Herausgegeben und
mit einem Vorwort
von Sophia Jungmann
und Karen Nőlle
mit vielen Zimmern
Originalausgabe 2015
herausgegeben und mit einem Vorwort von Sophia Jungmann
und Karen Nölle
Für die Zusammenstellung:
© 2015 edition fünf
Verlag Silke Weniger, Gräfelfing /Hamburg
herausgegeben von Karen Nölle
Lektorat Sophia Jungmann, Karen Nölle
Gestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf
ISBN 978-3-942374-74-3
www.editionfuenf.de
»Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.« Dass Karl Valentins Spruch auch für das Schreiben gilt, wissen alle, die sich schon einmal daran versucht haben. Wer etwas schreibt, hat viel zu bedenken. Welche Form wähle ich für meinen Stoff, was für Figuren brauche ich, welcher Ton ist der richtige? Welche Stimme soll die Leser führen – was und wen will ich mit meinem Text erreichen? Die Möglichkeiten sind unendlich, und jede Entscheidung prägt das Resultat. Wenn Autorinnen ihre Gedanken zum Schreiben preisgeben, wie in den hier versammelten Erzählungen, Essays und Gedichten, geben sie uns die Chance, ein Stück weit in den Prozess hineinzulugen, und unserer Ahnung davon, was es heißt, Schriftstellerin zu sein, neue Nahrung.
Von der Welt des Schreibens, dem Zauber des Erzählens verlockt zu sein, ist etwas, das Lesende wie Schreibende kennen. Davon handeln in diesem Band die Erzählungen von Tania Blixen und Margaret Atwood. Raffiniert spielen sie mit dem Thema der Verführung durch die Vorstellungskraft und beschwören auf je eigene Weise das Rätsel, um das so vieles Geschriebene kreist – das nicht Ausgesprochene, vielleicht Unsagbare, das Autorinnen zu immer neuen Texten reizt und ihre Leserinnen und Leser ködert.
Schwer zu greifen, aber wichtig ist das Thema Talent. Schriftstellerinnen sind in aller Regel gleich mehrfach begabt: mit Phantasie, Ideen, Geist, Sprachgefühl, Durchhaltevermögen, Disziplin. Darüber reden sie nicht; es scheint sich von selbst zu verstehen. Wie nützlich auch ein Talent zur Liebe wäre, zeigen die Erzählungen von Janet Frame und Tove Jansson, deren Heldinnen es damit schwer haben, weil ihr Ego sie nicht lässt. Bei Ali Smith und Nora Gomringer hingegen schimmert jede Menge Liebe durch: in der Art, wie sie Klarsicht, Zuspitzung, Spiel genießen und darin, wie viel Herz sie für ihre Themen beweisen. Die Liebe zum Handwerk, die aus Judith Schalanskys Essay über das Büchermachen spricht, lässt sich auch bei Anna Seghers finden. Ihr gelingt es in einer Erzählung aus dem Exil – einem Kunstwerk aus geschichteter Erinnerung, verkleidet als Aufsatz über einen Schulausflug –, ihre Liebe zur deutschen Heimat zu retten, die nach den Gräueltaten der Nationalsozialisten und den Zerstörungen durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs nur schreibend wiederzuerrichten ist. Liebe, so scheint es, befähigt zu Schwerstarbeit.
Vom Musenkuss, der zum Quell der Wahrheit führt und den Fluss der Inspiration in Gang setzt, ist bei den Autorinnen eher selten zu lesen. Sie gehen die Fragen ihrer Kunst praktisch an. Sylvia Plath stellt Überlegungen dazu vor, was in einem Roman alles Platz hat, bis hin zur Zahnbürste im Bad, während für die Requisiten eines Gedichts viel strengere Maßstäbe gelten. Annette Pehnt philosophiert darüber, wie Geschichten enden. Und Clarice Lispector entfaltet, ausgehend von einer schlichten Begebenheit mit Kakerlaken in ihrer Wohnung, auf nur fünf Seiten ein ganzes Spektrum der poetischen Möglichkeiten.
Und was stört den Fluss? In einer 1931 gehaltenen Rede über ihre Erfahrungen als Schriftstellerin schildert Virginia Woolf mit eindrücklichen Bildern die Kämpfe, die eine Autorin gegen das Phantom der Nettigkeit und die Konventionalität männlichen Denkens zu führen hat, ehe es ihr gelingen kann, ihre schöpferischen Möglichkeiten auszuloten und ohne Fesseln zu schreiben, wie ihre Wahrheit es verlangt. Dass Antje Rávic Strubels Betrachtungen über die Erwartungen an »Mädchen« im Literaturbetrieb heute, achtzig Jahre später, quasi nahtlos an Woolfs Rede anschließen, lässt staunen, sowohl über die Hartnäckigkeit des Schubladendenkens als auch über die Bereitschaft von Schriftstellerinnen, den altbekannten Hindernissen immer aufs Neue mit Witz zu begegnen. Und auch Siri Hustvedts Wunsch, die Stimmen in ihrem Inneren frei hören und unzensiert ausformen zu können, auch wenn sie männlich konnotiert sein sollten, zeigt, wie sehr es sich lohnt, darüber nachzudenken, was es heißt, als Frau zu schreiben und im Betrieb zu bestehen.
Eine Erzählung, hat Alice Munro gesagt, ist ein Haus mit vielen Zimmern, und wer seine Räume betritt, wird aus jedem Fenster eine neue Sicht entdecken. Das gilt auch für dieses Buch mit seinen so unterschiedlich möblierten Räumen, die alle zu einem Ganzen gehören. Die Bewohnerinnen sind über die Generationen und Sprachgrenzen hinweg miteinander ins Gespräch vertieft – lauschen Sie hin und lassen Sie sich zum Mitreden anstiften.
Sophia Jungmann und Karen Nőlle, Herausgeberinnen
Am alten Stadttor saß eine kaffeebraune, schwarz verschleierte Greisin, die vom Geschichtenerzählen lebte. Sie sagte: »Wollt ihr eine Geschichte hören, gnädige Dame, werter Herr? Wahrhaftig, ich habe schon viele Geschichten erzählt, tausendundeine, seit jener Zeit, als ich mir selbst noch von jungen Männern Geschichten erzählen ließ von einer roten Rose, zwei glatten Lilienknospen und vier seidigen, geschmeidigen, tödlich verschlungenen Schlangen. Es war die Mutter meiner Mutter, die schwarzäugige Tänzerin, die vielumarmte, die es sich auf ihre alten Tage – als sie schon schrumpelig war wie ein Winteräpfelchen und sich hinter dem barmherzigen Schleier verkroch – zur Aufgabe machte, mich die Kunst des Geschichtenerzählens zu lehren. Die Mutter ihrer Mutter hatte sie darin eingeweiht, und die beiden waren bessere Geschichtenerzähler als ich. Aber das ist jetzt nicht mehr von Belang, denn sie und ich sind für die Leute eins geworden, und so erweist man mir höchste Ehren, weil ich nun seit zweihundert Jahren Geschichten erzähle.«
Wenn sie aber reichlich entlohnt wird und bei guter Laune ist, wird sie mit ihrer Geschichte anfangen.
»Bei meiner Großmutter«, sagte sie, »bin ich durch eine harte Schule gegangen. ›Bleib der Geschichte treu‹, sagte die alte Vettel immer zu mir. ›Bleib stets und unbeirrbar der Geschichte treu.‹ – ›Warum soll ich das tun, Großmutter?‹, fragte ich sie. ›Muss ich dir auch noch die Gründe liefern, nichtsnutziger Fratz?‹, schrie sie. ›Und du willst Geschichtenerzählerin sein! Nun, du sollst Geschichtenerzählerin werden, und ich werde dir sagen, warum! So höre denn: Wo der Geschichtenerzähler stets und unbeirrbar seiner Geschichte treu bleibt, spricht am Ende die Stille. Wo aber die Geschichte verraten wird, ist Stille nichts weiter als Leere. Aber wir, die wir an die Geschichte glauben, werden, wenn wir unser letztes Wort gesprochen haben, die Stimme der Stille vernehmen. Ob so ein kleiner Grünschnabel das nun versteht oder nicht.‹
Wer erzählt denn«, fährt sie fort, »bessere Geschichten als irgendeine von uns? Die Stille. Und wo liest man eine tiefsinnigere Geschichte als auf der meisterhaft gedruckten Seite des kostbarsten Buchs? Auf der leeren Seite. Wenn eine Erzählung im Augenblick höchster Inspiration einer königlichen und kundigen Feder entfloss und in der allerfeinsten Tinte niedergeschrieben wurde – wo in der Welt gibt es dann etwas noch Tiefsinnigeres, Rührenderes, Lustigeres und Grausameres zu lesen? Auf der leeren Seite.«
Ein Weilchen sagt die Alte nichts, kichert nur ein wenig und mümmelt mit ihrem zahnlosen Mund.
»Wir«, fährt sie endlich fort, »die alten Frauen, die Geschichten erzählen, kennen die Geschichte von der leeren Seite. Aber allzu gern erzählen wir sie nicht, denn sie könnte leicht unserem Ansehen bei den Uneingeweihten schaden. Dennoch will ich bei euch, schöne, gnädige Dame und hochherziger Herr, eine Ausnahme machen: Ich werde sie euch erzählen.«
»Hoch oben in den blauen Bergen von Portugal steht ein altes Nonnenkloster der Karmeliter, eines angesehenen und strengen Ordens. In alten Zeiten war es wohlhabend, die Nonnen waren alle Edelfräulein, und Wunder geschahen dort. Aber mit den Jahrhunderten ließ die Begeisterung hochgeborener Damen für das Fasten und das Beten nach, und üppige Aussteuern flossen nur noch spärlich in die klösterliche Schatzkammer. Heute bewohnen die wenigen mitgiftlosen und ärmlichen Schwestern nur noch einen Flügel des ausgedehnten verfallenden Gemäuers, das aussieht, als sehnte es sich danach, eins zu werden mit dem grauen Felsuntergrund, auf dem es steht. Dennoch sind sie noch immer eine muntere und regsame Schwesternschaft. Sie halten voll Freude ihre heiligen Andachten und kommen emsig jener einen, besonderen Aufgabe nach, die dem Kloster einst, vor langer, langer Zeit, ein seltenes und merkwürdiges Privileg eintrug: Sie bauen den feinsten Flachs an und stellen das erlesenste Linnen von Portugal her.
Das langgestreckte Feld unterhalb des Klosters wird von sanftäugigen, milchweißen Ochsen gepflügt und die Saat von geübten, jungfräulichen Händen, voller Schwielen und mit Erdrändern unter den Fingernägeln, ausgesät. Zur Zeit der Flachsblüte wird das ganze Tal duftig blau, so blau wie die Schürze, welche die Heilige Jungfrau sich umband, als sie im Hühnerhof der heiligen Anna Eier einsammeln wollte, just bevor der Erzengel Gabriel sich mit mächtigen Flügelschlägen auf die Schwelle des Hauses herniederließ und während hoch, hoch oben eine Taube mit gesträubtem Nackengefieder und bebenden Flügeln wie ein kleiner, klarer Silberstern am Himmel stand. In diesem Monat heben die Dorfbewohner im Umkreis von Meilen die Augen zum Flachsfeld empor und fragen einander: ›Ist das Kloster in den Himmel gehoben worden? Oder ist es unseren lieben kleinen Schwestern gelungen, den Himmel zu sich herunterzuholen?‹
Später, zu gegebener Zeit, werden die Flachspflanzen gerauft, geschwungen und gehechelt, wird der feine Faden gesponnen, das Leinen gewebt und zuallerletzt das Tuch zum Bleichen aufs Gras gelegt und wieder und wieder gewässert, bis man glauben könnte, rund um die Klostermauern sei Schnee gefallen. All diese Arbeiten werden voll Sorgfalt und Gottesfurcht und unter Besprengungen und Gebeten ausgeführt, deren Geheimnis nur die Klosterfrauen kennen. Deshalb ist das Leinen, das in Ballen hoch auf die Rücken kleiner grauer Esel gepackt und durchs Klostertor hinaus und hinunter, immer tiefer hinunter in die Städte geschickt wird, so blütenweiß, glatt und zart, wie meine eigenen kleinen Füße es waren, als ich sie mit vierzehn Jahren im Bach wusch, um zum Tanz ins Dorf zu gehen.
Fleiß, meine verehrten Herrschaften, ist etwas Gutes, und Glaube auch, aber der allererste Keim einer Geschichte entstammt stets einem mystischen Ort außerhalb der Geschichte selbst. Und so bezieht das Linnen des Convento Velho seinen wahren Wert daher, dass der allererste Leinsamen von einem Kreuzfahrer aus dem Heiligen Lande mitgebracht wurde.
Wer lesen kann, erhält in der Bibel Kunde von den Ländern von Lecha und Marescha, in denen Flachs angebaut wird. Ich selbst kann nicht lesen und habe dieses Buch, von dem so viel die Rede ist, noch nie gesehen, aber die Großmutter meiner Großmutter war als kleines Mädchen der Liebling eines alten jüdischen Rabbi, und das Wissen, das sie von ihm erhielt, ist in unserer Familie bewahrt und weitergegeben worden. So können Sie im Buch Josua nachlesen, wie Achsa, die Tochter des Kaleb, von ihrem Esel stieg und zu ihrem Vater sprach: ›Gib mir eine Segensgabe; denn du hast mich nach dem dürren Südland gegeben; gib mir auch Wasserquellen!‹ Und da gab er ihr die oberen und die unteren Quellen. Und auf den Feldern von Lecha und Marescha lebten später die Familien derer, die das feinste Linnen von allen wirkten. Unser portugiesischer Kreuzfahrer, dessen eigene Vorfahren einst zu den berühmten Leinenwebern von Tomar gehört hatten, erkannte, als er über ebendiese Felder ritt, voll Staunen die Qualität des Flachses und band daher ein Säckchen mit Leinsamen an seinen Sattelknauf.
Diesem Umstand verdankt das Kloster sein wichtigstes Privileg, das darin bestand, allen jungen Prinzessinnen der königlichen Familie die Brautlaken zu liefern.
Ihr müsst wissen, verehrte Herrschaften, dass im Lande Portugal in sehr alten und vornehmen Familien ein ehrwürdiger Brauch gepflegt wurde. Am Morgen nach der Hochzeit einer Tochter des Hauses und noch vor der Überreichung der Morgengabe hielt der Kammerherr oder Haushofmeister von einem Balkon des Palastes aus das Laken der Hochzeitsnacht hoch und verkündete feierlich: ›Virginem eam tenemus. – Wir erklären ihre Jungfernschaft als erwiesen.‹ Ein solches Laken wurde danach niemals mehr gewaschen noch jemals wieder aufgezogen.
Dieser altehrwürdige Brauch wurde nirgends strenger befolgt als bei Hofe selbst und hielt sich dort bis in die jüngste Zeit.
Nun besaß das Kloster in den Bergen aber in Anerkennung der vorzüglichen Qualität des von ihm gelieferten Linnens viele Hundert Jahre lang ein zweites Privileg: Das Mittelstück des schneeweißen Lakens, welches von der Ehre einer königlichen Braut Zeugnis ablegte, gelangte in seine Obhut zurück.
Im hohen Hauptflügel des Klosters, von wo der Blick über eine unendliche Weite von Hügeln und Tälern geht, befindet sich eine lange Galerie mit schwarz-weißem Marmorfußboden. An den Wänden der Galerie hängen in langer Reihe nebeneinander schwere, vergoldete Rahmen, jeder mit einem Schild aus purem Gold geschmückt, in das eine Krone und der Name einer Prinzessin eingraviert sind: Donna Christina, Donna Ines, Donna Jacintha Lenora, Donna Maria. Und jeder dieser Rahmen umschließt einen viereckigen Ausschnitt aus einem königlichen Hochzeitslaken.
Aus den verblassten Flecken auf den Leinwandstücken vermögen phantasievolle und empfindsame Menschen alle Zeichen des Sternkreises herauszulesen: die Waage, den Skorpion, den Löwen, die Zwillinge. Oder sie können darin Bilder aus der eigenen Vorstellungswelt wiederfinden: eine Rose, ein Herz, ein Schwert – oder gar ein von einem Schwert durchbohrtes Herz.
In alten Tagen geschah es mitunter, dass sich eine lange, stattliche, farbenprächtige Prozession durch die steingraue Bergwelt zum Kloster hinaufwand. Prinzessinnen von Portugal, die nun Königinnen oder Königinwitwen fremder Länder, Erzherzoginnen oder Kurfürstinnen waren, begaben sich mit ihrem prunkvollen Gefolge auf einer Pilgerfahrt hierher, die naturgemäß sowohl weihevoll als auch insgeheim heiter war. Vom Flachsfeld aus steigt die Straße steil bergan, und die königliche Dame musste aus der Kutsche klettern und sich dies letzte Wegstück in einer Sänfte tragen lassen, die dem Kloster eigens zu diesem Zweck gestiftet worden war.
Später begab es sich, dass eine sehr betagte Jungfer aus altem Adel sich regelmäßig, bis in unsere Tage, auf die Reise zum Convento Velho machte – so wie ein letzter, heller kleiner Funke, der, wenn ein Stück Papier verbrannt wird, nachdem schon alle anderen Funken am Rand entlanggeglommen und verloschen sind, aufleuchtet und hinter ihnen allen hereilt. Sie war früher einmal, vor langer, langer Zeit, Gespielin, Freundin und Hofdame einer jungen Prinzessin von Portugal gewesen. Auf ihrem Weg zum Kloster wird sie gewahr, wie sich nach allen Seiten der Blick weitet. Im Gebäude selbst führt eine Nonne sie zur Galerie und zum Schild mit dem Namen der Prinzessin, welcher sie einst diente, und verabschiedet sich dort von ihr, ihren Wunsch nach Alleinsein achtend.
Langsam, unendlich langsam zieht eine Kette von Erinnerungen durch den kleinen, ehrwürdigen, totenähnlichen Kopf unter der Mantilla aus schwarzer Spitze, und er nickt ihnen in beifälligem Wiedererkennen zu. Die treue Freundin und Vertraute blickt zurück auf das erlauchte Eheleben der jungen Braut mit dem auserkorenen königlichen Gemahl. Sie sinnt über glückliche Ereignisse und Enttäuschungen nach – Krönungen und Festtage, Hofintrigen und Kriege, die Geburt von Thronfolgern, Vermählungen zwischen jüngeren Generationen von Prinzen und Prinzessinnen, Aufstieg oder Untergang von Dynastien. Die alte Dame erinnert sich, wie einst aus den Flecken auf dem Leinen Weissagungen abgeleitet wurden – nun ist sie imstande, die Erfüllung mit der Weissagung zu vergleichen, und dabei seufzt sie ein wenig und lächelt ein wenig. Jedes Leintuch mit seinem gekrönten Namensschild hat eine eigene Geschichte zu erzählen, und jedes hat dort in treuem Gedenken an diese Geschichte seinen Platz bekommen.
Aber inmitten der langen Reihe hängt ein Leintuch, das sich von allen anderen unterscheidet. Sein Rahmen ist ebenso kunstvoll gearbeitet und so schwer wie nur irgendeiner und trägt das goldene Schild mit der Königskrone mit demselben Stolz. Dieses eine Schild jedoch trägt keinen Namen, und die Leinwand im Rahmen ist schneeweiß von einem Rand zum anderen – eine leere Seite.
Ich bitte euch, ihr guten Leute, die ihr euch gern Geschichten erzählen lasst: Betrachtet diese leere Seite und erkennt die Weisheit meiner Großmutter und aller alten, geschichtenerzählenden Frauen!
Denn mit welch ewiger und unbeirrbarer Treue ist dieses Leintuch in die Reihe eingefügt worden! Die Geschichtenerzählerinnen selbst verhüllen bei seinem Anblick die Gesichter und werden sprachlos. Denn der königliche Herr Papa und die königliche Frau Mama, die einst dies Stück Leinwand einrahmen und aufhängen ließen, wären vielleicht, hätten sie nicht von alters her diese unbedingte Treue im Blut gehabt, in Versuchung gekommen, es wegzulassen.
Vor diesem Stück reinweißen Leinens sind die einstigen Prinzessinnen von Portugal – lebenskluge, pflichtbewusste, leidensgewohnte Königinnen, Ehefrauen und Mütter – wie auch ihre einstigen adeligen Gespielinnen, Brautjungfern und Hofdamen am häufigsten stehen geblieben.
Vor der leeren Seite versinken alte und junge Nonnen, einschließlich der Mutter Äbtissin selbst, in tiefstes Nachdenken.«
Aus dem Englischen von Barbara Henninges
Im Café saßen zwei Männer am Tisch neben meinem. Der eine war jünger, der andere älter. Sie hätten Vater und Sohn sein können, aber es war nichts von der geübten Zurückhaltung zu spüren, nichts von dem wolkigen Zorn, der fast immer zwischen Vätern und Söhnen da ist. Vielleicht waren sie das Ergebnis einer elterlichen Scheidung, der Vater jetzt, wo der Sohn richtig erwachsen geworden war, sehr gern Vater, der Sohn nun, wo sein Vater ihm zumindest für die Länge einer Tasse Kaffee gegenübersaß, sehr gern ein Mann. Nein. Der Ältere war eher ein Freund der Familie, einer, der im Sommer an den Wochenenden bei dem kleinen Jungen, der ein Scheidungskind ist, Vaterstelle vertritt, ein Mann, der weiß, welche Verantwortung er trägt, und jetzt, sieh an!, ist der Junge erwachsen geworden und der Mann ein älterer Mann, und es gibt, unausgesprochen, dieses Einverständnis zwischen ihnen usw.
Ich hörte auf, mir die beiden zusammenzufabulieren. Es gehörte sich irgendwie nicht. Stattdessen horchte ich auf das, was sie sagten. Sie unterhielten sich über Literatur, und das interessiert mich zufällig, obwohl es viele Leute ja nicht interessiert. Der junge Mann sprach über den Unterschied zwischen dem Roman und der Kurzgeschichte. Der Roman, sagte er, sei eine schlappe alte Hure.
Eine schlappe alte Hure!, sagte der Ältere und riss erheitert die Augen auf.
Sie stehe zu Diensten, sei gemütlich und warm, man kenne sie, sagte der Jüngere, aber eigentlich sei sie ein bisschen verbraucht, eigentlich ein bisschen zu träge und ausgeleiert.
Träge und ausgeleiert!, sagte der Ältere lachend.
Im Vergleich dazu sei die Kurzgeschichte eine gewandte Göttin, eine schlanke Nymphe. Weil so wenige die Kurzgeschichte gemeistert hätten, sei sie immer noch ganz gut in Form.
Gut in Form! Der Ältere lächelte breit bei diesen Worten. Er war wohl alt genug, um sich an Zeiten in seinem Leben zu erinnern – so lange war es noch gar nicht her –, da wäre es zumindest ein bisschen ungehörig gewesen, solche Reden zu führen. Ich überlegte träge, mit wie vielen der Bücher bei mir zu Hause ich ins Bett gehen würde und wie gut die wohl im Bett wären. Dann seufzte ich, zog mein Handy heraus und rief meine Freundin an, mit der ich normalerweise freitagvormittags in dieses Café gehe.
Sie weiß eine ganze Menge über die Kurzgeschichte. Sie hat einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht, welche zu lesen, darüber zu schreiben, sie im Unterricht durchzunehmen, sogar ab und zu selbst welche zu schreiben. Sie hat mehr Kurzgeschichten gelesen, als die meisten Leute wissen (oder wissen wollen), dass es sie gibt. Das kann man wohl eine Liebe fürs Leben nennen, dabei war meine Freundin noch gar nicht so alt, an diesem Vormittag erst in den ausgehenden Dreißigern. Eine Liebe fürs bisherige Leben also. Aber sie wusste schon mehr über Kurzgeschichten und über die Menschen auf der ganzen Welt, die welche schreiben und geschrieben haben, als jeder andere, dem ich je begegnet bin.
Sie war an diesem bestimmten Freitag vor ein paar Jahren im Krankenhaus, denn eine Chemotherapie hatte jedes einzelne ihrer winzigen weißen Blutkörperchen zerstört, und danach hatte sie sich eine Entzündung in einem Weisheitszahn eingefangen.
Ich wartete, während mir die Automatenstimme der Krankenhaustelefonanlage alles über sich erzählte, mir dann roboterhaft die Nummer ansagte, die ich gerade gewählt hatte, dann den Namen meiner Freundin – er lautet Kasia – falsch aussprach, mir anschließend auf Heller und Pfennig genau mitteilte, wie viel man mir dafür berechnete, dass ich mir das alles anhören durfte, und mir dann sagte, was es pro Minute kosten würde, mit meiner Freundin zu sprechen. Danach verband sie mich.
Hi, sagte ich. Ich bin’s.
Bist du am Handy?, sagte sie. Nicht, Ali, das ist über das System zu teuer. Ich ruf dich zurück.
Nicht nötig, sagte ich. Ist bloß ein Quickie. Hör mal. Ist die Kurzgeschichte eine Göttin und eine Nymphe, und ist der Roman eine alte Hure?
Ist was was?
Eine alte Hure, à la Dickens vielleicht, sagte ich. Wie die Prostituierte in dem einen Buch, die David Niven erst mal beibringt, wie das mit dem Sex geht.
David Niven?, sagte Kasia.
Du weißt schon. Die Prostituierte in Vielleicht ist der Mond nur ein Luftballon, zu der er geht, als er um die vierzehn ist, die ist richtig lieb und bringt es ihm bei, er verliert seine Jungfräulichkeit und hat immer noch seine Socken an, oder vielleicht ist es auch die Prostituierte, die immer noch die Socken anhat, das weiß ich nicht mehr, jedenfalls ist sie richtig lieb zu ihm, und viel später geht er noch mal hin und besucht sie, da ist sie eine alte Hure und er ein weltberühmter Filmstar, und er bringt ihr einen Haufen Geschenke mit, weil er so ein netter Kerl ist und es nicht vergisst, wenn jemand gut zu ihm war. Und, ist die Kurzgeschichte eher wie Prinzessin Diana?
Die Kurzgeschichte wie Prinzessin Diana, sagte sie. Genau.
Die beiden Männer, die im Begriff waren, das Café zu verlassen, beäugten mich komisch. Ich hielt mein Handy hoch.
Ich frag gerade meine Freundin, was sie von Ihrer Nymphenthese hält, sagte ich.
Die beiden guckten leicht verdutzt. Dann verließen sie das Café, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Ich erzählte Kasia von dem eben mitgehörten Gespräch.
Diana ist mir bestimmt eingefallen, weil sie schon was von einer Nymphe hat, sagte ich. Eine Göttin, die wie eine Nymphe ist, kann ich mir nicht vorstellen. Mir fallen als Göttinnen bloß Kali oder Sheela-na-Gig ein. Oder Aphrodite, die war ganz schön zäh. Dauernd dieses Hirsche-Erlegen. Hat sie nicht Hirsche gejagt?
Warum ist die Kurzgeschichte wie eine Nymphe, sagte Kasia. Das klingt wie ein dreckiger Witz. Ha!
Okay, sagte ich. Jetzt komm schon. Warum ist die Kurzgeschichte wie eine Nymphe?
Ich denk drüber nach, sagte sie. Dann hab ich hier wenigstens was zu tun.
Kasia und ich sind jetzt seit etwas über zwanzig Jahren befreundet, was sich überhaupt nicht lange anfühlt, obwohl es so lange klingt. »Lang« und »kurz« sind relativ. Lang, das war jeder einzelne Tag, den sie im Krankenhaus war; das war ihr zehnter langer Tag auf einer der Tumorstationen, wo man ihr einen Cocktail aus Antibiotika verabreichte und darauf wartete, dass ihre Temperatur runter- und ihre Leukozytenzahl raufging. Wenn es auf der Welt zu diesen zwei winzigen persönlichen Anpassungen kam, durfte sie nach Hause. Außerdem gab es um sie herum auf der Station jede Menge Trauriges. Nach zehn langen Tagen wog dieses Traurige, das sich erträglich klein anhören mag, wenn man selbst nicht darüber nachzudenken braucht oder nicht durch Umstände gezwungen ist, sich damit zu befassen, sonst aber fast epische Ausmaße annimmt, schwer.
Kasia rief mich später am Nachmittag zurück und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Ich hörte das Krankenhausgeschepper und die Stimmen von anderen Leuten auf der Station in der mit Kasias Stimme aufgezeichneten Luft.
Okay. Was hältst du davon? Es kommt darauf an, was man unter »Nymphe« versteht. Also je nachdem. Eine Kurzgeschichte ist wie eine Nymphe, weil Satyrn ständig mit ihr schlafen wollen. Eine Kurzgeschichte ist wie eine Nymphe, weil beide gern im Gebirge leben und in Hainen, bei Quellen und Flüssen und Tälern und kühlen Grotten. Eine Kurzgeschichte ist wie eine Nymphe, weil sie Artemis gern auf ihren Reisen begleitet. Noch nicht sehr lustig, ich weiß, aber ich arbeite dran.
Ich hörte, wie das Telefon aufgelegt wurde. Nachricht eingegangen um fünfzehn Uhr dreiundvierzig, sagte die Automatenstimme meines AB. Ich rief Kasia zurück und hörte mir noch mal genau dasselbe an, was die Telefonanlage des Krankenhauses mir am Vormittag erzählt hatte. Kasia ging ran, und noch ehe ich einen Ton sagen konnte, sagte sie:
Hör zu! Hör zu! Eine Kurzgeschichte ist wie eine Nymphomanin, weil beide gern mit vielen ins Bett gehen – oder in viele Anthologien reinwollen –, aber beide kein Geld nehmen für das Vergnügen.
Ich platzte laut heraus vor Lachen.
Im Gegensatz zu der obszönen ollen Hure von Roman, haha, sagte sie. Außerdem hab ich über Mittag mit meinem Vater gesprochen, und er hat mir erzählt, dass man mit Nymphen auch Forellen fischen kann. Die sind ein Köder beim Fliegenfischen. Er sagt, es gibt Leute, die tragen dauernd Vergrößerungsgläser mit sich rum für den Fall, dass sie mal richtige Nymphen zu sehen kriegen, damit sie die dann für die Angelfliegen noch genauer nachbauen können.
Ich sag’s dir, sagte ich. Die Welt ist voller erstaunlicher Dinge.
Ich weiß, sagte sie. Wie hoch stufst du den Anthologie-Witz ein?
Sechs von zehn Punkten, sagte ich.
Also geschenkt, sagte sie. Gut. Ich überleg mir was Besseres.
Vielleicht lässt sich aus den Nymphen als Fliegen noch was rausholen, sagte ich.
Haha. Aber für heute Nachmittag muss ich die Nymphen mal lassen und wieder auf den Herceptin-Pfad.
Gott!
Ich bin fix und alle, sagte sie. Wir versuchen’s mal mit Briefen.
Wann ist ein Krebsmedikament kein Krebsmedikament?, sagte ich.
Wenn man es sich nicht leisten kann, sagte sie. Haha.
Alles Gute.
Dir auch. Willst du einen Tee?
Ich mach uns einen, sagte ich. Auf bald.
Die Leitung wurde unterbrochen. Ich legte mein Telefon weg und ging den Wasserkessel anschalten. Schaute zu, wie er Kochstufe erreichte und der Dampf zur Tülle herauskam. Füllte zwei Tassen mit kochendem Wasser und hängte die Teebeutel hinein. Ich trank meinen Tee und sah zu, wie der Dampf von der anderen Tasse aufstieg.
Mit Herceptin-Pfad hat Kasia das gemeint:
Herceptin ist ein Medikament, das jetzt schon eine Weile bei der Behandlung von Brustkrebs eingesetzt wird. Zu dem Zeitpunkt, als Kasia und ich das Gespräch in dieser Geschichte führten, hatten die Ärzte gerade erst entdeckt, dass es einigen Frauen im Frühstadium der Erkrankung wirklich hilft – denen, die zu viel HER2