Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Erste Auflage 2015
© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main Sewastos Sampsounis, Frankfurt 2015
www.groessenwahn-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-95771-045-1
eISBN: 978-3-95771-046-8
IMPRESSUM
Heartbeatclub
Reihe: Q
Herausgeber
Jannis Plastargias
Seitengestaltung
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
Schriften
Constantia und Lucida Calligraphy
Covergestaltung
Marti O ´Sigma
Coverbild
Marti O ´Sigma: ›Flyer Nr. MQ3‹
Lektorat
Thomas Pregel
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
Juni 2015
ISBN: 978-3-95771-045-1
eISBN: 978-3-95771-046-8
Diese Anthologie ist all jenen gewidmet, die lieben –
egal welche Hindernisse sich ihnen in den Weg stellen,
unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Phänotyp.
Liebe ist Liebe – überall auf der Welt.
Sie ist das Wichtigste in unserem Leben.
Every heartbeat bears your name
Loud and clear they stake my claim
Ask anyone and they'll tell you it's true
Every heartbeat belongs to you.
Amy Grant – Every Heartbeat
»Heartbeatclub« – das ist nun der Name, den wir meinem neuen »Baby« gegeben haben, er ist weniger »hot« oder »sexy« als erwartet. Er deutet an, dass wir Liebenden eine Gemeinsamkeit haben, uns in etwas ähneln. Wir lieben und leiden alle, da ist niemand von ausgeschlossen, sofern er die Liebe an sich heranlässt ...
Was ist mit dem ursprünglichen Titel »Der heiße Rhythmus der Liebe« passiert? Wieso habe ich nicht diesen für die bereits dritte Ausgabe unserer queeren Anthologie gewählt?
Da muss ich wohl etwas weiter ausholen, und zwar mit dem Ausschreibungstext, der die Vorgabe für die Autor*innen war:
»Paare haben ›ihren Song‹, Menschen kommen sich beim Tanzen im Club näher, lernen sich kennen – und manchmal lieben. In tiefster Liebessehnsucht hört man melancholische Liebeslieder, denkt an die Geliebte/den Geliebten, gemeinsam sitzt man am Meer und lauscht verliebt dem Rauschen. Und wer kennt nicht das Schwärmen für den Sänger einer Boyband oder die Bassistin einer angesagten Punk-Rock-Combo? Musik und Liebe/Erotik gehören genauso zusammen wie Tanzen und Liebe/Erotik. Jede/r hat dazu eine Geschichte zu erzählen: glücklich, unglücklich, romantisch, leidenschaftlich, schön, traurig, unglaublich, lustig, merkwürdig.«
Da sollte ich doch erwarten können, dass da so richtig kitschige und romantische Geschichten abgeliefert werden, schwülstig, leidenschaftlich, euphorisierend. Doch was passierte auch dieses Mal, wie schon bei den ersten beiden Anthologien? Ich erhielt wunderbare Geschichten, jedoch nicht das, was ich erwartete. Die wenigsten Texte sind romantisch, schwelgerisch, verkitscht,– klar, auch diese Zutaten kommen vor, letztendlich sind diese 17 Geschichten in erster Linie Liebesgeschichten. Erneut werden ganz viele wichtige Themen angesprochen, niemals mit erhobenem Zeigefinger, immer unterhaltsam, und doch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit und Klugheit, mit viel sprachlichem Gefühl und Witz, sehr realistisch und authentisch, oft sogar politisch, aber ohne auffordernden Charakter.
»Meine Sexualität ist meine Sache, aber mein Geschlecht ist es offensichtlich nicht.« Das ist ein Satz, den die Hauptperson aus der Geschichte »Unser erster-letzter Tanz« von Cori Kane sagt. Über die Richtigkeit dieses Gedankens mache ich mir keinen Kopf, mein Thema soll dieses Mal eher das Geschlecht sein, während ich bei den ersten zwei Vorworten versucht habe, dem Begriff »queer« näherzukommen. Ich glaube, ich bin nicht mehr allzu weit entfernt davon, eine Idee davon zu bekommen, was dieses »queer« ist. Doch was ist mit dem Geschlecht? In Zeiten, in denen Mario Barth Stadien füllt, in denen er althergebrachte Klischees von Männern und Frauen, die alles nur nicht witzig sind, äußert, habe ich ganz oft das Gefühl, dass auch hier vieles im Argen liegt. Wir machen uns Gedanken über die Emanzipation von Homo-, Bi-, A-, Pansexuellen, aber was ist mit der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau? Sind wir da heute so sehr viel weiter als vor zwanzig Jahren? Und welche Rolle spielen unsere diesbezüglichen Vorurteile in homosexuellen Beziehungen?
In unserer ersten Geschichte von Nino Delia »Dance with Judith B. oder Du bist, was Du tanzt« wird diese Frage auf sehr clevere Weise gestellt. Die beiden Hauptfiguren sind sehr unterschiedlich, der junge Tänzer Lukas scheint das »Mädchen« zu sein, Khan ist eher der muskulöse, männliche Part, der »Versorger«. Zumindest auf den ersten Blick. Wie sieht der zweite Blick aus? Und wieso sollte diese Kategorisierung überhaupt wichtig sein? Weil wir alle Schubladen brauchen?
Schubladen überall. Ist dieses »queer« nicht auch eine? In die jeder etwas anderes steckt? Einer möchte alles hinein stecken, der andere nur alles Schwullesbische, eine andere möchte alles, was nicht heteronormativ ist, drin wissen. Nur was sollte das sein? Und wer schreibt eigentlich queere Geschichten, was auch immer das ist?
Keine der Geschichten lässt sich meines Erachtens in die Schublade »gay romance« stecken, also selbst wenn man es wollte. Ich möchte gar nicht auf Diskussionen eingehen, was dieses Sub-Genre für Stärken und Schwächen hat, nein, ich möchte auch hier auf die Geschlechter-Diskussion eingehen. Denn hier zeigte sich in den sozialen Netzwerken eine ganz neue Qualität eines Geschlechterkampfes, die mir ein sehr ungutes Gefühl bescherte. Bekanntermaßen sind die meisten Autor*innen von »gay romance« Frauen, gleichzeitig sind die meisten Leser*innen weiblich. Das ist auch gut so und möchte niemand ändern. Nur versteigen sich einzelne schwule Männer dazu, die Werke in diesem Sub-Genre als unrealistisch zu betiteln, den Frauen zu raten, über Dinge zu schreiben, von denen sie mehr Ahnung haben. Der Vorwurf könnte sich dann so anhören, dass man einen Penis und Hoden bräuchte, um von Liebe zwischen zwei Männern, oder Brüste, um über zwei sich liebende Frauen zu schreiben. Dem ist selbstverständlich nicht so. Das beweisen auch die Autor*innen in diesem Werk.
Doch was ist überhaupt ein Mann? Was eine Frau? Was ist, wenn man ein anderes Geschlecht hat? Das gibt es nicht? Welches Geschlecht hat David aus Cori Kanes Geschichte? Und warum hat Evan aus der Geschichte »Tanz der Dämonen« von Andrea Bienek so viele Probleme mit Tamara? Welche eigenen Vorurteile hindern uns daran, Menschen zunächst als Menschen zu sehen, nicht als Mann oder Frau oder Transgender, nicht als Italiener oder Mexikanerin, nicht als Lesbe oder Hetero, nicht als Muslim oder Buddhist?
Diese Vorurteile thematisiert auch Christof Ruppin auf witzige Weise in seiner Geschichte »Von der realen Trughaftigkeit relativer Attribute«, in der sich der Erzähler immer an die eigene Nase fasst, nachdem er Klischees freudig niederschreibt. Vorurteile hat auch Lasar in meiner Geschichte »Liebe zu dritt ist Hippie Shit«, was ein Zitat aus einem Lied der Band »Stereo Total« ist. Mit Songs und Zeilen aus diesen spielen auch Peter Nathschläger in seiner honigsüßen Geschichte »Orchestral Manoeuvres in the Dark« und Ines Schmidt in »Zwischenpause«, die sehr viel krasser als die erstgenannte ist, und in der als einzige Fußball eine Rolle spielt.
Das Niveau in unseren Geschichten ist einmal mehr sehr hoch, nur eine Geschichte habe ich dieses Mal überhaupt abgelehnt, was mit Sicherheit ein ewiger Rekord bleiben wird. Ich habe die Geschichten aufgrund ihrer hohen Qualität in die Anthologie aufgenommen, ungeachtet dessen, welche Sexualität und welches Geschlecht in den Mittelpunkt der Erzählung gelegt wurden. Mein Ziel war es, eine möglichst breite Auswahl anzubieten. Dass dann trotzdem die Zahl der schwulen Charaktere überwiegt ... nun, das ist eben so. Das ist aber nicht schade, denn sie sind alle besonders stark und mussten drin bleiben. Neben der sehr offen gehaltenen Geschichte von Thomas Pregel »Jeder tanzt für sich allein« und der ungewöhnlichen Begegnung von Tom und Adrian in Juliane Seidels »Vivaldis Farben« beeindrucken die unaufgeregte, aber wunderschöne Geschichte von Levi Frost mit dem Namen »Das Lied vom Wunder« und die sehr heitere Erzählung »Klassik vs. Metal« von S.A. Urban.
Gerne hätte ich mehr lesbische Geschichten angeboten, mehr etwas im Stile von »Zappenduster« von Andrea Bienek, die eine überraschende Montags-Story erzählt – ich verspreche übrigens, das danach die Montage von den Leser*innen dieser Anthologie vielleicht etwas anders wahrgenommen werden. Ich selbst musste Hand anlegen, um mehr lesbische Charaktere einzubauen, »Es ist, was es ist« bringt Juliane, Charlotte und Stefanie zusammen.
In »Tanz der Dämonen« treffen wir ja auf alte Bekannte aus der letzten queeren Anthologie. Dies tun wir ebenso in Devin Sumarnos Geschichte »Stille für drei Stimmen und einen Schatten. Ein Kanon aus dem Promethean«, die einen sehr ungewöhnlichen Namen trägt.
Bewegend sind aber auch die Geschichten »Geschenkt« von Andi Latte, der einen ganz anderen Ton in diese Anthologie bringt, fast schon möchte ich ihn den Frankfurter Bukowski nennen, »Lovesong« von Andrea Bielfeldt, die dann letztendlich nicht nur für mehr Heterosexualität in dieser Sammlung sorgt, sondern auch für ein bisschen »Schmacht-Gefühl«. Ein paar Aphorismen bietet Carsten Nagels in seiner bunten Erzählung »Salsa«.
Nein, schwülstig ist auch diese Anthologie nicht geworden. Liebesgeschichten, ja, aber keine Schmonzetten, keine Fantasy, alles realistisch, alles authentisch, mitunter vielleicht sogar selbst erlebt – oder es hätte selbst erlebt sein können.
Es ist nicht wichtig, welches Geschlecht unsere Autor*innen haben, es ist völlig unwichtig, welche Sexualität und Herkunft, welche Religion und Hautfarbe, welches Alter, welchen Status – wichtig ist, dass sie alle etwas zu sagen haben. Etwas Bewegendes. Und das haben sie. In allen Geschichten ist Emotion, ist Herz und Rhythmus zu finden, aber auch ein kleiner, stechender Schmerz, eine Verunsicherung, ein Grund, über unsere Gesellschaft nachzudenken.
In diesem Sinne wünsche ich viel Spaß und noch mehr Inspiration beim Lesen.
Jannis Plastargias im Juni 2015
I might need you to hold me tonight
I might need you to say it’s alright
I might need you to make the first stand
’cos tonight I’m finding it hard to be your man
Savage Garden – Hold me
Er packte sie, bohrte seine Finger in ihre Schultern und wirbelte sie um ihre eigene Achse. Sie knallte gegen ihn, schlug ihn zurück, brachte ihn ins Stolpern. Sie machten drei Schritte zur Line der Basedrum, er zurück, sie vorwärts. Ihre Hände fanden sich, reckten sich an gestreckten Armen nach oben und zogen dann ihre Körper so fest wie möglich aneinander. Ihr Busen presste gegen seine Brust, ihr Atem an seinem Hals war warm.
In ihren Augen stand die Frage, und er wusste keinen anderen Weg, sie zu beantworten, als sie, so fest er konnte, an den Hüften zu packen und von sich wegzustoßen, sodass ihre Füße den Boden nicht mehr berührten. Ein paar Meter weiter am Rand der Bühne kam sie mit einer Leichtigkeit zum Stehen, die er ihr immer wieder neidete.
Der Refrain setzte ein, und mit einem Schritt Verspätung rannte sie wütend auf ihn zu. Er machte sich bereit, ging in die Hocke und breitete die Arme für ihren Angriff aus. Sie sprang mit beiden Beinen gleichzeitig ab. Ihre Füße landeten nur ein paar Millimeter zu weit links und rutschten außen an seinen Oberschenkeln ab.
Er spürte den Schmerz, noch bevor er auf das harte Holz aufschlug. Doch er schaffte es immerhin, ihren zarten Körper vor Schaden zu bewahren.
»Alles okay?«
»Nein.«
Er schloss die Augen und atmete tief durch, dann traute er sich, sie fragend anzusehen.
»Es hat wieder nicht funktioniert.«
Er schloss die Finger um ihre Arme. »Der Sprung hat sonst immer geklappt.«
»Dann war halt was anderes falsch.« Die Musik lief unbeirrt weiter. »Wir machen immer irgendwo Fehler.«
»Es sind nicht mehr ganz zwei Wochen bis zur Premiere. Bis dahin muss einfach alles sitzen.« Er schob sie von sich zurück in den Stand und richtete sich ebenfalls auf. »Los. Von vorn.«
Er sah ihrem zarten Arm nach, wie er sich grazil über ihrem Kopf spannte. »Ich kann bald nicht mehr.«
»Es ist besser, jetzt Fehler zu machen als später auf der Bühne.«
Unnachgiebig hielt er ihr die Hand entgegen und wartete.
Sie seufzte ergeben. »Du bist der Boss.«
War er nicht, doch sie fühlte sich sicher, wenn er die Führung übernahm.
Sie warteten den Moment ab, bis der Song zurück zum Anfang sprang. Dann drehte sie sich zu ihm, streckte den Hals und nahm seine Hand, um sie auf ihre Schulter zu legen. Ihre Anfangsposition. Wie automatisch strich er mit dem Daumen über ihren Puls, spürte den regelmäßigen Rhythmus schneller werden. Seine Lippen fanden den empfindlichen Punkt kurz unter ihrem Ohr, und sie sog scharf die Luft ein. Mit der Zunge fuhr er hoch zu ihrem Ohrläppchen. Seine Hände, nun beide auf ihren Schultern, pressten ihren schmalen Körper gegen seine Muskeln. Ihr weicher Busen rieb gegen seine Rippen, und er schloss die Augen, um sich dem Gefühl besser hingeben zu können. Er liebte diesen Körper, seine Beweglichkeit, seine Stärke, sein Aussehen. Die Rundungen, die weichen Formen, die sich bis in den letzten Winkel zu unnachgiebiger Masse anspannen konnten. Ihr Duft …
Nein.
Nicht ihr Duft. Sie roch, wie eine Frau riechen sollte, blumig und frisch, immer noch frisch. Hier an ihm klebte der Geruch einer Frau.
Mit einem Schlag öffnete er die Augen und erkannte sich in dem riesigen Spiegel auf den ersten Blick nicht wieder. Seine Hand hatte sich in ihr dickes, langes Haar gegraben, die andere lag an ihrem Po, drückte sie enger gegen sich. Er traute sich nicht, hoch in das Spiegelbild seiner Augen zu sehen.
Er versuchte, nicht erschrocken von ihr wegzuspringen, ließ seine Hände stattdessen langsam sinken und trat erst dann ein paar Schritte zurück.
Sie stand bewegungslos, die Augen weit offen.
»Willst du noch einen Durchgang machen?«, fragte sie dann und sah aus, als würde sie die Antwort bereits kennen. Also machte er sich gar nicht erst die Mühe, sondern nickte nur entschuldigend und versuchte, nicht zu rennen, als er abging. Er fand es widerlich, in den verschwitzten Klamotten ins Auto zu steigen, doch noch länger hätte er es nicht im Studio aushalten können.
* * *
In der Wohnung war es dunkel und still, also warf er sein Zeug in die Ecke, zog die verschwitzten Sachen aus, ließ sie mitten im Flur liegen, bevor er ins Bad ging und den Regler der Dusche auf heiß stellte. Schnell stand der kleine Raum voll Dampf, doch wenigstens konnte er seine eigene Haut nicht mehr spüren. Alles war rot und taub.
Als das Wasser über seinen Kopf lief, sah er den Rinnsalen nach, wie sie sich über seine glatte Brust schlängelten, und musste unvermittelt an den weichen, biegsamen Körper denken, der sich dagegen gepresst hatte. Er schloss die Augen und rieb sich das glühende Gesicht. Ihr perfekt gestreckter Hals, den seine Lippen berührt hatten … Der Kuss war Teil der Choreographie, seine Zunge jedoch nicht.
»Meine Güte, Lukas, du siehst aus wie eine Leuchtboje im Nebel«, ertönte Khans körperlose Stimme irgendwo von der Tür her. »Dreh das Wasser kälter, du verbrühst dich noch.«
Erschrocken und ertappt stellte er es gleich ganz aus und tastete dann nach seinem Handtuch. Stattdessen griff er in die breite Hand seines Mannes, die ihn, nass und tropfend wie er war, gegen seinen nackten, breiten Oberkörper zog. An Khan war nichts weich, jeder Muskel hatte seinen Platz, jede Sehne spannte sich zur rechten Zeit an.
Er griff hinter Lukas und zog ihm das große Badetuch um die Schultern. »Ich hatte eigentlich überlegt, dich zu überraschen und zu dir reinzusteigen. Aber auf Hummer hatte ich dann doch keine Lust«, sagte er und glitt mit den Fingerspitzen über Lukas’ Schulterblätter. »Harter Tag?«
Er schloss die Augen, atmete Khans herben Geruch ein und widerstand dem Drang, seine Stirn gegen die muskulöse Brust zu drücken. »Ging so. Die Probe hätte besser sein können. Und bei dir?«
Khan begann, mit den Daumen über die verspannten Muskeln zu streichen. »Nichts Weltbewegendes. Tom und ich hatten noch eine Besprechung für das Seminar nächste Woche. Wir hatten überlegt, ob wir den Dienstwagen oder eher die Bahn nehmen sollten. Sind immerhin doch fast vier Stunden Fahrt. Deshalb bin ich auch so spät zu Hause.«
»Das ist schon nächste Woche?« Er unterdrückte ein Seufzen. Dann wäre Khan also genau in der heißen Phase der Proben weg – und zur Premiere. Mal wieder.
Khan strich mit den Knöcheln über Lukas’ zarte Wange. »Tut mir leid, dass ich dich wieder so lange allein lasse.«
»Ich kann schon auf mich selbst aufpassen.« Er war kein verängstigtes Mädchen, das meinte er immer klarstellen zu müssen. »Du musst dir keine Sorgen um mich machen.«
»So war das auch nicht gemeint. Ich wäre nur gern öfter mit dir zusammen. Hör zu, mach dich in Ruhe fertig, und ich schau derweil in den Kühlschrank und improvisiere ein Abendessen. In Ordnung?«
Lukas nickte nur und wischte dann mit der Handfläche über den beschlagenen Spiegel, durch den er direkt in Khans Gesicht sehen konnte, das trotz der Rasur heute Morgen schon wieder den ersten Bartschatten hatte. Er selbst war blass und sah seinem fahlen Spiegelbild an, wie müde er war. Khan lächelte gedrückt und ließ ihn dann allein.
Er rieb sich mit einer Hand über das Gesicht und packte mit der anderen in sein langes Haar, um die widerspenstigen Strähnen über die Schulter zu werfen. Nass, wie sie waren, band er sie zu einem lockeren Zopf. Er schaute auf die kleine Uhr neben den Zahnbürsten. Fast neun. Khan war wirklich spät, und Lukas hatte es nicht einmal gemerkt. So war es aber, wenn nur einer das Geld nach Hause brachte, während der andere sein Hobby zu einem leidlichen Beruf ausgebaut hatte und nicht einmal krankenversichert wäre, ohne diese eingetragene Lebenspartnerschaft, auf die Khan bestanden hatte, um Lukas unabhängiger zu machen. Er lachte seinen breiten Schultern im Spiegel entgegen. Khans würden immer breiter sein, stark genug, seine Last auch noch zu tragen.
Als er aus dem Bad kam, war der Tisch schon gedeckt, aus dem Radio drangen die schrägen Töne eines gängigen Popsongs. Sein Mann hatte keinen nennenswerten Musikgeschmack, ihm war alles recht, was die Stille zwischen ihnen dämpfen konnte.
»Ich befürchte, für mehr als Tomatensauce reicht es nicht«, sagte er entschuldigend, als er sich umdrehte. Er wischte sich die Hände an dem Geschirrtuch ab, das ihm aus dem Bund seiner Hose hing, und kam auf Lukas zu. Der hob nur eine Braue, als Khan mit der Linken seine Hand ergriff und die Rechte um seine Taille schlang. Der Song hatte keinen Takt, der einen Standarttanz auch nur im Entferntesten gerechtfertigt hätte, doch Khan störte das nicht. Lukas hatte gelernt, sich zu fügen, denn es machte Khan Freude. Seinen Mann lächeln zu sehen, war es wert, den Rücken durchzudrücken und den Hals zu strecken.
Tanzen war eins der wenigen Dinge, in denen Lukas eindeutig überlegen war, doch Khan übernahm stets ganz natürlich die Führung. Selbst jetzt, da sie vollkommen aus ihrem eigenen Takt gekommen waren und sich mehr wiegten, als dass sie tanzten.
Das Blubbern hinter ihnen signalisierte, dass das Abendessen fertig war. Khan ließ Lukas’ Taille los und lud ihn so zu einer Drehung ein.
Lukas ließ sich wieder an den warmen Körper ziehen, presste seine Nase schmunzelnd gegen den langsamen Puls an seinem Hals und wich dann zurück, um Khan Platz zum Arbeiten zu lassen.
Nach dem Essen, auf dem Sofa, lag sein Kopf träge auf der Schulter, die ein unnachgiebiges Kopfkissen bot. Khan hatte ihm eine Decke um die Beine gelegt und strich mit den Fingern über Lukas’ Unterarm. Prominente Adern zogen sich über seinen Handrücken bis hoch zu seinem Ellbogen. Lukas’ Hand lag auf Khans flachem Bauch, strich durch den feinen Stoff seines Shirts über die harten Muskeln.
»Komm, Zeit fürs Bett.« Khan küsste seine Stirn. »Ich hoffe, du hast nicht wieder so eisige Füße.«
* * *
Seine Finger schlossen sich um die zierlichen Oberarme, und er spürte, wie ihre Körperspannung auf ihn überging. Er atmete tief ein und stemmte ihren zarten Leib in die Luft. Sie gab keinen Millimeter nach, machte sich steif und segelte nur wenige Sekunden später durch die Luft. Er sah den feinen Gliedern nach, wie sie sich entfalteten, um sogleich in einer perfekten Drehung um sich selbst zu kreisen. Sein Wurf war wohl zu fest gewesen, denn sie glitt wie in Zeitlupe knapp über die Bretter des Bühnenbodens und verfehlte um ein Haar die Matte. Sie wankte und hatte große Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten, aber schlussendlich fand sie doch noch festen Halt und stand.
»Noch einmal!«, rief sie und kam sofort auf ihn zugelaufen. Ihre kleinen Füße berührten das Holz kaum, und in feinen, langen Schritten war sie bei ihm, spannte die Arme an und wartete darauf, dass er sie berührte.
Er seufzte, wiegte den Kopf von rechts nach links und griff dann erneut nach ihren Oberarmen. Dieses Mal war der Schwung zu lasch und sie verfehlte die Matte komplett, stolperte und landete auf Händen und Knien.
»Noch einmal!«
Wieder kam sie gerannt.
Er packte sie fast unvorbereitet und drückte sie weg. Sie hatte ihren Körper nicht genug gespannt und stolperte einfach nur ein paar Schritte rückwärts.
»Lukas!«
»Was denn?!«, fauchte er.
»Was ist los mit dir? Du bist der Mann, du bist der Starke, du bist ...«
»Ich bin fertig.«
»Was?«
»Ich kann nicht mehr.«
»Was soll das heißen?«
»Ich will das nicht mehr ...«
»Was willst du nicht mehr?«
»Dieser … starke Mann sein. An deiner Seite fühl ich mich wie ein ungeformter Holzklotz, der nur dazu dient, dich in gutem Licht dastehen zu lassen.«
Sie sah ihn an, zögerte ihre Antwort hinaus. »Seit wann willst du das ganze Scheinwerferlicht für dich haben?«
»Ich will keine Scheinwerfer, ich will deinen Körper!«, platzte er heraus und schlug sich sofort die Hände vor den Mund wie ein schuldbewusstes Kind.
Um sie herum pochte immer noch der tiefe Bass der Musik in der schweren Stille der Worte, die er nie hatte aussprechen wollen.
Sie schluckte heftig. Er sah es an der Bewegung ihres Halses, weil er sich nicht traute, in ihre Augen zu schauen.
»Lukas, ich dachte ... « Sie kam auf ihn zu, immer noch im sicheren Abstand, aber dichter. »... du bist doch schwul.«
Da brach es aus ihm heraus, platzte wie ein zu prall gefüllter Luftballon – ein helles, klingendes Lachen. Sie starrte ihn an, als hätte er komplett den Verstand verloren. Und dem war wahrscheinlich auch so, sonst würde er sich hüten auszusprechen, was er schon so lange fühlte.
»So meinte ich das nicht.«
Natürlich glaubte sie ihm nicht.
Lukas versuchte, sich zu erklären. »Also, ich wollte sagen, dass ich bewundere, was dein Körper auf dieser Bühne macht. Genau das will ich auch, aber das kann ich nicht.«
Sie legte den Kopf schief und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Ihre Lippen pressten sich fest aufeinander, bevor sie schließlich den Mund öffnete: »Du willst nur tanzen wie ich?«
Nur. Bei ihr klang das so einfach.
»Ich will diese Bewegungen, das Fließende, das Weiche, das Feine.«
Sie verstand. »Aber du bist nur der Mann und deswegen darauf beschränkt, mich in diesen Bewegungen zu unterstützen und zuzusehen, dass ich all das Weiche und Fließende zeigen kann. Richtig?«
Er nickte, unsicher, ob sie wirklich verstand.
»Wieso tanzt du dann überhaupt mit mir?«, fragte sie schließlich und sah zu ihm auf. »Modern Dance geht auch wunderbar allein, und dann kannst du alles machen, was du willst.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich liebe es, wie du tanzt. Ich will doch nicht aufgeben, dir zuzusehen, nur weil ich nicht so grazil und elegant sein kann. Es wäre viel schlimmer für mich, deinen Körper mit einem anderen zu sehen.«
Sie seufzte schwer, sah ihn aber immer noch forschend an.
»Wir sollten Schluss machen.«
Sein Herz setzte einen Schlag aus.
»Für heute«, sagte sie dann grinsend, und er widerstand nur knapp dem Drang, sie in die Schulter zu knuffen. »Morgen lassen wir ausfallen.«
»Aber in fünf Tagen ist die Premiere.«
»Alles andere sitzt, nur dieser Song hier macht Probleme. Das kriegen wir auch übermorgen noch geregelt.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.« Sie drückte seine Hand und setzte sich in Bewegung. »Bis zur Premiere wird alles passen.«
* * *
Khan hatte ihn abholen wollen, doch da hatte er auch noch gedacht, dass die Probe um einiges länger dauern würde. Er hätte anrufen können, doch er wollte nicht allein zu Hause sitzen. Stattdessen bezog er Stellung auf einer der Bänke vor dem Theater und genoss die Sonne, die seine kalten Finger wärmte.
»Lukas? Was sitzt du denn hier draußen? Ihr habt doch noch Probe, oder?«
»Das sollte ich dich fragen, Dario. Seid ihr nicht nach uns dran?«
Der andere Mann setzte sich neben ihn und griff dann in seine Jackentasche.
»Wir fangen in einer halben Stunde an, ja. Ich dachte, dass die Bühne noch besetzt ist, also bin ich vor dem Aufwärmen noch raus, um eine zu rauchen. Stört dich doch nicht, oder?« Als Lukas verneinte, zündete Dario sich die Zigarette an und gestikulierte dann mit dem Ding zwischen seinen Fingern. »Also, warum schon so früh fertig?«
»Heute lief es nicht sonderlich.« Er zuckte mit den Achseln. »Wir machen morgen weiter«, log er, weil er keine Lust auf Erklärungen hatte.
Dario nickte nur und blickte sich dann um, als er das langsamer werdende Auto bemerkte, das fast neben ihnen zum Stehen kam. Lukas stand automatisch auf, als Khan ausstieg und um die Motorhaube herum zu ihnen kam.
»Hey.« Bevor er zurücktreten konnte, hatte Khan ihm schon die Hand auf den Oberarm gelegt und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Dann wandte er sich an Dario. »Guten Abend.«
»’n Abend«, antwortete Dario nickend, die Zigarette zwischen den Lippen. Khan verengte kurz die Augen ob des Rauchs, den er nicht ausstehen konnte, sagte aber nichts. Stattdessen fühlte Lukas sich genötigt, die beiden bekannt zu machen.
»Ach«, Dario lächelte breit, »so hatte ich mir das fast vorgestellt.«
»Was?«
»Na, ihr zwei«, erläuterte Dario, als wäre das selbsterklärend. »Du bist ja auch nicht der schmalste, Luke, aber gegen deinen Mann bist du eindeutig das Mädel.«
Lukas widerstand dem Drang, die Augen zu schließen, und atmete stattdessen tief ein.
Ja, er war das hübsche Accessoire an der Seite des erfolgreichen Geschäftsmanns. Dario war nicht allein mit dieser Sichtweise.
»Gut, dass Sie nicht in Schubladen denken«, begann Khan in kühlem Ton. »Selbst in einer Hetero-Beziehung sollten wir heutzutage über solche Klischees hinaus sein, oder nicht?
»Ach«, winkte Dario belustigt ab und stand dann auf. »Ob nun hetero oder schwul, einer liegt immer unten.«
Khan wollte noch etwas erwidern, das sah Lukas an der harten Linie seines Kiefers, doch Dario ließ ihm keine Chance. Er klopfte Lukas fest auf den Arm. »Ich muss dann. Falls wir uns nicht mehr sehen: Viel Glück für die Premiere.«
Er verschwand, ohne auf eine Erwiderung zu warten, und ließ die beiden Männer auf dem Gehweg stehen.
Khan schüttelte den Kopf und hielt ihm die Wagentür auf. Lukas untersagte es sich, mit den Augen zu rollen, und stieg schweigend ein. Er wollte einfach nur nach Hause.
Später, als sie gemeinsam in ihrem großen Bett lagen, die Decken um die warmen Körper geschlungen, drehte Khan sich zu ihm um und legte seinen Kopf auf Lukas’ Brust.
»Du warst den ganzen Abend so still.«
Er murrte nur.
Khan manövrierte sein Bein über Lukas’ Schenkel und legte ihm den Arm um die Taille. »Hör mal, du bist kein Mädchen.« Er ließ seine Finger unter Lukas’ Po gleiten. »Auch wenn du das genießt.«
»Lass das.« Er versuchte die Hand wegzudrücken, konnte sich aber auch nicht wegdrehen, weil Khan halb auf ihm lag. »Das ist geschmacklos und widerlich.«
»Es sollte witzig sein«, brummte Khan.
»War es aber nicht.«
»Hab ich an deinem angewiderten Blick erkannt, danke.«
Khan rollte sich von ihm runter auf den Rücken, entschied sich dann aber doch für eine sitzende Position. »Macht dir das ernsthaft zu schaffen?«
»Nicht wirklich«, antwortete Lukas. »Es stimmt ja.«
»Wie meinst du das?«
»Klischeehaft halt.« Er drehte den Kopf und sah seinen Mann an. »Du bist der mit dem Geld, der Versorger und ich die kleine Tanzmaus, die neben dir ganz niedlich aussieht.«
Khan sah ihn an, als hätte er gerade die Scheidung verlangt. Dann schnaubte er tatenlustig und hockte sich auf die Knie. Mit einer gleitenden Bewegung hatte er die Decke von Lukas’ Körper geschlagen und legte ihm die Hände auf die Brust. »Du bist nicht niedlich. Du bist sexy und stark, bewegst dich elegant, und dein Körper ist hart und muskulös.«
Lukas verzog den Mund. »Aber du behandelst mich doch auch wie ein Mädchen. Siehst zu, dass ich genug esse, sorgst dich um mich, wenn ich allein zu Hause bin … Du übernimmst sogar beim Tanzen die Führung.«
»Ja«, stimmte Khan lächelnd zu. »Weil ich größer bin und nicht tanzen kann. Ich würde mir die Beine brechen, wenn du mich führst und wir richtig im Takt bleiben müssten.«
»Und der Sex?« Wenn sie schon einmal darüber sprachen, wollte Lukas nicht so leicht klein beigeben.
»Was soll damit sein?«, fragte Khan, doch dann schien er zu begreifen. »Wie wir miteinander schlafen, macht dich automatisch zu einer Frau?«
Wieso klang das aus seinem Mund so lächerlich? Es war ja schließlich nicht das einzige, das ihn in dieser Beziehung auf die weibliche Seite drängte.
»Also wirklich, Lukas, fühlst du dich tatsächlich nicht als richtiger Mann in dieser Beziehung?«
Er lag immer noch auf dem Rücken, schaute zu seinem Mann auf und wusste nicht, was er sagen sollte. »Manchmal kommt es mir so vor«, gestand er schließlich und hatte Mühe, dabei nicht wegzuschauen.
* * *
Als er die Bühne betrat, war sie schon dabei, die dicke Übungsmatte für ihre Sprünge in Position zu ziehen. Er überlegte ernsthaft, ob sie das Ding nicht auch für die Auftritte nutzen sollten, um sicher zu gehen, dass sie sich nicht doch noch das Genick brach, wenn er sie durch die Luft warf.
»Brauchst du Hilfe?«
Sie schüttelte den Kopf, zerrte noch ein letztes Mal am Gummi und drehte sich dann zu ihm um. »Alles fertig. Jetzt setz dich da drauf und mach die Musik an, wenn ich es dir sage.«
»Was?«
Sie kam auf ihn zu, ergriff seine Hand und zog ihn zur Matte. »Hinsetzen und Musik auf mein Kommando.« Ohne weitere Worte zu dulden, stellte sie den CD-Player auf seinen Schoß und ging an den rechten Bühnenrand. Sie kniete sich hin, legte den Kopf auf die Arme und gab ihm das Zeichen.
Ihr Song begann, und zu der traurigen Langsamkeit des Sängers erhob sie sich, bis sie auf den Zehenspitzen stand und die Arme hoch über den Kopf reckte. Ein paar der Bewegungen waren aus ihrer Original-Choreo. Das meiste aber war neu.
Der Refrain begann, sie drehte sich einmal um die eigene Achse und kam, den Blick in seine Richtung, zum Stehen. »Und dann lehnen wir Rücken an Rücken!«, rief sie ihm zu und kam mit langen Schritten auf ihn zu, bevor sie sich mit zu viel Schwung umdrehte und ihm ihren schlanken Rücken präsentierte. Da er noch nicht an der Position stand, für die sie ihn eingeplant hatte, kam sie ins Straucheln und sank auf die Knie.
Sie drehte sich sofort um, rappelte sich auf und sprang auf ihn zu. »Es geht natürlich noch weiter, aber das kriegen wir hin.«
Er starrte sie nur an, wusste nicht, was er sagen sollte, ob er etwas sagen konnte. Es war nur ein Bruchteil ihrer Bemühungen, aber er wusste, dass sie ihm noch so viel mehr zu zeigen hatte. »Wann hast du das gemacht?«, fragte er mit brüchiger Stimme.
»Gestern.« Sie strahlte ihn schwer atmend an. »Und das Beste kommt erst noch.«
* * *
Die leere Wohnung machte ihn unruhig. Es war lächerlich, doch ohne Khan wirkte die Euphorie über die großartige Probe nur noch halb so stark. Er war am Morgen aufgebrochen und würde die nächsten Tage auf irgendeinem Seminar verbringen, dessen erfolgreicher Abschluss ihm und der Firma noch mehr Geld einbringen würde.
Nervosität machte sich in seinem Bauch breit, und er kuschelte sich auf der Couch in Khans Platz, die Decke fest um seine Beine geschlungen. Er wollte sich über ihr Geschenk freuen und Khan davon erzählen. Ihm sagen, dass es doch möglich war, ihre perfekten Bewegungen haben zu können, die Figur im Licht zu sein und nicht nur die Dekoration im Schatten. Damit könnte er auch endlich in Worte fassen, was er Khan damals im Bett nicht zu erklären vermocht hatte. Es war wirklich möglich, das Mädchen zu sein, ohne das Mädchen zu sein.
Als das Telefon klingelte, nahm er es zuerst gar nicht wahr. Erst, als es durch die Vibration auf dem Tisch hin und her geschoben wurde, griff er danach und nahm das Gespräch an.
»Hallo, du«, ertönte Khans Telefonstimme an seinem Ohr. »Hast du Zeit oder bist du noch unterwegs?«
»Ich bin schon zu Hause. Bist du gut angekommen?«
»Ja, Tom ist gefahren, damit ich die Sachen für den ersten Vortrag morgen noch durchgehen konnte.«
»Nett von ihm.«
Er wusste nichts weiter zu sagen, er war noch zu sehr mit ihrem letzten Gespräch beschäftigt, das durch Khans Stimme wieder in den Vordergrund seines Bewusstseins gerückt war.
»Ist alles okay zwischen uns?«, fragte Khan ungewöhnlich leise.
»Sicher. Warum auch nicht?«
Sein Mann war normalerweise niemand, der sich in Gesprächen zurückhielt, deshalb machte ihn das Schweigen stutzig.
»Ich hatte das Gefühl, dass du unglücklich bist – und jetzt bin ich vierhundert Kilometer weit weg und weiß nicht, wie ich es wiedergutmachen kann.«
»Aber du musst doch nichts wiedergutmachen«, beschwichtigte Lukas und wusste in diesem Moment, dass es stimmte.
»Weißt du, wenn es der Sex ist …«
Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Himmel, Khan, darum ging es nicht, wirklich. Ich wollte nur irgendwie deutlich machen, dass ich nicht in allem von dir abhängig sein will.«
»Das bist du doch gar nicht.«
»Doch. Das Geld, die Wohnung, meine Gefühle …«
»Deine Gefühle?«
»Ich hasse es, wenn du nicht hier bist. Es macht mich unruhig, ich kann mich nicht konzentrieren und …«
»Und das macht dich zu einem Mädchen?«
»Na ja, es macht mich zumindest schwach und …«
»Lukas«, unterbrach Khan ihn scharf. »Denkst du wirklich, ich schreie im Büro immer ›hier‹, wenn es um Außendienst geht? Es ist furchtbar, allein zu schlafen, und ich bin immer unausstehlich, wenn wir stundenlang sinnlos über die Autobahn tuckern oder in Staus stehen, die mich noch später zu dir zurückbringen. Frag Tom, der ist allein was essen gegangen. Also, wenn das deine Definition von mädchenhaftem Verhalten ist, dann sage ich mal: Willkommen im Club!«
»Blödmann«, lachte Lukas mit Tränen in den Augen. Es war vollkommen sinnlos, über diese Aussage emotional zu werden, doch er konnte sich nicht helfen. Die Endorphine aus der Probe zogen wieder mit voller Wucht ihre Bahnen durch seinen Blutkreislauf, und er war sich nicht sicher, aber sie mischten sich wohl mit dem freudigen Gefühl, Khans warme Stimme an seinem Ohr zu spüren. Er vermisste ihn.
* * *
Durch den Saal hallte noch reges Klatschen für ihre Vorgänger, was ihn nur noch nervöser machte. Sie waren schon zweimal draußen gewesen, doch das hier war der letzte große Auftritt, der, an dessen Aufführung er bis vor fünf Tagen noch gezweifelt hatte. Insgesamt waren sie drei Paare, die je drei Choreographien aufführten. Sie alle kamen von einer anderen Bühne in der Stadt und würden den Abend jeweils auch auf diesen Bühnen wiederholen. Heute nun, zum Premierenabend, konnten sie diesen Song auf ihrer eigenen Bühne tanzen.
»Alles bereit?«, fragte sie und drückte seine Hand.
Er nickte stumm und beugte sich dann zu ihr hinab, um ihre Wange zu küssen. »Danke.«
Sie lächelte und stupste ihn mit der Hüfte an. »Das darfst du dann noch mal sagen, wenn wir das hier überstanden haben.«
Sie lösten ihre Hände voneinander und gingen jeweils zu einem Seitenaufgang der Bühne. Das Publikum war ganz still, als sie heraustraten und sich auf den Knien in Position begaben.
Das Lied setzte ein, und sie kamen völlig synchron in den Stand, rollten sich auf die Zehenspitzen und reckten die Arme in die Luft. Sie wiegten sich und ließen ihre Körper der Musik im gleichen Takt folgen. Sie tanzten in perfekter Einheit, streckten die Glieder, spannten die Muskeln an.
Er hatte sich noch nie so geschmeidig gefühlt wie jetzt, als er ein Bein nach vorn streckte, während er sich weit nach hinten bog, um gemeinsam mit ihr die Hände rückwärts auf den Boden zu setzen.
Sein persönlicher Höhepunkt folgte bei den einsetzenden Drums und der lauter werdenden Stimme des Sängers kurz vor Ende des Songs. Sie hatte sich von ihm freigekämpft, und nun standen sie sich gegenüber, schwer atmend und wild entschlossen. Sie nickte unmerklich.
Er setzte sich in Bewegung. Seine Füße trugen ihn ein Stück, bis einer den Boden verließ und in der wartenden Kuhle ihrer Hände aufkam. Sie drückte ihn hoch, er krallte sich in ihre Schultern und schaffte es in den Handstand. Als sie die Arme hob, um ihre Finger stabilisierend um seine Unterarme zu legen, zitterte ihr zierlicher Körper unter ihm. Doch sie hielt stand, wie sie in jeder Probe standgehalten hatte. Für ihn.
Auf dem letzten Gitarrenklang ließ er sich fallen, fand festen Halt und zog sie so eng wie möglich gegen seine Brust.
Ein paar Sekunden lang hörte er gar nichts durch das Rauschen in seinen Ohren und das betäubende Klopfen seines Herzens gegen die Innenseite seiner Brust – oder war es ihr schlagendes Herz, das gegen seine Rippen hämmerte? Sie löste sich von ihm, sodass sie beide zur Rampe sahen und sich verbeugen konnten.
Das Publikum klatschte und jubelte, und obwohl Lukas wusste, dass ihre Bewegungen mehr Standard als ausgefeilte technische Glanzleistung waren, konnte er sich in diesem Moment keine schönere Performance vorstellen.
Sie hatte das für ihn getan, hatte ihn teilhaben lassen und aus der Rolle des statischen Platzhalters herausgeholt. Sicher, sie hatten in der ersten Version einen viel größeren Schockfaktor gehabt, doch das hier, diese Choreo war einzig und allein für ihn gewesen.
»Schau«, flüsterte sie ihm atemlos zu.
Er hob den Kopf und suchte nach dem, was sie gesehen hatte.
Da stand er.
Khan, breit grinsend und klatschend am Ende des Saals neben der Tür. Zwischen Arm und Rippen hatte er einen peinlich-pinken Blumenstrauß geklemmt, was so lächerlich aussah, dass Lukas lauthals lachen musste. Khan zuckte die Achseln und nickte dann ihr zu.
»Du hast gewusst, dass er kommt?«
Sie zwinkerte ihm zu. »Klar, er hat sich von mir die Karte zurücklegen lassen.«
»Biest.« Er schmunzelte liebevoll.
»Gern geschehen.«
If Joan of Arc
Had a heart
Would she give it as a gift
OMD – Joan Of Arc
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