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Das Zitat von Laura Restrepo auf Seite 6 aus: „La venganza de Izrafel“, Dulce Compañia, Editorial Norma S.S., Santa Fé de Bogotá, 2001 (Deutsche Übersetzung: Corinna Waffender).

© Querverlag GmbH, Berlin 2007

Lektorat: Regina Nössler

Erste Auflage März 2007

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von getty images.

ISBN 978-3-89656-596-9

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Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

www.querverlag.de

Así, quieto y ausente, estoy bien.

En el color blanco encuentro el reposo.

Déjame dormir. Déjame flotar.

Sólo quiero navegar en las aguas insípidas del olvido.

Laura Restrepo

So, still und abwesend, geht es mir gut.

In der Farbe Weiß finde ich Ruhe.

Lass mich schlafen. Lass mich treiben.

Ich will nur in den trüben Wassern des Vergessens segeln.

Auf den zweiten Blick.

Der erste gilt meinem Hausmeister, der die Treppe herunterkommt und versucht, in meine Wohnung zu spähen. Er wittert sittenwidrige Zustände, seit ich ihn gebeten habe, mich nicht mehr anzusprechen. Ich halte solche Menschen nicht aus, die davon leben, andere zu kontrollieren. Die hinter der Gardine lauern, um mich bei frischer Tat zu ertappen, wenn ich vergesse, das Licht zum Fahrradkeller zu löschen. Die ihre schlaffe, behaarte Haut in weißen Rippenhemden zur Schau tragen und beim Putzen morgens um acht extra mit dem Schrubber gegen die Wohnungstür stoßen, damit niemand länger schlafen kann als sie selbst.

Der erste Blick ist einer, der dich nur streift, ein kurzer Umweg, ein schnelles Vergewissern über die Treppe nach oben und wieder hinunter, eine Warnung an die Außenwelt, die sich in der Figur eines schlecht riechenden selbsternannten Ordnungshüters zeigt. Er weicht mir aus, schaut weg, geht an uns vorbei. Ich verfolge ihn nicht, schlage den Rückweg ein und lande mitten in deinen Augen.

„Hallo, ich bin Toni“, sagst du.

Dein Händedruck ist wohltemperiert, du rührst dich nicht, wartest, bis ich dich hereinbitte. Ich sollte dir wohl Fragen stellen, aber es fallen mir keine ein. Kurzzeitig vergesse ich, weswegen du hier bist und biete dir einen Kaffee an.

„A propósito, yo hablo español“, sage ich, um etwas zu sagen.

Das Spanisch, in dem du mir antwortest, hat nichts mit dem zu tun, das ich ein paar Semester lang an der Uni gelernt habe und ich bin froh, als du wieder deutsch mit mir sprichst. Fast fehlerfrei und ohne starken Akzent. Ich frage dich nicht, woher das kommt, die Frage wird dir sicher oft gestellt und ich möchte lieber Außergewöhnliches mit dir reden. Wir enden beim Wetter.

Währenddessen schaust du dich unauffällig um, ich deute das als Zeichen von Professionalität. Wahrscheinlich gehst du im Geist die Gegenstände durch, die du abstauben wirst. Ich besitze überhaupt kein Staubtuch. Du wirst all diese Dinge kaufen müssen. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass du in Zukunft öfter kommen wirst.

„Wollen wir uns duzen?“

„Kein Problem.“

Am Telefon habe ich dich gesiezt, so wie ich alle Menschen sieze, mit denen mich nichts Persönliches verbindet. Mit dir aber besteht vom ersten Augenblick an eine Verbindung. Schon als ich die Treppe hinauf, an dir vorbei­sehe, noch nicht weiß, dass mir gleich passieren wird, was ich nie für möglich gehalten habe, spüre ich dich ganz nah vor mir wie eine Antwort auf eine nie gestellte Frage.

„Wann soll ich denn kommen?“

Fast sage ich: Bleib doch einfach, zieh in das kleine Zimmer ein, Handtücher findest du im Badezimmer. Nimm dir, was du brauchst.

Doch meine Vernunft hält mich zurück. Ein wenig jedenfalls.

„Ich weiß nicht. Ich gebe dir einen Schlüssel und du kommst, wann du willst.“

Du siehst mich ein wenig verwundert an und als du gegangen bist, fällt mir auf, dass wir gar nicht über deinen Stundenlohn gesprochen haben. Es erübrigt sich auch, denn ich würde alles zahlen, damit du wiederkommst.

Nein, ich glaube nicht an die Liebe auf den ersten Blick.

Aber vielleicht an die auf den zweiten.

Nur das Nötigste. Einen Rucksack mit Unterwäsche, Strümpfen, Turnschuhen, zwei Pullovern und einer warmen Jacke. Seife, Zahnbürste, Kamm. Ein Band mit Gedichten von Neruda. Ein leeres Heft, Schreibzeug. Alte Bücher aus der ersten Klasse. Sie hatte noch nie unterrichtet, aber sie war sicher, dass sie dazu in der Lage war. Sie konnte es kaum erwarten, den Kindern irgendwo da draußen auf dem Land Lesen und Schreiben beizubringen. Das war so viel wichtiger als nur davon zu reden, die Gesellschaft verändern zu wollen. Sie musste mit dem Theater aufhören, die Armut der anderen zu beklagen und unter den Reichen zu leben, die es von Geburt an besser hatten und dieses Land mit ihrer Habgier zugrunde richteten. Sie fühlte sich schmutzig, schuldig und sie hatte das Gefühl, an ihrer eigenen Sattheit zu ersticken. Während am anderen Ende des Fortschritts, den sich der Präsident auf bunte Fähnchen schrieb, die Menschen verhungerten und die Kirche ihren Segen dazu gab: ¡Progresemos!

„Wie alt bist du?“

Sie log und machte sich drei Jahre älter.

Viel später erfuhr sie, dass ihr Alter keine Rolle spielte. Sie waren froh um jede helfende Hand beim Aufbau der Friedensdörfer. Die Regierung konnte sie nicht mehr verhindern, seit die autonomen Zonen von den Linken in Europa als Friedensprojekte zum Schutz der Zivilisten vor bewaffneten Kämpfern unterstützt wurden. Es kamen Freiwillige aus Deutschland, Spanien und Frankreich, um Schulen zu errichten, Felder zu bestellen und eine Infrastruktur aufzubauen, die den Bauern eine Alternative zum Anbau von Koka ermöglichen sollte. Denn die Erträge der großen Pflanzen mit den weißen Blüten, die nach der Ernte von tausend nackten Füßen zu weißem Pulver verarbeitet wurden, wanderten nicht in die Münder der hungrigen Familien, die sie kultivierten. Sie flossen zu gleichen Teilen in die Taschen korrupter Politiker und auf die Schwarzgeldkonten der Drogenkartelle, die daran verdienten, dass der Rohstoff nicht nur zum ultimativen Kick der US-amerikanischen High Society veredelt wurde. Das Geschäft war von Anfang bis zum Ende illegal, aber mit der Wirtschaft ging es statistisch aufwärts, man hielt den Staat für demokratisch, und wer genügend Geld hatte, leistete sich eine kleine Privatarmee, um sich und seine Familie vor Diebstahl, Gewaltverbrechen und Entführungen zu schützen. Die Mittelschicht bekam wenig, aber immerhin genug vom großen Kuchen ab, um sich nicht aufzulehnen, und die, die sich auflehnten, kamen über kurz oder lang auf tragische Weise ums Leben. Die Unterschicht begriff nicht einmal, dass sie ein Recht darauf hatte, sich zu beklagen, die Ärmsten der Armen wurden Sonntag für Sonntag von der Kanzel für ihre Engelsgeduld belohnt: Sie waren Gottes liebste Kinder, solange sie mittellos blieben. Sie ergaben sich ihrem Schicksal, weil sie daran glaubten. Und sie glaubten daran, weil sie nichts wussten.

Deshalb war sie überzeugt davon, dass es nur einen einzigen Ausweg aus der Armut geben konnte: Bildung. Wenn die Kinder erst einmal die Macht über die Worte hätten, würden sie als Erwachsene verstehen, was Recht und Unrecht war. Könnten Verträge verstehen, bevor sie ihren Namen statt eines Kreuzes darunter setzten. Wählen gehen. Über ihre eigene Zukunft entscheiden.

So wie sie, in dieser Nacht, still und leise, damit niemand sie aufhalten konnte.

Ihr Vater würde toben, nach ihr suchen lassen, sie zur Rückkehr zwingen wollen. Ihre Mutter würde beten. Ihre kleine Schwester würde weinen. Sonst würde niemand sie vermissen. Ihre Freunde erwarteten sie bereits.

„Gerade wenn man privilegiert ist, hat man die Pflicht zu helfen“, hatte Juan auf einem der Meetings gesagt und sie war errötet, als er sie angesehen hatte.

„Ich meine nicht die Wohltätigkeitsveranstaltungen unserer Mütter und auch nicht den Imperialismus der Industrieländer, den sie uns als Entwicklungshilfe verkaufen wollen. Ich meine echte Hilfe. Ich meine, die Ärmel hochzukrempeln, sich nicht zu fein zu sein für die Arbeit mit bloßen Händen. Ich meine, dorthin zu gehen, wo die Ärmsten um ihr Überleben kämpfen und mit ihnen zu teilen: unser Wissen, unser Brot, unsere Liebe zu diesem Land.“

Sie hatte im Türrahmen gestanden, als schon alle gegangen waren und auf ihn gewartet, um ihm diese eine Frage zu stellen, die ihr ganzes Leben verändern sollte.

„Was machst du da?“

Erschrocken fuhr sie herum und sah Carla im Türrahmen stehen. Ihre Pyjamajacke war schief zugeknöpft, und die Elfjährige rieb sich die Augen.

„Geh wieder schlafen“, sagte sie und nahm Carla in den Arm.

„Wohin gehst du? Warum packst du deinen Rucksack?“

„Ich mache eine kleine Reise. Aber das ist ein großes Geheimnis.“ Verschwörerisch legte sie den Zeigefinger auf ihre Lippen.

„Nimmst du mich mit?“

„Das geht leider nicht.“

„Ich will aber!“

„Ich komm doch bald wieder.“

„Ich will aber mit!“

Sie hielt Carla für einen Moment fest und vergrub ihr Gesicht in ihrem weichen Nacken.

„In Ordnung“, sagte sie schließlich. „Ich packe unsere Sachen und du legst dich so lange wieder ins Bett, bis ich fertig bin. Dann wecke ich dich und wir gehen zusammen.“

„Versprochen?“

„Hab ich dich jemals belogen?“

Carla schüttelte müde den Kopf.

„Na also.“ Sie nahm die Schwester an der Hand und brachte sie zurück in ihr Zimmer. Wartete, bis sie im Bett war und deckte sie zu. Bevor sie ging und als sie sicher war, dass Carla schlief, küsste sie sanft ihre Stirn.

„Schlaf schön, meine Süße. Ich hab dich lieb, vergiss das nie. Und verzeih mir“, murmelte sie, bevor sie das Licht löschte und hinausschlich.

Aus dem Kinderzimmer, aus dem Haus, in ein anderes Leben.

Ich suche dich unter Fremden auf der Straße. Auch du bist nicht mehr als eine willkürliche Zusammenstellung aus Einzelheiten vieler. Überall lauert etwas von dir. Deine Haarfarbe, deine Zähne, deine breiten Schultern. Ich denke mir deine Augen in meinen Kopf und sehe braun: die Blätter, die sich zum freien Fall entschließen, meine Hände auf der Tischplatte, ein Schokoladen-Eis. Unsichtbar begleitest du mich durch die Stadt, sitzt neben mir in der U-Bahn, schlenderst mit mir durch den Park. Schließlich treffe ich dich in meiner Wohnung. Du bist gerade fertig, sagst du.

Ich bitte dich auf den Balkon. Als ich mit den Tassen wiederkomme, sitzt du noch immer regungslos auf dem Stuhl in der prallen Sonne. Ich spanne den Sonnenschirm auf und rede Unsinn.

„Putzt du gern?“

„Arbeitest du gern?“

„Manchmal“, antworte ich.

„Ich nicht.“

Wir lachen, ich verschütte Kaffee und du wischst die kleine braune Pfütze mit einem Papiertaschentuch von der Tischplatte.

„Was willst du später machen?“, frage ich.

„Wann später?“

„Irgendwann. Wenn dir Putzen langweilig geworden ist.“

„Studieren.“

„Was denn?“

„Philosophie.“

„Warum ausgerechnet Philosophie? Damit findest du doch nie einen Job!“

„Nein“, antwortest du und ich bin nicht sicher, ob du mir damit widersprechen oder Recht geben willst.

Du isst das dritte Stück Marmorkuchen und ich sehe dir möglichst unauffällig dabei zu. Es ist an mir, Fragen zu stellen, offenbar hältst du Kommunikation am Kaffeetisch für nicht besonders wichtig.

„Wo wohnst du eigentlich?“

Du deutest mit dem Zeigefinger nach links über die Balustrade, dahin, wo ich die Autobahn vermute, und lässt den Arm wieder sinken.

„Allein?“

Augenblicklich hörst du mit dem Kauen auf.

Ich hebe abwehrend die Hände. „Entschuldige, ich wollte nicht neugierig sein. Interessiert mich einfach, wie du so lebst.“

Du schluckst, kaust weiter und wischst dabei nicht nur die Krümel vom Tisch.

„Wo hast du so gut Deutsch gelernt?“

„In einer deutschen Schule.“

Du trinkst einen Schluck Kaffee.

„Und du? Wo hast du so gut Spanisch gelernt?“

„In Spanien und an der Uni. Es war mein Zweitfach. Ich bin ziemlich aus der Übung. Vielleicht kannst du mir hin und wieder ein wenig Nachhilfe geben?“

„Ich glaube nicht, dass du das brauchst.“

„Ich schon. Alles eingerostet.“

„Eingerostet?“

„Ja, es dauert, bis mir die richtigen Worte einfallen.“

„Was bedeutet das Wort eingerostet genau?“

„Rost entsteht, wenn Eisen aufgrund von Wassereinwirkung oxidiert. Wenn das zum Beispiel mit einer Schraube passiert“, ich zeige auf eine, die den wackligen Klapptisch zusammenhält, „dann lässt sie sich nicht mehr drehen. Dann ist sie eingerostet.“

„Oxidiert?“

„Genau. Woher kommst du eigentlich?“

„Lateinamerika.“

„Aus welchem Land?“

„Ist das wichtig?“

Du wirst ungeduldig und ich fühle mich wie eine ungeschickte Pädagogin, die eine Antwort aus einem bockigen Kind herausbekommen will.

„Ich war noch nie in Lateinamerika“, sage ich, als ob dich das interessieren könnte. „Ich war überhaupt noch nie auf einem anderen Kontinent.“ Auch das scheint dich nicht sonderlich zu beeindrucken.

„Was bist du von Beruf?“, fragst du plötzlich.

„Eigentlich nichts. Ich habe Publizistik und Fremdsprachen studiert. Danach habe ich angefangen, als Texterin zu arbeiten. Jetzt habe ich eine PR-Agentur.“

Ich schäme mich. Ich hätte lieber gesagt: Journalistin. Oder: Verlegerin. Oder meinetwegen sogar: Lehrerin. Alles wäre mir lieber als Werbetante. Wahrscheinlich denkst du, ich habe einen Intelligenzquotienten von siebzig und ein Reflektionsvermögen auf Teenagerniveau.

Ich suche angestrengt nach einem Grund, dich vom Gehen abzuhalten, aber mir fällt beim besten Willen nichts ein.

„Danke für den Kaffee“, sagst du und stehst auf. Lächelst, als wäre es nicht so schlimm gewesen.

„Gern.“ Sag etwas, denke ich, sag irgendetwas Kluges oder Nettes oder etwas, das ihr zeigt, dass sie dir gefällt. Blackout.

Ich bringe dich zur Tür und schließe sie, sobald du die Schwelle übertreten hast. Im Boden versinken will ich. Mich auflösen. Zwanzig Jahre jünger sein und dir hinterherlaufen und dich umarmen. Aber das tut man nicht einmal mit neunzehn, wenn man sich erst eine Woche kennt.

Die Soldaten kamen mitten in der Nacht. Rissen das Dorf aus dem Schlaf, schossen in die Luft und trieben die Menschen aus ihren Häusern. Sie meinten es ernst. Die Regierung duldete den winzigen Staat im Staat nicht länger. Auch wenn er besser funktionierte als der Staat selbst. Oder vielleicht deshalb.

Sie haben uns alles kaputt gemacht, dachte sie, während sie zwischen den Trümmern herumlief. Natürlich ging die Guerilla ein und aus, aber hatte sie nicht auch beim Aufbau des Dorfes geholfen? Was war daran schlecht? Nun waren die Dorfbewohner verängstigt, die internationalen Gelder würden gestrichen, weil es heißen würde, es handelte sich um eine unsichere Zone, in der die Guerilla die Kontrolle übernommen hätte. Ein Jahr Arbeit für nichts. Ihr war zum Heulen.

„Sie verstehen nichts. Gar nichts. Denken an ihre Wiederwahl. Der Präsident ist ein Feigling wie alle anderen vor ihm auch. Markiert den dicken Mann, weil er Angst hat. Weil er die Stimmen der Reichen verliert. Weil das Volk nicht mehr an ihn glaubt.“ Roberto schoss wütend einen Stein gegen die Häuserwand. „Sieh dir das an: Zerstörung, das ist alles, wozu sie fähig sind! Korruption und Gewalt!“

„Und was sollen wir jetzt machen?“

„Sie verstehen doch nur eine Sprache.“ Er sah sie mit funkelnden Augen an.

„Du willst dich der Guerilla anschließen?“

„Wir sind doch der Guerilla schon lange angeschlossen.“

Stimmte das? Manchmal verteilten sie Flugblätter, lasen marxistische Schriften und diskutierten im Dorf über kollektives Eigentum. Aber das war etwas anderes, als in die Berge zu gehen.

„Ach! Und wo willst du hin? Zurück nach Hause zu Mama und Papa?“ Er sah sie angriffslustig an.

„Quatsch!“

Aber er hatte Recht. Wohin sonst sollte sie gehen? Hier fühlte sie sich sicher vor ihrem Vater, bis hierher hatte nicht einmal sein Einfluss gereicht. Bis gestern. Nun war es eine Frage der Zeit, bis er sie holen ließ. Das Militär hatte alle Bewohner des Dorfes registriert und es war ihnen untersagt, das Gebiet zu verlassen.

„Ich geh in die Berge“, sagte Roberto leise, als fürchtete er, belauscht zu werden, obwohl weit und breit niemand von ihnen Notiz nahm.

„Hast du keine Angst?“

„Ich habe mehr Angst zurückzugehen in die Stadt. Ich habe keinen Job, meine Familie hat kein Geld. In den Bergen habe ich wenigstens ein Dach über dem Kopf und weiß, wofür ich kämpfe.“

„Wofür denn?“

„Für die Befreiung der Arbeiter und Bauern aus der Unterdrückung der herrschenden Klasse.“

Es klang gut, es klang mutig und sie klammerte sich eine ganze Nacht daran. Auch für sie gab es kein Zurück mehr. Nicht mehr, seit sie wusste, was es hieß, arm zu sein. Wie sich ein leerer Magen anfühlte, was eine offene Wunde weit weg von Krankenhäusern und Arztpraxen bedeutete, seit sie wusste, wie man von der Hand in den Mund lebte, ohne Geld, ohne Sicherheit und in ständiger Angst. Wenn das Einzige, woran man glaubte, der Boden unter den Füßen war, von dem man im nächsten Moment schon vertrieben werden konnte.

Der bloße Gedanke an die Stadt bereitete ihr Beklemmungen. Sie konnte sich alles noch viel zu gut vorstellen: Den Geruch gemangelter Bettwäsche und das Rasierwasser ihres Vaters, die hohlen Reden der Mitstudentinnen, die ihren Beruf, für den sie jahrelang an der Universität Prüfungen abgelegt hatten, niemals ausüben würden, weil sie Ehefrauen wurden. Kluge Architektinnen, Juristinnen, Übersetzerinnen und Naturwissenschaftlerinnen, Frauen, die dieses Land nicht zu Hause, sondern in Büros, Unternehmen und Schulen gebraucht hätte, sie alle degradierten sich freiwillig nach der Heirat zu Dekorateurinnen, Hausverwalterinnen und Wohltätigkeitsveranstalterinnen.

Wie ihre Mutter. Was wäre aus ihrer Mutter geworden, wenn sie nicht Don Pedro geheiratet, wenn man ihr nicht dieses Bündel Kind vor die Tür gelegt hätte?

„Sie hätte dich am liebsten aus dem Fenster geworfen, Antonita, aber du warst einfach zu süß. Hast sie mit deinen großen braunen Kulleraugen angesehen und ihr krankes Herz geheilt.“ Nelly musste es wissen. Nelly sorgte für Ordnung im Haus, seit es das Haus gab.

„Wieso hat Vater mich behalten wollen?“

„Deine richtige Mutter war seine große Liebe.“

„Hast du sie jemals gesehen?“

„Ja, aber nur von weitem. Er durfte nicht mit ihr hereinkommen.“

„Woher weißt du dann, dass sie seine große Liebe war?“

„Man hat es ihm angesehen. Vor seiner Heirat mit Doña Beatriz war er ein glücklicher Mann. Aber eine kleine Angestellte war nicht gut genug für die Familie. Sein Vater, also Don José, dein Großvater, hat ihm den Umgang mit deiner Mutter verboten. Er gehorchte. Er wusste nicht, dass sie schwanger war. Sie hat ihm keine Szene gemacht, sie war stolz. Vor deiner Geburt hat sie einen Brief geschrieben. Wenn ihr etwas passiert, soll man dich zu ihm bringen. In dem Brief stand auch, dass du seine Tochter bist. Sie ist bei der Geburt gestorben. Zu Hause. Das hat er sich nie verziehen. Deshalb hat er dich nicht weggegeben. Du bist die Schuld, die er auf sich genommen hat.“

Sie hatte seinen Namen bekommen, die beste Ausbildung und seine unerbittliche Strenge zu spüren. Als wollte er sie auf das Schlimmste vorbereiten. Aus Liebe? Er liebte nicht. Er funktionierte. Herrschte. Je älter sie wurde, desto mehr ging er ihr aus dem Weg. Behandelte sie wie eine Fremde im eigenen Haus. Wie seine Angestellten. Wie seine Frau.

„Doña Beatriz hat dich großgezogen wie ihre eigene Tochter. Aber man sagt, sie hat sich gerächt. Immerhin ließ deine Schwester zwölf Jahre auf sich warten ...“

Ihre Mutter als Stiefmutter? Als sie es erfahren hatte, wollte sie auf der Stelle davonlaufen. Aber es war Doña Beatriz selbst gewesen, die sie zurückgeholt und ihr grob die Tränen aus den Augen gewischt hatte.

„Man kann sich die Dinge im Leben nicht immer aussuchen. Doch man kann versuchen, das Beste daraus zu machen. Glaubst du, mir hat es gefallen, drei Wochen nach meiner Hochzeitsreise ein fremdes Kind vor meiner Haustür zu finden? Natürlich wollte ich dich am Anfang nicht. Schon deshalb nicht, weil alle sahen, dass du nicht meine Tochter warst. Aber ich habe das Beste daraus gemacht: dich, meine Älteste. Und darauf bin ich stolz. Also hör auf zu weinen und sei froh, dass ich dich so sehr liebe.“

Es blieb das einzige Mal, dass ihre Mutter sie lange in den Arm genommen hatte, das einzige Mal, dass sie darüber gesprochen hatten. Man redete nicht über Gefühle in Don Pedros Haus. Man redete am besten überhaupt nur, wenn man gefragt wurde. Nein, es war völlig ausgeschlossen, dorthin zurückzukehren.

Sie gingen im Morgengrauen, nahmen den Trampelpfad, den die Soldaten nicht bewachten. Sie verabschiedeten sich nicht von ihren Freunden, nicht von den Familien und nicht von den Kindern. Am nächsten Morgen würden ihre Lehrer nicht zum Unterricht erscheinen. Die Schüler säßen unruhig in ihren Bänken, irgendwann würde Paco zu seiner Mutter laufen und sagen:

„Toni kommt nicht!“

Und alle wüssten, wohin sie unterwegs war.

Du bist wunderschön. Die Konturen deines Körpers haben sich mir ins Gedächtnis eingebrannt und ich komme mir vor wie eine alte Hexe, die sich das Elixier deiner Jugend erschleichen will. Du trägst weit ausgeschnittene T-Shirts, ich ertappe mich dabei, wie ich deine Brüste anstarre, wie ich sie berühren will, nicht zufällig, sondern gewollt, fast brutal.

Wenigstens bin ich noch immer leicht gebräunt. Der Sommer scheint mir eine Ewigkeit her zu sein, dabei liegt er noch gar nicht lange zurück. Es war die Zeit, bevor du in mein Leben getreten bist, eine Zeit, in der ich dachte, alles könnte so weitergehen wie bisher. Ich habe mich sicher in dieser Wohnung gefühlt, die viele für eine Traumwohnung halten, eingeschlossen in meinem Selbst, das mit sich allein zufrieden war. Eine lockere Wochenendbeziehung, hin und wieder eine bedeutungslose Affäre, ich war überzeugt davon, ich hätte die Lust am Erobern verloren. Fremdes Terrain hat aufgehört, mich zu interessieren, vielleicht weil ich nicht mehr daran geglaubt habe, wirklich das Paradies zu finden. Die Liebe in meinem Leben ist nie so spektakulär gewesen wie in meinen Träumen. Oder vielleicht waren meine Träume immer spektakulärer als meine Geliebten, weil Träume so sein müssen: ein warnender Zeigefinger, die Wirklichkeit auf Optimierung zu überprüfen.