Bernhard Albrecht
Patient meines Lebens
Von Ärzten, die alles wagen
Knaur e-books
Bernhard Albrecht studierte Medizin und Publizistik in Bochum, Uppsala, Barcelona und Straßburg und promovierte zum Dr. med. Er arbeitete zunächst als Arzt und schrieb nebenher für Tageszeitungen und Zeitschriften. Seit 2000 arbeitete er als Journalist für verschiedene Fernsehanstalten und schrieb u.a. für Spiegel und Geo. Mehrfach wurde er für seine Arbeiten ausgezeichnet, u.a. mit dem Adolf-Grimme-Preis. Bernhard Albrecht lebt heute als Redakteur des Stern in Hamburg und München.
Wer wünscht ihn sich nicht: Einen Arzt, der alles, wirklich ALLES
daran setzen würde, um einen vor dem sicheren Tod zu retten. Da ist der Kinderarzt, der ein Baby durchbringt, das nach Expertenmeinung keine Chance auf Leben hat - das jüngste Frühgeborene Europas, entbunden nach 21 Wochen und fünf Tagen. Da ist das Medizinerpaar, dessen Aufsehen erregende Mission es ist, eine künstliche Luftröhre zu erschaffen, um einem todgeweihten Patienten ein normales Leben zu ermöglichen. Und da ist der Stationsarzt, dem es erstmals weltweit gelingt, einen Patienten von Aids zu heilen. Sie alle standen an einem Punkt, wo man entweder den Patienten aufgeben oder mit ungewöhnlichen Methoden weiterkämpfen kann – und sie sind das Wagnis eingegangen und haben den Kampf gewonnen. Der Arzt und Wissenschaftsjournalist Bernhard Albrecht hat neun solcher Mediziner und ihre außergewöhnlichen Fallgeschichten aufgespürt.
eBook-Ausgabe 2013
Knaur eBook
© 2013 Droemer Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © gettyimages / Henglein and Steets
ISBN 978-3-426-42077-5
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Meiner Mutter Anneliese Albrecht und meinem Vater Dr. med. Wolfgang Albrecht †, der seine Patienten liebte
Ärzte sind es gewohnt zu gehorchen. Kaum ein Beruf wird so beherrscht von Vorschriften, die sich andere ausgedacht haben, und von Wissen, das entweder nicht oder nur punktuell mit sehr viel Aufwand hinterfragbar ist. Von Beginn des Medizinstudiums an werden künftige Ärzte darauf gepolt, dieses Wissen zunächst kritiklos aufzunehmen – anders wäre es kaum möglich, die große Menge an Stoff zu bewältigen. Ich habe diese Transformation selbst erlebt und an meinen Kommilitonen beobachtet. Ich erinnere mich an unsere Ehrfurcht vor den Professoren, an unsere Gespräche, in denen wir Fleiß, Intelligenz und Auffassungsgabe der anderen austesteten, an unseren Wettstreit darum, wer die dicksten Bücher gewälzt und die meisten Fachzeitschriften gelesen hat, wer trotzdem noch die Zeit fand, alle Vorlesungen und vielleicht gar noch Kongresse zu besuchen. Immer aber waren es andere, die uns erklärten, wie alles funktioniert. Wir haben nur wiedergekäut.
Viele Ärzte bleiben nach dem Studium in diesem Denkmodus. Sie wenden an, was andere erforscht und zusammengetragen haben, vergleichbar den Nutzern von Computern, die ihr Gerät bedienen können, ohne sein inneres Wesen zu verstehen. An die Stelle der Professoren treten Chefärzte, von denen nicht wenige ihre Untergebenen behandeln wie dumme Schuljungen. An die Stelle der Lehrbücher treten Leitlinien, die es für nahezu jedes Krankheitsbild gibt und auf die sich führende Fachvertreter in endlos langen Sitzungen geeinigt haben – oft Kompromisslösungen, bei denen fundierte Meinungen unter den Tisch fallen, die nicht mehrheitsfähig sind. Daneben müssen Ärzte die immer komplexeren Vorgaben der Krankenkassen und des Gesetzgebers beachten und sich ökonomischen Zwängen fügen. Mitunter werden sie anfällig für geschickt gestreute Informationen von Pharmafirmen, vorgetragen von bezahlten Wissenschaftlern, die sie zu überteuerten, wirkungslosen Therapien verführen. Doch unterm Strich leisten viele, das soll nicht unterschätzt werden, gute Medizin für einen Großteil ihrer Patienten. Denn das Denksystem der Schulmedizin, über Jahrtausende aus Puzzlesteinen der Erkenntnis zusammengetragen, funktioniert für viele Krankheiten, ohne dass der Arzt ihre Ursachen verstehen muss. Die etablierten Diagnose- und Therapieschemata ergeben meist Sinn.
Dieses System aber lässt wenig Spielraum für die ärztliche Kunst – ein Begriff, der altmodisch anmutet, weil er so selten verwendet wird. Um ärztliche Künstler geht es in diesem Buch. Sie tun, was Künstler tun: Sie improvisieren, lassen sich von Fantasie und Visionen leiten, vertrauen mitunter ihrem Bauchgefühl mehr als der Vernunft oder Evidenz, sie bauen an der Medizin der Zukunft, ohne dabei die Bodenhaftung zum überlieferten Wissen der Schulmedizin zu verlieren. Nur einige von ihnen haben sich diese Rolle selbst ausgesucht. Andere werden in sie hineingestoßen, weil ihre Patienten sie in ein Grenzland der Medizin führen, wo Leitlinien ihre Bedeutung verlieren. Einsam stehen sie da, kein Fachbuch und keine Publikation weist ihnen den Weg. Sie müssen tun, was Ärzte vor Jahrtausenden taten: die Therapie am Krankenbett erfinden.
Seit vielen Jahren suche ich solche Ärzte und ihre Patienten auf. Manche sind nicht schwer zu finden, sie haben es schon auf die Seite eins der BILD-Zeitung geschafft – so zum Beispiel jener Neonatologe, der der »jüngsten Frühgeburt Europas« zum Leben verhalf. Doch die Berichterstattung ging nicht über bloße Fakten hinaus, weil die Familie nie an die Öffentlichkeit wollte. Warum hat der Arzt sich für eine Maximaltherapie entschieden, obwohl die Überlebenschancen des Babys statistisch bei null Komma null standen? Wie geht es den Eltern heute mit ihrem Kind? Wird es sein Leben lang behindert sein?
Andere Fälle finden in Fachkreisen große Beachtung, die Ärzte werden für ihre Innovation mit höchsten Auszeichnungen versehen, ohne dass die Öffentlichkeit daran teilnimmt – so die Geschichte jenes Thoraxchirurgen, der zusammen mit seiner Frau, einer Grundlagenforscherin, die erste künstliche Luftröhre der Welt im Labor erschuf. Warum hat er den über viele Jahre vorbereiteten Eingriff ausgerechnet an einem indischen Einwanderer vollzogen, der nicht mehr leben wollte und Backofenreiniger schluckte? Nimmt der Inder, der über Monate auf der Intensivstation täglich den Tod vor Augen hatte, sein geschenktes zweites Leben an?
Von einem Fall erfuhr ich aus dem Freundeskreis – der Geschichte eines Notarztes, der einen Erfrorenen wiederbeleben soll, dessen Körperkerntemperatur nur noch 17 Grad betrug. War dieser Mensch schon tot oder noch am Leben? Die Handbücher der Notfallmedizin gaben keine Auskunft, die schwerste Form der Unterkühlung beginnt bei 28 Grad. Würde der Notarzt also einen »Zombie« zum Leben erwecken, wenn er die Reanimation fortsetzte?
Ein anderer Fall geht zurück auf ein Erlebnis, das ich selbst als Arzt in der Neurologie hatte: Der Patient litt unter einer rätselhaften Gehirnerkrankung, sein Geist versandete vor unseren Augen innerhalb weniger Wochen. Wir unternahmen viele Untersuchungen, verschickten Proben in Speziallabors, es wurde nichts gefunden. Ich war mir sicher, dass er an einer körperlichen Erkrankung litt, für die wir keinen Namen hatten. Der Fall ließ mich nie los. Vergangenes Jahr sprach ich mit vielen Neurologen, bis ich auf jenen jungen Facharzt an der Charité in Berlin stieß, der eine erst kürzlich entdeckte Gehirnerkrankung erforschte. Sie war heilbar, wenn der Patient die richtigen Medikamente bekam. Mit ihm diskutierte ich auch meinen damaligen Fall – und fand eine späte Antwort: Ja, auch mein Patient hatte vermutlich an dieser Gehirnerkrankung gelitten. Doch ich konnte ihn nicht mehr ausfindig machen.
Durch meine Interviews wollte ich herausfinden, wann und warum Ärzte über sich selbst hinauswachsen und welchen Anteil die Patienten an der Entscheidung ihrer Ärzte haben. Manchmal spielen sie eine Schlüsselrolle, so wie jene Frau, die im Endstadium einer Krebserkrankung zu ihrem Chirurgen sagt: »Ich bin bereit, alles zu ertragen, damit meine Kinder so lange wie möglich eine Mutter haben.« Der Arzt fühlte sich an ihren Auftrag gebunden und mutete ihr zu, was er sonst nur sich selbst zumuten würde. Maximaltherapie, volles Risiko. Was ist das für eine Frau, die ihren Arzt so weit gebracht hat?
Um all diese Fragen zu beantworten, habe ich die Geschichten genau rekonstruiert, Krankenakten und Pflegekurven studiert, mit Nahestehenden gesprochen, mit Krankenkassen telefoniert, die Behandlungskonzepte anzweifelten und von Ärzten Regress forderten.
Ich habe Ärzte kennengelernt, die anders sind als viele Vertreter unserer Zunft: Sie leiden unter dem, was die Medizin immer noch nicht vermag. Sie erkennen, dass unsere Konzepte von Krankheit, Diagnose und Therapie noch längst nicht hinreichen, sich weiterentwickeln müssen – so wie es zu allen Zeiten war. Sie zucken nicht mit den Schultern und sagen: »Mehr können wir nicht tun.« Sie beginnen zu suchen, Ordner mit Fachliteratur anzuhäufen, getrieben von der Frage, wo die rettende Lösung verborgen sein könnte. Sie alle eint die Bereitschaft, unkonventionelle Wege zu gehen, oft gepaart mit einer gewissen Unbeugsamkeit und der Bereitschaft, Kritik und Häme einzustecken, wenn sie scheitern. Und: Sie haben nie aufgegeben. Sie haben alles für ihre Patienten gegeben. Vielleicht manche von ihnen nur dieses eine Mal, als die Situation und der Mensch vor ihnen es einforderten.
Ich habe Patienten kennengelernt, für die ihre einzigartige Krankheit ihr Schicksal wurde, habe erfahren, wie sich ihr Leben, ihr Beruf, ihre Beziehung zu Partnern und Kindern im Laufe der Jahre verändert hat. Ich habe sehr genau nachgefragt, und so war es kaum vermeidbar, dass ich mitunter in Situationen stolperte, denen ich nicht sofort gewachsen war, in denen ich mich eher als Therapeut denn als Journalist fühlte. Doch am Ende waren die Menschen froh, einmal – manchmal das erste Mal – über alles gesprochen zu haben. Ich habe von ihnen gelernt, welche Eigenschaften ein Patient mitbringen muss, damit der Arzt über sich hinauswachsen kann: unerschütterliche Entschlossenheit, die Bereitschaft zum höchsten Risiko und die Fähigkeit zu einer Art Urvertrauen. Alle Patienten in diesem Buch waren bereit, ihr Schicksal ganz in die Hände ihres Arztes zu legen.
So konnten diese Menschen an der Seite ihrer Ärzte in das geheimnisvolle Reich noch nicht erforschter Therapien und noch nicht gesicherter Erkenntnisse reisen. Am Ende dieser Reise stehen Meilensteine der Medizin – solche, die schon jetzt in die neuere Medizingeschichte eingegangen sind, aber auch solche, von denen bisher nur ein kleiner Kreis von Menschen erfahren hat. Die Fälle, von denen ich erzähle, wirken einzigartig und spektakulär. Aber jedes Jahr tragen sich in der Welt viele tausend solcher nie erzählter Geschichten zu, in denen Ärzte sich selbst übertreffen – Ärzte, die ihren Beruf zumindest manchmal noch als Kunst begreifen.
Am 9. Dezember 2007 kam Pavninder Singh schon um drei Uhr nachmittags nach Hause. Er zog die Schuhe nicht aus, ging durchs Wohnzimmer direkt auf den Balkon. Die Luft war kalt und trocken, es war ein sonniger Wintertag. Singh hörte die Züge vorbeirauschen. 300 Meter nur, und er wäre auf den Gleisen, dachte er. Aber was, wenn der Zug ihn nur mitschleifte und er am Leben bliebe, ein Krüppel bis ans Ende seiner Tage? »Ich wollte, dass es tausendprozentig sicher funktioniert«, sagte er später.
Singh ging zurück ins Wohnzimmer, blieb unschlüssig stehen, ließ den Blick umherschweifen. Wie traurig ihn das alles machte – das Sofa und die Sessel, blaues Blümchenmuster, sie hatten Decken darübergebreitet, damit man die Risse im Polster nicht sah. Der Fernseher, kein Flatscreen, ein 15 Jahre alter Kasten mit Flimmerbild. Nach indischen Verhältnissen war er reich – aber was nützte ihm das, wenn er jeden Euro umdrehen musste, bevor er ihn ausgab, in einem Land, in dem alle anderen mehr besaßen?
Singhs Blick streifte das Foto auf dem Regal, das ihn und Inge vor dem Taj Mahal zeigte, auf einer Bank sitzend, auf der sich alle Hochzeitspaare fotografieren lassen. Ihr einziger Urlaub in sieben Jahren. Er fast noch ein Junge, aufrecht mit geschwellter Brust, ein stolzes Lächeln auf den Lippen, den Arm besitzergreifend um sie gelegt. Sie eine korpulente Frau, aschblondes Haar, für jeden sichtbar deutlich älter.
Sie könne seine Mutter sein, hatte sein früherer Chef gesagt, warum die? Er würde ihm eine jüngere Frau suchen, eine, mit der er Kinder haben könne. Aber Singh hatte gesagt, er wolle nur diese eine.
Er griff zum Telefon. Sie ging gleich ran: »Ist was passiert? Warum bist du schon zu Hause?« Inge sprach starkes Schwäbisch, er hatte lange gebraucht, bis er sie gut verstand. Sie war sofort beunruhigt, denn Singh kam sonst immer erst nach elf Uhr nachts nach Hause. Die freien Mittagsstunden verbrachte er üblicherweise im Tempel der Kleinstadt, nahe dem indischen Restaurant, in dem er arbeitete – Gemüse schneiden, kochen, Tische decken, abspülen, er war für alles zuständig. In seiner Mittagspause durfte er nicht dort bleiben, warum, hatte er nie gefragt. Vielleicht lag es daran, dass sein Chef und dessen Familie Hindus waren. Sie glaubten an viele Götter. Singh aber war Sikh, er betete den einen, allmächtigen Gott an, der nach seinem Glauben auch der Gott der Christen, Juden und Muslime war und den sie in Pandschabi, der Sprache seiner Glaubensbrüder, Waheguru nannten – wunderbarer Lehrer, Schöpfer von allem.
Vielleicht auch deswegen wollte sein Chef, dass Singh sich fernhalten möge von der hübschen Tochter, 13 Jahre alt. Singh hatte diese Anweisung immer befolgt, sie war ja fast noch ein Kind. Nur nicht an jenem 9. Dezember 2007.
Was genau damals vorgefallen war, wissen nur er, das Mädchen und der Onkel des Chefs, der sie mittags in der Küche beisammen erwischte. Sie hätten nur geredet, erzählte Singh seiner Frau. Sie glaubte ihm. Aber der Onkel hatte das anders gesehen. Er hatte ihn aus dem Haus geworfen und ihm hinterhergerufen, er brauche sich dort nie wieder blicken lassen.
Singhs Stimme erstickte fast, als er weitererzählte. Der Onkel habe ihn dann noch auf dem Handy angerufen, sagte er. »Er hat … meine Familie bedroht.« Denn im Punjab habe der Mann gute Kontakte zu den Behörden, er würde Singhs Mutter und seinen drei Geschwistern die Polizei auf den Hals hetzen.
Inge sagte, er solle zu Hause bleiben, sie komme bald. Singh versprach es. Er solle sich keine Sorgen machen, sagte sie, der Mann habe bestimmt nur leer gedroht.
Nur kurz nach dem Telefonat stand Singh vor dem Küchenschrank mit den Putzmitteln. Sein Blick fiel auf den Backofenreiniger. Er drehte die Flasche um, auf der Hinterseite prangten orangefarbene Warnlogos. »Bei Verschlucken sofort ärztlichen Rat einholen.« Singh dachte an die vielen Bauern in seiner Heimat, die Pestizide schluckten, wenn sie keinen Ausweg mehr sahen. Er glaubte, er würde sofort sterben, müsste nicht lange leiden.
Er füllte ein Schnapsglas ab, führte es zu den Lippen, nippte und schluckte sofort. Es fühlte sich an, als würde jemand in seiner Speiseröhre ein Feuerzeug anzünden. Dann zerriss eine Feuersbrunst seine Brust, er zog hektisch die Luft ein und aus, ein Reflex, aber die Luft kühlte nicht, das Brennen wurde schlimmer. Er stürzte zu Boden, wand sich. Dann kam der Würgereiz, er erbrach einen Schwall von Blut.
Es klappte nicht mit dem sofortigen Sterben. Singh kroch aus der Küche zum Telefon im Flur, tippte die Kurzwahl für Inges Handy. »Bitte, der Notarzt soll kommen«, röchelte er in den Hörer. Es sollten seine letzten Worte für lange Zeit sein.
Als die Feuerwehr in Begleitung des Notarztes die Tür einbrach, fanden sie Singh dahinter am Boden liegend. Im Protokoll steht »ansprechbar« und »kreislaufstabil«, aber noch in der Wohnung schwand sein Bewusstsein, und an die folgenden Monate auf der Intensivstation hatte er später keine Erinnerung.
Die Klinik Schillerhöhe thront wie ein Schloss auf dem Gipfel eines dichtbewaldeten Berges in der Nähe von Stuttgart. Früher bildeten die Nazis hier Gebietsführer der Hitlerjugend aus, in den frühen fünfziger Jahren wurde die Kriegsruine zu einem Lungensanatorium umgebaut – Tuberkulosekranke brachte man damals aus Angst vor der Infektionsgefahr fernab von Großstädten unter. Am 29. August 1987 gelang Thoraxchirurgen hier die erste einseitige Lungentransplantation Europas, spätestens seitdem gilt das Krankenhaus als Eliteeinrichtung.
Thorsten Walles war glücklich, hier als Assistenzarzt arbeiten zu dürfen. Nicht nur wegen des hohen Renommees, auch, weil er endlich mit Heike zusammenleben konnte, die er seit acht Jahren liebte und mit der ihn ein gemeinsamer Zukunftstraum verband: künstliche Organe züchten.
Kennengelernt hatte er Heike an der Medizinischen Hochschule Hannover. Er frisch von der Uni, sie schon eine gestandene Wissenschaftlerin, die zahlreiche Doktoranden unter sich hatte. Er mit einem Zickzackstudium, sie, die sich immer geradlinig auf der Karriereleiter nach oben gearbeitet hatte. Er noch in den späten Zwanzigern, Jungengesicht mit vollen Wangen, seine Patienten hielten ihn gern für einen Studenten und verlangten nach dem richtigen Arzt – obwohl er stattliche 1,94 groß war und 110 Kilo auf die Waage brachte. Damals boxte er noch in der Superschwergewichtsklasse. Sie war schon 39, zehn Jahre älter, eine geschiedene Mutter von zwei Kindern, mitten im Leben stehend und gerade mal 1,62 Meter groß, blonder Wuschelkopf. Oft spielte ein undurchdringliches Lächeln um ihre Lippen, das mochte er sofort.
Spöttisch hatte sie ihn damals von unten bis oben gemustert, als er sich vorstellte: »Und du willst jetzt auch Forschung machen?« Aus ihren Worten klang die Skepsis durch, mit der Biologen, die oft jahrelang für ihre Doktorarbeiten brauchen, Medizinern gerne begegnen. »Ich habe gedacht, das ist einer von denen, die sich schnell mal den Titel holen wollen«, sagte sie später über diesen Moment. Wie sie sich täuschte. Walles fühlte sich provoziert durch ihre Worte, gerade ihr wollte er zeigen, was in ihm steckte.
Frauen hatten schon immer Wendungen in seinem Leben herbeigeführt. Für einen Schwarm aus dem Wohnheim hätte er einmal fast sein Medizinstudium geschmissen, weil sie ihm vom Traumberuf Medienmanager vorschwärmte. Er litt so unter der verschulten Ausbildung, in die er nur hineingeschlittert war, weil einige Freunde nach dem Abi den Medizinertest gemacht hatten und er sich mit ihnen sportlich hatte messen wollen. Später im Studium hatte er von einem Tag auf den anderen ein einfaches Ticket nach Rio de Janeiro gebucht – wegen einer Brasilianerin, in die er sich verliebt hatte. Ein halbes Jahr war er dort geblieben, bis zu dem Tag, als ihn seine Mutter wegen eines Briefes der Studienstiftung des deutschen Volkes anrief, bei der er sich viele Monate zuvor beworben hatte. Er hatte es längst vergessen. Ein Forschungsaufenthalt an der Johns Hopkins University, Baltimore, neun Monate! Das Mekka der medizinischen Forschung, gleichauf mit Harvard und Oxford. Er war so schnell weg aus Brasilien, wie er gekommen war, die große Liebe, die sich als Luftnummer entpuppt hatte, war vergessen.
Baltimore war keine Stadt, in der man gerne durch die Straßen schlenderte oder abends wegging: Armut, Verwahrlosung, Drogenabhängige, eine der höchsten Raten für Verbrechen und Tötungsdelikte in den USA. So blieb ihm nur, sich ganz auf sein molekularbiologisches Forschungsprojekt zu konzentrieren.
Regnerische Sonntagnachmittage verbrachte Walles in der Universitätsbibliothek. Dort las er in der Fachzeitschrift Nature zum ersten Mal von Heikes Forschungsgebiet, das Wissenschaftler weltweit elektrisierte: Tissue Engineering – die Züchtung menschlicher Gewebe im Labor. Er erinnerte sich an das Foto von der »Ohr-Maus«, das einige Jahre zuvor durch die Weltpresse gegangen war. Forscher aus Harvard hatten Knorpelzellen aus Rindern entnommen und sie in ein Polymergerüst gesät, das die Form eines menschlichen Ohrs hatte. Das Gerüst löste sich auf, übrig blieb eine Ohrmuschel aus Rinderzellen, die man auf den Rücken einer Maus verpflanzte. Ein gelungenes Experiment, jedoch ohne jeden medizinischen Nutzen. Der Gewebezüchtungs-Pionier Jay Vacanti hatte die scheinbare Maus-Chimäre nur für ein außergewöhnliches Symbolbild erschaffen. Das Foto sollte die mediale Aufmerksamkeit auf sein junges Forschungsgebiet lenken.
Die Hoffnungen, die daraufhin manche in die neue Disziplin setzten, klangen megaloman, nach Gottspielen: Schon in zehn bis 20 Jahren wäre kein Kranker mehr darauf angewiesen, sich Lebern, Nieren oder Herzen eines Leichnams transplantieren zu lassen. Stattdessen müssten die Ärzte der Zukunft ihren Patienten nur ein wenige Millimeter großes Stück aus Muskeln oder Organen entnehmen und im Labor abgeben. Dort würden Gewebe-Ingenieure ihre kranken Organe neu erschaffen. Möglich wäre das, weil in jedem Körpergewebe Vorläuferzellen existierten, die in sich noch die Fähigkeit trügen, zu entscheiden, welche Funktion sie später in einem Organ übernehmen würden. Wenn man diese Zellen nur walten ließe, würden sie sich wie von Zauberhand, gesteuert von Botenstoffen, die sie selbst herstellten, zu strukturierten Geweben gruppieren und irgendwann, nach Wochen oder Monaten, ein fertiges Organ ergeben. Waltete hier ein Schöpfergott?, fuhr es Walles durch den Kopf. Eigentlich war er nicht religiös, aber was er las, versetzte ihn in Staunen. In ihm erwachte ein Feuer. Er, der in seiner Kindheit am liebsten aus den grauen Fischertechnik-Steinchen Brücken und Raumschiffe zusammengesetzt hatte, würde gerne einmal Organe bauen. Doch die Flammen loderten nur kurz, er vergaß es wieder. Später entschied er sich, Herzchirurg zu werden.
An Fügungen glaubt Walles nicht, auch wenn es heute rückblickend magisch scheint, dass sein Chef von der Herzchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover ihn einige Jahre später ausgerechnet Heike zuteilte mit den Worten: »Jeder, der bei uns bleiben will, muss forschen.« Heike Mertsching entwickelte sich gerade zu einer international führenden Forscherin im Tissue Engineering.
Ihr gemeinsamer Chef interessierte sich in erster Linie für Herzklappen aus dem Labor, deshalb hatte er Heike eingestellt. Ihre Vision aber ging schon viel weiter, sie wollte es mit vielen Organen aufnehmen. Eine Frage trieb sie um, die bald zu einer zentralen Frage der Gewebezüchtung werden sollte: Wie groß darf ein künstliches Stück Gewebe sein, damit es nicht abstirbt, nachdem man es eingesetzt hat? Denn das echte, körpereigene Gewebe ist von feinsten Blutgefäßen durchzogen. Die fehlen im Ersatzstück. Aber die gezüchteten Zellen gieren genauso nach Sauerstoff, Zucker und anderen Nährstoffen wie die körpereigenen Zellen. Wenn sie nicht genug davon bekommen, sterben sie ab. Das im Labor gezüchtete Gewebe würde im Körper des Patienten verfaulen.
Als der junge Walles im Jahr 2000 vor Heike Mertsching stand, brauchte sie gerade dringend einen Jungarzt, der sich nicht ganz dumm mit dem Skalpell anstellte und ihr die Operationen an Ratten abnehmen würde, die sie als Biologin nicht selbst durchführen konnte. Seine Aufgabe würde es sein, den Ratten unterschiedlich dicke Gewebestücke einzupflanzen. Ab welcher Größe würde das Stück verfaulen, das war die Frage.
Nicht ein paar OPs standen ihm bevor, sondern 800 an der Zahl. Der Doktorand würde Biss und einen langen Atem haben müssen. Walles, den sie bald Thorsten nannte, hatte beides, stellte sie zu ihrer eigenen Verwunderung fest. Bald trafen sie sich jeden Morgen um sechs und operierten eine Ratte, dann entschwand er auf die Station oder in den OP-Saal, brachte einen schweren Arbeitstag hinter sich und kam abends wieder ins Labor. Ihre Tage hatten keinen Feierabend, oft arbeiteten sie bis Mitternacht. Manchmal schlief er ein, während sie ihm ihre Auswertungen ins Protokoll diktierte. Er hörte auf zu boxen, traf sich nur noch selten mit Freunden oder Kollegen, hielt eisern durch.
Zwei Jahre später die Belohnung. Eine Veröffentlichung in einer hochrangigen Fachzeitschrift. Ergebnis: In der Haut einer Ratte darf der Abstand einer gezüchteten Zelle zum nächsten Blutgefäß maximal 0,8 Millimeter betragen, sonst stirbt sie ab. Auf einem Kongress in Tampa, Florida, präsentierten sie ihre Ergebnisse vor den US-Kollegen, die bis dahin immer auf die Bemühungen der Deutschen herabgeschaut hatten. Sie ernteten viel Beifall.
Am Wochenende darauf wanderten sie durch Floridas Sumpfgebiet, die Everglades. Mücken piesackten sie. Als er ihr ein Insekt von der Wange verscheuchen wollte, blieb seine Hand dort. Sie standen nahe beieinander. Der erste Kuss fühlte sich selbstverständlich an. Sie waren schon lange ein Paar, bemerkten sie in jenem Moment, nur hatten sie nie die Zeit gehabt, das Beisammensein im Privaten auszuleben. Nie, auch später nicht, stellten sie sich die Frage, ob es gut sei, Berufliches und Persönliches so eng zu verweben. Der Statusunterschied – junger Assistenzarzt und renommierte Wissenschaftlerin –, sie spürten ihn nicht mehr. Thorsten war gewachsen in jener Zeit, er stand seinen Mann im Operationssaal und auf den Krankenhausstationen, in einer Welt, die ihr verschlossen war, auch wenn ihr Labor nebenan lag.
Er hatte umgeschwenkt von der Herz- auf die Thoraxchirurgie und würde bald seine Facharztprüfung machen. Er wollte sich einem Organ widmen, das als einziges neben dem Darm damals hartnäckig allen Versuchen widerstand, transplantiert zu werden: der Luftröhre. Deshalb starben den Ärzten häufig Kinder unter der Hand weg, nachdem sie Backofenreiniger oder andere ätzende Flüssigkeiten getrunken hatten.
Als Heike zwei Jahre nach dem ersten Kuss die Stelle am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik in Stuttgart angeboten bekam, standen für beide zwei Dinge außer Frage. Sie müsste diese Chance wahrnehmen. Und: Er würde so bald wie möglich nachkommen. Heike rechnete ihm diese Bereitschaft hoch an, war es doch im Allgemeinen andersherum, Frauen folgten den Männern.
Sie hatten Glück. Der Chef der Lungenfachklinik Schillerhöhe war begeistert gewesen, als er von Thorstens Interesse an der Luftröhre und Heikes Forschungen hörte, und hatte ihm sofort eine Stelle angeboten.
Inge Bäuerle war eine treue Ehefrau. Jeden Tag um die Mittagszeit, wenn sie aus dem Büro der Abfallentsorgungsfirma kam, wo sie als Putzfrau arbeitete, besuchte sie Pavninder im Klinikum der Kleinstadt. Nachmittags ging sie wieder putzen, abends dann wieder auf die Intensivstation, tagaus, tagein. Auch im Koma sollte er spüren, dass jemand da war, seine Hand hielt. Er war an so viele Kabel angeschlossen, dass sie sich kaum traute, ihn woanders zu berühren. Unter seinem Kehlkopf führte ein Beatmungsschlauch durch ein künstliches Hautloch – Tracheostoma – in die Lunge. Das träge rhythmische Geräusch der Maschine beruhigte sie, dabei gab es nichts, worüber man beruhigt sein konnte.
Er habe eine überraschend gute Konstitution, sagten ihr die Ärzte, aber es bestehe kaum Hoffnung, dass er es schaffe. Der Backofenreiniger hatte seine Speiseröhre aufgelöst, dann hatte die ätzende Lauge auf das umgebende Gewebe übergegriffen, ein Loch in die Luftröhre geschmolzen. Möglicherweise sei es so groß, dass man es nicht flicken könne, erklärte ihr einer der vielen namenlosen Männer in weißen Kitteln am Krankenbett. Man müsse die Luftröhre quer durchschneiden, das entzündete Gewebe entfernen und dann die beiden freien Enden der Luftröhre zusammenziehen und vernähen. Ein Glücksspiel. Denn diese Naht würde unter enormen Zugkräften stehen. Wenn sie reiße …, und der Mann machte eine Handbewegung quer über seine Kehle.
Vielleicht würde er nicht mal bis zur Operation durchhalten, sondern sich vorher eine Lungenentzündung einfangen, die die Ärzte nicht mehr unter Kontrolle brächten. So sterben Menschen mit großen Luftröhrendefekten oft, sie ersticken nach Monaten der Maximaltherapie. Doch Inge erfuhr auch, dass sich Spezialisten an einer Lungenfachklinik gerade überlegten, ob sie an ihm eine experimentelle Operation wagen sollten. Wenn er denn leben und das auf sich nehmen wollte – das wusste derzeit niemand.
Warum nur hatte sie seine Verzweiflung nicht gesehen? Was hätte sie tun können, um ihm zu helfen? Sicher, manches Mal hatte Pavninder zu ihr gesagt: »Alles wäre leichter, wenn ich nicht mehr am Leben wäre.« Aber so was sagt man doch manchmal einfach dahin, sie hatte es nicht ernst genommen. Sie liebte ihn, auf ihre Weise, aber sie wusste nur wenig von ihm, das merkte sie jetzt, als die Ärzte und Pfleger ihr so viele Fragen stellten.
Pavninder stammte aus einer Provinzhauptstadt in Nordindien, die sie nur einmal gesehen hatte, auf ihrer nachgeholten Hochzeitsreise vor wenigen Monaten. Ein wunderschöner Maharadscha-Palast, zu dem die Leute aus dem ganzen Land strömten. Viel zu enge Straßen, der ohrenbetäubende Lärm der vielen Menschen und Motoren, die Rikschas, die ständig hupten, der Benzingestank. Auf der Straße stürmten Kinder und Frauen auf sie zu, fragten, ob sie ihre blonden Haare berühren dürften. Sie hatte seine Mutter kennengelernt, eine liebe Frau, wenige Jahre älter als sie, die immerzu lachte. Die Mutter hatte Pavninders jüngeren Bruder und die zwei Schwestern allein durchbringen müssen, denn der Vater, ein gewalttätiger Alkoholiker, war eines Tages nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Jemand hatte ihn erstochen.
Wie eine Prinzessin hatten sie sie dort behandelt, ein Ehebett im schönsten Zimmer des Hauses gerichtet. Der Bruder hatte ihr immer die Tür aufgehalten, die Schwestern hatten sie geschminkt und eingekleidet, damit sie schön aussah, wenn Verwandte oder Freunde zu Besuch kamen. Fotos von der Reise zeigen sie in einem roten Sari mit seiner Familie – auch eine schlankere deutsche Frau als sie würde grob aussehen unter diesen feingliedrigen Menschen mit den schönen Gesichtern.
2000 Euro von ihrem wenigen Ersparten hatte sie der Familie mitgebracht, Pavninder vermutlich viel mehr, er sprach nie darüber. Aber sie wusste, dass er schon immer jeden Euro nach Indien schickte, den er entbehren konnte. Von dem, was er im Monat verdiente, mal 1200 Euro, mal 1500, gab er ihr 500 für die Haushaltskasse, den Rest brachten sie alle drei Monate zu einer Bank am Stuttgarter Flughafen. Er war der Älteste, er hatte die Verantwortung. Und er hatte Schulden – den Menschenschleusern hatte er 20000 Euro bezahlt, sie wusste nicht, wem er die zurückzahlen musste.
Sein Leben: sechs Tage die Woche arbeiten, 12 bis 14 Stunden täglich. Morgens schlief er noch, wenn sie aus dem Haus musste. Wenn er nachts wiederkam, schlief sie. An seinem freien Tag schlief er so lange, dass sie kaum Zeit miteinander hatten. Nie verreisen, nie essen gehen, manchmal picknicken auf den Wiesen des Hügels, der in Fußnähe von der Wohnung lag. Er war ein ausgezeichneter Koch, sie aß gesund, seitdem sie ihn kannte. Nur Vegetarisches, wegen seines Glaubens.
Die drei Jahre, die er in Deutschland gelebt hatte, bevor sie ihn kennenlernte, waren seine härtesten gewesen. Eigentlich wollte er in die USA, aber seine Odyssee, über die er nie sprach, endete auf verschlungenen Wegen im Ruhrgebiet. Er fand Unterschlupf bei einem Inder, der ein Restaurant in Essen betrieb. Er arbeitete sieben Tage die Woche und zog sich abends zurück in ein fensterloses Zimmer im Keller. Er hörte Radio in einer Sprache, die er nicht verstand, las zerfledderte Zeitungen aus der fernen Heimat. Sein Gehalt, 700 Mark im Monat, sparte er für die Familie und seine Schulden, kaufte zwei Jahre keine neue Kleidung. Er fragte den Chef: »Bitte gib mir einen Tag frei.« Der sagte: »Du kannst für immer freihaben, wenn du willst.« Er bat ihn um mehr Geld, der Chef sagte: »Du kannst woanders hingehen, wenn sie dir dort mehr zahlen.«
Pavninder arbeitete in Frankfurt, in Paris und vielleicht noch woanders. Irgendwann beantragte er Asyl, weil Sikhs eine religiöse Minderheit in Indien sind.
Im Winter 2003 besuchte Inge mit ihrer Freundin eine Bar im Untergeschoss eines Einkaufszentrums. Dort sangen junge Talente einer Jury vor, die den »Megastar« der schwäbischen Kleinstadt suchte. Später wurde Musik der achtziger Jahre aufgelegt, da stand Pavninder plötzlich vor ihr, wollte mit ihr tanzen. Er sprach nur mit ihr, ihre Freundin beachtete er nicht.
Einige Tage später ging sie mit einer anderen Freundin in jenem Restaurant essen, wo er arbeitete. Sie trafen sich einige Male zum Spazierengehen. Sie erzählte ihm, dass sie einen Sohn in seinem Alter habe. Das störe ihn nicht, beteuerte er. In einer Winternacht küsste er sie zum ersten Mal in ihrem Auto. »Er war wie ausgehungert, ist richtig rangegangen«, erinnert sie sich und muss heute noch kichern.
Als sie ihn zwei Jahre später heiraten wollte, sagten ihre Mutter und ihre Freundinnen: »Du spinnst.« Es werde hart für sie beide wegen des Altersunterschieds, sagte sie zu Pavninder. »Aber wenn unsere Liebe stark genug ist, schaffen wir alles!« Sie war damals 50 Jahre alt, er 21.
Der Standesbeamte glaubte ihnen nicht. In getrennten Zimmern wurden ihnen Fragen zur Familie des anderen gestellt. Eines Morgens klingelte ihr Handy, die Sozialarbeiterin des Asylantenheims, in dem er wohnte, meldete sich mit aufgeregter Stimme. »Sie müssen sofort kommen, Ihr Verlobter sitzt in Abschiebehaft.« Ein Kölner Anwalt, spezialisiert auf Immigranten aus Indien, boxte ihn raus. Nach der Trauung feierten sie in der Bar im Untergeschoss der Einkaufspassage, wo sie sich kennengelernt hatten. Die Mutter und ein paar Freundinnen waren gekommen, Inges Brüder nicht.
Die Monate danach zählten zu den schönsten ihres Lebens, aber irgendwann fraß die viele Arbeit das Glück auf. Immer wieder beteuerte er ihr, sie sei die erste große Liebe seines Lebens, aber sie konnten ihre Liebe nicht mehr leben. Es war nicht nur die Geschichte mit diesem Mädchen und ihrem Onkel, glaubte sie. Er hatte sicher auch ein Burn-out, keiner konnte dauerhaft so viel arbeiten.
Jetzt lag er hier, und sie wusste weder, ob er überleben würde, noch, ob er es wollte. Schon mehrfach hatten die Ärzte versucht, ihn aus dem Koma zu holen, jedes Mal begann er, sich Kabel und Schläuche vom Körper zu reißen. Ein Pfleger meinte, er mache das absichtlich, sie glaubte ihm nicht.
Die Luftröhre wirkt so schlicht auf den ersten Blick. Ein Rohr, etwa zwölf Zentimeter lang, stabilisiert durch ringförmige Knorpel. Die Ersatzteilmedizin hat Kunstherzen, Kniegelenke und ferngesteuerte Armprothesen hervorgebracht. Künstliche Luftröhren gab es nicht, und auch keine Spenderorgane.
Der Grund: Luftröhren sind von Mensch zu Mensch so verschieden wie Fingerabdrücke. Sie sind das bedeutendste Eingangsportal für Krankheitskeime, die Schnittstelle zwischen Körperinnerem und Umwelt. In ihrer Schleimhaut lauern Wächterzellen auf Angreifer – Zellen des körpereigenen Immunsystems, die alles bekämpfen, was fremd ist, auch ihren neuen Wirt, wenn sie aus einem Leichnam in einen fremden Körper verpflanzt werden. Außerdem leben in Luftröhren viele Milliarden Bakterien und Pilze in einem sensiblen ökologischen Gleichgewicht, von dem die Medizin noch nicht viel versteht und das von Mensch zu Mensch verschieden ist. Mit ihrem Wirt haben sie sich gut arrangiert. Aber wenn man diese Luftröhre samt Keimen und Wächterzellen in einen anderen Körper verpflanzt, würde dessen Immunsystem alles als feindlich betrachten – der Organempfänger müsste ein Leben lang hochdosierte Immunsuppressiva nehmen.
Das zweite Problem ist die Blutversorgung. An vielen anderen Organen hat der Mensch eine große Schlagader und eine Vene, an die man das Transplantat andocken kann. Anders die Luftröhre, sie wird nur über Mikrogefäße aus Nachbarorganen versorgt.
Das sind die Gründe, weswegen Heike Mertsching und Torsten Walles all ihre Bemühungen in den vergangenen Jahren ganz auf die Luftröhre konzentrierten. Für die Patienten, die einen Organersatz brauchten, gab es keine Alternative. Ein Heilversuch würde ethisch gut zu vertreten sein.
In Tierversuchen hatten sie schon erfolgreich Implantate eingesetzt, aber ob ihre Methode beim Menschen funktionieren würde, war fraglich. Zweimal hatten sie Patienten operiert, deren Luftröhren von Krebsgeschwüren zerfressen worden waren. Beide lebten nicht mehr lange nach der Operation. Der erste Patient starb an seinem Grundleiden, der zweite Patient aber stellte all ihre Bemühungen in Frage. Denn die künstliche Luftröhre war in seinem Körper verfault. Schuld war die fehlende eigene Blutversorgung im künstlichen Gewebe. Ihre jahrelange Forschung stand auf dem Prüfstand. Sie mussten einen neuen Weg finden.
An einem Tag im Januar 2008 war es plötzlich so weit. Nach der Morgenvisite rief der Chefarzt der Klinik Schillerhöhe seinen Assistenten Walles zu sich, erzählte ihm von Pavninder Singh, der nur 40 Kilometer entfernt in einer Klinik lag. Als Thorsten Walles von Singh hörte, wusste er, dass Heike und ihm jetzt die größte Bewährungsprobe bevorstand. Singh war jung. Er litt nicht wie seine beiden Vorgänger an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung, und sein Körper war laut seinen behandelnden Ärzten erstaunlich fit angesichts des langen Aufenthalts auf der Intensivstation. Wenn einer es schaffte, dann Singh. Wenn ihre Forschung für die Praxis taugte, dann würde Singh mit Hilfe ihres Implantats bald wieder ein normales Leben führen – bis ans natürliche Ende seiner Tage.
Walles sah Singh zum ersten Mal am 25. Februar 2008, zweieinhalb Monate nach dem Selbstmordversuch. Der Inder saß im Schneidersitz auf dem Bett, verharrte so in einer fast unbeweglichen Starre, den Rücken gerade durchgedrückt, den Kopf kahl geschoren, weißes OP-Hemd. Walles fühlte sich an einen Fakir erinnert. Singhs Augen waren ängstlich geweitet, immer wieder wurde sein abgemagerter, zerbrechlich wirkender Körper von Hustenanfällen geschüttelt, vor sich hielt er eine Nierenschale für den Auswurf, den er über sein Tracheostoma, die künstliche Öffnung im Hals, absonderte. Walles kannte diese Angst vor dem Ersticken von Menschen, in deren löchrige Luftröhre ständig Speichel und Gewebsflüssigkeit eindringen.
Immerhin gut, dass er sich so aufrecht hielt, 90 Grad, ideale Position, dachte der Arzt. Denn in dieser Haltung konnte kein Magensaft in die verstümmelte Luftröhre eintreten. Das war die größte Gefahr. Der Magensaft würde beginnen, die Lunge zu verdauen. Eine lebensbedrohliche Lungenentzündung wäre die Folge.
Das sagte er zu Singh, und der nickte kräftig – sprechen konnte er nicht, wegen des Tracheostomas gelangte keine Ausatemluft aus den Lungen in seinen Kehlkopf, wo die Stimmbänder liegen. Die Krankenschwester schwärmte, alle vom Pflegepersonal seien beeindruckt von der großen Disziplin ihres Patienten. 18 Stunden halte er es jeden Tag in dieser anstrengenden Position aus. Walles hatte schon einige Patienten mit Luftröhrendefekten gesehen, aber noch nie einen, der in dieser Situation einen derart eisernen Willen an den Tag legte. Dieser Patient will leben, dachte er. Und mit diesem Willen war alles möglich, ohne ihn nichts.
Walles war es gewohnt, Patienten gegenüberzustehen, die durch ihre Krankheit zum Schweigen verurteilt waren. Natürlich konnte man sich mit ihnen über Papier und Stift verständigen, aber Walles konnte auch vieles aus Blicken und Gesten lesen. Im Schwimmverein hatte er eine gehörlose Jugendfreundin gehabt – durch sie hatte er gelernt, die Gesichter der Sprachlosen zu deuten, mit ihnen in einen stummen Dialog zu treten.
Ihre Augen begegneten sich, Walles spürte, er würde einen guten Draht zu Singh bekommen. Es waren warme, kluge Augen. Dieser Mann würde verstehen, was er ihm gleich erklären würde. Außerdem konnte er in ihnen noch etwas anderes lesen: Humor – oder zumindest die Veranlagung dazu. Das ist gut!, dachte er, dich bekomme ich zum Lachen, hier und jetzt. Als er dann von der Ehefrau hörte, dass Singh gerne wieder essen würde, plazierte er einen gewagten Satz, der schon öfter gut funktioniert hatte: »Nun ja, das ist gerade schwierig. Noch sind Sie ja nicht ganz dicht …« Er blickte Singh unverwandt an, sah, wie es in ihm arbeitete, seine Mundwinkel zuckten. Und dann lachten diese Augen. Das Eis war gebrochen.
Später erzählte Singh über diese erste Begegnung, er habe gespürt, dass der Arzt ihn nicht verurteilte, auch nicht auf falsche Weise betroffen gewirkt habe wie manch anderer am Krankenbett. Alles, was er danach von Walles hörte, schien nicht mehr so schlimm, weil er sofort Vertrauen zu dem jungen Arzt gefasst hatte: Dass man seine Speiseröhre leicht würde ersetzen können durch ein Stück eigenen Darm – ein Routineeingriff. Dass aber zuvor die Luftröhre geflickt werden müsse, weil sonst die im Hals schwelende Entzündung die Ersatzspeiseröhre zerstören würde.
Dass dies am besten durch einen experimentellen Eingriff geschehe. Walles würde Singh dafür aus dem Oberschenkel ein fingernagelgroßes Stück Haut, Bindegewebe und Muskel entnehmen, mehr brauche er nicht. Im Labor würde daraus eine Luftröhre wachsen. Niemand könne Singh den Erfolg garantieren, möglicherweise würde er trotzdem sterben.
Aber für diese vage Hoffnung würde Singh noch einen Monat kämpfen müssen – gegen den Husten, gegen die Erstickungsanfälle, gegen die Todesangst. In aufrechter Haltung, 18 Stunden am Tag. Ein Monat, so lange würde es brauchen, bis der Organersatz im Labor gereift war.