Bernd Schirmer
Schlehweins Giraffe
Roman
FISCHER E-Books
Bernd Schirmer, 1940 in Leipzig geboren, aufgewachsen in Scheibenberg im Erzgebirge, studierte Germanistik und Anglistik in Leipzig. Von 1965 bis 1968 war er Hörspieldramaturg in Berlin, von 1969 bis 1972 Deutschdozent an der Universität Algier und 1973 bis 1991 Dramaturg beim Deutschen Fernsehfunk in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen in der DDR: Erzählungen, Romane, Reisebeschreibungen, Drehbücher, Hörspiele und Übersetzungen. Hörspielpreis 1981 und 1984. 1989 erhielt er das Stipendium der Verlage beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. 1992 lief sein erstes Fernsehspiel im ZDF, ›Tandem‹.
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Covergestaltung: buxdesign, München
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560478-6
Sie will alles von mir wissen. Warum ich den ganzen Tag zu Hause sitze. Ob ich schon einmal in Afrika war. Warum ich nicht verheiratet bin. Was ich am liebsten esse. Welchen Beruf ich gelernt habe. Ob ich auch so gerne Haferflocken esse.
Nein, habe ich gesagt, Haferflocken sind mir ein Greuel. Aber sie hat immer wieder gefragt, ob ich gern Haferflocken esse. Bis mir der Geduldsfaden gerissen ist. Da bin ich zum Supermarkt gegangen und habe eine Fünf-Kilo-Tüte gekauft. Sie war entzückt, soweit ich das beurteilen kann. Ich fragte sie, ob sie die Haferflocken so essen wolle oder mit Milch. Es war ihr gleichgültig. Hauptsache Haferflocken. Sie schmatzte genüßlich.
Manchmal ist sie ziemlich ordinär, was ich auf den Einfluß der Wärter zurückführe, und bei Carl-Ernst Schlehwein, der ein belesener Mensch ist, war sie ja nur ein paar Monate; es muß die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen sein. Ihr Wortschatz ist gering, sie stottert gelegentlich, und beim Sprechen spuckt sie. Besondere Schwierigkeiten hat sie bei Fremdwörtern. Zum Beispiel kann sie das Wort Kolonialismus nicht richtig aussprechen. Sie sagt immer Konolialismus. Sie setzt mehrmals an und sagt Ko, dann spuckt sie und sagt Ko-ko-ko. Und dann kommt doch nur ein klägliches Konolialismus heraus. Lesen kann sie nicht. Aber dafür sieht sie gern fern, vor allem wenn etwas über Afrika kommt. Dann stelle ich ihr den Fernseher auf den Schrank. Sie sieht am liebsten im Stehen fern. Andächtig schaut sie auf den Bildschirm und ist ganz still. Ich bin dann immer froh, ich habe meine Ruhe und kann schreiben. Aber ich will mich nicht beklagen. Eigentlich verstehen wir uns gut.
Als Carl-Ernst Schlehwein mit der Giraffe ankam, dachte ich: Auch das noch. Mir stand, weiß Gott, das Wasser schon bis zum Halse, vor allem seit Kristina mich zum drittenmal endgültig verlassen hat. Andererseits, wer hat schon so eine hohe Parterrewohnung wie ich, da muß ich Schlehwein recht geben, sie ist wie geschaffen für Giraffen. Die Zimmer sind so hoch, daß mich Kristina immer dazu verleiten wollte, die Wohnung zweigeschossig einzurichten, im Maisonette-Stil, wie sie es nannte. Wenn ich mich darauf eingelassen hätte, wäre womöglich alles anders gekommen. Kristina wäre vielleicht noch hier, und Schlehwein hätte die Giraffe bei Hasselblatts oder Bröckles einquartieren müssen. Dabei, er meinte es gut. Er redete mir ein, es sei eine Abwechslung für mich, da mir sonst womöglich die Decke auf den Kopf fallen würde.
Alle meinen es gut mit mir. Als damals der blaue Brief kam, waren meine Freunde zwei Tage und zwei Nächte auf der Suche nach mir. Sie wollten mir Mut zusprechen, denn sie hatten alle ihre blauen Briefe schon erhalten. Sie dachten, ich sei in die Spree gesprungen. Wie ich später erfuhr, hatten sie sogar im Leichenschauhaus nachgefragt. Ich lag aber weder im Leichenschauhaus noch in der Spree. Ich bin einfach nach Kopenhagen gefahren. Das ist das Schöne, man kann jetzt einfach nach Kopenhagen fahren, die Revolution hat sich gelohnt. Leider regnete es die ganze Zeit. Ich setzte mich in eine Kneipe und trank ein Tuborg-Bier. Als ich wieder ins Freie trat, regnete es noch stärker. Da bin ich in eine andere Kneipe gegangen und habe noch fünf Tuborg-Bier getrunken und habe an Kristina gedacht. Dann bin ich zurückgefahren. Das war Kopenhagen. Eigentlich hätte ich auch zu Hause bleiben können. Auf der Überfahrt stand ich an der Reling und fluchte leise vor mich hin. Daß ich die Arbeit verloren hatte, störte mich nicht so sehr, denn Arbeit an sich ist eine ziemlich lästige Sache, und ich kann auch nicht behaupten, daß meine Tätigkeit sehr erbaulich war. Nein, ich habe meine Arbeit nicht eben geliebt wie Hasselblatt oder Bröckle die ihrige, aber sie war zumindest nützlich, und ich habe einen gewissen Sinn darin gesehen, auch wenn Kristina der Meinung war, ich sei geistig total unterfordert, was ich keineswegs so sehe. Von Onkel Alfreds abfälligen Bemerkungen will ich gar nicht erst reden, er weiß sowieso alles besser. Das rechnet sich nicht, sagte er immer. Er konnte nicht verstehen, daß wir die leeren Flaschen und Gläser nicht einfach in den Container werfen, sondern sie aufkaufen in unseren Sammelstellen, für fünf oder zehn Pfennig das Stück, und daß wir auch noch für gebündeltes Zeitungspapier Geld bezahlen an die Rentner, die alles herankarren auf ihren Handwägelchen. Das steht keine Wirtschaft durch, sagte Onkel Alfred, das rechnet sich nicht. Doch das führt jetzt zu weit, und außerdem ist es sowieso vorbei, die letzten Sammelstellen sind geschlossen, und ich stand, von Dänemark herüberkommend, an der Reling und dachte, sie werden es büßen, sie werden ersticken im eigenen Müll, und es geschieht ihnen recht. Aber vielleicht habe ich nur in den dunklen Himmel gestarrt, und wenn ich doch etwas gedacht habe, dann vielleicht nur: das wenigstens hätten sie lassen können, das war nun wirklich eine Errungenschaft, aber sie wollen nicht, daß wir überhaupt eine Errungenschaft gehabt haben, das denke ich auch jetzt manchmal noch. Es war bitterkalt auf der Fähre, und ich war die Arbeit los und das geregelte, sichere Einkommen, mit dem ich uns immer leidlich über Wasser gehalten hatte. Und Kristina war ich auch los, woran Onkel Alfred sicher auch einen gewissen Anteil hat, denn er hat immer gegen mich gehetzt. Aber dafür habe ich jetzt die Giraffe, ich bin nicht allein, und eine Giraffe ist natürlich durchaus eine Aufgabe, die einen ausfüllen kann, da hat Carl-Ernst Schlehwein recht.
Es fing alles ganz harmlos an. Wir hatten uns alle automatische Anrufbeantworter gekauft, Bröckles, Hasselblatts und sogar Schlehwein, obwohl er kein Freund technischer Neuerungen ist. Das ist das Schöne, wir können jetzt alle, wann immer uns danach zumute ist, nicht nur mit der Fähre nach Dänemark fahren, wir können uns auch kaufen, was wir wollen, solange das Geld reicht. Die automatischen Anrufbeantworter waren unsere ersten Anschaffungen von dem fremden, neuartigen Geld, denn wir alle hofften, es würde wichtige, existenzsichernde Mitteilungen geben, wenn wir außer Haus gingen, überraschende Angebote, unaufschiebbare Nachrichten. Es gab sie nicht. Wir fragten immer nur gegenseitig an, wie es geht und steht. Es stand schlecht, erfuhren wir über Band voneinander. Wir sprachen kaum noch miteinander. Nur unsere Stimmen sprachen noch. Gegenseitig baten wir uns zurückzurufen, und wenn einer zurückrief, meldete sich der automatische Anrufbeantworter, dem schließlich mitgeteilt wurde, daß sein Besitzer bitte zurückrufen möchte. So war es auch mit Carl-Ernst Schlehwein, der einsam im Oderbruch lebte.
Du mußt mir helfen, sagte er, als ich heimkam und das Band abhörte, ruf bitte zurück.
Ich hatte ihm immer geholfen, auch damals, als sie ihn verhafteten nach seiner Ausstellung. Ich hatte damals seine anderen Bilder versteckt. Ich rief zurück, aber es meldete sich nur der automatische Anrufbeantworter, und ich bat zurückzurufen, weil ich wissen wollte, worum es sich handelt. Er müsse dringend weg, ließ mir Schlehwein über Band ausrichten, und ob ich wohl wieder einmal ein Tier in Pflege nehmen könne.
Aber ja, sagte ich, bring es nur. Denn ich dachte, es handele sich um Hubert, den Goldhamster.
Nein, nein, es ist nicht Hubert, sagte er, Hubert ist tot, Hubert ist gleich nach der Wende gestorben, weißt du das denn nicht. Es ist eine Giraffe, aber sie ist sehr nett, wirklich, du wirst viel Freude mit ihr haben.
Ich dachte, es sei wieder einer seiner albernen Scherze, aber ich konnte ihn nicht unterbrechen, denn er hatte auf Band gesprochen. Und als ich zurückrief, meldete sich der automatische Anrufbeantworter vom Plumpsklo, ich roch es förmlich. Ich sprach auf Band.
Bring sie, sagte ich, bring sie in drei Teufels Namen. Wie leichtsinnig von mir. Es war wirklich eine Giraffe.
Carl-Ernst Schlehwein hatte das Tier aus dem Zoo. Er hatte gehört, der Zoo solle abgewickelt werden, denn es gebe genügend Zoologische Gärten in der Gegend, und dieser, obwohl er gern besucht wurde, rechne sich nicht, hieß es. Die Tiere und die Wärter könnten von den kärglichen Einkünften nicht mehr ernährt werden, und weder Bund noch Länder könnten aufkommen. So wurden einige Tiere an andere Tiere verfüttert, selbst Löwen und Tiger, wenn sie ausreichend hinfällig waren. Die rüstigeren Exemplare wurden, nachdem die Treuhand eingeschritten war, in andere Zoologische Gärten überführt. Um einigen Tieren die Ausreise in ihre afrikanischen und asiatischen Heimatländer zu ermöglichen, sammelten die Wärter Geld, doch sie scheiterten zumeist an den Hygienebestimmungen und an den Zollformalitäten.
Schlehwein war mit seinem Zeichenblock von Gitter zu Gitter gegangen und hatte die Tiere porträtiert, um sie der Nachwelt zu bewahren. Ich habe nie so traurige Tierbildnisse gesehen. Viele Tiere standen in der Warteschleife, und niemand konnte eine verläßliche Auskunft geben, was mit ihnen geschehen sollte. Leicht zu verkaufen waren die Rhesus-Äffchen, vor allem an dynamische Jungunternehmer, die sie als besondere Attraktion für ihre neu eröffneten Läden nutzten. Dagegen waren die größeren, plumperen Tiere schwer an den Mann zu bringen, Elefanten, Nashörner, Flußpferde. Als besonders gefährdet galt eine der Giraffen, die angeblich eine dunkle Vergangenheit hatte. Sie war längere Zeit in einem Zirkus aufgetreten und habe sich, hieß es, unrühmlich hervorgetan. Obwohl keiner Genaues wußte, holte man sie aus der Warteschleife heraus und wollte kurzen Prozeß machen. Schlehwein hatte Erbarmen und kaufte sie. Fünfzig Mark für eine Giraffe ist nicht viel, das finde ich auch.
Bei Schlehwein im Oderbruch muß es die Giraffe gut gehabt haben. Eine schöne, langatmige Landschaft. Wie gemalt, von Schlehwein. Das Haus, das er bewohnte, lag abseits aller Straßen. Er hatte es billig von der Gemeinde erworben, die froh war, daß es nicht weiter verfiel. Früher soll es – nur der Telefonanschluß in der Einöde deutet noch darauf hin – einem Arzt gehört haben, der vor Jahren überstürzt außer Landes gegangen war. Wir hatten Schlehwein geholfen, das Dach auszubessern und neue Fenster einzusetzen, obwohl wir nur über geringfügige handwerkliche Fähigkeiten verfügten, denn wir hatten alle nichts Richtiges gelernt. Wir waren Bibliothekare, Archivare, Meteorologen, Ethnologen, Sinologen, Dramaturgen, Lektoren, Historiker und Germanisten. Mit Mühe konnten wir ihn überreden, das Telefon wieder anschließen zu lassen. Damit er erreichbar für uns bliebe. Falls eines Tages etwas Außergewöhnliches geschehen sollte. Falls sich, über Nacht, die Verhältnisse doch noch ändern sollten. Da konnte Schlehwein nur lachen. Er sträubte sich lange, denn er wollte sich nicht mehr überwachen lassen. Ich glaube, er hat sich schließlich nur wegen Kristina darauf eingelassen, den Apparat wieder zu installieren, allerdings außerhalb des Hauses, im Toilettenhäuschen, das im Garten stand. Wir mußten das Telefon immer lange klingeln lassen. Dafür waren unsere Gespräche meist sehr kurz, vor allem im Winter.
Ohne Telefon und vor allem ohne diesen vermaledeiten Anrufbeantworter wäre gewiß alles anders gekommen, und er hätte mir die Giraffe nicht anhängen können. Aber es ist nicht mehr zu ändern. Schlehwein öffnete den Verschlag des überhohen Spezialanhängers und war der Giraffe beim Aussteigen behilflich.
Ist sie nicht süß, sagte er.
Ja, ja, sagte ich verwirrt. Die Giraffe sah mich mißtrauisch an, von oben herab, als könne sie nicht glauben, daß ich mir immer ein Tier gewünscht habe, zu dem ich aufsehen kann.
Ich bat die beiden in die Wohnung. Der Rücken der Giraffe reichte bis zur Türfüllung, sie senkte den langen Hals und steckte den Kopf ins Wohnzimmer. Mit lässiger Geste lud ich meine Besucher ein, Platz zu nehmen, was allerdings insofern gedankenlos von mir war, als selbst der große Ledersessel, den ich von meinem Großvater geerbt hatte, für die Giraffe zu klein war. Auch Schlehwein blieb stehen. Die Giraffe sah auf die Aktstudien von Kristina herunter, die an der kahlen Wand hingen, und furzte. Schlehwein betrachtete die Aktstudien gleichfalls, neugierig und verstohlen, als habe er sie nicht selbst gemalt. Dann öffnete er den oberen Fensterflügel, und die Giraffe streckte den Schädel ins Freie. Das Freie war eine verkommene Straße im Stadtbezirk Prenzlauer Berg, mit abgeparkten Autos, ausgeweideten Autowracks und überquellenden, rauchenden Müllcontainern. Schlehwein schob mich in die Küche. Ich öffnete den Kühlschrank und warf ihm ein Bier zu. Er trank aus der Flasche. Er sprach leise, er flüsterte fast. Ich müsse Geduld haben. Sie sei zutraulich, die Giraffe. Und außerdem, es sei gut für mich, jemanden in der Wohnung zu haben, so käme ich leichter über alles hinweg. Daß mich Kristina zum drittenmal endgültig verlassen hatte, wußte er. Es schien ihn mit einer gewissen Genugtuung zu erfüllen, aber vielleicht bilde ich mir das nur ein. Ich konnte mir nicht erklären, woher er es erfahren hatte, da ja eigentlich noch nicht einmal jemand wissen konnte, daß wir wieder zusammengelebt hatten.
Mach dir nichts draus, sagte er, du brauchst eine neue Aufgabe. Es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken. Und in der Gefahr wächst das Rettende auch. Er redete ohne Unterlaß, und er hatte etwas Gehetztes an sich. Er übergab mir die Schlüssel für sein kleines Auto und für den Spezialanhänger, der fast fünf Meter hoch war und den ihm die Wärter für zehn Mark überlassen hatten. Damit ich auch gelegentlich ausfahren könne mit der Giraffe, um ihr etwas Zerstreuung zu bieten, denn in gewisser Hinsicht sei sie natürlich anspruchsvoll. Aber ich solle mich hüten, ins Oderbruch mit ihr zu fahren. Versprichst du mir das?
Ich war voller Unverständnis, um nicht zu sagen Wut. Ich hielt die Giraffe für eine ungeheuerliche Zumutung, und mir kam der Verdacht, dies sei eine späte Rache wegen Kristina, denn er hatte sie sehr geliebt. Manchmal hatte ich sogar geglaubt, er habe sich damals ihretwegen in die Einöde zurückgezogen.
Versprichst du mir das, sagte er noch einmal.
Hör mal, rief ich, jetzt sage mir endlich, was das alles soll. Für wie lange soll ich das Tier beköstigen? Und wo willst du überhaupt hin?
Du kannst das Auto behalten, erwiderte er.
Ich brauche dein Auto nicht, sagte ich, ich habe nie ein Auto gebraucht.
Ich auch nicht, sagte er. Ich brauche überhaupt nichts mehr. Und ich kann hier nicht länger bleiben. Ich muß weg.
Und das Haus?
Das Haus, sagte Schlehwein. Das war alles, und seine Stimme war so klein, wie sie nie gewesen war. Dann drückte er mir die Hand und ging hinüber ins Wohnzimmer. Er schlug der Giraffe kameradschaftlich auf das Gesäß. Es war das größte Gesäß, das ich je in meinem Wohnzimmer gesehen hatte.
Ich hol dich nach, sagte Carl-Ernst Schlehwein, ich bereite schon alles vor, ich werde dir schreiben, ich hole dich nach.
Sie hatten beide, deucht mich, Tränen in den Augen, die Giraffe und er.
Früher habe ich manchmal gedacht, Giraffen seien unglückliche Tiere. Das ist nicht der Fall. Sie sind lediglich etwas begriffsstutzig, vor allem wenn es darum geht, den Ton oder die Farbe des Fernsehers zu regulieren. Ich weiß nicht, ob sich alle Giraffen so unbeholfen anstellen, meine jedenfalls geht sehr umständlich zu Werke, obwohl sie ansonsten ziemlich helle ist. Wenn ich sage, sie soll den Ton leiser stellen, streckt sie ihre schwarze Zunge heraus und drückt damit die Tasten der Senderwahl, eine Taste nach der anderen. Es wird überall geschossen. Aus Maschinenpistolen und aus kleinkalibrigen Gewehren und aus Minipistolen. Auf Schlachtfeldern, in Häfen und in Schlafzimmern, von vorn, von hinten, von links und rechts, und es fallen immerzu Menschen tot um, manchmal über hundert pro Sendeabend.
Leiser, habe ich gesagt, nicht andere Sender.
Die Giraffe schiebt einen der Hebel nach links, bis das Bild heller wird. Ich werde ungeduldig.
Leiser, habe ich gesagt, sage ich, nicht heller.
Ich kann nicht jedesmal auf die Leiter steigen, um am Fernseher herumzudrehen, der auf dem Schrank steht. Sie muß das endlich lernen. Wir alle müssen viel Neues lernen in dieser Zeit. Wir müssen alles neu sehen. Wir müssen umdenken. Das ist auch wieder so ein Wort, umdenken. Ich schreibe es auf. Ich schreibe alle neuen Wörter auf. Ich habe auf meinen Zetteln schon sehr viele Wörter stehen, die es zwar schon früher gab, aber die keine besondere Rolle gespielt haben. Erst in letzter Zeit haben sie eine überraschende und mitunter sogar überragende Bedeutung bekommen, wobei sie häufig ihren Sinngehalt eingebüßt oder gewandelt oder sogar gewendet haben. Umdenken, einklagen, Seilschaft, Altlast, Warteschleife, Wendehals, herunterfahren, abwickeln, abschmelzen, Treuhand, filetieren. Ich sammle diese neuen Wörter. Etwas muß ich schließlich tun, sonst werde ich verrückt. Aber wenn ich schreibe, geht es.
Natürlich habe ich mich, obwohl ich früher nie auf einen solchen Gedanken gekommen wäre, kundig gemacht und viel über das Leben der Giraffe gelesen. Ich war viele Monate nicht in einer Buchhandlung, ich habe vor allem Zeitungen und Zeitschriften gelesen. Jeden Tag gab es verblüffende Neuigkeiten. Kürzlich las ich, daß sie im Marzahner Neubaugebiet 13.000 Ostbäumchen herausgerissen haben, um dafür 13.000 Westbäumchen zu pflanzen.
Als ich meinen Blick über die Büchertische schweifen ließ, wurde ich immer verwirrter. Es waren vorwiegend Bücher, die ich nicht kannte. Die Autoren, die mir geläufig waren, fehlten. Sie standen auch nicht in den Regalen. Also mußte stimmen, was ich gehört hatte. Ihre Bücher waren, da sie nicht mehr abzusetzen waren, eingestampft oder gar, da sie nicht länger gelagert werden konnten, verbrannt worden, vor allem im sächsischen und thüringischen Raum.