Deutschland 1998–2005
C.H.Beck
Die rot-grüne Ära war eine Zeit des Umbruchs. Ihre Wirkungen prägen die Bundesrepublik bis heute. Atomausstieg, Agenda 2010, Krieg und Frieden – es waren dramatische Jahre, in denen Tabus gebrochen wurden. Epochale innenpolitische Reformen erhöhten den Pulsschlag der Politik und bewirkten eine gesellschaftliche Polarisierung wie selten zuvor. Soziale Krise, forcierte Globalisierung und internationaler Terrorismus: Um die Jahrtausendwende veränderte sich die Welt in einer rasanten Geschwindigkeit. Mit drei Kriegen wurde die Regierung Schröder-Fischer konfrontiert, im Kosovo, in Afghanistan und im Irak. Mehrmals drohte die Koalition auseinanderzubrechen. Die schwierigen und temporeichen Zeitläufte verlangten den Menschen viel ab. Erfolg und Scheitern lagen auf vielen Feldern nahe beieinander. Auf der Grundlage exklusiven Archivmaterials legt Edgar Wolfrum die erste aus den Quellen gehobene Geschichte Deutschlands zwischen 1998 und 2005 vor. Neues und Überraschendes wird zu Tage gefördert – ein aufregendes Stück Zeitgeschichte, glänzend erzählt.
„Ein spannend zu lesendes Buch – anschaulich geschrieben, überzeugend in der Argumentation, entschieden im Urteil. Wer über die rot-grünen Jahre und ihre Auswirkungen mitreden will, sollte den neuen Wolfrum lesen.“
Heinrich August Winkler
Edgar Wolfrum, geb. 1960, ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg. Er hat zahlreiche Bücher verfasst, darunter das Standardwerk Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Die Mauer. Geschichte einer Teilung (2. Aufl. 2009), Die 101 wichtigsten Fragen: Bundesrepublik Deutschland (2009).
Einführung
Erster Teil
Aufbruch ins 21. Jahrhundert
Panorama
1. «Aber jetzt ist eine andere Zeit» – Der Machtwechsel 1998
Kampa 98 und «Neue Mitte»
Der Zeitgeist: Kohl=Vergangenheit, Schröder=Zukunft
Rückblick: Der Gang der SPD durch die Wüste
Rot-Grün in den Ländern und «hessische Verhältnisse»
Sind die Grünen regierungsfähig?
Schröder, Fischer und das Kabinett
Wie historisch war 1998?
Euphorie nach dem Wahlsieg, große Erwartungen, erste Enttäuschungen
2. Das Ende der Nachkriegszeit – Der Kosovo-Krieg
NATO-Luftschläge
Die weltweite Rückkehr des Krieges
Zerfall Jugoslawiens
Deutsche Beteiligung ohne UN-Mandat?
Von Farbbeuteln, Angriffskriegen und Menschenrechten: Zerreißprobe für die Grünen
Die Rolle des Verteidigungsministers Scharping
Lob der NATO und «Kriegsparteitag» der SPD
Kofi Annan und die Fortentwicklung der UNO
Schröder: «Führung zeigen!»
Fischer-Plan und Scharpings Moskau-Initiative
Von «Nie wieder Krieg» zu «Nie wieder Auschwitz»
Folgen der Epochenwende
3. «Der gefährlichste Mann Europas»? – Lafontaines Scheitern als Weltökonom
Nur 136 Tage
Lafontaines finanzpolitische Vorstellungen
Auf internationalem Konfrontationskurs
Nemax, Goldgräberstimmung und Asienkrise
Monate der Gereiztheit und des Verdrusses
Der Ablauf des Rücktritts
Schockstarre in der SPD
Das mediale Echo auf den Rücktritt
Die Hintergründe im zeitlichen Abstand
4. Der «Dritte Weg» – Globale Strategie für ein neues Regieren?
Bill Clinton, Tony Blair und «The Third Way»
Die deutsche Debatte zum gesellschaftlichen Wandel
Das Schröder-Blair-Papier in Vorbereitung
Präsentation in London: «Der Weg nach vorn für Europas Sozialdemokratie
Internationales und deutsches Echo
Kritik: Wird die SPD «rosa»?
«Konsens und Führung» oder Berliner «Räterepublik»?
Der Regierungsstil des «Medienkanzlers»
5. Das «Projekt», die Gesellschaft zu erneuern – Zeit der Reformen
Regierungsstil «happy goes lucky»?
Gegen «Scheinselbständigkeit» und «Billigjobs»: Das 630-Mark-Gesetz
Fataler Fehler: Die Formel vom «Doppelpass»
Agenda 2000: Das Aktions- und Reformprogramm der EU
Anschluss an den Westen: Ein zeitgemäßes Staatsbürgerschaftsrecht
Der Greencard-Coup und das Zuwanderungsgesetz
Für eine Kultur der Toleranz: Lebenspartnerschaftsgesetz
Zaubertrank Zivilgesellschaft? «Zukunft des bürgergesellschaftlichen Engagements»
Riester-Reform: Das Ende der staatlichen Rente?
Dauerbaustelle Gesundheitsreform
6. Umwelt, Klima, Atom – Die neuen Menschheitsfragen
Ökologische Steuerreform: «Projekt der Moderne» oder rot-grüner «Murks»?
Vom «Benzinschock» nicht erholt: Das schleichende Ende der ÖSR
Operation Dosenpfand und LKW-Maut-Debakel
Atomausstieg sofort! Trittin prescht vor
Müller und Schröder: Nationaler und internationaler «Energiedialog»
Die Grünen und der Atomkonsens
Deutschland als Vorbild globaler Klimapolitik: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz
«Rinderwahnsinn»: Die BSE-Krise in der EU
Ministersturz, Furcht vor einer weltweiten Ausbreitung von BSE und Agrarwende
Entwicklungspolitik als globale Strukturpolitik
Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung (2002) und «Renewables» (2004) in Bonn
Zweiter Teil
Im Bann des Terrors vom 11. September 2001
Panorama
1. 9/11 und Afghanistan – Vom Befreier zur Kriegspartei
«Uneingeschränkte Solidarität», Chronologie der Ereignisse im Kanzleramt
Operation «Enduring Freedom»
Anspannung der Regierung und hektische Debatte in den Parteien
Verwirrung um Donald Rumsfeld
Kriegsbeschluss und Vertrauensfrage
Petersberger UN-Konferenz
«Gutes» ISAF-Mandat und «ungeliebtes» OEF-Mandat
Wechsel im Verteidigungsministerium: Scharpings Entlassung, Strucks Ernennung
Deutschland wird am Hindukusch verteidigt
Alte Wehrverfassung und neue Aufgaben der Bundeswehr
«Kein Krieg»? Entwicklungen nach 2005
2. Terrorangst und Sicherheit – Politische und mentale Folgen des Globalschocks
Ein Klima der Angst
RAF-Terrorbekämpfung als Vorbild?
Sicherheitspakete I und II
Otto Schily, die Grünen und Günther Beckstein
«Der attackierte Rechtsstaat» – Kritik
«Sicherheit als Bürgerrecht» oder «Sicherheit herstellen, Bürgerrechte sichern»?
Alarm: Ein Flugzeug über Frankfurt
Gefahr von rechts: NPD-Verbotsverfahren scheitert
Terroranschläge in Madrid und in London
Internationaler Vergleich: USA, Europa
Transnationale Terrorismusbekämpfung
3. Rückkehr und Verwandlung Europas
Integration im Westen und Revolution im Osten
Die Osterweiterung der EU
Rot-grüner Kurswechsel in der Europapolitik?
Deutschland als «ehrlicher Makler»? Fischers Europa-Idee
Die Einführung des Euro 2002
Braucht Europa eine Verfassung? Debatte und Referenden
«Kein Club des christlichen Abendlandes»? Die Türkei-Frage
Und Russland?
4. Ein Friedenskanzler? – Schröders «Nein» zum Irak-Krieg 2002/03
Die Bush-Doktrin
Deutschland zwischen Zweifel und Selbstbewusstsein
Wahlkampf, der «deutsche Weg»
Bushs Rede vor der UNO
Herausforderer Edmund Stoiber und die Irak-Frage
Motive das Kanzlers
Deutsch-französischer Schulterschluss
Die Achse Paris-Berlin-Moskau
Die Spaltung Europas
Feilschen im Weltsicherheitsrat
Rot-grüne Außenpolitik mit globalem Anspruch
Folgen des Irak-Krieges
5. Das Ende einer Episode? – Wahlkampf und Jahrhunderthochwasser 2002
Der Zustand der Opposition und die CDU-Spendenaffäre
Die Liberalen auf Abwegen
Rot-Grün verliert fast jede Landtagswahl seit 1999
Stoiber setzt sich gegen Merkel durch
Familienpolitik im Zentrum
Der Vergleich: Kanzler gegen Kandidat
Erste TV-Duelle in Deutschland und ihr Medienecho
Naturkatastrophe: Die Dämme brechen, Kanzler in Gummistiefeln
Wo steht der Aufbau Ost?
Wahlabend: Stoiber wähnt sich als Kanzler, doch Rot-Grün gewinnt
Dritter Teil
Agieren aus der Defensive
Panorama
1. Wetterleuchten – Die Folgen von Börsencrash und PISA-Schock
Dramatische Haushaltstage 2002/03
Was zuvor geschah: Börsencrash und T-Aktien-Debakel
Rückblende: Der PISA-Schock
Bildungsoffensive: Die Erfolge
Bildungspolitik: Die Misserfolge
Ein «Blauer Brief» aus Brüssel und die «Entzauberung» von Hans Eichel
Kritik von allen Seiten Ende 2002
2. Agenda 2010 – Die Umorientierung Deutschlands
Peter Hartz im Französischen Dom: «Heute ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen»
Alarm im Maschinenraum der Agenda-Ingenieure
Der Totenschein für das «Bündnis für Arbeit»
Schröders Agenda-Rede: Politik des kalkulierten Risikos
Hartz-Gesetze und Superminister Wolfgang Clement
Die Pistole auf der Brust der SPD?
Die Grünen und die Agenda
Große Koalition: Die Agenda im Vermittlungsausschuss
Massenproteste, «Montagsdemonstrationen» und Gewerkschaften im Aufruhr
Die «Stimme des kleines Mannes»: «Bild»-Kampagne
Warum lief alles schief? Einschätzungen im Rückblick
Größte Arbeitsmarktreform in der Geschichte Deutschlands
3. Europäische Erinnerung – Die Berliner Republik und die deutsche Vergangenheit
Kulturstaatsminister Michael Naumann …
… und das Holocaust-Mahnmal
Die Stockholmer Holocaust-Konferenz 2000
Boykott der «EU der 14» gegen Österreich
Die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter
Bundespräsident Johannes Rau in der Knesset
Gespaltene Erinnerungskulturen: Die SED-Diktatur
Deutsche als Opfer: Flucht und Vertreibung
Europäische Normen der Vergangenheitspolitik
Ankunft im Kreis der Siegermächte: Normandie 2004 und Moskau 2005
4. Neue Vielfalt – Kunst, Kultur und Zeitgeist der rot-grünen Jahre
Von der Bonner zur Berliner Republik
Berlin, Wilhelm II. und Schröder
Drei Handschriften der «Bundeskulturpolitik»
Hannover und die Welt: Expo 2000
Der Streit um die «deutsche Leitkultur»
Kulturkampf um die Deutung von 1968
Von «Good Bye, Lenin!» zu «Der Untergang»
Literaturnobelpreis für Günter Grass und die junge Literatur
Kunst des «Empire»: Gursky, Rauch, Richter, Majerus
Popstars, Castingshows und Vorbilder
5. Rot-grüne Dämmerung – Niederlagen, Affären und Neuwahl 2005
Rekordarbeitslosigkeit und «Heidemord» in Schleswig-Holstein
Fischers Stern sinkt: Visa-Affäre und NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes
Ende des Sparens: Durchlöchern des EU-Stabilitätspaktes
Eine Bastion fällt: Der Verlust von Nordrhein-Westfalen
Weitermachen oder Neuwahlen?
Vertrauensfrage aus Staatsräson?
Die Rolle des Bundespräsidenten und des Bundesverfassungsgerichts
«Schröder muss weg»: Mediale Meinungsmacher und WASG
Neue Kraft im Wahlkampf, aber wofür?
Epilog
Bemerkungen zur Methode und zu den Quellen – Dank
Anmerkungen
Bildnachweis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister
Ortsregister
1998 ist in der Bundesrepublik Deutschland erstmals eine amtierende Regierung vollständig abgewählt worden – dies hatte es seit ihrer Gründung 1949 noch nie gegeben. Bisher war zumindest ein Koalitionspartner auch in der neuen Regierung vertreten gewesen. Schon für die Zeitgenossen bedeutete der rot-grüne Machtwechsel unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer einen tiefen Einschnitt. Das Hoffen der einen entsprach dem Bangen der anderen. Doch bald sollte sich erweisen, wie gravierend der Umbruch, der weit über den nationalen Rahmen hinausreichte, tatsächlich war. Rot-Grün wurde, halb freiwillig, meist jedoch gezwungenermaßen, zur ersten «globalen» Regierung in Deutschland. Schon seit dem Ende der 1970er Jahre verdichteten sich etliche globale Ereignisse. Doch führte dieser Globalisierungsschub im Wesentlichen nur zu neuen Wahrnehmungsmustern.[1] Um die Jahrtausendwende herum gerieten jedoch nationale Angelegenheiten immer stärker ins Hintertreffen oder waren alleine nicht mehr zu lösen – die Welt veränderte sich schneller als zuvor. Existenzielle globale Probleme wie Krieg und Frieden, Weltklima oder Finanzkrisen schoben sich nach vorne und erforderten ein weltweites gemeinsames Agieren. Die Bedeutung von nationalen Grenzen schwand, wohingegen globale Bezugspunkte zunahmen. Die Globalisierung drang in vielfältigen Formen in die Lebenswelt der Menschen ein, sie spielte sich nicht nur in der Ökonomie ab. Eine sich ständig beschleunigende Globalisierung hieß vor allem, dass kein Konflikt auf der Welt so fern war, um Deutschland und die Deutschen unberührt zu lassen. Neue Fragen des 21. Jahrhunderts brachen mit Wucht herein. Dieses Buch will erklären, wie die unterschiedlichen Entwicklungsstränge, die diese Zeiten anders sein ließen als vorhergehende, zusammengelaufen sind.
In der Rückschau lässt sich die Zeit am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert als eine Scharnierzeit beschreiben, in der Tabus gebrochen wurden und große Veränderungen in der Bundesrepublik in Gang kamen. Es waren Jahre des Umbruchs, und Deutschland befand sich mitten in einer Welt des Wandels und veränderte sich darin selbst. Zur alles überwölbenden Grundtendenz der Globalisierung traten vier weitere bewegende Kräfte und Tendenzen der Zeit hinzu. Das erste und wichtigste weitere Kräftefeld, das diese Jahre durchzog, umfasste Fragen von Krieg und Frieden – vom Kosovo-Krieg über den Krieg in Afghanistan bis zum Irak-Krieg. Der internationale Terrorismus, der in den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA gipfelte, wirkte auf die äußeren und die inneren Angelegenheiten der Staaten gleichermaßen zurück. Auch die Einstellungen und Vorstellungen der Menschen waren zeitweilig von einer Kultur der Angst geprägt und gravierenden Wandlungsprozessen unterworfen. Darin eingelagert veränderte sich – als zweites Feld – das Gesicht Europas. Der Untergang des Kommunismus hallte nach, Freiheitsgewinn und neues Risiko gingen dabei Hand in Hand.[2] Das Ende der Zweiteilung der Welt und des Kalten Krieges sowie die Revolution der Staatenwelt führten zu einer Rückkehr und Verwandlung Europas von historischem Ausmaß innerhalb eines nur sehr kurzen Zeitraums. Schon angesichts dieser Entwicklungen war eine «Schönwetterregierung» in der Bundesrepublik nicht möglich, wenngleich die Handelnden im Überschwang des Wahlsieges von 1998 zunächst davon ausgehen mochten. Vielmehr mussten deutsche Sonderrollen, die noch aus der Zeit der Teilung bestanden, mitunter schonungslos verabschiedet und neue Gleise in weitgehend unbekanntes Terrain verlegt werden.
Die rot-grüne Zeit kennzeichneten darüber hinaus turbulente und verwirrend hektische Jahre auf einem ganz anderen, dritten Gebiet: Die westlichen Sozialstaaten, allen voran Deutschland, waren in die Krise geraten; sie sahen sich dabei jedoch nicht mehr nur nationalstaatlichen Problemen unterworfen, sondern die von außen kommenden Kräfte und der Wettbewerb mit aufstrebenden Ökonomien wurden zunehmend stärker. Darüber hinaus verbanden sich diese älteren Probleme mit neuen Menschheitsfragen, etwa dem Klimawandel und dem Schutz der Umwelt. Beides zog zunehmend politische und gesellschaftliche Polarisierungen nach sich. Der Pulsschlag der Politik erhöhte sich merklich, und die bisherige ruhige Stabilität der Republik wich einer neuen Unruhe, aber auch größerer Beweglichkeit, nicht zuletzt angesichts solcher globaler Spannungslagen. Schließlich und viertens war das gesellschaftliche Klima 1998 zwar reformfreudig wie schon lange nicht mehr, doch über die Inhalte von Reformen wurde erbittert gestritten. Bisweilen nahm dieser Streit kulturkämpferische Formen an, wobei es eine wesentliche Rolle spielte, dass die 68er-Generation 1998 an die Macht kam, was auf beiden Seiten – derjenigen der Befürworter und derjenigen der vehementen Kritiker von 68 – zu reflexhaften Reaktionen führte. Insgesamt gesehen waren die Jahre zwischen 1998 und 2005 Schlüsseljahre für die weitere Entwicklung des Landes, das stärker als zuvor seiner globalen Verflechtungen gewahr wurde, sich unter dem Druck gesellschaftlicher Modernisierung befand und einen politischen Generationenwechsel durchlebte.
Viele der Bilanzen zu Rot-Grün, die während jener Jahre oder unmittelbar nach dem Ende dieses angeblichen «Projektes» geschrieben wurden, haben solche Zwänge, Verflechtungen und Aporien noch gar nicht wahrgenommen. Stattdessen erblickten Journalisten in den rot-grünen Jahren ein «politisches Abenteuer»,[3] und etliche Sozialwissenschaftler begleiteten die Zeit mit wichtigen kleinteiligen Analysen, verloren jedoch das große Ganze aus den Augen oder vermochten es gar nicht zu sehen, besonders deshalb, weil die Quellen noch fehlten.[4]
Am Anfang jeder historischen Forschung stehen die Quellen. Empirische, auf neuem Quellenmaterial fußende Forschungen ermöglichen es, Zeitläufte neu zu deuten. Geschichtswissenschaftliche Fragestellungen können davor bewahren, politik- und sozialwissenschaftliche Thesen und Methoden, die in der Zeit selbst entstanden sind, einfach zu übernehmen und fortzuschreiben, anstatt sie in ihrer Zeitgebundenheit wahrzunehmen.[5] Basierend auf reichhaltigem, bisher unveröffentlichtem Material ist es der Anspruch der vorliegenden Untersuchung, eine erste, vollständig aus den Quellen geschöpfte Gesamtdarstellung der rot-grünen Ära vorzulegen. Sie ist wissenschaftlichen Standards verpflichtet und soll zugleich anschaulich geschrieben sein. Um diese Zeit lebendig werden zu lassen, wird ausgiebig aus den Quellen zitiert. Ziel ist es, eine eigenständige historische Perspektive auf die jüngste Vergangenheit zu entwickeln.
Abgesehen von solchen wenigen Hinweisen kann diese Einführung aus zwei Gründen knapp gehalten werden: Zum einen, da Bemerkungen zu den Quellen und zur Methode, die sich mit einem Dank an zahlreiche Personen verbinden, im Nachwort zu finden sind. Zum anderen, da die spezifischen Fragen der Untersuchung am Anfang der jeweiligen Großkapitel aufgeworfen werden: Das Buch gliedert sich chronologisch in drei Teile, und jedem Teil ist ein «Panorama» vorangestellt, in dem aus der Vogelperspektive wichtige Zeittendenzen eingefangen und die Leitfragen für den Fortgang der Darstellung benannt werden. Der erste Teil des Buches beschreibt den von einer neuen politischen Generation beabsichtigten schwungvollen Aufbruch ins 21. Jahrhundert. Rot-Grün peilte eine nachholende Modernisierung der Gesellschaft und ökologische Strukturreformen an, besonders den Ausstieg aus der Atomenergie. Ein neuer «Geist» sollte die Republik am Übergang von Bonn nach Berlin begleiten. Doch vom ersten Tag an brach sich jegliches Vorhaben an der Frage von Krieg und Frieden, an Gewalt und Zivilität, an der Verhinderung einer «humanitären Katastrophe» auf dem Balkan. Rot-Grün und die gesamte deutsche Gesellschaft wurden mit aller Wucht aus der für viele Menschen so behaglichen Nachkriegszeit herausgeschleudert.
Wer jedoch geglaubt hatte, mit dem Ende des Kosovo-Kriegs sei das Schlimmste vorüber, irrte gewaltig. Nie zuvor seit 1945 war Deutschland dermaßen mit globalen Herausforderungen konfrontiert wie nach dem Terror von 9/11. Davon handelt der zweite Teil des Buches, der den Blick auf die Terrorismusbekämpfung richtet und die Mentalitäten der Angst darstellt, die viele westliche Gesellschaften ergriff und veränderte. Dass Deutschland auch am Hindukusch verteidigt werde, stellte eine ganz neue Erfahrung dar. Die Beteiligung der Bundesrepublik am Afghanistankrieg wird ebenso geschildert wie das unerhörte deutsche «Nein» zum dritten Krieg innerhalb kürzester Zeit, dem Irak-Krieg, den die neue US-Administration unter George W. Bush unbedingt zu führen gewillt war. Dabei soll auch erläutert werden, welche Folgen dieses «Nein» für Europa und die Welt hatte.
Nach der knappen Wiederwahl agierte Rot-Grün seit der Jahreswende von 2002 zu 2003 nur mehr aus der Defensive und schien dem politischen Tod näher als dem Leben. Die Aufbruchstimmung war vollkommen verflogen. Dies ist das Thema des dritten Teils. Die meisten politischen Beobachter hatten damit gerechnet, dass Rot-Grün eine Episode bleiben würde. Doch plötzlich brachte diese Regierung, obwohl sie mit dem Rücken zur Wand stand, mit der Agenda 2010 eine der größten Strukturreformen der bundesdeutschen Geschichte auf den Weg und widerlegte damit all jene, die von einer strukturellen Reformunfähigkeit Deutschlands ausgingen oder gar nationale Reformen im Angesicht der Globalisierung für ausgeschlossen hielten. Selten zuvor brandeten die innenpolitischen Wogen in der Bundesrepublik so hoch wie in den Jahren 2004 und 2005, Gesellschaft und Sozialkultur wurden regelrecht durchgeschüttelt. Wie hart Rot-Grün innenpolitisch auch immer bekämpft wurde – paradoxerweise war zugleich das Ansehen Deutschlands in Europa und der Welt groß. Dies war nicht zuletzt Folge einer erinnerungskulturellen und vergangenheitspolitischen Erneuerung, die ebenfalls ein wichtiges Kennzeichen jener Jahre war.
Aufs Ganze gesehen legte Rot-Grün kurvenreiche Wege zurück, in einigen Bereichen fuhr man fröhlich im Kreis, und in anderen gab es sogar fast keinerlei Bewegung. In den meisten jedoch wurden große Veränderungen, gesellschaftliche Kontroversen sowie Polarisierungen ausgelöst. 1998 bis 2005 war auch insofern eine Zeitenwende, als Altes aufgenommen, jedoch neu und manchmal kühn überformt wurde. Glanz und Krise befanden sich im ständigen Wechsel. Veränderung und Stabilisierung lösten sich permanent ab. Während die einen weit ausgriffen, versuchten die anderen eng einzudämmen. Eine Zeit der Entwürfe tritt dem Betrachter entgegen mit überraschend gewagten Neukonzeptionen, die freilich nicht alle zum Abschluss gelangten. Insgesamt sind am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert Türen aufgestoßen worden zu einer neuen Orientierung Deutschlands in einer sich verändernden Ordnung der Welt. Die spannungsvollen und temporeichen Zeitläufte erforderten eine große Kraftanstrengung, führten zu gesellschaftlichen Konflikten und verlangten den Menschen viel ab. Unbestreitbaren Erfolgen stand am vorzeitigen Machtverlust 2005 für Rot-Grün viel Unausgeschöpftes gegenüber. Davon handelt dieses Buch.
Eine Stunde vor Schließung der Wahllokale am 27. September 1998 wusste Gerhard Schröder, dass er es geschafft hatte. Nach einem Anruf von Manfred Güllner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, war klar, er würde der nächste Bundeskanzler sein. Die Sozialdemokraten kämen, so die Vorhersage, auf über 40 Prozent, die Union nur auf wenig mehr als 35 Prozent; daran würde sich nichts Wesentliches mehr ändern. Die Stimmung stieg, Feierlaune kam auf. Um 18.03 Uhr wurde die erste Prognose im Fernsehen gesendet – beim ZDF reichte es für eine rot-grüne Koalition, bei der ARD nicht. Entspannung trat mit den ersten Hochrechnungen ein. Um 19 Uhr zeigte sich Schröder in Siegerpose vor den Fernsehkameras. Am Abend feierten SPD und Bündnis 90/Die Grünen ausgelassen ihre Siegespartys. Es herrschte eine regelrechte Euphorie, Sekt floss in Strömen, und selbst als bieder verschriene Politiker führten Freudentänze auf oder machten «La Ola». Manche wähnten sich in einem schönen Traum und wollten erst gekniffen werden, um sicherzugehen, dass es sich um die Wirklichkeit handelte. Erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte war nicht nur eine amtierende Regierung vollständig abgewählt worden, die Wähler hatten darüber hinaus zum ersten Mal in Deutschland einer «linken» Mehrheit zur Macht verholfen.
Blickte man über das beschauliche Bonn, wo die Partys stattfanden, hinaus, erschien freilich diese Euphorie ziemlich provinziell. Sie sollte auch von recht kurzer Dauer sein, denn die «Neuen» mussten sich innerhalb kürzester Zeit Herausforderungen stellen wie kaum je eine frisch ins Amt gekommene Politikerriege vor ihnen. Das gesamte Wahljahr 1998 hindurch war von besorgniserregenden Nachrichten aus dem Kosovo begleitet gewesen. Anfang März 1998 hatten serbische Sicherheitseinheiten Dörfer in der Drenica angegriffen, die als Hochburg der Untergrundarmee der Kosovo-Albaner (UÇK) galt. Dabei waren ganze Familien von den serbischen Einheiten exekutiert worden. Nach diesen «Drenica-Massakern» drohte die NATO mit militärischen Maßnahmen, falls der serbische Machthaber Milošević nicht zur Vernunft kommen und seine Soldateska abziehen sollte. Stellte sich damit für Deutschland zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Frage, ob man sich aktiv militärisch an einem Krieg beteiligen sollte – oder musste? Weder die Sozialdemokraten noch die Bündnisgrünen nahmen diese dunklen Wolken des Krieges richtig wahr, schon gar nicht am wunderschönen Altweibersommertag des 27. September 1998. Dabei war die Außenpolitik mit einer Wucht präsent wie selten in der Vergangenheit zuvor. Doch die Erwartungen der Parteien und auch der Öffentlichkeit in Deutschland waren fast ausschließlich auf die deutsche Innenpolitik gerichtet. Die neue Koalition – dies war Plan und Erwartung zugleich – sollte ein Bündnis für die Innenpolitik sein. Über eine außenpolitische Komponente verfügte Rot-Grün nur insofern, als postuliert wurde, rot-grüne Außenpolitik sei «Friedenspolitik». Kaum jemals zuvor hatte sich eine designierte Bundesregierung so über die auf sie zukommende Realität getäuscht.
Überall in den westlichen Industriegesellschaften waren die 1990er Jahre eine Zeit durchgreifender Reformen und Modernisierungen gewesen. In den USA, in Großbritannien, in vielen Ländern Kontinentaleuropas, besonders in den kleineren wie den Niederlanden, war die Gesellschaft modernisiert und waren soziale und ökonomische Reformen in Kraft gesetzt worden. Nur Deutschland stand unter der Regierung Helmut Kohls weitgehend abseits. Hier sprach man vom Reformstau. Insofern lag es durchaus auf der Hand, dass der Aufbruch ins 21. Jahrhundert von innenpolitischen Themen bestimmt sein sollte, die sich jedoch zum Teil jedenfalls als ein Bestandteil einer Weltinnenpolitik ausgaben. War es nicht an der Zeit, die deutsche Gesellschaft gründlich zu erneuern? Ziel war eine ökologische Modernisierung des Landes, die auch als Vorbild über Deutschland hinaus dienen konnte. Der Ausstieg aus der Kernenergie stand dabei ganz oben auf der Agenda – aber wie ließ er sich in einem hochindustrialisierten Land bewerkstelligen? Wie konnte man dieses Mammutvorhaben, sollte es überhaupt gelingen, durch den Ausbau regenerativer Energiequellen flankieren? Auch viel beschworene postmaterialistische Reformen in der Gesellschaftspolitik waren in aller Munde, und bürgerrechtliche Liberalisierungen sollten auf den Weg gebracht werden. So wollte man mit Überschwang auf die Veränderungen am Ende des 20. Jahrhunderts und am Beginn des 21. reagieren, sie in den Griff bekommen, ja gestalten. Dass die Bundesrepublik strukturell reformunfähig sei – dies wollte Rot-Grün widerlegen. Mehr noch: Der globale Veränderungsprozess sollte mitgeformt werden. Tempo und Gestalt der Veränderungen, die sämtliche Lebensbereiche erfassten, waren bemerkenswert. Die elektronische Revolution, und dann vor allem das Internet, verwandelte den Alltag und die Arbeitswelt der Menschen seit etwa einem Jahrzehnt. Zugleich vollzog sich seit Längerem, doch immer schneller ein Wechsel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, der so grundstürzend war wie der Übergang vom landwirtschaftlichen in das industrielle Zeitalter. Musste der seit einem Jahrzehnt so kraftvoll voranschreitende «Neoliberalismus», dieses Konzept des radikalen Laissez-faire, in dem es für die sozial Schwächeren in der Gesellschaft keine sozialen Absicherungen mehr zu geben schien, und musste überhaupt das ungehemmte Profitstreben, dieser neue «Kasinokapitalismus», nicht mit Macht eingedämmt werden? Denn er führte doch offensichtlich zu einem Wertezerfall. So sahen es die einen. Aber die anderen sahen im Vorrang für den Markt eine große Chance. Für sie ging kein Monster durch die Welt, sondern ein Glücksbringer. So standen sich auf vielen Feldern Pro und Contra schroff gegenüber. Das galt auch für andere Fragen, wie zum Beispiel: Wie konnte in einer Welt des beschleunigten Wandels den Menschen Sicherheit gegeben werden? Was bedeuteten angesichts weltweiter Veränderungen Begriffe wie Gerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Generationengerechtigkeit?
Seit Jahren hatten sich die Welt und die Republik schneller verändert, als die meisten Politiker es wahrhaben wollten, die immerzu über Blockaden jammerten, Stabilität wünschten und Lähmung erzeugten. Während sich Europa und die Welt politisch und sozial rasant wandelten und neue Menschheitsfragen aufgeworfen wurden – Klimawandel, Nord-Süd-Verhältnis, Menschenrechte, Rolle der UNO –, war der Blick in Deutschland nach innen gerichtet. Wenn man vom Jahrhundertereignis der Revolution 1989/90 einmal absieht – handelte es sich dann 1998 um eine Art dritten Machtwechsel? Der erste, 1969, war unter der Pathosformel «Mehr Demokratie wagen» erfolgt, den zweiten, 1982/83, hatte die konservativ-liberale Koalition zur «geistig-moralischen Wende» erklärt. Gab es 1998 auch eine Pathosformel für den Wechsel? «Neue Mitte», «Innovation und Gerechtigkeit», «Generationenprojekt» oder «Rot-Grünes Projekt»? Die Grünen saßen an der Seite der Sozialdemokraten am Kabinettstisch. War dies eine Art Wiedervereinigung? Entsprang daraus die Überhöhung zu einem historischen Projekt? Welches waren überhaupt die Inhalte?
Innenpolitisch kann man die rot-grüne Zeit der ersten Legislaturperiode in drei Phasen unterteilen. Die erste Phase reichte von der Wahl 1998 bis in den Spätsommer 1999 hinein. Dies war eine an Debakeln reiche Zeit, in der das Chaos die Mutter allen Tuns schien. Die Stichworte lauteten: Anfängerfehler, programmatische Inkonsistenz beider Regierungsparteien, rapider Verlust des Vertrauens in der Bevölkerung, Entfremdung von einem nicht geringen Teil der Wählerschaft. «Nachbesserungen» war ein Wort, das über Nacht in den Wortschatz der Deutschen Eingang fand, dicht gefolgt von «handwerkliche Fehler». Rot-Grün wirkte, als wäre es in den politischen Alltag hineingestolpert. Warum wurde der Kredit bei den Wählern derart schnell verspielt? Lag es nur an der mangelnden Regierungserfahrung, oder spielten strukturelle Gründe eine Rolle, etwa dass SPD und Grüne über kein Zentrum verfügten, das die Regierungsgeschäfte steuern konnte? War vielleicht die schwache Parteiführung der Grünen Ursache allen Übels? Oder war es die Konkurrenz zwischen Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, die alles lahmlegte? Nach nur 136 Tagen im Amt schied Lafontaine aus und warf den Sozialdemokraten gleich noch den Parteivorsitz vor die Füße – ein gravierender Einschnitt.
Warum änderte sich mit einem Male seit Ende 1999 alles? Bis in den Herbst 2001 hinein herrschte plötzlich eine nie vermutete Aufbruchstimmung. Krisen wurden gemeistert, etwa um Lebensmittelverseuchungen, den «Rinderwahnsinn» (BSE), und wichtige Reformen gelangen, so mit Blick auf das Staatsbürgerschaftsrecht. Auch die konkrete Ausformung einer ökologischen Modernisierung wurde nicht mehr nur belächelt. Hing dies nur mit der Schwäche der Union zusammen, die in den Spendenskandal verstrickt war, was für sie einen Stimmungsabsturz zur Folge hatte? Oder lag es an dem günstigen gesellschaftlichen und ökonomischen Umfeld? Erstmals seit Oktober 1994 sank die Arbeitslosenquote unter neun Prozent. Nutzte Rot-Grün diese unverhoffte Chance? Oder war es im Gegenteil nicht so, dass das Zusammentreffen von nachlassendem Problem druck und demoskopischer Stärke dazu verleitete, die Reformtätigkeit stark abzuschwächen, anstatt die günstige Gelegenheit beim Schopf zu packen und kurzfristig unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen? Sollte sich dies bald rächen? Tatsächlich trübte sich die Konjunktur Ende des Jahres 2001 wieder ein – auch eine Folge des Schocks der Terroranschläge vom 11. September 2001. Daher spricht viel dafür, mit 9/11 eine neue Phase beginnen zu lassen; es handelte sich um einen politisch und mental tiefen Einschnitt.
Das «Modell Deutschland» steckte in einer Anpassungskrise. Die Dimensionen des Problems waren bekannt: der demographische Wandel, die Veränderung der Erwerbsbiographien, der Rückgang der lebenslangen Erwerbsarbeit, die Wiedervereinigung, die Wirkungen der Globalisierung. Die Sozialleistungen wuchsen, die Leistungsträger im Solidarsystem nahmen ab. Darauf zu reagieren stellte eine Jahrhundertaufgabe dar. Auch der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts kam – jedenfalls im deutschen Kontext – eine säkulare Dimension zu. Und der neue Regierungsstil? «Auf den Kanzler kommt es an», hatte es seit den 1950er Jahren immer geheißen. Stimmte das weiterhin? War die intellektuelle Disposition der alten Bundesrepublik erstarrt und historisch überholt? Musste man nicht davon ausgehen, dass längst ein Modernisierungsprozess im Gang war, der nur noch von oben und meist gar nicht mehr auf nationaler Ebene gesteuert werden konnte? Erforderte dies ein vollkommen neues Regieren im 21. Jahrhundert, die Suche nach einem «Dritten Weg», wie es die Erklärung zur europäischen Sozialdemokratie von Gerhard Schröder und Tony Blair im Frühjahr 1999 vorsah? Wurde dem deutschen Debattenmilieu diese Europäisierung kurzerhand vorgesetzt? Die Öffentlichkeit schwankte zwischen «kopernikanischer Wende», so «Le Monde» aus Frankreich, «Revolution von oben», so «Die Welt», oder dem Verdacht eines schlichten Versuchs Schröders, sich mit «Blairs Nimbus» zu wappnen, so die «Frankfurter Allgemeine Zeitung».
Doch gerade die frühe Zeit von Rot-Grün, in der noch vieles scheiterte, aber vorgedacht wurde, wies weit in die Zukunft voraus, nicht zuletzt auf die Agenda 2010, wie man heute weiß. Vor allem jedoch: Der Gedanke, eine deutsche Regierung könne ihre Autorität dem Krieg verdanken, wäre vor 1998 frivol gewesen. Ausgerechnet ein rot-grünes Kabinett führte Deutschland in ein neues Zeitalter, vollzog den Tabubruch und orientierte das Land außenpolitisch neu: als europäische Zentralmacht. Der Kosovo-Krieg war ein Scharnier für alles, was danach kam, Afghanistan und kurz darauf der Irak. Ähnliches wäre für eine CDUgeführte Regierung weitaus schwieriger gewesen. Durch das Land ging ein außenpolitischer «Realitätsschock»[1]. Es erscheint paradox: Rot-Grün sollte ein Bündnis für die Innenpolitik sein und musste sich stattdessen vor allem außenpolitisch bewähren. Ein Primat der Innenpolitik gehörte zur Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik und lag in ihrer begrenzten Souveränität begründet. Dies war längst vergangene Wirklichkeit. Nach der Wende von 1989/90 und der Wiedervereinigung hatten die Deutschen die Wiederkehr ihrer vollen Souveränität eine zeitlang ignoriert und waren davon ausgegangen, alles würde so behaglich bleiben wie bisher. Vor den globalen oder auch nur europäischen Herausforderungen hatten sie die Augen verschlossen. Wurde man nun in eine neue Zeit hineingeschleudert? War es eine Umbruchszeit? Eine Zeitenwende, welche durch die Kollision von Globalisierung, Neoliberalismus und der Krise der kulturellen Selbstwahrnehmung befördert wurde? Ging die traditionelle Kontinuitätsbedächtigkeit der Bundesrepublik unwiderruflich zu Ende? Das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» schrieb: «Noch bevor er vereidigt ist, hat Gerhard Schröder seinen Platz in der Geschichte sicher – als Kanzler des Neuen.»[2]
Die Regierung Schröder-Fischer wurde so gezwungenermaßen zu einer Regierung des Übergangs, aber zu keiner Übergangsregierung. Je mehr sie sich dieses Umstandes gewahr wurde, desto mehr beanspruchte sie auch, eine solche Regierung des Übergangs zu sein: Sie wollte Dinge neu regeln und globale Weiterungen in das Regieren mit einbeziehen; sie wollte den Aufbruch ins 21. Jahrhundert gestalten. Würden ihr die Menschen dabei folgen?
Die «Kampa 98» – als Kurzform für Kampagne – war der modernste und effektivste Wahlkampf, den eine Partei in der Geschichte der Bundesrepublik bis dahin jemals geführt hat.[1] Mit ihr wurden neue, stilbildende Wege der politischen Kommunikation und ein Niveau an Professionalität erreicht, an dem sich künftig auch die anderen politischen Parteien orientierten. Es muss zwischen den verschiedenen Bereichen wie der Organisation des Wahlkampfes, den strategischen Zielsetzungen und den Instrumenten der Kampagne unterschieden werden, um zu verstehen, wie es den Sozialdemokraten gelang, den Stimmungstrend in der Bevölkerung, die nach 16 Jahren konservativ-liberaler Regierung einen per sonellen und politischen Wechsel herbeiwünschte, aufzunehmen und zu kanalisieren.
Bereits zwei Jahre vor dem Wahltermin begannen die Planungen – man blickte auf die Wahlkampferfahrungen (sozial-)demokratischer Parteien im Ausland, besonders auf die erfolgreichen Kampagnen von Bill Clinton in den USA und Tony Blair in Großbritannien. Hier waren Formen zum Tragen gekommen, die für Deutschland noch völlig neuartig schienen. Besonders die Clinton-Kampagne von 1992, die ihrerseits wiederum Vorbild für Tony Blairs Wahlkampf 1997 war, beeindruckte viele, die Wahlen gewinnen wollten. Clinton hatte sich als ein Mann der Mitte empfohlen, nicht links, nicht rechts, sondern als überparteilicher Verfechter eines «Dritten Weges». Im Gegensatz zu seinem Vorgänger George W. Bush sen. strich er seine Ablehnung jeglicher Form von Ideologie heraus und trat als Pragmatiker auf, ein Politiker neuen Typs, der die Lebensbedingungen und Bedürfnisse der Mittelklasse offenbar kannte. Clinton zog in seiner Medienkampagne alle Register, posierte vor Konterfeis von Elvis Presley, adaptierte den Song der populären Musikgruppe Fleetwood Mac «Don’t Stop (Thinking About Tomorrow)» für seinen Wahlkampf und ging selbst Vergleichen mit John F. Kennedy nicht aus dem Weg. Auch Clinton war erst Mitte vierzig, also juvenil, dynamisch, attraktiv. Tony Blair, der Philip Gloud aus Clintons Beraterteam nach London holte und ihn zum Wahlkampfstrategen von New Labour machte, kopierte fünf Jahre später diesen Wahlkampf. Er betonte ebenfalls seinen jungenhaften Charme, würde er doch, falls man ihn wählte, der seit 1812 jüngste Premierminister Großbritanniens sein. Blair überließ nichts dem Zufall. So flog er eigens zum Medienmogul Rupert Murdoch, dem Besitzer von «Sun», «Times» und «Sky-TV», um ihn von sich zu überzeugen, und hatte offenbar Erfolg; jedenfalls änderte die Murdoch-Presse ihre Berichterstattung und unterstützte 1997 Tony Blair massiv.[2] Legendär war die Einrichtung des «war room», einer Wahlkampfzentrale, in der nach amerikanischem Vorbild professionelle Imagesteuerung betrieben wurde.
Diese anglo-amerikanischen Wahlkämpfe waren nun wiederum die Blaupausen für die SPD. In den ersten Überlegungen forderte SPD-Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering eine computergestützte Wahlkampfdatenbank, in der zu allen wichtigen politischen Themenfeldern zentrale Dokumente, Kommentare, Positionsbestimmungen und Beschlüsse der SPD sowie ihrer politischen Gegner zusammengetragen würden.[3] Außerdem war ein leistungsfähiges System der «Konkurrenzbeobachtung» unverzichtbar. «Nach dem Jahr der Konsolidierung», so Müntefering, «soll 1997 ein Jahr der Mobilisierung werden». Müntefering, zuvor Landesminister in Nordrhein-Westfalen, war 1995 Bundesgeschäftsführer der SPD geworden. Mit ihm, dem Cheforganisator der sozialdemokratischen Disziplin und «Ruhigmacher» der Partei, wie ihn «Die Zeit» beschrieb, gelangten Managermethoden in den Alltag der Funktionäre. «Der Ur-Sozi krempelte die Partei um wie keiner vor ihm. Müntefering, der Traditionalist, vertiefte sich in amerikanische Wahlkampfstrategien. Müntefering, der Fremdsprachenlaie, öffnete die Parteizentrale den Beratern aus dem Ausland. Am Ende hatte der Mann, der aussah, als habe er noch nie einen Herrenausstatter außerhalb Sunders (wo er aufgewachsen war, E. W.) gesehen, der SPD das modernste Outfit verpasst, das sie je hatte.»[4]
Mit den amerikanischen Betreuern der Clinton-Gore-Kampagne von 1992 und 1996 traf man sich im Rahmen mehrerer Veranstaltungen der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dabei lernten die Deutschen auch, wie bedeutsam es war, die Geschwindigkeit zu erhöhen. Die Amerikaner empfahlen, mit «Tagesmeldungen» zu arbeiten, was hieß, dass alle wichtigen Multiplikatoren und Gliederungen der Partei täglich ein Thema des Tages übermittelt bekamen, das dann auf allen Ebenen verbreitet werden sollte. Überhaupt erschien der Aufbau einer schnellen Kommunikations-Infrastruktur wie in den USA das A und O zu sein, denn damit konnten auch «Rapid-Response-Einheiten», so der Parteijargon, geschaffen werden. Die Fähigkeit, schnell auf den politischen Gegner zu reagieren, hatte für die hohe öffentliche Aufmerksamkeit der demokratischen Kampagne in den USA gesorgt. Bei den Reden der Spitzenkandidaten der Republikaner waren immer Pressevertreter der Clinton-Gore-Campaign anwesend, die sofort Informationen an das Hauptquartier übermittelten, welches wiederum Stellungnahmen «abfeuerte». Müntefering war sich sicher: «Der Aufbau einer solchen schnellen Reaktionseinheit für 1998 hat erhebliches Gewicht und wird eine entsprechende öffentliche Resonanz erzielen.»[5] Freilich musste ein solches, noch fremdes System erst eingeübt werden.
Am dringendsten waren die Planung und der Aufbau einer Wahlkampfzentrale, die, von den Routineaufgaben einer Parteizentrale entlastet, sich ausschließlich auf den Wahlkampf konzentrieren konnte und auch räumlich getrennt agierte. «Befreit vom alten Mief des alten Baracken-Trotts»[6] – «Baracke» als Bezeichnung für die SPD-Zentrale –, führten die Wahlkampfgestalter um Müntefering und Matthias Machnig, seinen Büroleiter und Koordinator der Kampa,[7] Neuerungen ein. Um die veraltete technische Infrastruktur zu modernisieren und die Kommunikation zu verbessern, wurden Parteizentrale, Wahlkampfzentrale und bundesweit 325 SPD-Geschäftsstellen mit moderner Computer-Hard- und Software ausgestattet und miteinander vernetzt. Mit diesem SPD-eigenen, verschlüsselten Intranet verfügten die Sozialdemokraten über die modernste Kommunikationsstruktur aller deutschen Parteien. Angesichts der Veränderung der Kommunikationslandschaft war es darüber hinaus unerlässlich, professionelle Zuarbeit von außen in die Wahlkampfzentrale zu holen. Wollte man nämlich mit den eigenen Botschaften und Bildern in die Medien gelangen, so konkurrierte man nicht nur mit den anderen Parteien um diesen Zugang, sondern darüber hinaus mit allen anderen Anbietern von Nachrichten. Daher engagierte die SPD für die Bereiche klassische Werbung, Internetauftritt, Veranstaltungsmarketing, Mediaplanung, Mediaanalysen und Forschung spezielle Agenturen wie die Hamburger «KNSK» und vor allem die weltweit agierende Werbe- und Marketingagentur «BBDO» mit Hauptsitz in New York, die durch originelle Werbung für die Zigarettenmarke «Lucky Strike» und das Waschmittel «Weißer Riese» bekannt geworden waren.
Solche Fachleute wussten, wie gute Werbung funktionierte. Diese huldigte nicht allein den Intentionen derjenigen, die etwas anboten, sondern ging auf die kollektiven Bewusstseinslagen der Menschen ein, sie spiegelte Zustände der Gesellschaft wider und wirkte als Resonanzkörper gesellschaftlicher Prozesse, die sie wiederum aufnahm und kanalisierte. Gute Werbung musste den «Zeitgeist» treffen, Wünsche, Sehnsüchte und Erwartungen der Zeitgenossen ausdrücken und so Zustimmungs- und Handlungsbereitschaft auf das Beworbene – in diesem Fall die SPD – umlenken. Sie erfasste und erzeugte also Stimmungen und nutzte sie für ihre Zwecke. So jedenfalls sah es der Plan vor.
Die Kampa präsentierte sich nach außen als hierarchiefrei und kreativ, als Subjekt des Wahlkampfes und zugleich selbst als Werbeobjekt. Zeitgleich mit der Inbetriebnahme des Intranets startete die SPD die «Offensive 98» – in 32 besonders umkämpften Wahlkreisen intensivierte die Partei ihre Werbung, auch dies folgte dem Vorbild Tony Blairs, der damit Erfolg gehabt hatte.
Bei den strategischen Zielsetzungen standen die Wahlkampfmanager vor einem großen Problem: Die Frage, wer Kanzlerkandidat der SPD würde, Gerhard Schröder oder Oskar Lafontaine, sollte, so hatten es die beiden vereinbart, erst nach der Wahl in Niedersachsen im Frühjahr 1998 entschieden werden. Daher musste die Kampagne so angelegt werden, dass jeder der möglichen Kandidaten sie später ohne größere Schwierigkeiten tragen konnte. In einer Studie arbeitete «polis», die «Gesellschaft für Politik- und Sozialforschung mbH», das Image der SPD zwei Jahre vor der Wahl heraus. Es war alles andere als gut. Die Wählerinnen und Wählern waren der Meinung, die SPD habe eine Oppositionsmentalität geradezu verinnerlicht, sie wurde als Protestpartei, nicht als Gestaltungspartei wahrgenommen. Außerdem wurde ihr ein mangelnder Siegeswillen bescheinigt, im Zweifelfalle, so die gängige Ansicht, würde die Partei lieber Recht behalten wollen als die Macht gewinnen. Zerstrittenheit, einseitiges Profil und Defizite im Modernitätsbereich rundeten die wenig schmeichelhaften Ergebnisse ab. Die SPD strömte Langeweile aus.[8] Die Wahlkampfzentrale zog daraus strategische Schlussfolgerungen: Ein frühzeitiger Beginn des Wahlkampfes sollte verdeutlichen, dass die SPD aus der Deckung in die Offensive gehe und an Attraktivität gewonnen habe; als Signal des Siegeswillens wählten die Wahlkampfstrategen den Slogan «Wir sind bereit». Zukunftsorientierung sowie Konzentration auf Gewinnerthemen (Arbeit, Jugend, Ausbildung) wurden mit der Grundmelodie «Sicherheit, Verlässlichkeit und Hoffnung» unterlegt, mit der «Grundphilosophie» von «Innovation und Gerechtigkeit» versehen, und die Sozialdemokraten positionierten sich als Partei der politischen Mitte; so blockten sie einen Lagerwahlkampf ab; dazu ließ man auch Koalitionsaussagen offen. Im Strategiepapier hieß es dazu: «Mit diesem Mitte-Diskurs sollte der erwarteten Linkskampagne der Regierung präventiv begegnet und vor allen Dingen Folgendes demonstriert werden: Die SPD ist die Partei eines neuen gesellschaftlichen Grundkonsenses in Deutschland; die SPD ist zum neuen Zentrum der Gesellschaft geworden (…); die SPD lässt sich in kein Lager abdrängen.»[9]
Die Kampa 98 bediente sich verschiedener Instrumente. Als Erstes startete im Frühjahr 1997 die «Innovationskampagne» mit kommerziellen Anzeigen zum Thema Innovation und mündete in einen großen «Innovationskongress» mit Vertretern aus Wirtschaft, Gewerkschaften, Forschung und Wissenschaft. Ende des Jahres brachten 40 Prozent der befragten Menschen «Innovation» mit der SPD in Verbindung, nur 30 mit der CDU/CSU, ein paar Jahre zuvor wäre dies noch unvorstellbar gewesen.[10] Die Stimmung wandelte sich offenbar. Ab diesem Zeitpunkt ging es, zweitens, darum, in einer «Doppelkopfkampagne» Innovation und Gerechtigkeit miteinander zu verbinden und sie durch die beiden potentiellen Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine personell zu besetzen; dies geschah mit gemeinsamen Auftritten und Plakaten, auf denen beide abgebildet waren. Diese «Doppelkopf»-Situation, eigentlich ein gravierender Nachteil, machte die SPD für die Medien zusätzlich interessant, zumal man wusste, wie spannungsreich beider Verhältnis zueinander war und dass sie die Harmonie nur spielten. Drittens trat eine kostengünstige, aber überaus originelle «Multiplikatorenkampagne» hinzu: Vor der Partei- und Wahlkampfzentrale wurden jeweils drei große Plakatfächen aufgestellt, auf denen in unregelmäßigem Rhythmus phantasievolle Plakate präsentiert wurden. Die Vorgabe an die Agenturen war nur, die Plakate so interessant zu gestalten, dass die in Bonn versammelten Pressefotografen und Fernsehteams an einer Berichterstattung nicht vorbeikommen konnten. Tatsächlich erlangte die Kampagne wegen ihrer Unkonventionalität rasch eine Art Kultstatus; zu sehen waren etwa Plakate, die berühmten Filmplakatmalereien nachempfunden waren, so «Vom Wähler verschmäht» («Vom Winde verweht») oder, als der Film «Titanic» in die Kinos kam, ein Motiv von dem untergehenden Reisedampfer und der Zeile «Regie: Helmut Kohl».
Nachdem Gerhard Schröder die Landtagswahl in Niedersachsen souverän gewonnen hatte, wurde er im Frühjahr 1998 auf dem Leipziger Parteitag zum Kanzlerkandidaten ausgerufen. Die Niedersachsenwahl war, wie von den Wahlkämpfern gewünscht, von den Medien zu einer Art «Primary election» wie in den USA hochstilisiert worden. Sie sei für Schröder so bedeutsam wie 1992 für Bill Clinton der Sieg in Ohio, der aus dem Provinzpolitiker aus Arkansas einen Kandidaten für die amerikanische Präsidentschaft gemacht hatte.[11] Leipzig nahmen viele politische Beobachter, etwa Volker Herres, als eine «Krönungsmesse» wahr.[121314