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© Querverlag GmbH, Berlin 2008

Lektorat: Regina Nössler

Erste Auflage März 2008

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung einer Fotografie von Francesco Bittichesu (getty images).

ISBN 978-3-89656-597-6

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Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

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Für meine Mutter

*

Sie sollte die Fenster putzen, der Sturm der letzten Tage hat hässliche Spuren hinterlassen. Die Abdrücke schmutziger Wassertropfen trüben den Blick auf die bunten Blätter, auf die Jahreszeit, die sie von allen am liebsten mag. Hanna nimmt das Aufnahmegerät vom Tisch, räuspert sich und drückt den Knopf mit der winzigen Aufschrift rec. Sie wartet noch zwei Atemzüge lang. Dann beginnt sie zu sprechen, den Blick auf die allmählich kahl werdenden Bäume gerichtet, deren Äste bis zu ihr hinauf in den dritten Stock reichen.

„Sascha. Dein Name ist wie ein Versprechen. Er riecht nach langen Spaziergängen, nach feinem glatten Leder und geröstetem Kaffee hinter beschlagenen Scheiben. Ich weiß nicht, warum ich schon von Weitem hoffte, die Ampel würde rot bleiben, bis ich sie erreicht hätte. Weshalb ich bei dem Anblick deiner Silhouette im strömenden Regen das Bedürfnis hatte, schützend den Schirm über dich zu halten. Woher ich den Mut nahm, es auch wirklich zu tun. Du warst nur ein klein wenig erstaunt, du bist nicht erschrocken, es hat dich eher amüsiert, dass ich meinen Arm strecken musste, um das mit schwarzem Stoff straff bespannte Metallskelett über unseren Köpfen zu balancieren. Als die Ampel auf Grün schaltete, gingen wir zusammen über die Straße, du passtest dich dem Tempo meiner Schritte an, als hätten wir denselben Weg. Mir schien deine Jacke zu dünn für September, es war kühl an diesem allerersten Mittwoch, an dem eine neue Zeitrechnung begann. Schon bevor wir die andere Straßenseite erreichten, fürchtete ich den Augenblick, in dem sich unsere Wege wieder trennen würden, dabei kannte ich nicht mehr von dir als den flüchtigen Duft deines Parfums und den Schwung deiner Arme beim Gehen. Wir blieben stehen. Ich deutete mit der freien Hand nach vorne und sagte dir, ich ginge weiter geradeaus. Ein kurzes Nicken und wir liefen schweigend nebeneinander her. Du hieltest dich am Riemen deiner Tasche fest und ich mich am Regenschirm, den ich erst ein paar Tage zuvor einfach mitgenommen hatte. Er hatte im Schirmständer einer Kantine gestanden und mich an Pan Tau erinnert. Der stumme Gentleman mit der Melone und dem Stockschirm, der durch eine streichende Bewegung über seine Hutkrempe zur kleinen Puppe werden konnte, hätte dort niemals gegessen. Weswegen es mir weniger schlimm vorkam, den Schirm zu stehlen. Ich stellte mir vor, dass der Besitzer schon lange tot und der Schirm über Jahre stehen geblieben wäre, denn wer will heute noch ein schweres Monster mit Holzgriff und umständlicher schwarzer Bespannung, robust und in keiner Hinsicht kleinzukriegen? Einen solchen Schirm steckt man nicht vorsichtshalber in die Tasche, man tritt damit einem Wolkenbruch selbstbewusst entgegen.

Ehrlich gesagt war ich an diesem Morgen nur vor die Tür gegangen, weil es schüttete und ich mein Diebesgut ausprobieren wollte. Als ich den Schirm aufspannte, erschrak ich über seine Spannweite, ich verlor mich darunter. Vielleicht kam ich deshalb auf die Idee, mich dir zu nähern. Doch es ist schöner zu glauben, das Schicksal hätte mich getrieben und mir nicht erlaubt, dich im Regen stehen zu lassen.“

*

Bert hört die Klingel, den Schlüssel in der Wohnungstür, doch diesmal geht er ihr nicht entgegen. Er wartet in der Küche auf sie. Das Essen hält er im Backofen warm. Sie riecht den Bestechungsversuch schon im Flur: Rosenkohl im Römertopf.

Sie sitzen am Tisch. Die Lampe, denkt sie, hängt einfach zu tief, der Lichtkegel bestrahlt das Gemüse, als wollte er es röntgen. Der Messingrand kürzt Berts Kopf empfindlich. Sie stochern im Essen herum, verwüstetes Land auf unschuldigem Teller.

„Ich muss mit dir reden“, sagt er.

Hanna nickt.

Dann bricht es aus ihm heraus und die Worte gruppieren sich um den elektrischen Heiligenschein wie Magnete.

„Du weist mich nur noch zurück. Wenn ich dich berühren will, weichst du aus, als wären meine Hände fremde Wesen. Weißt du, wie lange wir uns nicht mehr geküsst haben?“

Sie schüttelt den Kopf.

„Das kannst du auch nicht wissen, es ist schon zu lange her. Nichts existiert mehr zwischen uns. Du entziehst mir alles, was du mir jemals geschenkt hast.“

„Geschenkt?“, fragt sie und versucht, den Rand der Lampe auf die Höhe seiner Augen zu bringen.

„Ja, geschenkt. Du hast dich mir hingegeben, mich leidenschaftlich gewollt. Du hast gesagt, mit mir sei es etwas ganz Besonderes. Und plötzlich willst du es nicht mehr. Ohne Erklärung. Als ob du dich vor mir schützen müsstest.“

Er beugt sich nach vorn und sein Haar glänzt im Licht.

„Du bist so anders.“

„Ich bin immer anders.“

Anders anders, denkt er.

Ja, denkt sie.

Sie lehnt sich zurück, legt die Hände links und rechts neben den Teller. Ihre Lider sind schwer und das Summen im Kopf wird lauter. Das alte Lied.

Er macht weiter. „Du kannst mir doch nicht einfach alles wieder wegnehmen und so tun, als wäre nichts geschehen.“

„Ich nehme dir nichts weg. Du kannst alles behalten. Aber ich bin bankrott. Ich kann dir nicht einmal mehr was leihen.“

„Du bist verrückt, Hanna.“

Sie schließt die Augen. Sie könnte auf der Stelle einschlafen.

„Du sagst nichts mehr. Du verschwindest immer mehr. Was ist mit dir?“

„Ich bin“, sagt sie und weiß nicht, was sie ist.

„Verliebt?“ Er spuckt das Wort aus wie Gift.

Sie schweigt.

„Kenne ich ihn?“

Sie antwortet nicht.

„Ich kenne ihn also.“

Sie steht langsam auf, schiebt mit den Kniekehlen den Stuhl zurück.

„Ich will nicht mehr“, sagt sie unvermittelt.

Wie gerne würde er ihr eine Szene machen. Schnauben. Brüllen. Drohen. Aber er kann das nicht. Er will bloß zurück in ihre Arme. Zurück in die Furche zwischen ihren Brüsten, in die seine Nase, seine Stirn, seine Augen passen, als wäre sie nur für ihn gemacht. Zurück in die Nächte, an die sie sich nicht mehr erinnert. Er verliert sie an die Zeit. An ein Phantom, das kein Gesicht hat. Nur deshalb fragt er nach einem Namen.

Sie zögert. Er drängt.

„Sascha“, sagt sie schließlich und der Klang ihrer Stimme breitet sich unaufhaltsam zwischen ihnen aus, schiebt sich zwischen ihre beiden Körper und versperrt jeden Fluchtweg.

Einen Augenblick lang steht sein Mund unbeweglich offen. Dann schnappt er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Bevor seine Arme in dem kalten Brei aus Rosenkohl, Kartoffeln und Käse landen, hat sie ihre Jacke vom Stuhl genommen.

„Lass mich“, sagt Hanna, „einfach los“ und geht zur Tür.

Bert antwortet nicht. Er liegt im Essen und schluchzt.

*

Feierabend. Eigenartiges Wort. Als ob Menschen nach der Arbeit aus ihren Büros stürmten und Freudentänze aufführten. Von wegen. Dabei hatte auch Julia es früher nicht abwarten können, ihr Büro zu verlassen. Anders als ihre jüngeren Kollegen heute, die dem After-Work-Chill-out entgegenfiebern, um sich bei gelockerter Krawatte gegenseitig zu erzählen, wie wichtig sie sind.

Als Julia vor über zehn Jahren bei F&C angefangen hatte, war es der Gedanke an etwas anderes gewesen, der sie trotz der Papierberge, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten, der vielen Telefonate, die sie führen, und der Meetings, an denen sie teilnehmen musste, wieder und wieder auf die Uhr blicken ließ, bis es endlich fünf war. Bis sie die gläserne Tür mit dem schwarzen länglichen Griff hinter sich schließen, den Aufzug nach unten nehmen konnte, im Spiegel noch einmal die Frisur überprüfte, um schon in der Eingangshalle nach ihr Ausschau zu halten. Wenngleich sie wusste, dass Sascha im Auto warten würde, eine Straße weiter. Während der Fahrt zu Julias Wohnung berührten sich nur ihre Hände, verrieten einander, dass sie mehr wollten, als nur mit den Fingern zu spielen. Doch erst, wenn Julia die Wohnungstür geöffnet und Sascha sie hinter sich geschlossen hatte, wurden sie zum Liebespaar.

Viertel vor sieben. Sascha hat sie schon eine Ewigkeit nicht mehr abgeholt, in einer halben Stunde beginnt der Yogakurs im Fitnesscenter um die Ecke und sie verspürt nicht die geringste Lust, sich vom Schreibtisch wegzubewegen. Die Etage ist menschenleer, niemand sitzt an einem Freitagabend um diese Zeit noch im Büro. Außer ihr, Julia Rückert, seit einigen Monaten in die Chefetage befördert, seit ein paar Tagen niedergeschlagen.

Das Telefon klingelt, sie schaltet den Anrufbeantworter ein, stellt den Apparat leise, lehnt sich zurück. Ihr Büro ist geschmackvoll eingerichtet: dunkelroter Teppichboden, braune Ledersessel, funktionale Aktenschränke, das Sideboard, auf dem immer frische Blumen stehen. Ihr gro­ßer Schreibtisch mit dem schwarzen Flachbildschirm und der ledernen Unterlage, auf der die ergonomisch geformte Maus liegt. Die Aussicht auf die Stadt ist nicht gerade mit der Manhattan Skyline zu vergleichen, aber die meisten ihrer Freunde und Bekannten würden sagen, sie habe es geschafft. Eben nicht in New York, aber immerhin in der Berliner Dependance.

Nur sie alleine weiß, dass das nicht stimmt. Sie kann gar nicht ankommen, denn sie hat den falschen Weg genommen. Kein Ziel, das sie erreicht, kann sie darüber hinwegtrösten, dass sie niemals aufgebrochen ist, um ihren Traumberuf zu ergreifen. Doch wenn sie die Augen zusammenkneift, kann sie sich vorstellen, der Rollschrank wäre eine Instrumentenablage, das Sideboard vielleicht eine Liege. Auf dem Schreibtisch könnten sich ebenso gut Befunde stapeln und sie wäre erschöpft nach einer anstrengenden, aber erfolgreich verlaufenen Operation am offenen Herzen. Eine gute Ärztin hätte sie werden können, da ist sie sicher. Dr. Julia Rückert hätte mit Blutwerten ebenso jongliert wie heute mit Aktienkursen, hätte mit derselben ruhigen Hand Menschenleben gerettet, mit der sie nun Unternehmen vor dem finanziellen Ruin bewahrt.

Ihre Abiturnoten waren gut genug, um Medizin zu studieren, doch sie war zu wenig mutig, sich ihrem Vater zu widersetzen. Sie sollte in seine Fußstapfen treten, einen Juristen oder Banker heiraten, damit das Familienunternehmen weitergeführt würde. Julia hätte nicht sagen können, weshalb, aber sie hatte schon als Teenager gespürt, dass aus seinen Plänen nichts werden würde. Obwohl sie versucht hatte, seine Kleine zu bleiben, als sie ihm schon über den Kopf wuchs. In den Jahren im Internat, während ihrer gemeinsamen Urlaubsreisen und auch dann noch, als sie schon erwachsen war.

Wo wäre ich wohl heute, überlegt sie und malt dabei große Fragezeichen auf einen weißen Notizblock, wenn ich wirklich Medizin studiert hätte?

Sie hätte sich viel früher mit ihrem Vater überworfen, aber möglicherweise würde sie noch mit ihm sprechen. Oder wieder. Sie hätte die Kleinstadt, in der sie bekannt war wie ein bunter Hund, bereits als Studentin verlassen, wäre vielleicht in ein anderes Land gezogen. Ärzte ohne Grenzen. Doch selbst wenn sie eines Tages in Berlin gelandet wäre, hätte sie niemals als knapp Dreißigjährige eine solche Anzeige aufgegeben: Suche Frauen, für die Geld keine Männersache ist.

Wenn sie mit achtzehn ihren Willen durchgesetzt hätte, wenn sie nun nicht als angesehene Finanzberaterin und Anlageprofi, sondern als Chirurgin in den regnerischen Abend hinausginge, wäre sie dann jemals Sascha begegnet?

*

„Ich weiß nicht, ob ich mir deine Stimme anders vorgestellt hatte. Ob ich unter dem Schirm, kurz vor Erreichen der Fußgängerzone, überhaupt an etwas anderes gedacht hatte, als ewig mit dir weiterzugehen. Dich plötzlich sprechen zu hören, war wie ein Blitz aus heiterem Himmel, deine Worte trafen mich unverhofft, deine Frage nach einem Café in der Nähe erschien mir wie eine unlösbare Aufgabe. Ich blieb stehen, du kamst einen Schritt zurück unter den Schirm und schon in diesem Moment hätte ich dich gern geküsst. Mein Arm schmerzte davon, den Schirm zu halten, ich wechselte die Seite und hoffte, es würde nicht aufhören zu regnen. Deine Unterlippe hatte sich ein wenig nach vorne geschoben, du wartetest auf eine Antwort und ich stotterte etwas von einem Bistro hier gleich um die Ecke und das Herz schlug mir bis zum Hals. Wenn du mich nach dem nächsten Bankautomaten gefragt hättest, ich wäre auch dorthin mit dir gelaufen. Du nahmst mir den Schirm aus der Hand, berührtest dabei leicht meinen Arm und ich wusste nicht, wohin mit ihm. Du haktest dich bei mir ein und von da an waren wir ein Paar, das an einem verregneten Mittwochmorgen durch die Stadt schlenderte.

Es ist zu früh für eine Mail. Normalerweise meldest du dich erst gegen elf. Du rufst mich nie an. Wenn du es doch einmal tätest, bekäme ich wohl einen Schreck, ich würde glauben, es wäre etwas passiert. Es gibt Dinge, die zwischen uns nicht geschehen. Telefonieren gehört dazu. Und trotzdem zucke ich jedes Mal zusammen, wenn es bei mir klingelt, hoffe, dass du es bist. Ich wüsste gern, wie deine Stimme durch den Hörer klingt. Ob sie sich genauso tief und weich unter die Haut schleicht wie unter dem Regenschirm. Manchmal bin ich versucht, deine Visitenkarte, die du mir nach dem Kaffeetrinken hingehalten hast, aus meinem Portemonnaie zu nehmen und die Nummer einzutippen. Zweimal habe ich das schon getan und nach dem dritten Freizeichen die Verbindung unterbrochen. Aus Angst, eine andere Stimme könnte sich melden, eine Wirklichkeit, der ich nicht gewachsen bin. Was weiß ich denn von dir?

Schon auf der engen Bank in dem völlig überfüllten Bistro hast du kaum etwas von dir erzählt. Hast mich nur angesehen, gelächelt und mich reden lassen. Mir öfter widersprochen als zugestimmt, als wolltest du mich am Reden halten, als machte es dir Spaß, mich zu provozieren. Deine Augen ruhten auf meinen Lippen und ich wagte nicht zu schweigen. Die anderen Gäste unterhielten sich laut und lachten, es war zu warm in dem stickigen Raum und du öffnetest einen Blusenknopf mehr. Der Schweiß sammelte sich zwischen meinen Brüsten und plötzlich hatte ich das dringende Bedürfnis, meine Hände zu waschen. Ich stand auf, ging auf den Durchgang zu, hinter dem ich die Toiletten vermutete, deinen Blick im Rücken, stechend und fordernd, froh, als ich eine Tür hinter mir schließen konnte. Im Spiegel sah ich eine fremde Frau. Sie hatte gerötete Wangen, fiebrige Augen und Hitzeflecken am Hals. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich durch ein Fenster geklettert und geflüchtet. Ich kenne viele meiner Gesichter. Mit und ohne Scheinwerfer, mit und ohne Make-up, vor und nach einer langen Nacht. Aber mir war nicht klar, dass ich auch so aussehen kann: ganz und gar ausgeliefert. Jede Schutzschicht schien von mir abgefallen, das, was mich aus dem Spiegel heraus anstarrte, war nichts als mein Ich, verwirrt und gefährlich offen.

Du hattest den Arm auf die Lehne der Bank gelegt und nahmst ihn nicht weg, als ich mich neben dich setzte. Ich drehte mich zu dir und fragte dich nach deinem Beruf. Ich hätte dich lieber nach dem Siegelring an deinem Finger gefragt. Hellblau, golden eingefasst. Es ist kein Ring, den man sich selbst kauft, und für ein Erbstück ist er zu modern. Jemand muss ihn dir geschenkt haben. Julia muss ihn dir geschenkt haben. Ich habe bis heute noch nicht gewagt, danach zu fragen. Auch nicht, wie oft sie bei dir ist, ob sie einen Schlüssel zu deiner Wohnung hat, ob du die Wochenenden mit ihr verbringst und ob du noch immer mit ihr schläfst. Jetzt, seitdem du es mit mir tust.“

*

Herbert hasst, wie er heißt. Bert klingt schon besser. Das erinnert an Brecht. Oder an Ernie. Beides ist ihm lieber, als zu heißen wie sein Vater. Bert klingt nach freiwilliger Kürzung, nach entschlossener Kastration. Das mag er. Sascha mag er nicht. Das klingt nach Traumschiff und schwul. Er hat nichts gegen Schwule. Nur, wenn sie ihm die Freundin ausspannen. Einen Sascha nimmt er ebenso wenig ernst wie einen Herbert. Wahrscheinlich heißt Hannas Neuer in Wirklichkeit Siegfried und ist Dachdecker. Oder Samuel und kommt aus Wien. Nein, eher ist er Franzose oder Südländer. Einer der Musiker, mit denen sie auftritt oder die sie im Studio trifft, einer von denen, die von Club zu Club tingeln. Sascha. Vielleicht ein Akkordeonspieler. Das würde ihr gefallen. Chansonleidenschaft. Damit kann sie mehr anfangen als mit seinen tölpelhaften Versuchen, ihr zum Geburtstag ein Ständchen zu bringen. Er ist eben kein Künstler.

„Macht das eigentlich Spaß, fremden Leuten im Mund herumzustochern?“

Die Frage hört er immer, wenn er es schafft, jemanden länger als zehn Minuten für sich zu interessieren. Er weiß keine Antwort darauf. Er macht einfach, was er kann, und er kann, was er macht, weil er Zahnarzt ist. Die Alten legen ihm vertrauensvoll ihr Gebiss auf den Tisch und die Kinder haben keine Angst vor ihm.

Sascha klingt weich. Sascha klingt kein bisschen männlich. Er versucht, sich vorzustellen, an wen er Hanna verliert. Wie er heißt, wie alt er ist, ob er einen Bart hat oder mehr Haare auf dem Kopf als er selbst. Noch. Denn über kurz oder lang fallen sie auch einem Sascha aus. Man kann es vertuschen, nicht verhindern. Ausnahmen gibt es nicht. Höchstens exzellente Haarteile, die peinlich sind, wenn die Nacktheit beginnt. Die er mit ihr entdeckte.

„Lass mich dich ausziehen“, flüsterte sie.

Vor Hanna wusste er nichts von Frauen, die Männer verführen.

„Sieh mich an“, sagte sie, während sie ihn hielt.

Bert schüttelt den Kopf, fährt sich durch die Haare. Wirft die Gedanken durcheinander, zerstückelt sie. Aus und vorbei. Sie will ihn nicht mehr, lässt ihn fallen.

Seine Augen sind geschwollen. Bert wird erst wieder zur Arbeit gehen, wenn ihm die Schwäche nicht mehr ins Gesicht geschrieben steht. Wenn der fremde Name aus seinem Kopf radiert ist und er aus diesem Albtraum aufwacht. Wenn er sich wieder im Griff hat. Er muss die Lücke verkraften, die Hannas Zahnbürste zwischen Deodorant und Rasierwasser hinterlässt, ein Krater wie in einem faulen Zahn, den er nach gründlichem Bohren sorgfältig wieder füllt. Abschleifen, polieren, ausspülen. Keine große Sache, solange er den Nerv nicht trifft. Dafür muss er sich einen Überblick verschaffen. Eine Röntgenaufnahme.

Am nächsten Morgen verschanzt er sich mit einer dicken Decke und einer Thermoskanne Tee auf einer Bank hinter der Brücke. Wahrscheinlich hält man ihn für einen Penner. Aber von hier kann er ungesehen die Eingangstür des Eckhauses schräg gegenüber beobachten. Es ist Sonntag und er ist sicher, dass Sascha über kurz oder lang aus dem Haus herauskommt oder hineingeht. Verliebte treffen sich immer sonntags. Prinzipiell.

Nebenan ist ein Café. Dort gibt es den besten Baum­kuchen der Stadt. Ältere Damen mit braunen Handtaschen und beigefarbenen Sommermänteln trinken auf durchgesessenen Sofas entkoffeinierten Kaffee, junge Paare werden sich später nach einem Spaziergang zum Aufwärmen Cappuccino bestellen. Er nicht. Er harrt aus.

Bert sieht hinauf zu Hannas Schlafzimmer. Die Vorhänge sind zurückgezogen, sie ist wach. Vielleicht liegt er neben ihr, in dem großen Bett, das sie doch am liebsten für sich alleine hat. Am Ende ist sie bei ihm und Bert macht sich hier doppelt lächerlich. Lässt sich gerade einen Espresso ans Bett bringen. Sie mag es, in fremden Wohnungen aufzuwachen. Sie liebt das Neue, langweilt sich schnell. Dreimal hat er ihretwegen seine Wohnung umgeräumt. In all der Zeit dachte er kein einziges Mal daran, dass es ein Ende haben könnte. Solange er ihren Atem neben sich hörte, gab es keinen Grund zur Beunruhigung.

„Ich will nicht, dass du mich brauchst“, wehrte Hanna ab.

„Ich brauche dich, weil ich dich liebe.“

Sie verzog das Gesicht, davon wollte sie nichts hören. Nichts von Gefühlen, nichts von Heirat, nichts von Kindern.

„Kinder sind grausam“, sagte sie.

Von der U-Bahn kommt ein junger Mann mit blondierten Haaren die Straße herauf. Er hält umständlich einen Strauß Blumen, dessen Papier im leichten Wind auseinanderschlägt. Rote Rosen. Bert steht auf, damit er ihn besser beobachten kann: Ja, so sieht ein Sascha aus. Er trägt eine taillierte Jacke mit Pelzbesatz und eng anliegende Hosen, die seine jugendliche Figur betonen. Ein Gigolo. Der sich jetzt wie ein Teenager noch einmal durch die Haare fährt, bevor er auf die Klingel drückt und auf ein Wort aus der Gegensprechanlage wartet.

Bert sieht hinauf zu Hannas Wohnung und es dauert nicht lange, bis er sie hinter der Fensterscheibe erkennt. Sie wirft einen kurzen Blick hinunter auf die Straße und verschwindet wieder. Jetzt wird sie ihr Arbeitszimmer durchqueren, im Flur kurz vor dem Spiegel stehen bleiben und mit einer entschlossenen Handbewegung den Hörer neben der Tür abnehmen.

„Guten Morgen“, wird sie sagen oder einfach wortlos auf den Summer drücken, damit Sascha ungeschickt mit den Blumen in der Hand in den Hausflur stolpern kann.

Es gibt ihn also wirklich. Bert setzt sich wieder auf die Bank, wickelt sich in die Decke und vergräbt seinen Kopf in seinen aufgestützten Armen. Er versteht es nicht. Will es nicht verstehen. Wird hier sitzen bleiben und warten. Auf ein Wunder. Auf das Ordnungsamt. Auf Sascha.

*

Heute vor elf Jahren. Und Sascha hat es vergessen. Nicht zum ersten Mal. Aber zum ersten Mal erinnert Julia sie nicht daran. Deshalb werden sie abends nicht wie in den letzten Jahren an diesem Tag zu dem Inder spazieren, der längst nicht mehr so gut ist wie damals.

Sie hatte nie zuvor eine Anzeige aufgegeben. Und sie war verwundert, dass sich tatsächlich eine Frau darauf gemeldet hatte, eine Juristin, selbst noch nicht lange in der Stadt. Julia war stolz auf sich. Sie hatte gerade die ersten Schulungen zum Thema Selbstmanagement hinter sich: Eigeninitiative ergreifen, nicht durch langes Zögern Chancen verspielen. Sie hatte alles richtig gemacht, den ersten Schritt zum Netzwerken getan und doch war sie ungewöhnlich nervös vor dem ersten Treffen mit Sascha Helferich.

Hoffentlich, dachte sie, ist es keine komische Paragrafentussi, die ich am Ende nicht mehr loswerde. Wer weiß, was sie erwartet. Vielleicht ist sie ja nur halb so patent wie ihr Vorschlag, einen Tisch zu reservieren, um sich in dem Café leichter zu finden. Nicht annähernd so nett wie der erste Eindruck am Telefon.

Obwohl Julia eine Viertelstunde zu früh gekommen war, saß Sascha schon vor einer Tasse Tee und stand auf, um sie mit festem Händedruck zu begrüßen. Julia setzte sich ihr gegenüber und der Rest war denkbar einfach gewesen.

„Ich bin Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Steuern und Finanzen. Oder besser gesagt, ich versuche es zu werden. Gar nicht so leicht in einer Männerdomäne.“

Bei diesen Worten hatte Sascha, die in ihrem hellgrauen Hosenanzug, der weißen Bluse und den kurzen braunen Haaren genauso aussah, wie Julia sich eine Berliner Rechtsanwältin vorgestellt hatte, so entwaffnend gelacht, dass es Julia leicht gefallen war, ohne Umschweife zuzugeben, dass sie selbst gerade erst am Anfang stand. Sie hatte hoch gepokert, als sie direkt nach der Dissertation die Stelle als Juniorberaterin angenommen hatte. Mit einunddreißig einige Jahre später als ihre Kollegen, dafür mit einem exzellenten Studienabschluss in der Tasche.

„Also eine kleine Streberin?“, fragte Sascha belustigt.

„Nicht wirklich. Ich wollte den Ernst des Lebens ein wenig hinausschieben. Also den, den mein Vater für mich vorgesehen hatte.“

„Und wie sollte der aussehen?“

„Das Familienunternehmen weiterführen. Versicherungen und Geldanlagen. Für Gutbetuchte oder florierende mittlere und große Unternehmen. Allein bei dem Gedanken, an demselben Schreibtisch zu sitzen wie mein Großvater, bekam ich Depressionen. Von Montag bis Freitag hinter dem Computer und am Telefon, am Wochenende vor dem Fernseher – grauenvoll!“

„Wie hast du dich gedrückt?“

Sie war einfach bei Nacht und Nebel verschwunden und hatte ihrem Vater die Entscheidung in einem Brief mitgeteilt. Darin hatte sie sich entschuldigt für ihren Rückzieher und ihre Feigheit, ihm nicht früher reinen Wein eingeschenkt zu haben. Dass sie ihren eigenen Weg gehen muss. Dass sie anders ist.

Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört.

Als sie Sascha davon erzählte, waren gerade einmal sechs Monate vergangen und während sie ihren Vater und sein Lebenswerk beschrieb, stieg ihr die Hitze in den Kopf, breitete sich ein vertrautes Gefühl in ihr aus: Schuld. Hals über Kopf war sie geflohen vor einem Lebensentwurf, in den sie nicht hineinpasste. Vor den Ansprüchen eines in seinem Stolz gekränkten Mannes, der all seine Hoffnungen in die einzige Tochter gesetzt hatte, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte. Der ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen, monatlich eine beachtliche Summe auf ihr Konto überwiesen und nicht geahnt hatte, dass sie hinter seinem Rücken eigennützige Pläne schmiedete. Ihn täuschte. Ihn hinterlistig und gemein betrog, solange sie noch auf sein Geld angewiesen war.

Julia schämte sich dafür. Ja, sie war berechnend gewesen, hatte nur an sich gedacht. Doch sie war unendlich erleichtert, entkommen zu sein. Wenngleich es sich immer noch anfühlte, als wäre sie auf der Flucht und könnte jeden Augenblick von der Polizei gefasst und wieder zurückgebracht werden. Auch deshalb wollte sie sich in Berlin vernetzen. Sich fest verankern.

„Und nun?“, fragte Sascha, „was machst du jetzt so an den Wochenenden?“

Für keine der beiden war es Liebe auf den ersten Blick. Noch ahnten sie nicht, wie viele Samstage und Sonntage sie zusammen verbringen würden.

Julia sieht auf die Uhr. Sie ist spät, sie muss sich beeilen. Statt mit Sascha trifft sie sich mit einer befreundeten Psychologin. Sie muss das Gespräch mit Silke vorbereiten. Sachlich und vernünftig mit ihrer Halbschwester reden. Auch wenn sie ihr lieber die Meinung sagen würde. Doch das wäre genau das Falsche. Sie muss ihr Vertrauen gewinnen, konstruktiv nach einer Lösung suchen. Denn so kann es nicht weitergehen.

*

„In meinem Kopf schneit es. Zwischen Groß- und Kleinhirn herrscht eisiges Schweigen, es ist Winter auf dem Marktplatz gespielter Gefühle. Um mich herum: ein Klavier, eine Gitarre, ein Notenständer, ein Tisch mit Notizzetteln und Notenblättern, CDs, ein kleines Mischpult, Aufnahmegeräte. Ich frage mich, was du davon halten würdest. Von meinem kargen Zuhause, in dem mich selten jemand besucht. Zusammengebastelt aus dem, was andere nicht mehr wollten, oder Stücken, die in einem Möbelhaus verramscht wurden. Meine Schüler denken wahrscheinlich, diese vier Wände wären mein Studio und ich ginge abends in eine gemütliche Wohnung, in der eine Katze auf mich wartet. Doch abends wartet in dem zweiten Zimmer, das außer der Küche noch vom Flur abgeht, nur mein Bett auf mich. Kein kuscheliger Wohnraum, keine weichen Teppiche, keine Regale voller Bücher oder Kommoden mit Porzellan von meiner Großmutter. Mit ihr habe ich etwas anderes gemeinsam: Auch ich habe kein Badezimmer. Die Dusche ist in die ehemalige Speisekammer eingebaut. Man muss das warme Wasser zuerst ein wenig laufen lassen, damit es in dem kleinen gefliesten Viereck warm wird. Ob dir das etwas ausmacht? Oder dich in der Küche bei heruntergelassenem Rollo abzutrocknen? Ich würde die Heizung aufdrehen. Und dir meinen Bademantel geben. Aber du sagst, wenn du in meine Wohnung kommst, beginnt ein neues Jahrhundert. Hat denn nicht längst ein neues Zeitalter begonnen?

Seit ich dich kenne, trinke ich mehr Kaffee und rauche wieder. Um einen Hauch des Geschmacks zu erahnen, den deine Küsse hinterlassen. Nur daran kann ich denken. Nicht an meine Arbeit, nicht an die Notenabfolgen, die ich einstudieren sollte, nicht an die Unterrichtsstunden, die ich noch vorbereiten muss. Ich sitze nicht am Schreibtisch oder an meinen Instrumenten, ich sitze untätig herum, laufe nervös durch die Wohnung. Kann mich nicht auf komplizierte Gitarrengriffe konzentrieren, bringe keine Harmonie zustande, meine Hände sind bei dir. Bei der Andeutung einer Berührung, wenn du dich im Hotelzimmer von mir verabschiedest. Bei dem Gefühl, wenig später verlassen in dem großen Bett mit der zerknitterten weißen Bettwäsche zu liegen, die Vorhänge zurückgezogen, ein gigantischer Himmel.

Das letzte Mal habe ich einen Satz auf einem der Briefbögen hinterlassen: Dich denke ich nicht, dich träume ich mir.

Habe mir vorgestellt, wie die Frau, die dort putzt und aufräumt, ihn liest. Wie sie das Papier aus der Ledermappe nimmt, zusammenfaltet und einsteckt, einen unbeschriebenen neuen Bogen an seine Stelle legt und die Worte später in ihrer Mittagspause noch einmal liest. Dabei an ihren Geliebten denkt. Oder an ihre Geliebte? Sehnsucht hat wie ich.

Wenn du mich hören könntest, würdest du wohl kritisch die Augenbrauen nach oben ziehen und gar nichts sagen. Denken, dass ich übertreibe. Du glaubst mir nicht, das fühle ich. Du glaubst bloß meiner Haut. Nur wenn wir nackt sind, vergisst du alle Zweifel und gehörst mir. Jedenfalls bilde ich mir das ein. Deine Hände suchen mich mit einer Verzweiflung, die fragt: Bist du wirklich wahr? Oft wissen sie nicht, wo sie mich zuerst berühren wollen, sind tollpatschig zärtlich, vor Aufregung fahrig. Werden erst ruhiger, wenn sie ihr Ziel erreicht haben, wenn sie in mir sind. Sie verlieren mich, wenn Worte zwischen uns kommen. Als ob die einzige Sprache, die wir verstünden, unser Begehren wäre.“