiner Cousine, auf meiner Familie. Alle diese Gerüchte entbehren jeglicher Wahrheit. Im täglichen Umgang jedoch behandelte er sie reserviert und hatte seiner Gemahlin den allzu engen Umgang mit Elisabeth untersagt. Als wäre allen Ernstes zu befürchten, dass diese allzeit schwangere, farblose Dame von Elisabeths sündigem Wesen angesteckt werden könnte!
„Elise, würdet Ihr so allerliebst sein …“
Ah, Christian! Ihn liebte sie! Der junge Mann, der sich nun vor ihr verbeugte, war so ganz und gar das Gegenteil von Ulrich, dem älteren, gesetzten Bruder, sowohl im Aussehen als auch im Wesen. Eleonores dritter Bruder war Elisabeth nicht nur im Alter gleich, das kräftige Braun seines Haares ähnelte dem ihren, ebenso das tiefe Blau seiner Augen. Zwar war er weitaus lebhafter als die ruhige Eleonore, aber ebenso offen allem Neuen gegenüber, ebenso bereit, in vielen Dingen dazuzulernen wie seine ältere Schwester. Er war der einzige der Familie, der hin und wieder fröhlich durch den Park geschlendert kam, um Eleonore und Elisabeth in ihrem kleinen, abgelegenen Palais zu besuchen, mit ihnen eine Mahlzeit einzunehmen, Neuigkeiten auszutauschen, einen ausgedehnten Spaziergang zu machen oder sie zu einem Ausflug in seinem Wagen einzuladen. Zur Zeit war er auf der Suche nach einer passablen Partie und Eleonore und Elisabeth fanden Vergnügen daran, ihn auf das ausführlichste zu beraten.
Die Tanzenden formierten sich gerade neu; Elisabeth reichte Christian die Hand und ließ sich an das untere Ende der Reihe führen. Christian verneigte sich, Elisabeth knickste tief. Das gemäßigte Tempo des Tanzes ließ ihr Zeit, seine Aufmachung zu begutachten. Er, der sich sonst gern nachlässig und zweckmäßig kleidete, hatte sich Mühe gegeben für den Abend. Er hatte sein Haar sorgsam in Locken legen lassen, trug eine kleine Perle am Ohr und schlichte, aber wertvolle Ringe an seinen Fingern. Seine weitbauschige Rockhose, die Rhingrave, sowie das passende Jäckchen über dem gerüschten Hemd waren aus einem glänzenden, weinroten Stoff gearbeitet, der ihm gut zu Gesicht stand. Es blieb zu hoffen, dass Ulrich die richtigen jungen Damen geladen hatte für diesen Abend!
Ein Schritt aufeinander zu, eine leichte Berührung der Hände, ein Lächeln, ein Schritt zurück, sich voneinander abwenden, einander wieder finden. Die Figuren erforderten Konzentration und Elisabeth bemerkte mit Bedauern, dass sie ein wenig aus der Übung war. Eine halbe Drehung, Partnerwechsel. Ach herrje, Heinrich von Selm. Sie lächelte versöhnlich, er lächelte ebenfalls. Eine halbe Drehung, Partnerwechsel. Es war schön, wieder so zu tanzen, das unverbindliche sich Nähern und wieder Entfernen, die Andeutung eines Lächelns, das leichte Schweben im hellen Kerzenlicht, das Knistern der Stoffe. Ein Fenster wurde geöffnet, um frische Luft in den stickigen Saal zu lassen.
„Einen noch?“, fragte Christian eifrig. „Eine Gigue?“
Elisabeth schüttelte den Kopf, auch wenn es ihr schwer fiel, Christian abzuweisen. Sie mochte die frische Art, in der er geradeheraus fragte. Ein anderer Herr hätte sie mit dermaßen gestelzten Worten aufgefordert, dass ihr davon sicher übel geworden wäre. „Christian, es ist nicht ratsam, wenn Ihr zu oft mit mir tanzt. Ulrich hat die jungen Damen sicherlich vornehmlich Euch zuliebe geladen. Enttäuscht sie nicht!“
„Ich tanzte den ganzen Abend mit jenen Damen, Elise, stundenlang“, klagte er. „Sie ennuieren mich außerordentlich. Lieber würde ich den Rest des Abends mit Euch tanzen.“
„Seid nicht töricht, Christian. Ich bin Eure alte, müde Cousine! Lasst mich eine Weile ruhen und später stellen wir uns noch einmal auf.“
„Elise“, er nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen, „Ihr seid nicht alt, Ihr seid jung und seht heute wunderschön aus.“ Der Schimmer in seinen Augen beunruhigte sie. Sie blickte ihm hinterher, wie er mit beschwingtem Schritt in der Menge verschwand. Oh nein, dachte sie, nicht auch Christian. Eine derart hoffnungslose Neigung wünschte sie ihm nicht, dafür mochte sie ihn zu sehr.
Eine Gigue hätte sie jedoch nicht ausschlagen sollen. Ihr war nach einem lebhaften Tanz. Nun, was man in diesen Kreisen lebhaft nannte! Auch die Gigue war hineingepresst in ein Regelwerk von vorgegebenen Gesten und Schritten mit einem wohl berechneten Abstand der Tanzenden voneinander. Mit einemmal wünschte sie sich heftig zurück auf einen großen, offenen Dorfplatz, auf dem sie in der Hitze der Musik und der Nacht die Hände auf die Schultern ihres Tänzers hätte legen dürfen, seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren, sich drehen lassen, schnell und immer schneller zum Klang einer Drehleier, eines Dudelsackes oder einer quietschenden Geige! Sie hätte lachend nach den Händen der Frauen gefasst, wenn es galt, einen Kreis zu bilden. In ihrer Erinnerung suchte sie nach dem Gesicht jenes Mannes, mit dem sie eine ganze Nacht durchtanzt hatte, damals im vorletzten Sommer, als sie mit Barbel Tinkturen und Knöpfe auf einem Jahrmarkt verkaufte. Es war ein intelligentes Gesicht gewesen, die Haut vernarbt nach einer langen Krankheit, der Schnitt des Gesichtes und des Mundes aber wohlproportioniert, die Augen aufmerksam und nachdenklich. Sie hatte getaumelt in seinen Armen und gegen Mitternacht hatte er sie geküsst. Sie hatte seinen Kuss erwidert, verzweifelt gegen die Erinnerung an Jakob ankämpfend. Der Mann hatte die Tränen auf ihren Wangen gespürt und sie verwundert angesehen. Es hatte sie geschmerzt, ihn dermaßen zu enttäuschen. Er war weder ruppig noch allzu verstimmt gewesen, als sie versuchte, es ihm zu erklären. Er hatte ihre Stirn geküsst und gesagt, er kenne das, vor vielen Jahren hätte es auch einmal eine Frau gegeben, derentwegen er keine andere hätte berühren können. Und dann war er in der Nacht verschwunden. Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Und seither hatte sie nie mehr wieder geküsst.
Sie zog sich zurück in die Nähe der großen, weit geöffneten Türflügel, blieb halb verborgen hinter einer der gewaltigen Zierpflanzen, die den Eingang flankierten. Da erst fiel ihr Blick auf diejenigen, die dort lehnten und zuschauten. Ulrichs Küchenmägde drängten sich im Bereich der Tür, traten eilig aus dem Weg, wenn einer der Gäste hindurchschritt, und neigten sich dabei tief und ehrerbietig. Die Gäste hingegen beachteten die Frauen mit keinem Blick. Lene stand mit weit offenen Augen und weit offenem Mund, etwas Vergleichbares hatte sie offensichtlich nie zuvor gesehen. Zugegeben, es war ein beeindruckender Anblick. Die Paare, die sich in geordneten Reihen voneinander und zueinander bewegten, mit zierlichen, geübten Schritten und Gesten, einer Ballettaufführung gleich. Die leichte, angenehme Musik, gespielt auf wohlgestimmten, edlen Instrumenten. Kein Dudelsack, keine quietschende Geige, keine Drehleier. Üppige Kleidung aus Brokat, Samt und Seide, über und über bestickt, die sich mit Lenes schlichtem Leinenkleid nicht im Geringsten vergleichen ließ. Die gepuderten Gesichter, die perlenverzierten Haare und Handgelenke, die schweren Ohrgehänge, die funkelnden Edelsteine. Und dazu noch die mit Essen und Wein überladenen Tische! An Lenes Seite stand Sibylle und redete unentwegt auf sie ein. Um ein paar Jahre älter und länger im Dienst, erläuterte sie offensichtlich das Geschehen auf das Ausführlichste.
Und für einen Moment schien es Elisabeth gänzlich unwirklich, dass sie selbst als gut gekleidete Dame an diesem Fest teilnahm, von den adligen Herrschaften als eine der ihren betrachtet. Dass sie hier tanzte und aß und trank und nicht wie die beiden Mädchen in der Tür stand und zuschaute. Für einen Moment vergaß sie, dass sie in den Augen aller Prinzessin Elisabeth Charlotte von Messelstein war und nie mehr wieder Lise Megerin und hätte sich um ein Haar zu Lene und Sibylle gestellt und ihnen erklärt, diese prächtig gekleidete Dame dort, diejenige in dem weißen, über und über mit Gold bestickten Kleid und dem frivol darunter hervorschauenden roten Unterkleid, wäre Marie-Henriette, die Gräfin von Tetnitz. Sie hätte ihnen vorgerechnet, wie lange sowohl Lene als auch Sibylle von dem Geld, das die Anfertigung dieses üppigen Gewandes verschlungen hatte, hätten leben können, ohne auch nur einen schmutzigen Topf auszukratzen oder den Küchenboden zu wischen.
Sie hätte ihnen die Namen vieler der tanzenden Herrschaften genannt und dazu eine passende Geschichte erzählt. Den Namen Ferdinands von Münzfeld zum Beispiel, eines vorteilhaft verheirateten Tunichtguts, in den Elisabeth als junges Ding verliebt gewesen war; und sicherlich bewunderten die beiden Mädchen ihn ebenfalls. Er sah ja auch nicht übel aus, ganz nach der neusten Mode gekleidet, längst nicht mehr in den weitbauschenden Hosen, die all die anderen Herren trugen. Die Culotte trug er nun, enganliegend, elegant, dazu einen schmal und tailliert geschneiderten Rock aus schimmernder, blassgrüner Seide. Sie hätte die beiden gewarnt, ihm nicht zu nahe zu kommen. Sicherlich gehörte auch er zu jener Sorte Herren, die ein Küchenmädchen ganz nebenbei in eine dunkle Ecke drängten. Die Bedürfnisse der Herren waren nicht immer so romantisch wie sie sich ihren Damen gegenüber gaben.
Ulrichs Saal verschwamm vor ihren Augen und sie stand in der Tür von König Philipps Ballsaal, an ihrer Seite die keifende Lotte. Die Helligkeit wich einem gedämpften Halbdunkel, eine Unzahl von Spiegeln warf das spärliche Kerzenlicht zurück und König Philipp wandte sich nach ihr um. Bei ihrem Anblick erstarrte seine Bewegung; ihr Herz barst und ihre Glieder wurden klamm. Sie schloss die Augen und wiederholte die Szene einmal und noch einmal. König Philipp drehte sich nach ihr um, erkannte sie und erstarrte. Jakob, dachte sie, oh Jakob, was würde ich dafür geben, wenn ich noch ein letztes Mal …
„Mais Elise“, Eleonore schubste sie leicht an. „Ihr steht hier und träumt?“
„Pardon, ich …“ Um sie her nur Ulrichs kleiner Saal. Klein, leidlich hoch, genügend Fenster, genügend Leuchter, zweckmäßig für den Anlass. Gemütlich eher als prunkvoll, die Wände mit Stoffbehängen geschmückt, das Parkett glänzend geputzt. Nie mehr würde sie über ein solches Parkett tanzen können, ohne daran zu denken, wie mühsam es war, es vorher und nachher zu schrubben. „Pardon, Eléonore, die Tänze hatten mich zu sehr erhitzt.“
„Oh, écoutez! Wie war das vor einigen Wochen? Ich sagte: Lasst uns Ulrich gut zureden, dass er wirklich ein Fest veranstaltet! Lasst uns wieder einmal tanzen, Musik hören, Menschen sehen! Lasst uns dazu alle unsere alten ‚Schwestern‘ einladen! Ihr aber sagtet …“
„Ich weiß, ich weiß“, lachte Elisabeth. „Ich sagte, mir wäre nicht nach einem Ball, nach einem Übermaß an Menschen …“
„Et maintenant? Seht Euch an! Wer tanzt toute la soirée und ist ganz erhitzt davon? Wer plaudert und trinkt und amüsiert sich?“
„Ihr hattet recht wie immer, mon Eléonore.“ Elisabeth hakte sich bei der Cousine ein und ließ sich fortführen, hinüber zu dem mit Früchten beladenen Tisch, an dem Therese stand und von den süßen Orangen kostete.
„Elise! Eléonore! Ist es nicht formidabel! Unsere erste Réunion seit ewigen Zeiten, ganz wie damals, als wir zu Elises Maskenfest … Oh, ich meinte … Es lag nicht in meiner Intention … Oh, verzeiht, Elise!“
Elisabeth verdrehte die Augen. „Ihr müsst nicht jedes Mal erbleichen und stottern, Thérèse“, erwiderte sie, „wenn Ihr auf jenen bewussten Ball zu sprechen kommt. Es schmerzt mich nicht, daran zurückzudenken. Ich bereue wenig von dem, was ich damals tat und sagte!“ Nur das, was ich Philipp von Reupen sagte, fügte sie in Gedanken hinzu. Schon als ich draußen an seiner Seite stand in der kalten Winterluft, hätte ich es wissen müssen, aber ich war dumm und jung und unerfahren. Als er mir mit einer Handbewegung alle Sterne des Himmels zeigte, hat er mir sein ganzes Wesen offenbart und ich hatte nichts Besseres zu tun, als über ihn zu spotten.
„Leider sind nicht alle da“, bedauerte Therese. „Amalie fehlt und Françoise – ihr sei es allerdings verziehen. Doch wir sind hier. Und Anne. Und Marie-Henriette.“ Sie grollte leicht bei Nennung des letzten Namens. „Schaut sie Euch an! Muss Henrie ausgerechnet ganz in Weiß erscheinen? Einer jungen Braut gleich? Ausgerechnet sie, die sie mittlerweile längst mehr als nur zwei Männer zur gleichen Zeit … ich meine …“ Therese errötete. „Pardon. Ich sollte nicht …“
„Mehr als zwei?“, fragte Elisabeth amüsiert. „Mit wem um alles in der Welt schläft sie noch? Außer mit ihrem Mann und dem Herzog?“
Erst als eine eigentümliche Stille eintrat und Therese und Eleonore sie befremdet aus großen Augen ansahen, bemerkte Elisabeth, dass sie sich wieder einmal zu drastisch ausgedrückt hatte. Es geschah hin und wieder. Warum durfte sie die Dinge nicht beim Namen nennen? Es gelüstete Therese doch geradezu danach, sich über Henries Liebesleben auszulassen. Nach einigen „Pardons“ und „ich sollte nicht“, würde sie ohnehin mit der Sprache herausrücken. Auf eine umständliche Art und Weise natürlich. Lasst Henrie doch schlafen, mit wem und mit wie vielen Männern sie will, dachte Elisabeth.
„Mit dem König von Reupen“, sagte Therese.
Nein.
Elisabeth tastete nach der Tischkante und hielt sich daran fest.
Nein, niemals. Nicht Jakob. Nicht Henrie.
„Elise?“, fragte Therese besorgt. „Was ist Euch?“
Elisabeth atmete tief durch und unterdrückte den Impuls, Therese an den Schultern zu packen, sie zu schütteln und anzuschreien. „C’est rien“, lächelte sie stattdessen. „Es kam so überraschend. Ich war der Meinung, Henrie verachte König Philipp seiner zweifelhaften Herkunft und seines Mangels an Manieren wegen. Ihr solltet diese Gerüchte nicht immer für bare Münze nehmen.“
„Mein Gemahl wird es wohl wissen“, entgegnete Therese in gekränktem Tonfall. „Er ist bekannt mit einer Dame, die zur gleichen Zeit wie Henrie am Hof von Reupen weilte. Henrie tanzte auffällig oft mit dem König und wurde gesehen, wie sie ganz alleine mit ihm sprach. Im Gang“, fügte sie bedeutsam hinzu.
„Ich tanzte mehrere Male mit Heinrich von Selm an diesem Abend“, wandte Elisabeth ein. „Und er folgte mir ganz alleine in den Garten …“
„Er folgte …“ Amüsiert hob Eleonore die Brauen. „Ihr erwähntet es überhaupt nicht!“
„Er folgte mir also in den Garten und sprach mit mir, und anschließend tauchte Ferdinand aus dem Dunkel und sprach ebenfalls mit mir – Attention, Thérèse, zwei Herren zur gleichen Zeit! – und ich schwöre Euch, ich stehe zu keinem der beiden Herren in einem unschicklichen Verhältnis.“
„Oh Elise“, schmollte Therese, „Ihr solltet Euch nicht lustig machen über mich! Euch ist Henries Ruf geläufig! Und erinnert Euch, sie behauptete damals, König Philipp sei ein schöner Bursche für einen Bauern. Henrie …“ Hastig brach Therese ab, denn nun trat Marie-Henriette zu ihnen und es umgab sie der Glanz der mächtigen Hofdame. Sie wirkte unantastbarer, kühler und schöner denn je.
„Hörte ich da nicht meinen Namen?“ Marie-Henriette langte nach einem Stück Gebäck und schob es zwischen ihre roten Lippen. Ein Rot, das offensichtlich ganz bewusst dem Ton ihres Unterkleides angepasst war. „Ihr spracht von mir?“
„Von Euch und dem König von Reupen“, erwiderte Elisabeth. Und es kostete sie eine unsägliche Mühe, seinen Namen auszusprechen, dazu noch so leichthin auszusprechen, als wäre nicht das Geringste dabei. „Oh!“ Marie-Henriette zog die Brauen hoch und beließ es dabei.
Eine ungeheure Kälte packte Elisabeth. Hätte Marie-Henriette gelacht, eine amüsante Bemerkung dazu gemacht, sich abfällig über den König geäußert, irgendetwas …
Es ist also wahr, dachte Elisabeth.
Marie-Henriette nahm sich ein zweites Stück Gebäck und niemand erwähnte den König von Reupen mit auch nur einem weiteren Wort.
Der Gedanke daran beunruhigte Elisabeth über alle Maßen. Er verdarb ihr jeden weiteren Tanz und den Geschmack des Weines, während Therese dem Wein so sehr zusprach, dass ihr Kichern immer öfter zu hören war.
Als sie zu später Stunde noch einmal beieinander standen, kündigte Anna an, es sei Zeit für sie und ihren Gemahl sich zurückzuziehen. Sie wünsche allen eine gute Nacht und hoffe, Marie-Henriette reise am folgenden Morgen nicht gar so früh ab, dass sie zumindest noch gemeinsam die Morgenmahlzeit einnehmen könnten.
„Mais non“, jammerte Therese. „Geht nicht jetzt, Anne! Uns blieb kaum Zeit, ausführlich voneinander zu erzählen! Uns blieb keine Zeit, zusammenzusitzen wie früher! Und nicht nur Henrie, auch ich werde morgen abreisen.“
„Vielleicht …“ Marie-Henriette klappte ihren Fächer auf und fächelte sich Luft zu. „Wie wäre es, wenn Eléonore uns ein Stündchen in ihrem Palais gewährte? In diesem stickigen, menschenüberfüllten Saal wird es uns nicht möglich sein, auch nur ein vertrauliches Wort zu tauschen. Eléonore …“
Elisabeth horchte auf. So sehr ihr danach war, Marie-Henriettes verwirrender Anwesenheit zu entfliehen, so sehr lockte aber auch die Möglichkeit, mehr über Marie-Henriettes vermeintliche Affäre zu erfahren. Besser offen zu reden, als sich die ganze Nacht mit Phantasien zu quälen, die am Ende jeglicher Grundlage entbehrten.
„Oh, mais oui, mais oui!“, jubelte Therese. „Oh, Eléonore, Ihr werdet uns das nicht abschlagen! Wäre es nicht merveilleux, nach so langer Zeit der Trennung zusammenzusitzen wie einst?“
„Dann“, lächelte Eleonore, „lasst uns einfach davonschleichen. Wer wird uns zu dieser Stunde noch vermissen?“
Einige der Gäste hatten sich tatsächlich bereits zurückgezogen. Ulrich harrte als Gastgeber tapfer aus und betrieb Konversation, obwohl ihm die Müdigkeit im Gesicht geschrieben stand. Die Musiker hatten ihre Instrumente für eine Weile beiseitegelegt und bedienten sich von den Resten des geplünderten Büfetts.
„Es tut mir außerordentlich leid“, bedauerte Anna, und sie schien es wirklich zu bedauern, „aber mein Gemahl ist gezwungen, sich beizeiten zurückzuziehen. Er muss früh aufstehen, da er noch verschiedenes mit Eurem Bruder zu besprechen hat, Eléonore.“
„Was hat das mit Euch zu tun?“, ereiferte sich Therese. „Soll er sich zurückziehen! Er wird den Weg in sein Bett auch alleine finden!“
Eine tiefe Röte überzog Annas Wangen. „Es tut mir außerordentlich leid, dass es mir nicht möglich ist, Euch zu begleiten. Mein Gemahl und ich pflegen uns immer gemeinsam zur Ruhe zu begeben.“
„Mais Anne“, fragte Marie-Henriette, „befürchtet er, es möchten Euch in unserem Kreise Dinge zu Ohren kommen, die derart unschicklich sind, dass sie Euch verderben?“
Anna setzte zu einer Erwiderung an, aber da steuerte Heinrich bereits zielsicher auf sie zu. „Mesdames.“ Er verneigte sich nach allen Seiten. „Ihr verzeiht, wenn ich Euch Anna nun entführe. Es ist spät. – Madame“, wandte er sich an Anna, „Ihr habt Euch verabschiedet?“ Und Anna nickte, nahm seinen Arm und entschwand an seiner Seite durch die hohe Tür.
„Madame“, wiederholte Therese geziert, „Ihr habt Euch verabschiedet?“ Von der verschüchterten, blassen Therese ihres letzten Zusammentreffens war wenig übrig geblieben. Mittlerweile benahm sie sich nicht nur ganz wie früher, auch ihr Gesicht war wieder rund und rosig geworden.
„Mein Gemahl und ich pflegen uns immer gemeinsam zur Ruhe zu begeben“, spottete Marie-Henriette. „Par Dieu – sie sieht uns einmal in drei Jahren und preferiert es, mit ihrem alten Gatten ins Bett zu steigen!“
„Henrie!“, rügte Eleonore.
„Und wie rot sie wurde, als ich ‚Bett‘ sagte“, prustete Therese los. „Wir sollten Heinrichs Fähigkeiten nicht unterschätzen!“
Heinrich, der überaus langweilige Hofbeamte des Fürsten von Messelstein, war mit Anna so unendlich lange verlobt gewesen, dass die Hochzeit im letzten Herbst schon beinahe eine Überraschung gewesen war. Bis zum heutigen Tag war Elisabeth nicht sicher, ob Annas Neigung Heinrich galt oder dem Ehestand an sich.
Kichernd eilten die vier jungen Damen, fest in ihre Mäntel und Schals gehüllt, durch den tief verschneiten Park. Therese rutschte auf dem glatt getretenen Schnee, Elisabeth stützte sie. Hohe Schneewälle säumten ihren Weg; über ihren Köpfen verschränkten sich die schwarzen, feuchten Äste der großen Bäume ineinander. Wolken verbargen die Sterne. Das Licht und die Stimmen schwanden, je weiter sie sich vom Hauptgebäude entfernten. Stille umfing sie, ihr Atem wehte in eisigen Wölkchen davon.
„Oh, mon Dieu“, flüsterte Therese, spähte unsicher ins Dunkel und hielt sich an Elisabeth fest. „Wir hätten doch einen Begleiter mitnehmen sollen. So ganz alleine durch den dunklen Garten, ganz auf uns gestellt …“
Elisabeth verdrehte die Augen. Ganz alleine auf einem freigeschaufelten Weg durch den kleinen Park eines wohlbewachten Schlosses – welch Abenteuer! Aber was hätte sie sagen sollen? Ich ging einst als einsame, kleine Küchenmagd lange Strecken auf abgelegenen Wegen durch einen unbewohnten, tiefen Wald? Hätte sie von dem alten Vagabunden erzählen sollen, der ihr um ein Haar Gewalt angetan hätte? Oder von dem Schrecklichen, damals im vorletzten Sommer … Nein, daran mochte sie nicht einmal mehr denken.
„Oh, mais c’est charmant!“, rief Therese entzückt, als am Ende des Weges Eleonores Gartenpalais auftauchte. Die Umrisse des kleinen Gebäudes verschwammen vor dem Dunkel der Nacht, nur das Licht der kleinen Laterne fiel weich auf den pulvrigen Schnee und wies den Weg zur Tür. Dünne Flocken tanzten in dem matten Schein.
Georg, einen Leuchter in der Hand, öffnete ihnen.
„Ist es warm in der Bibliothek?“, fragte Eleonore, während sie sich alle in die kleine Halle drängten.
„Es dürfte noch warm sein“, antwortete Georg, „aber ich werde das Feuer zur Sicherheit noch einmal schüren, Mademoiselle.“
„Marie soll ein wenig Tee bereiten.“
Eine nach der anderen schälte sich aus der warmen Überbekleidung und strebte in die Wärme der Bibliothek. Sie streckten ihre Hände über den glimmenden Holzscheiten im Kamin aus, lachten und sahen sich um. Jede denkbare Stelle des Raumes war mit Büchern bedeckt, sie zogen sich in hohen Regalen über alle Wände, stapelten sich auf der Fensterbank und Marie-Henriette fischte eines aus den Tiefen des Sessels, ehe sie sich setzte. Elisabeth räumte Bücher von einem Tischchen und zog es näher an den Kamin, schleppte einen vierten Stuhl herbei und bemerkte erst dann Marie-Henriettes verwunderten Blick.
Ich hätte das in ihrem Beisein nicht selbst tun dürfen, rügte sie sich. Ich hätte auf Georg warten und ihm befehlen sollen, alles zu richten.
Während sie so saßen und erste, belanglose Worte tauschten, müde von der langen Anreise, vom Tanz und der späten Stunde, kam Georg, schürte das Feuer und legte Holz nach. Die Tür öffnete sich erneut, Marie trat ein, stellte heißen Tee und eine Schale mit Rosinen, Nüssen und Mandeln auf den kleinen Tisch. Sie tat es geschickt, schnell und unauffällig.
Marie-Henriette sah sich ausgiebig in dem kleinen Raum um mit einem Blick, der besagte: So lebt ihr also! Wie zu erwarten äußerst ländlich und bescheiden. Elisabeth mutete es beinahe unwirklich an, Marie-Henriette hier zu sehen, hier in ihrem kleinen Refugium, in jenem Raum, in den nichts von der äußeren Welt drang, in jenem Raum, in den sie sich Abend für Abend zurückzog, um sich in der Stille in ein Buch zu versenken. Marie-Henriette, die ein Hauch von großer Welt und erlesener Gesellschaft umgab, von Skandalen, Ränken und politischen Verflechtungen. Ebenso unwirklich auch, Therese hier zu sehen, ein wenig reifer geworden, ein wenig fremder, und doch bei weitem vertrauter, als es ihr die meisten anderen Menschen waren. „Reizend“, stellte Therese gerade fest. „Ich finde es hier überaus reizend. Es passt so gut zu Euch!“ Ihre Hand streckte sich nach ihrer Tasse aus. „Und wie extraordinär dieser Tee duftet. Ihr müsst mir verraten, woher Ihr ihn bezieht.“
„Seit wann nun lebt Ihr hier, Eléonore?“, fragte Marie-Henriette. „Ihr dürftet sehr bald nach unserer letzten Réunion hier eingezogen sein, wenn ich dies richtig verstanden habe. Aber wie kam es dazu? Und was sagten Eure Eltern? Euer Schreiben war äußerst knapp gefasst und im Trubel unserer Ankunft und der Vorbereitungen für den heutigen Abend blieb wenig Zeit für ausführliche Explikationen.“
„Vous avez raison“, nickte Eleonore. „Ich verließ Messelstein eben zu jener Zeit, noch vor der Hochzeit des Fürsten. Zum einen war abzusehen, dass Elise nicht länger auf Messelstein weilen würde und zum anderen, ich muss es gestehen, ist mein Einvernehmen mit der Baronin Kammerberg – pardon, mit der neuen Fürstin von Messelstein – nicht gar so groß. So beschloss ich, zu meiner Familie zurückzukehren.“
„Und Eure Eltern drängten nicht darauf, Euch zu vermählen? Sie hatten noch keine Vorsorge getroffen …“
„Oh, certainement, es gab einen Herren hier und einen Herren da, den sie ins Auge fassten, sie waren jedoch dermaßen mit dem Geschick meines zweiten Bruders beschäftigt, danach war für die militärische Laufbahn Christians zu sorgen, zusätzlich verließ uns zu jener Zeit Ludwigs Hauslehrer – kurzum: Sie achteten kaum auf mich. Als ich ihnen den Vorschlag unterbreitete, einen Teil meiner Mitgift für meinen Lebensunterhalt anzulegen und mir auf Lebenszeit das kleine Witwenpalais am Rande des Parks zu überlassen, waren sie zwar erstaunt, machten mir auch lange und ausführliche Vorhaltungen, aber meine Brüder waren auf meiner Seite, und so stimmten sie letztendlich zu.“
„Ihr habt …“ Nun zeigte selbst Marie-Henriette Betroffenheit. „Ihr habt auf Eure Mitgift verzichtet?“
„Nicht verzichtet, umgewandelt“, erklärte Eleonore geduldig.
Erschrocken blickte Therese sie an. „Aber beraubtet Ihr Euch damit nicht jeglicher Möglichkeit, jemals eine passable Partie zu machen? Wenn es Euch je gereute …“
Eleonore verzichtete auf eine Antwort und beließ es bei einem nachsichtigen Lächeln.
„Und Ihr Elise“, wandte Marie-Henriette sich nun Elisabeth zu, „überraschtet mich außerordentlich. Als unter Eléonores Einladung stand: ‚Elise und ich werden uns sehr freuen‘, vermochte ich es kaum zu fassen! Ich vermutete Euch in den abenteuerlichsten Umständen, dabei lebt Ihr ruhig und abgeschieden in Eléonores kleinem Palais!“
„Ich hoffe, ich habe Euch nicht enttäuscht, Henrie.“
„Aber sind all diese Vermutungen nie bis an Euer Ohr gedrungen, denen zufolge Ihr die Konfession wechseltet, um in ein Kloster einzutreten? Oder dass Euer Vater Euch in sein tiefstes Verlies sperrte, außer Landes brachte, in den Hungerturm, bis Ihr endlich geruhtet, Euch mit Eberhard zu verloben? Pardon, Thérèse, aber das Gerücht gab es vraiment, bis Ihr dann den sehr eindrucksvollen Beweis erbrachtet, dass zumindest diese Version nicht der Wahrheit entsprach. Mir persönlich sagte übrigens die Geschichte mit dem Bettler am meisten zu, an dessen Seite Ihr gezwungen wart, das Schloss zu verlassen.“
Eleonore und Elisabeth sahen sich über den Tisch hinweg an. Es war März gewesen, erinnerte sich Elisabeth, und beißend kalt vor den Toren des Schlosses. Der Wind zerzauste meine Frisur und meine teuren Schuhe versanken in der weichen Erde …
Marie brachte neuen Tee und füllte die Schale mit Nüssen auf. Marie-Henriette beobachtete die gewandten Bewegungen ihrer Hände und musterte verwundert ihr Gesicht. „Mais, Elise“, bemerkte sie, „ich fragte mich vorhin bereits … Aber ist das nicht Eure Marie? Eure charmante, kleine Zofe? Durftet Ihr sie behalten?“
Die Art und Weise wie Marie-Henriette über Maries Kopf hinweg von ihr sprach, als wäre sie nicht anwesend, berührte Elisabeth peinlich. Früher, überlegte sie, hätte ich ebenso gesprochen. Unbemerkt von den anderen wechselten Elisabeth und Marie einen kurzen Blick. Maries Lippen kämpften mit einem mühsam unterdrückten Lächeln.
„Ja“, sagte Elisabeth, „ich durfte sie ‚behalten‘.“
Marie-Henriette runzelte ihre schöne Stirn.
„Es war Elises gute Tat“, erläuterte Eleonore. „Sie flehte ihren Vater an, ihr Marie zu überlassen und dazu Georg, einen Bediensteten des Fürsten von derart niederem Rang, dass es dem Fürsten kein größeres Problem bereitete, ihn gehen zu lassen. Nun müsst Ihr wissen: Marie und Georg hatten bereits vor Jahren eine überaus große Neigung zueinander gefasst, und Elise ermöglichte es ihnen auf diese Weise, miteinander die Ehe einzugehen und als respektables Dienerehepaar in meinem Palais zu leben.“
Therese fand, das sei überaus reizend von Elisabeth gewesen. Marie-Henriette verzog belustigt den Mund.
Was wisst Ihr schon?, dachte Elisabeth und starrte in ihre Tasse. Sie erinnerte sich an Marie, die leicht gezittert hatte, damals an Elisabeths Hochzeitsmorgen – durfte man es trotz allem als ihren Hochzeitsmorgen bezeichnen? –, als Elisabeth sie lachend gefragt hatte, ob sie einen Liebsten habe. Zumindest Marie ist nun glücklich. Irgendjemand auf dieser Welt muss doch glücklich sein.
Sie hob den Kopf und sah Marie-Henriette über den Tisch hinweg an. Unter dem sorgfältig geschminkten Gesicht und dem spöttisch-kühlen Blick erkannte Elisabeth noch immer die Züge des wilden, lebhaften Mädchens mit den großartigen Ideen.
„Seid Ihr glücklich, Henrie?“
Über Marie-Henriettes Gesicht huschte ein leichtes Zucken, doch sie fasste sich sofort wieder. „Was ist schon Glück?“, bemerkte sie leichthin und nahm sich eine Handvoll Rosinen.
„Ihr solltet antworten“, insistierte Therese. „Trafen wir hier nicht zusammen, um einander von dem Glück und Unglück zu rakontieren, welches uns in den Jahren befiel, in denen wir uns nicht sahen? Mit wem sonst könnten wir so offen sprechen?“ Sie blickte in die Runde mit einer so ernsten Miene, wie sie sie von Therese nicht kannten. „Mit niemandem sonst.“
Mit niemandem sonst, klang es in Elisabeth nach. So war es immer gewesen, aber nun gibt es für mich auch das nicht mehr. Selbst ihnen darf ich nicht alles erzählen. Es gibt niemanden mehr, mit dem ich offen reden kann.
„Könnten wir nicht“, fragte Therese sehnsüchtig, „reihum erzählen, so wie einst?“
Lasst uns reihum erzählen! Wie oft waren diese Worte die Einleitung langer, lebhafter Gespräche und Debatten gewesen, damals, als sie noch ganz jung und unvermählt am Hofe von Messelstein lebten, jung und voller hehrer Gedanken, verwegener Träume und bedeutender Pläne. Es ist ein Tag der Erinnerungen, überlegte Elisabeth, und ihr eigenes Gemach stand vor ihren Augen, so wie es am Nachmittag des schicksalhaften Balles gewesen war, als sie im Kreise ihrer wieder vereinten Freundinnen gesessen hatte, im schwindenden Licht des Winternachmittags. Am deutlichsten erinnerte sie sich an das nervöse, bleiche Gesicht der frisch vermählten Therese, an die ganze Qual und an den Abscheu, mit denen sie von ihren ehelichen Pflichten erzählte. Wie wenig hatte Elisabeth zu jener Zeit gewusst von derartigen Angelegenheiten, aber allein die Vorstellung eines Mannes, der sich Nacht für Nacht grob und ohne Zärtlichkeit das nahm, was er als sein Recht seiner jungen, völlig unerfahrenen Frau gegenüber betrachtete, hatte Elisabeth erschüttert.
„Und Ihr, Thérèse?“, gab Marie-Henriette die Frage zurück. „Seid Ihr denn glücklich? Ihr solltet es sein, n’est-ce pas? Das Glück hat Euch den Tod Eures damaligen Gatten beschert und Euch dafür einen neuen zugeführt, der Euch offensichtlich besser bekommt.“
„Henrie!“, rief Therese entsetzt. „Ihr solltet das so nicht sagen!“
„Wie sonst? Nach allem, was Ihr einst über ihn und sein plumpes Benehmen erzähltet, dürftet Ihr nicht allzu viel Trauer empfunden haben. Es sei denn, pardon, das berücksichtigte ich nicht, er hätte sich geändert und sein Verhalten im … in gewissen Situationen … wäre angenehmer geworden.“
„Nein“, sagte Therese, und das „Nein“ klang ungewohnt hart aus ihrem Mund. Sie schlang die Arme um ihren Körper als wäre ihr kalt. „Nein“, wiederholte sie. „Nicht angenehmer. Es wurde ärger.“
Niemand sagte etwas. Es wurde auffallend still, nachdem die ganze Zeit eine lebhafte Stimme nach der anderen den kleinen Raum erfüllt hatte. Und niemand wagte, das Schweigen als erste zu durchbrechen. Die Welt dringt ein, dachte Elisabeth, die Welt mit all ihren Hässlichkeiten und Problemen. Die Welt der Ehen und Verpflichtungen, der lüsternen Männer, der höfischen Gepflogenheiten; all das, wovor ich mich hier verbarg.
Doch gleichzeitig schuf das weiche Licht der wenigen Kerzen, das Knistern des Feuers, der enge Kreis der jungen Frauen eine Atmosphäre, die geradezu dafür gemacht schien, sich alles von der Seele zu reden, die schönen und die hässlichen Geschehnisse miteinander zu teilen, sich zu öffnen und vertraute Nähe zu spüren. Marie-Henriette neigte sich zu Therese und legte ihre schlanke, weiße Hand auf deren Arm. „Schlug er Euch?“, fragte sie ungewohnt sanft.