IRSEER DIALOGE
Kultur und Wissenschaft interdisziplinär
Herausgegeben von
Markwart Herzog und Sylvia Heudecker,
Schwabenakademie Irsee
Band 19
Veröffentlicht mit Unterstützung der DFB-Kulturstiftung.
Umschlagabbildung
Fußballspiel im Rahmen der Truppenbetreuung der deutschen Wehrmacht, Belgien 1942; Foto: Georg Lichtenstern, Pöcking, Mitbegründer der Soldatenfußballmannschaft Burgstern Noris
1. Auflage 2015
Alle Rechte vorbehalten
© 2015 W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Reproduktionsvorlage: Textwerkstatt Werner Veith & Ines Mergenhagen München
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-025580-7
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epub: ISBN 978-3-17-025582-1
mobi: ISBN 978-3-17-025583-8
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„Die ganze Popularität des Fußballs ist überhaupt nur dadurch erklärbar, dass er es immer aufs Neue schafft, sich seines ganzen Bedeutungsballasts zu entledigen und wieder zum zweckfreien Spiel zu werden. Wenn der Mund des Zuschauers offen bleibt, […] dann muss doch nicht immer gleich damit erklärt werden, was die Welt im Innersten zusammenhält. […] Der Fußball verändert die Welt nicht, er löst keine Probleme. Das ganze Gerede vom ‚Spiegelbild der Gesellschaft‘ ist einfach überzogen. Was sich bei einer WM abspielt, sagt nicht viel über das Wesen einer Gesellschaft aus, sondern gibt lediglich Auskunft über weithin unbewusste kollektive Hoffnungen, Sehnsüchte und Bedürfnisse. Und vor allen Dingen darüber, wie sehr eine Gesellschaft dieses Spiel mag, aus welchen historischen, sozialen oder kulturellen Gründen auch immer.“1
Über Sport in den Jahren der beiden Weltkriege ist bislang relativ wenig Forschungsliteratur erschienen. Dagegen liegt für die Zwischenkriegszeit ein umfangreicher Sammelband mit Beiträgen ausgewiesener Fachleute über das Spiel mit dem runden Leder in einem Dutzend Ländern Europas vor.2 Aber auf breiter Quellenbasis erarbeitete Gesamtdarstellungen, wie wir sie Peter Tauber über Sport3 und Jürgen Court über Sportwissenschaft4 im Ersten Weltkrieg oder Erik Eggers über Fußball in der Weimarer Republik verdanken,5 fehlt über den Zweiten Weltkrieg nach wie vor.
Sport in den Kriegsjahren des Nationalsozialismus ist ein Stiefkind der deutschen Sporthistoriografie. Monografien wie „Skier für die Front“ von Gerd Falkner sind die Ausnahme.6 Das gilt auch für die Geschichte des deutschen und europäischen Fußballs. Lediglich für einige wenige Länder wie Großbritannien7 oder für die Niederlande,8 Dänemark9 und Frankreich10 in den Jahren der nationalsozialistischen Okkupation liegen Grundlagenwerke vor. Darüber hinaus ist Österreichs Fußball nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich als Gau „Ostmark“ gut erforscht.11
Dass Sport im Zweiten Weltkrieg in der historischen Forschungsliteratur eher selten dargestellt wird, belegt nicht zuletzt eine 2015 erschienene Bibliografie über Sport im Nationalsozialismus, die – abgesehen von Österreich12 – nur einige wenige Titel zu diesem Themenkomplex auflistet.13 Gerade im Hinblick auf das Fußballspiel ist das erstaunlich, da zu Beginn des dritten Jahrtausends ein wahrer Boom an Forschungen und Publikationen über die Kultur- und Sozialgeschichte dieses Sports zu verzeichnen ist. Dass in diesem Bereich immer noch viele Desiderate vorliegen, ist häufig in einem Mangel an Quellen und deren kriegsbedingten Verlust begründet. Dennoch können sich Recherchen zu diesem Themenkomplex als ungemein lohnend erweisen. Das belegen beispielsweise die wenigen bisher erschienenen Publikationen über den Soldatenfußball14 im Zweiten Weltkrieg, die Situation in militärisch besetzten Gebieten15 und über die Medien.16
Auch die Verbands- und Vereinshistoriografie hat seit der Jahrtausendwende einige Forschritte gemacht. So enthalten Nils Havemanns 2005 publizierte Studie über den DFB im „Dritten Reich“17 sowie die ebenfalls in diesem Jahr veröffentlichte Monografie über Schalke 0418 und alle seit dieser Zeit erschienenen Werke über Fußballclubs in der NS-Zeit eigene Kapitel über das Spiel mit dem runden Leder an der „Heimatfront“ und die wachsenden Schwierigkeiten, den Sport im Zweiten Weltkrieg unter immer schwieriger sich gestaltenden Rahmenbedingungen zu organisieren und finanzieren.19 Dabei erweisen sich insbesondere die Feldpostbriefe der zum Militär eingezogenen Sportler und die Heimat-, Soldaten- und Kameradenbriefe der Vereine als ungemein informative Quellen.20
An diese Forschungen knüpfen die in diesem Band versammelten Aufsätze einerseits an, anderseits führen sie sie fort oder wenden sich bisher unbearbeiteten Themenfeldern zu. Den Beiträgen liegen großenteils Vorträge zu Grunde, die auf der von der Schwabenakademie Irsee veranstalteten Konferenz „Europäischer Fußball im Zweiten Weltkrieg“ im Februar 2012 vorgetragen worden waren. Die Texte wurden für den Druck überarbeitet, erweitert, mit Quellenbelegen versehen und um einige weitere Beiträge ergänzt. Die Tagung selbst, die von der DFB-Kulturstiftung großzügig gefördert wurde, fand starke Resonanz in Forschung und Medien.21 Besonders beachtet wurde der Vortrag von Maryna und Olexander Krugliak. Denn zum ersten Mal wurde das sogenannte Todesspiel von Kiew auf der Basis neuester Forschungen ukrainischer Historiker in der westlichen Hemisphäre dargestellt und als Mythos dekonstruiert,22 ohne jedoch den Mythosaspekt explizit zu thematisieren.
Da der Mythosbegriff23 im Fußballjournalismus, in den Fanszenen sowie der Sportpublizistik und -wissenschaft immer wieder bemüht wird, um einzelne Spiele oder politische Kontexte des Sports als außergewöhnlich (faszinierend, dramatisch, vorbildhaft, verwerflich etc.) zu kennzeichnen, soll er im Folgenden anhand des Todesspiels von Kiew und anderer Fußballmythen analysiert werden. Dies geschieht nicht zuletzt mit dem Ziel, der Forderung nach einer terminologischen Sensibilisierung im Umgang mit dem Mythos24 gerecht zu werden. Sind doch „mythisch“ und „Mythos“ in Alltag, Medien und Wissenschaft zu Modewörtern geworden, die geradezu inflationär immer dann eingesetzt werden, wenn es gilt, für eine bestimmte Thematik die „Aufmerksamkeit der Rezipienten zu erregen“.25 In diesem Kontext kommen Sportmythen zur Sprache, die nicht nur den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus betreffen, sondern auch die publizistische, sportwissenschaftliche und historische Aufarbeitung von Krieg und Diktatur. Etliche dieser Mythen bieten sehr aussagekräftige Beispiele dafür, wie bestimmte Erzähl- und Erinnerungstraditionen zu einem selektiven, mithin manipulativen Geschichtsbild führen, mit dem politische und gesellschaftliche Interessengruppen Geschichtspolitik machen, um Deutungshoheit in der deutschen Erinnerungskultur zu erlangen und Einfluss auf die Gegenwart auszuüben.
Die Geschichte vom Todesspiel in Kiew 1942 bietet ein sehr instruktives Lehrstück über die Genese, Tradierung, Ausschmückung und politische Instrumentalisierung eines ungemein wirkmächtigen Sportmythos. Ist die Geschichte des Fußballs doch gesäumt von einer Fülle von „epischen Erzählungen“ mit mythischem Charakter, die „immer wieder von neuem überarbeitet“, in einem „Kreislauf des Erzählens“ tradiert und erinnert werden, um „sie gegenüber der Vergänglichkeit zu schützen.“ Anders als etwa die „Sportmärchen“ von Ödön von Horváth26 besitzen Sportmythen „einen Wirklichkeitskern“, auch wenn sie „keine objektive Erinnerung“27 repräsentieren. So kann man am Beispiel des Todesspiels von Kiew28 die historischen Fakten präzise von fiktiven Ergänzungen unterscheiden. Tatsache ist, dass das Spiel zwischen der Mannschaft einer Kiewer Brotfabrik mit dem Namen Start und einer deutschen Flakelf stattgefunden hat. Es war ein Revanchespiel für einen Sieg, den die Ukrainer über die Deutschen errungen hatten. „Start“ konnte auch das Rückspiel für sich entscheiden. Soweit die Fakten. Gesteuert von handfesten propagandistischen Interessen sind jedoch alle Varianten der Erzählung, denen zufolge die Deutschen sich für die beiden Niederlagen mit der Erschießung ukrainischer Spieler gerächt hätten, frei erfunden. Durch eben dieses blutige „Nachspiel“, um das die sowjetische Propaganda das Match verlängert hatte, ging die Begegnung als „Todesspiel von Kiew“ in die Geschichte des Fußballs und seiner politischen Mythen ein.
Das Match wurde, vor allem nach dem Ende des Stalin geltenden Personenkults,29 immer wieder aufs Neue in seiner heroischen Bedeutung für die Sowjetunion in emotionaler Sprache beschworen und vergegenwärtigt. – In dieser Hinsicht erfüllte die Erzählung ähnliche Funktionen wie die Leningrader Blockade, die sich als einer der sowjetischen Gründungsmythen ins kollektive Gedächtnis der UdSSR eingebrannt hat, und die in dieser Zeit dort ausgetragenen Fußballbegegnungen.30 – Jahrzehnte lang tradierten Presseberichte, Romane, Jugendbücher, Kinofilme, Fernsehsendungen, Dokumentationen und sportwissenschaftliche Studien diese Erzählung, nicht nur in Ost-, sondern auch in Westeuropa. Sie wurde bis weit über die Jahrtausendwende hinaus mit immer neuen Details ausgeschmückt, obwohl bereits im Jahr 2003 James Riordan überzeugende Beweise vorgelegt hatte, dass es sich bei allen über das unmittelbare Spielgeschehen hinausgehenden Komponenten um weitgehend freie Erfindungen handelt.31 Dennoch hielten Journalisten, Sportwissenschaftler und Publizisten an der Historizität des „Todes“-Spiels unbeirrt fest, tradierten sie,32 ohne Riordans Beitrag zur Kenntnis zu nehmen, der seine Recherchen in dem lapidaren Satz „There was no ‚Match of Death‘“33 auf den Punkt gebracht hatte.
Das Todesspiel war durch kommerzielle Unterhaltungsmedien, die verschiedensten Formate populärer Geschichtsvermittlung und befeuert von starken, ideologischen und geschichtspolitischen Motiven längst zu einem transnationalen, „antifaschistischen“ Erinnerungsort geworden.34 Vor allem Publizisten, die der SED-Apologie und DDR-Nostalgie zuarbeiten, erweisen sich dabei als resistent gegen Erkenntnisse der Sportgeschichte.35 Der Mythos vom Todesspiel entfaltet in solchen Kreisen starke emotionale und Milieu stabilisierende Wirkungen, die darüber hinaus mit missionarischem Eifer antibürgerliche Feindbilder bedienen. Mit klassenkämpferischem Furor werden in diesem Kontext krudeste, konspirative Zusammenhäge konstruiert – beispielsweise zwischen „SS, Fußball, DFB“.36
Wie auch immer man diesen Gebrauch eines Fußballspiels für unverblümte, aggressive, geschichts- und parteipolitische Zwecke interpretieren mag, so verdeutlicht dieser Mythos eindringlich die Bedeutung des Spiels mit dem runden Leder für die Konstruktion, Aufrechterhaltung und Legitimation sozialer Identitäten. Genau in diesem Kontext macht die Verwendung des Begriffs Mythos, der aus der Geschichte der Religionen stammt37 und in der Literatursowie vergleichenden Religionswissenschaft systematisch reflektiert wird,38 sehr viel Sinn. Dass der Mythosbegriff in Alltag, Medien und Wissenschaft inflationär verwendet wird, trägt im Fall des Todesspiels von Kiew wesentlich dazu bei, dass er in bestimmten politischen Milieus die gewünschten sozialen Bindekräfte zu entfalten vermag.
Die Erzählung vom Todesspiel trägt jedenfalls verschiedene Merkmale eines Mythos, die deutlich unterschieden und klar herausgearbeitet werden können. So ist ein Mythos zunächst eine fundierende Erzählung, „die Licht auf die Gegenwart wirft“,39 also die Gegenwart im Licht des Mythos interpretiert. Dabei beschwört die mythische Erzählung häufig ein vorbildhaftes, zur Identifikation einladendes Verhalten – im Fall des Todesspiels den Widerstand gegen die nationalsozialistische Besetzung –, das nicht nur für die jeweilige Gegenwart, sondern auch für nachfolgende Generationen als politisch und ethisch vorbildhaft ausgewiesen werden soll.
Über die temporale Dimension hinaus, welche die Gegenwart in einer mythischen Vergangenheit gründen lässt, teilt die Geschichte vom Todesspiel einige weitere Eigenschaften,40 die für Mythen charakteristisch sind und sich, frei im Anschluss an den Philologen und Philosophen Peter Tepe, auf verschiedene „Hauptlinien“41 reduzieren lassen. Dazu gehören insbesondere die kontrafaktischen Anteile des Mythos, die mit Begriffen wie Fiktion, Irrtum, Vorurteil bis hin zu Aberglaube benannt werden können. In diesem Kontext ist „Mythos“ der Gegenpol zu „Wahrheit“.
Die Umdeutung und Überarbeitung des Wirklichkeitskerns eines Mythos zielen darüber hinaus auf die Verklärung und Überhöhung der zentralen Akteure zu ruhmreichen Helden, mithin auf die Glorifizierung und Heroisierung ihrer Taten, die Ruhm, Berühmtheit und Verehrung begründen. Diesen Helden, die kollektiv bedeutsame Identifikationsfunktionen erfüllen, können Schurken gegenüberstehen, die zusammen mit den Heroen eine agonale Welt konstituieren. Die Konstruktion von Feindbildern und – damit eng zusammenhängend – die Dämonisierung von Gegenspielern der Helden bilden einen essenziellen Bestandteil zahlreicher Mythen.42
Indem sie ethische Normen vermitteln, gut und böse zu unterscheiden lehren, die Welt zu deuten und verständlich zu machen suchen, Helden und Schurken gegeneinander ausspielen, sie glorifizieren bzw. damönisieren, stiften Mythen nicht zuletzt unhinterfragbare Glaubensvorstellungen, die der Kontingenzbewältigung und Sinnvermittlung dienen und nicht zuletzt bestehende gesellschaftliche und politische Ordnungen legitimieren.
Diese Elemente der Bedeutung des Mythos prägen die Erzählung vom Todesspiel so offensichtlich, dass dies nicht im Einzelnen ausgeführt werden muss. Bei dieser Erzählung, die geradezu epische Ausmaße annehmen konnte, handelt es sich aber um einen säkularen Mythos, denn er rekurriert nicht auf numinose Mächte, die mit übernatürlichen Kräften aus einer überzeitlichen Dimension auf die vergängliche Welt der Menschen einwirken. Gleichwohl bietet das Todesspiel eines jener in Mythen anzutreffenden „Verehrungsphänomene“, die „mit berühmten Personen in Verbindung stehen“ und „auf ein ruhmreiches Ereignis der Vergangenheit (z.B. auf einen Sieg auf dem Schlachtfeld oder im Fußballstadion)“ verweisen, „an das man sich in der Gegenwart erinnern sollte“43 – wobei im Todesspielmythos der grüne Rasen sowohl Fußballspielfeld als auch Schlachtfeld ist, weil die Ukrainer hier sogleich nach dem Spiel erschossen worden sein sollen.
Wie das Todesspiel von Kiew deutlich macht, erschöpfen sich die Mythen des Sports keineswegs im „Erzählen von vergangenen Spielen“,44 sondern beziehen auch die sozialen, politischen und kulturellen Kontexte mit ein, hier die militärische Besetzung der Ukraine, die Shoa und die im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht verübten Verbrechen.
Am nachhaltigsten nisten sich vor allem jene Mythen im kollektiven Bewusstsein von Gemeinschaften und Gesellschaften ein, die von ungerechter Gewalt erzählen, die mit Blut getränkt, von Tod und Martyrium gezeichnet sind. Die Erzählungen vom Kiewer Todesspiel und den Leningrader Blockadespielen sind in dieser Hinsicht nur zwei beeindruckende Beispiele unter vielen anderen Exempeln. Dem in Stanford lehrenden Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker René Girard verdanken wir viele kluge Einsichten in diese Zusammenhänge zwischen – tatsächlichen oder fiktiven – kollektiven Bluttaten als Basis für die Genese von Mythen und Riten und deren Bedeutung hinsichtlich der Bildung und Stablilisierung von Gemeinschaften. Seine Erkenntnisse sind nicht nur für vormoderne Religionen und Kulturen,45 sondern auch für die Gegenwart relevant46 und werden unter verschiedenen Gesichtspunkten im Kontext der Theorie von Sport und Spiel diskutiert.47
Der „antifaschistische“ Mythos vom Kiewer Todesspiel lässt sich in dieser Hinsicht sehr gut vergleichen mit einem Mythos der irischen Sportgeschichte aus der Zeit des gegen die Briten geführten Unabhängigkeitskriegs (1919–1922).48 Am 21. November 1920, dem „Bloody Sunday“, stürmten britische Soldaten das Croke Park Stadium in Dublin, als dort das Gaelic Football-Spiel Dublin gegen Tipperary stattfand, töteten 13 Menschen und verletzten 50 weitere. Das „Croke Park Massacre“ war eine Racheaktion für die Ermordung mehrerer hochrangiger britischer Agenten durch eine irische Spezialeinheit. Diese Bluttat wurde zum Kristallisationspunkt eines Gründungsmythos, in dem die Gaelic Athletic Association (GAA) die Rolle einer Untergrundnation übernahm und einen sehr nachhaltigen politischen und religiösen Personenkult pflegte. Die Getöteten gingen jedenfalls als Märtyrer in die Geschichte Irlands ein, der blutgetränkte Croke Park wurde zum Zentrum eines nationalen Gründungsgeschehens. Zahlreiche irische Sportclubs, Stadien und Stadiontribünen wurden nach den Märtyrern des „Bloody Sunday“ benannt. In diesem Fall gingen die Erinnerungskulturen des irischen Nationalismus, des gälischen Sports und der katholischen Kirche Irlands eine in der Sportgeschichte einzigartige Symbiose ein.
Regisseur Neil Jordan schuf dem irischen Unabhängigkeitskrieg und der Bluttat im Croke Park Stadium mit seiner Filmbiografie über Michael Collins, den Führer der irischen Untergrundarmee, aus dem Jahr 1996 ein beeindruckendes cineastisches Denkmal mit Liam Neeson und Julia Roberts in den Hauptrollen. Dabei hielt sich Jordan jedoch nicht in allen Details an die historischen Fakten, sondern griff zu dramaturgischen Überhöhungen des Blutbads.49 Aber anders als im Todesspielmythos sind die im Stadion ermordeten Toten, unter ihnen ein Fußballspieler, nicht frei erfunden.
Doch nicht nur politische Gewalttaten, sondern auch groß dimensionierte Unglücksfälle, bei denen zahlreiche Tote zu beklagen sind, können im kollektiven Gedächtnis der Fußballanhänger mythische Dimensionen annehmen. Dabei ist insbesondere an Stadionkatastrophen zu denken: Ibrox Park (Glasgow), Hillsborough Stadium (Sheffield) oder Heysel Stadium (Brüssel).50 Diese Ereignisse haben in der Erinnerungskultur der jeweiligen Vereine einen geradezu sakralen Status erlangt und können, wie beim Liverpool FC,51 symbolisch in die Logos, Wappen, Trikots und Merchandisingprodukte eines Fußballclubs sowie in dessen Hymnen aufgenommen werden. Auch die Erinnerung an Flugzeugabstürze, von denen komplette Fußballteams (Manchester United, FC Turin)52 betroffen waren, kann sich im kollektiven Gedächtnis der betroffenen Fußballclubs zu einer fundierenden Erzählung verdichten. Gerade bei Manchester United zielt der Mythos auf einen sportlichen Neuanfang nach der Katastrophe und den Zusammenhalt des Vereins als eines sozialen Verbandes.
In der wissenschaftlichen Literatur zur Geschichte des Fußballsports überwiegt, ebenso wie in der Umgangssprache, die Verwendung des Begriffs Mythos als Gegensatz zu Wahrheit in dem Sinn, dass Mythen auf Irrtum beruhen und deshalb die Wirklichkeit verfehlen. Besonders deutlich zeigt sich diese „Hauptlinie“ des Mythos im „Lexikon der Fußballmythen“ von Christian Eichler. Das Schlusskapitel des Nachschlagewerks ist mit „Mythos“53 überschrieben und stellt in These und Antithese propositionale Sätze gegenüber, die jeweils einen „Mythos“ formulieren und ihn mit der „Wahrheit“ konfrontieren. Das Mythos-Kapitel setzt sich zum Ziel, eine im Lauf des vergangenen Jahrhunderts akkumulierte „Sammlung von populären Fußballirrtümern“54 zu widerlegen oder wenigstens zu relativieren. Um nur zwei Beispiele zu nennen:
„Mythos: Fußball ist traditionell ein Spiel der kleinen Leute. Wahrheit: Fußball wurde an den Schulen der englischen Oberklasse erfunden und fand schon früh reiche Förderer.“ – „Mythos: Die deutsche Mannschaft wurde 1954 Weltmeister mit Kampf- und Kraftfußball. Wahrheit: Herbergers Elf war spielerisch eine der besten, die Deutschland je hatte.“55
Das Todesspiel von Kiew, das Eichler in seiner Sammlung der populären Fußballmythen nicht erwähnt, gehört zu einer ganzen Reihe von Mythen des Fußballs, die in den vergangenen Jahren als mehr oder weniger fiktionale Erzählungen entlarvt werden konnten. Vor allem jüngere Forscher, die sich in die Archive begaben und in den Quellen recherchierten, haben in dieser Hinsicht ganze Arbeit geleistet und das Faszinationspotential etlicher Mythen, die weite Verbreitung gefunden hatten, gründlich entzaubert.
Christoph Biermann hat die ausgeprägte Neigung von Journalisten, Publizisten und Fußballfanszenen, die Welt des Fußballs in realitätsfernen Erzählungen auszubuchstabieren, ebenso liebevoll wie kritisch analysiert. Ebenso wie Eichler legt Biermann den Akzent stark auf die kontrafaktischen Anteile des Mythosbegriffs und betont überdies seine gemeinschaftsbildenden Funktionen. Bereits von Nils Havemann und Erik Eggers eindrucksvoll widerlegt, weist Biermann auf die Großerzählung des bürgerlichen Fußballs als Geschichte selbstloser Amateure hin,56 auf Gründungsmythen in der Geschichte bürgerlicher Fußballvereine,57 auf die in der Geschichte des FC Schalke 04 beschworene „Staublungenromantik“, die sich in der „Sehnsucht nach der großen Kommunion von Fußball und Arbeit“ mit der „Malocherlüge“ den Mythos vom Arbeiterfußball schuf.58
Aber Biermann widerlegt diese Geschichtskonstruktionen nicht nur als Wunschbilder und Fiktionen, sondern stellt sie in den Kontext struktueller Ähnlichkeiten und sozialer Dynamiken der Popkultur und weist ihnen damit eine substanzielle kulturelle Funktion zu. Auf der einen Seite gehe es den genannten Geschichtsbildern „nicht um historische Korrektheit […], sondern darum, aus Halbverstandenem, Viertelverdautem oder völlig Missverstandenem etwas Interessantes zu machen.“ In diesem Sinn liefere etwa die „Geschichte von Schalke 04 […] Anekdoten und Geschichtspartikel, aus denen sich die Fans gleichsam frei bedienen“59 können – fernab der Normen und Maßstäbe einer wissenschaftlich belastbaren Historiografie. Auf der anderen Seite steht diesen signifikanten Mängeln gleichwohl ein ebenso offensichtlicher Mehrwert gegenüber. Die „Malocherlüge“ und andere Fantasiekonstruktionen der Fußballmythologie stiften Sinn, sie bieten mit den Mitteln epischer Erzählung eine große Rahmenhandlung, in die der jeweilige Fußballclub eingebettet ist, eine Großerzählung, in der die einzelnen Fans sich beheimatet und aufgehoben fühlen dürfen.
Auf dem Umweg über die Mythisierung – sowie die Memorialisierung und Ritualisierung60 – eines profanen Freizeitvergnügens ist Fußball im 21. Jahrhundert für viele zu einer Religion geworden,61 die Sinn und Identität stiftet, indem sie große Geschichtsbilder konstruiert, die angeblich besseren Zeiten eines „ehrlichen Fußballs“ beschwört, die in der entzauberten Moderne infolge des Sündenfalls der Kommerzialisierung und Medialisierung verloren gegangen seien.62 Gleichwohl hatte schon die Trainerlegende Sepp Herberger sich über diese Perspektive, die Frühzeit des Fußballs zu romantisieren, in der die Menschen und das Spiel mit dem runden Leder angeblich besser gewesen seien, amüsiert gezeigt.63
Oft genug abgeschrieben, werden die Mythen des Fußballs schließlich für wahr gehalten, selbst wenn sie noch so schwach begründet sind. Gleichwohl schaffen sie so etwas wie eine geistige Heimat, ein Gefühl von Zugehörigkeit und sozialer Nestwärme. Sie stabilisieren Vergemeinschaftungsprozesse und tragen zur Konstruktion kollektiver Identität bei. Auf diese Weise sollen, so Biermann, der prosaische Kommerzfußball, seine viel beklagte Kälte und irritierende Schnelllebigkeit kompensiert und mit der wohligen Patina von Nostalgie überzogen und ausgeglichen werden. In diesem Spannungsfeld von Geschäft und Sentimentalität sei eine wahre „Geschichtsbegeisterung“ entstanden, die mit „einer kritischen Geschichtsforschung im wissenschaftlichen Sinne […] in den wenigsten Fällen etwas zu tun“64 habe.
Auch Almut Sülzles ethnografische Forschungen weisen in diese Richtung. Der „kreative Umgang mit der Vergangenheit“, den sie in den Fanszenen untersuchte, die ausgeprägte Neigung, Traditionen zu erfinden und sich Geschichte auszudenken, um die „wahre Geschichte“ und die „echten Wurzeln“ des jeweiligen Lieblingsclubs zu eruieren, bezeuge „eine tiefe Sehnsucht nach Konstanz“ und „tröstliche[r] Beständigkeit“, die „unter dem Deckmantel der Tradition und des Vergangenen“ darauf aus sei, Gemeinschaft zu schaffen und vom Kommerz bedrohte Heimat zu erhalten. Gleichwohl seien sich viele der an diesen Prozessen Beteiligten darüber im Klaren, „dass es sich hierbei um Mythisierungen handelt“.65 Dieser Trend zum Traditionalismus entspringe einer zutiefst konservativen Mentalität, die nicht bereit sei, der Tatsache ins Gesicht zu sehen, dass Fußball heute zu einem veritablen Wirtschaftssektor geworden ist. So ist denn auch der Begriff Traditionsverein mit seinen latent antikapitalistischen und offen antimodernistischen Untertönen in der Tat zu einem „Kampfbegriff“66 von Fangruppierungen geworden, die die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft verachten und die Chimäre einer angeblich guten alten Zeit mit sektiererisch wirkenden Parolen wie „Holt euch das Spiel zurück“ zu beschwören bestrebt sind.67 An diesem Punkt überkreuzen sich die erinnerungspolitischen Interessen von Publizisten, die in politisch linksorientierten, antibürgerlichen Milieus beheimatet sind, mit der Sozialromantik antikapitalistisch eingestellter Fangruppen. Die Mythenmaschine Fußball beweist in diesen sozialen Kontexten das außersportliche Sinnpotenzial des Spiels mit dem runden Leder und dessen gemeinschaftsbildende Kraft.
Was Biermann und Sülzle jedoch unterschätzen, ist der immer wichtiger werdende Beitrag von Fußballfans, die sich, ausgestattet mit kritischem, historiographischem Sachverstand, verbissen in die Geschichte ihrer Clubs einarbeiten, Chroniken veröffentlichen, die Gründung von Museen initiieren und teilweise sogar zu den Pionieren der Erforschung ihrer Lieblingsvereine in der Zeit des Nationalsozialismus gehören.68 Insbesondere große Fußballclubs beginnen diese Zeichen der Zeit zu erkennen, integrieren derartige Faninitiativen in ihre „corporate identity“ und vermarkten sie Gewinn bringend. Sie antworten auf die spirituellen Bedürfnisse der Fans mit dem Bau von Stadionkapellen, dem Angebot von Hochzeitsfeiern im Stadion, der Anlage von Fanfriedhöfen und – hier dürfte Schalke 04 zu den Pionieren im deutschen Vereinsfußball gehören69 – einer eigenen Fanseelsorge.
Fußball als Mythenmaschine ist jedoch keineswegs eine Erscheinung erst der Popkultur des späten 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Zu den „großen Erzählungen“ von Wundern, Mythen und Legenden im deutschen Fußball, die einer genaueren historischen Prüfung nur schwer Stand zu halten vermögen, gehört beispielsweise der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954, insofern er einerseits als „Wunder von Bern“ stilisiert, anderseits zum politischen „Gründungsmythos“ der Bundesrepublik Deutschland überhöht wurde. Dieser Erzählung zufolge wurde der Sieg von angeblich selbstlosen, wackeren deutschen Amateuren gegen geldgierige Profis aus dem politischen Einflussbereich der Sowjetunion mit Tugenden errungen, die tief im deutschen Nationalcharakter begründet seien.70 Wie Nils Havemanns Forschungen zur Organisations- und Wirtschaftsgeschichte des Fußballs in Deutschland herausfinden konnten, war der Sieg jedoch keineswegs ein Mirakel, das sich als Heldengeschichte oder Wundererzählung narrativ fassen lassen könnte. Vielmehr war er die Konsequenz von vergleichsweise modernen, alles andere als amateurhaften Grundvoraussetzungen, wozu – neben einem ausgeprägten Leistungsethos und fortschrittlicher medizinischer Betreuung – der auch in Deutschland de facto schon längst bestehende illegale Semiprofessionalismus, ausgezeichnete Arbeitsbedingungen sowie eine hervorragende Finanzausstattung und zeitgemäßes sporttechnisches Equipment gehörten.71 Mit guten Gründen widersprach Havemann damit zugleich dem Mythos vom DFB als einer im 20. Jahrhundert von erzreaktionären älteren Herren geleiteten Institution, die sich dem Kampf gegen die Errungenschaften der Moderne verschrieben hätte.72
Darüber hinaus hatte der Freiburger Sozialhistoriker Franz-Josef Brüggemeier das vermeintliche Wunder von Bern in seiner Bedeutung als „Gründungsmythos“ der Bundesrepublik Deutschland dekonstruiert, indem er deutlich herauszuarbeiten verstand, dass der massenhaften, patriotischen Begeisterung über den Weltmeisterschaftsgewinn nur eine ganz kurze Blüte vergönnt war, die alsbald in sich zusammenfiel, in den Jahren danach weitgehend in Vergessenheit geriet73 und erst nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten durch publizistische, historiografische und künstlerische Verarbeitung zu einem veritablen deutschen Erinnerungsort werden konnte.
Bei anderen deutschen Fußballmythen stehen ausgeprägte politische Feindbilder und die mutmaßlich verwerflichen Taten angeblicher Schurken im Vordergrund. Hier ist zunächst die Dämonisierung des DFB-Vorsitzenden Hermann Neuberger als „faschistischer“ Funktionär und die Menschenrechte verachtender Sympathisant der argentinischen Militärdiktatur im Umfeld der Fußballweltmeisterschaft 1978 zu nennen. Unter irreführenden und polemischen Schlagzeilen wie „Der DFB-Präsident und der Nazi“74 unterstellten Publizisten, der DFB-Präsident habe den bekennenden Nazi und SS-Mann Hans Ulrich Rudel im Trainingslager empfangen. Beweise für diese Behauptung wurden nie präsentiert. An diesem Zerrbild, von der internationalen sporthistorischen Forschung längst widerlegt,75 halten unzureichend informierte Publizisten, Journalisten und Sportwissenschaftler jedoch auch weiterhin fest,76 zu tief hat sich dieser Mythos im kulturellen Langzeitgedächtnis einer „kritischen“, sportinteressierten Öffentlichkeit verankert.
Auch die manipulative Erzählung, derzufolge der DFB-Präsident Peter Joseph „Peco“ Bauwens nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 im Münchner Hofbräukeller eine „Sieg-Heil-Rede“ gehalten habe, wird von einer sich „kritisch“ gebenden Sportpublizistik und von Sportwissenschaftlern, die sich an antibürgerlichen Feindbildern abarbeiten, gebetsmühlenartig wiederholt, obwohl Brüggemeier auch diese Erzählung der politischen Fußballmythologie bereits 2004 mit schlagenden Argumenten dekonstruiert hatte.77
Diese irreführenden Darstellungen über die Sportpolitik von DFB-Präsidenten, die vielen unsympathisch erscheinen, gehören „zu jenen Fußballmythen, mit denen antifaschistische Projektionen bedient, politische Ressentiments geschürt und gesellschaftliche Feindbilder zementiert werden sollten“.78 Letztlich zielen sie darauf, DFB-Präsidenten wie Bauwens oder Neuberger als Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit „antifaschistischem“ Elan moralisch zu diskreditieren und als verkappte Neonazis zu verunglimpfen. Zugleich soll der Fußballverband auf diese Weise als Lobby-Organisation insofern delegitimiert werden, als wäre die „braune Geschichte“ des DFB nicht 1945 abgepfiffen worden, sondern zumindest bis an die Schwelle zur Jahrtausendwende in Nachspielzeit und Verlängerung gegangen.79
Mit diesem „fragwürdigen Konzept des strammrechten Fußballs“, das dem DFB als bürgerlichem Sportverband unterstellt wird, steht und fällt aber auch „die uneingelöste Utopie eines linken Fußballs“,80 deren Vertreter „den Neomarxismus überlebt“ hatten, „nach seinem Dahinscheiden neue Arbeitsfelder“ suchten und beim Thema Fußball glaubten, „irgendwie dem Interesse für das Proletariat treu bleiben“81 zu können, und „aus einem ideologischen Missionseifer heraus“ diesem Sport „vermeintlich ‚linke‘ Fundamente andichten wollten“.82
Dass solche Geschichten mehr oder weniger absichtlich, teilweise strategisch klug unters Volk gebracht werden können, ist nicht zuletzt auch darin begründet, dass die Erinnerung an Vergangenes getrübt werden kann durch Vorurteile und Präferenzen, Hoffnungen und Erwartungen, die das Gedächtnis zu überlisten vermögen. So fiel fast vollkommen dem Vergessen anheim, dass etwa Karl-Heinz Heimann, der damalige Chefredakteur der Fachzeitschrift „Kicker“, sich 1978 der gegen Neuberger initiierten, geschichtspolitisch-publizistischen Treibjagd verweigerte. Heimann hatte als einer der ganz wenigen Publizisten die manipulativen, die Fakten „fern allen Wahrheitsgehaltes“ verfälschenden „böswillige[n] Attacken“ als „Kampagne“ verurteilt, „in der unterschiedslos Wahres und gewollt Unwahres miteinander vermischt“83 worden war.
Gleichwohl bilden auch diese Mythen, die von antibürgerlichen Feindbildern befeuert werden, eine von vielen Facetten jener sinnhaften Aneignungen, die von außen an den Sport und seine Organisatoren herangetragen werden. Wie jede körperliche Praxis ist Fußball ein zwar unpolitisches Kulturphänomen, das gleichwohl allen möglichen außersportlichen Bedeutungszuschreibungen und Funktionen für Vergemeinschaftung prinzipiell offen steht.
Vor dem Hintergrund dieser reich ausdifferenzierten Fußballmythologie, die Krieg, Nationalsozialismus, Antifaschismus und Neonazismus betrifft, darf es nicht verwundern, dass einige Beiträge des hier vorliegenden Bandes mit verschiedenen anderen nationalen Mythen des Fußballs aufräumen, so beispielsweise mit dem Jahrzente lang, teilweise bis heute gepflegten Selbstbild Österreichs als erstes Opfer des Nationalsozialismus, von dem auch der Sport betroffen gewesen sei.84 Hier ist im Besonderen die sogenannte Bestrafungserzählung zu nennen, derzufolge etliche Spieler des SK Rapid nach dem Gewinn der „Großdeutschen Meisterschaft“ gegen Schalke 04 im Jahr 1941 zur Wehrmacht eingezogen worden seien, weil die Reichssportführung den Sieg der Wiener missbilligt habe. Die Quellen sprechen jedoch eine ganz andere Sprache. Demzufolge waren österreichische Fußballer in den ersten Kriegsjahren seltener von Einberufungen zur Wehrmacht betroffen als ihre Kollegen im „Altreich“ und damit eindeutig bevorzugt.85 Dies galt zumindest für Wien, nicht jedoch für Graz und die Steiermark, deren Fußballmannschaften sich keiner vergleichbaren Privilegierung erfreuen konnten.86
Der Opfermythos, demzufolge der österreichische Fußball gravierenden Benachteiligungen seitens der Berliner Reichssportführung ausgesetzt gewesen sei, wurde nachhaltig befeuert vom Schicksal des überaus populären österreichischen Nationalspielers Matthias Sindelar (1903–1939),87 Kapitän des österreichischen „Wunderteams“ der 1930er Jahre. Er stand beim Fußballklub Austria unter Vertrag, hatte die Massen mit seinem technisch versierten, kunstvollen Spiel verzaubert. Er wurde wegen seiner schmächtigen Statur und seines „körperlosen“ Spiels „der Papierene“ genannt. Gemeinsam mit seiner halbjüdischen Freundin starb er 1939 im Bett an einer Kohlenmonoxydvergiftung. Sein tragisches Schicksal gab Anlass zu zahllosen Spekulationen über einen möglichen, durch Pressionen der Nazis motivierten Suizid oder sogar heimtückischen Mord, obwohl es von Anfang an als höchst wahrscheinlich galt, dass ein schadhafter Ofenabzug für die Rauchgasvergiftung ursächlich war.88 Dennoch wurde Sindelar immer wieder als Widerständiger oder sogar als Jude eingeordnet, der nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich aus der Nationalmannschaft vertrieben und aus der Welt des Fußballs verstoßen worden sei. Damit konnte er nach 1945 zu einer Symbolfigur des östereichischen Sports werden, der sich ebenso wie die Alpenrepublik insgesamt als Opfer des Nationalsozialismus darstellte.
Wie in der Entstehungsgeschichte des Kiewer Todesspiels und des Wunders von Bern die verschiedensten Künste, Medien und schillernden Formate des Histotainments treibende Kräfte waren, so spielte bei der Propagierung des Mythos vom Suizid bzw. der Ermordung Sindelars zunächst ein Gedicht eine wichtige Rolle: „Auf den Tod eines Fußballspielers“ (1939), verfasst von dem jüdischen Schriftsteller und Publizisten Friedrich Torberg.89 Der Fußballmythos von Sindelar, den die Nazis in den Tod getrieben oder sogar ermordet hatten, wurde Jahrzehnte lang in populären Medien, Kinderbüchern, Theaterstücken, Romanen, Hörspielen und im Internet immer wieder kolportiert – bis heute, so als wären die zu dieser Thematik publizierten und allgemein zugänglichen Forschungen inexistent.90 Vor diesem Hintergrund musste die Dekonstruktion des nationalen Mythos Sindelar zwangsläufig von heftigen Emotionen, gehässigen Streitereien und langjährigen Auseinandersetzungen zwischen Historikern, Publizisten und Journalisten erschüttert werden.
Denn die Fakten sprechen eine ganz andere Sprache. Tatsächlich war Sindelar nämlich nicht nur ein ungemein erfolgreicher und talentierter Spieler, sondern auch ein überaus umtriebiger Geschäftsmann, der seine Popularität durch Werbeaufträge für Anzüge und Sportartikel, Uhren und Molkereiprodukte bestens vermarktete und auch als Filmschauspieler von sich reden machte. Nach dem „Anschluss“ Österreichs profitierte er von der Übernahme des arisierten Café Annahof, dessen jüdischer Inhaber sich zunächst geweigert hatte, sein Unternehmen zu veräußern, dann aber gefügig gemacht worden war, indem man seinen Sohn und jüdische Gäste in ein Konzentrationslager verschleppte. Die Entmythologisierung Sindelars vom aufrichtigen, sensiblen, widerständigen Spieler und Opfer der nationalsozialistischen „Anschluss“-Politik, welcher der Sportnation Österreich Jahrzehnte lang ein sympathisches Gesicht zu geben vermochte, zu einem Geschäftsmann, der von der Arisierungspolitik der Nazis profitierte, mutet einem Schwindel erregenden Absturz an, wie er tiefer kaum ausfallen könnte.
Auch andere Opfererzählungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, des Faschismus und Nationalsozialismus, die von der Manipulation von Spielen durch die Sportpolitik erzählen und seit Jahrzehnten durch die Fanliteratur geistern, halten einer genaueren historischen Prüfung nicht Stand. Dies betrifft beispielsweise die angeblichen Benachteiligungen von Schalke 04 oder Hannover 96 bei Meisterschaftsendspielen in der NS-Zeit.91
Tief ins kollektive Langzeitgedächtnis des katalanischen Fußballs konnte sich eine ähnlich gestrickte Opfererzählung eingravieren. Dazu gehört der Mythos, demzufolge der FC Barcelona gegenüber dem Rivalen Real Madrid benachteiligt worden sei, weil die „Königlichen“ loyal zum Franco-Regime standen, die Katalanen indes für Regionalismus und Separatismus eintraten. Doch auch dieser Mythos entbehrt nicht zuletzt deshalb einer schlüssigen Begründung, weil Real in der Franco-Ära keine einzige Meisterschaft gewinnen konnte.92
Ebenso bedarf die durch pauschalisierende Behauptungen und unhinterfragte Vorurteile immer wieder beschworene These von einer „kumulativen Radikalisierung“ bzw. sich steigernden „Selbstradikalisierung“ des Sports in der NS-Zeit93 einer kritischen Revision. Exemplarisch wurde diese These von Hubert Dwertmann am Beispiel des langjährigen DFB-Vorsitzenden und Kriminalbeamten Felix Linnemann behauptet94 – und von Nils Havemann mit guten Gründen widerlegt.95 Der Hauptfehler in Dwertmanns Argumentation bestand darin, dass er von offenkundigen Radikalisierungsdynamiken in Linnemanns beruflichem Tätigkeitsfeld der Polizei gewagte Rückschlüsse auf dessen ehrenamtliche Nebentätigkeit im DFB zog. Doch statt den ohnehin in Abwicklung stehenden DFB zu radikalisieren, wurde Linnemann, ebenso wie Carl Diem in anderen Funktionen,96 in den Kriegsjahren des Nationalsozialismus ins Abseits gestellt. Bei dem Radikalisierungstheorem handelt es sich ebenfalls um einen Fußballmythos in dem Sinn, dass er einerseits die tatsächliche Geschichte des Fußballsports in der NS-Zeit verzerrt widergibt, andererseits das Feindbild des bürgerlich-faschistischen Verbandsfunktionärs unkritisch reproduziert. Die Parallelen zur oben genannten „kritischen“ Darstellung der DFB-Vorsitzenden Bauwens und Neuberger liegen auf der Hand.
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