Über dieses Buch
Stellen Sie sich vor, Sie suchen eine neue Wohnung. Bei einem Besichtigungstermin begegnen Sie einem alten Mann, der in einer geheimnisvollen Bibliothek lebt. Er stellt Ihnen Fragen. Er gibt Ihnen zwölf Aufgaben. Er hilft Ihnen zu erkennen, dass Sie zu lange schon blind sind für das, was im Leben wirklich wichtig ist – und er lehrt Sie so die Kunst, über den eigenen Schatten zu springen.
Stellen Sie sich vor, Sie suchen eine neue Wohnung – und finden den Schlüssel zu einem neuen Leben.
Über die Autorin
Penny McLean machte zunächst eine atemberaubende Karriere als Sängerin, bevor sie ihre wahre Passion entdeckte: das Schreiben. Heute gehört sie zu den führenden Persönlichkeiten der spirituellen Szene Europas. Ihr großes Anliegen: Den Menschen von der Angst zu befreien, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Mit ihren zahlreichen Bestsellern, Vortragsreisen und Seminaren hat Penny McLean ein Millionenpublikum begeistert. Sie lebt in München und Wien.
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Neuausgabe Juli 2012
Dieses Buch erschien bereits 1997 unter dem Titel „Der Schattenspringer – Der Weg vom Narren zum Magier“ im Verlag Peter Erd, München
Copyright der Originalausgabe ©1997 Verlag Peter Erd, München
Copyright der Neuausgabe © 2012 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München
Titelbildabbildung: Fancy Photography – Veer.com
ISBN 978-3-943835-01-4
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Penny McLean
Schattenspringer
Ein Jakobsweg der Seele
dotbooks.
Die Vorstufe:
Vom Zufall und den Zeichen des Schicksals
Die erste Stufe:
Von Gewohnheiten und dem Weg des geringsten Widerstands
Die zweite Stufe:
Von Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit
Die dritte Stufe:
Von Angst und Zutrauen
Die vierte Stufe:
Von der Pflege des Körpers, des Geistes und der Seele
Die fünfte Stufe:
Vom Nutzen der scheinbaren Nutzlosigkeit
Die sechste Stufe:
Von Konzentration und Willensstärke
Die siebte Stufe:
Von Entspannung und dem wirklichen Loslassen
Die achte Stufe:
Von der inneren und äußeren Macht
Die neunte Stufe:
Von der Wahrheit und dem Mut, sie zu sagen
Die zehnte Stufe:
Von Besitz und Verzicht
Die elfte Stufe:
Von Interesse und Teilnehmen
Die zwölfte Stufe:
Von der völligen Gleichgültigkeit
Das Ziel
Es war ein heißer und trockener Sommer, dieser Sommer vor 25 Jahren, von dem ich erzählen will, in dem die merkwürdigste Begegnung meines Lebens stattfand. Ich war damals noch jung genug zu glauben, dass Merkwürdigkeiten und Zufälle Selbstverständlichkeiten im Leben eines jeden Menschen wären. Vor allem aber in meinem Leben. Es muss diese Einstellung gewesen sein, die es mir überhaupt möglich machte, die kommenden Ereignisse mit unglaublicher Unbefangenheit erleben zu können. Ich war zu jener Zeit wieder einmal auf der Suche nach einer Wohnung.
Irgendjemand hatte mir erzählt, dass er von einem Appartement gehört hätte, irgendwo jenseits der Stadtgrenze in einem jener Häuser, welche den Anschein erwecken, als hätte ein einziger einfallsloser Architekt sie wahllos in ihrer mehrstöckigen rechteckigen Uniform im Fließbandverfahren erzeugt. Obwohl ich mich damals an einem Punkt in meinem Leben befand, an dem ich mir nicht mehr erlauben konnte, besonders wählerisch zu sein, könnte ich, wenn ich heute darüber nachdenke, nicht mehr genau sagen, was es war, was mich letztendlich dazu bewog, trotz der augenscheinlichen Nachteile in den Bus zu steigen und über eine halbe Stunde in das bezeichnete Viertel zu fahren.
Das Haus sah genauso aus, wie man es mir beschrieben hatte. Ich betrachtete das, was mein zukünftiges Heim werden sollte. Ich hatte kein besonders gutes Gefühl. Am liebsten wäre ich wieder umgekehrt, doch dann dachte ich an die halbe Stunde Busfahrt, die ich umsonst gemacht hätte, und so beschloss ich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich suchte die Eingangstür und fand sie an der Rückseite des Hauses. Sie war natürlich verschlossen. Ich betrachtete die zahllosen Namensschilder auf der Klingeltafel, aber da war kein Name darunter, bei dem ich Lust bekam, zu läuten. Also lehnte ich mich an die Wand und wartete. Irgendwann musste jemand hineingehen oder herauskommen und mir so den Weg frei machen.
Die einzigen Angaben, die ich bekommen hatte, waren, dass sich die angeblich freie Wohnung im vierten Stock befand und es auch irgendwo einen Hausmeister gab, der die Schlüssel hatte. Ich wartete bereits länger als eine Viertelstunde, als die Tür endlich geöffnet wurde und ein Mann mit einem Hund erschien. Er nahm keinerlei Notiz von mir, obwohl ich ihn höflich gegrüßt hatte, in der Hoffnung, Auskunft zu erhalten. Ich zwängte mich schnell in die zufallende Tür und befand mich in einem gekachelten Flur, in dem es undefinierbar roch. Im Haus war es totenstill. Mit dem Aufzug fuhr ich in den vierten Stock. Auch dort herrschte tiefe Stille, und wieder war da jener eigenartige Geruch, den ich von irgendwoher kannte.
Wieder begann ich, Namensschilder zu lesen. Wenn die Angaben stimmten, musste eine Tür unbeschriftet sein. Schließlich entdeckte ich drei Türen ohne Namen. Ich klingelte an einer, und der schrille Ton schnitt durch die Stille wie ein Alarm. Niemand öffnete. So beschloss ich, es an den Türen mit Namen zu versuchen. Mit dem gleichen Misserfolg. Offenbar war nirgendwo jemand zu Hause. Als ich es bei der letzten Wohnung am Ende des Ganges probieren wollte, sah ich, dass die Tür nur angelehnt war. Ich klopfte erst vorsichtig, dann, als ich wie erwartet keine Antwort erhielt, etwas heftiger. Schließlich drückte ich die Tür nach innen und trat zögernd ein.
Zu meinem Erstaunen tat sich ein unerwartet hoher Raum auf, der mich an die Empfangshalle im Hause meiner Großeltern erinnerte. In der Mitte erhob sich, von sechs schweren Stühlen umgeben, ein Refektoriumstisch aus dunklem Holz, dessen Oberfläche unter zahllosen Büchern fast verschwand. Die Wände des Raumes waren vollständig mit Regalen verdeckt, deren Bretter sich unter der gewichtigen Bücherlast zu biegen schienen.
An einem dieser Regale lehnte eine Leiter, an deren oberen Ende ein Mann saß. Er schien mich nicht zu bemerken. Ich betrachtete ihn eine Weile, dann trat ich einen Schritt vor und sagte: „Guten Tag.“ Der Mann hob nicht einmal den Kopf und war weiterhin völlig in das Buch versunken, das er in seinen Händen hielt.
Ich nahm an, er hätte mich nicht gehört, und versuchte es noch einmal. „Guten Tag“, begann ich. „Entschuldigen Sie, dass ich einfach so hereinplatze, aber die Tür war angelehnt. Ich suche nämlich …“
„Ich weiß“, sagte der Mann mit tiefer Stimme, klappte das Buch zu und schob es zwischen die anderen Exemplare in der obersten Reihe des Regals.
„Haben Sie eine Ahnung, wo ich den Hausmeister finde?“, setzte ich meine Annäherungsversuche fort.
„Ich habe hier noch nie einen Hausmeister gesehen“, meinte der Mann und zog vorsichtig drei Bücher auf einmal aus dem Regal. „Könnten Sie mir bitte diese Bände abnehmen?“
Ich trat an die Leiter und streckte die Hände nach oben. Er legte die Bücher hinein, die ein unerwartetes Gewicht zeigten, und wandte sich wieder dem Regal zu, als hätte er mich vergessen. „Soll ich die Bände auf den Tisch legen?“, fragte ich nach einer Weile, da mir die Folianten schwerer und schwerer zu werden schienen.
„Haben Sie gesehen, wie schön diese Bücher sind?“, fragte der Mann zurück. „Das sind italienische Erstausgaben aus dem 18. Jahrhundert.“
„Sehr schön“, erwiderte ich und überlegte, wie ich dem Mann beibringen sollte, dass mein Interesse an italienischen Erstausgaben angesichts meines Wohnungsproblems eher als zweitrangig zu bezeichnen war.
„Ende des 18. Jahrhunderts“, betonte der Mann, der meine verbale Äußerung wohl falsch gedeutet hatte.
„Soll ich sie auf den Tisch legen?“, fragte ich noch einmal und sah erwartungsvoll zu ihm hinauf.
„Sehen Sie die schöne Lederarbeit mit der Goldverzierung?“, kam es von oben zurück.
„Ja“, antwortete ich mit beginnender Ungeduld. „Aber ich habe wenig Zeit. Ich bin nämlich auf der Suche nach …“
„Ich weiß“, unterbrach mich der Mann erneut und sah mir zum ersten Mal ins Gesicht. „Warum legen Sie die Bücher nicht auf den Tisch, wenn sie Ihnen zu schwer sind?“
Ich blickte in sein Gesicht und versuchte, mich zu erinnern, wo ich es schon einmal gesehen hatte. Die hellen Augen glichen denen meines Großvaters, doch die scharf geschnittene Nase und das energische Kinn schienen eher auf eine südliche Herkunft hinzuweisen.
„Sie sehen durstig aus, möchten Sie ein Glas Tee?“ Er hatte recht, ich war tatsächlich durstig. Andererseits aber hatte ich wenig Lust, mich noch länger in dieser eigenartigen Bibliothek aufzuhalten. Ich schaute demonstrativ auf meine Armbanduhr. Der Mann stieg langsam die Leiter herab, nahm die Bücher von meinem Arm und stapelte sie auf dem Tisch neben den anderen.
„Setzen Sie sich“, sagte er und wies auf einen der Stühle. Er füllte zwei Gläser mit Tee aus einer Silberkaraffe und bot mir eines davon an. Ich wollte nicht unhöflich sein und nahm Platz.
„Wohnen Sie schon lange hier?“, versuchte ich den Beginn einer Konversation.
„Ich komme ab und zu hierher, wenn es etwas zu tun gibt“, antwortete der Mann und setzte sich mit seinem Glas mir gegenüber. Ich nahm einen Schluck Tee und wunderte mich, wie süß das Getränk schmeckte. Plötzlich fühlte ich mich sehr müde.
„Sie sehen erschöpft aus“, bemerkte der Mann. „Sind Sie schon lange auf der Suche?“
„Seit einem halben Jahr“, seufzte ich. Der Mann lächelte.
„Ein halbes Jahr ist doch nicht lange. Es gibt Menschen, die suchen ihr ganzes Leben.“
„Wenn ich prozessieren würde, könnte ich vielleicht noch ein Jahr in meiner Wohnung bleiben“, versuchte ich zu erklären. „Aber die Besitzer wohnen im selben Haus und haben mir vom ersten Tag an das Leben schwergemacht.“ Ich nahm noch einen Schluck Tee, der mir mit einem Mal sehr erfrischend vorkam.
„Das ist hilfreich“, sagte der Mann und lächelte wieder. Ich blickte ihn verständnislos an.
„Was meinen Sie mit ‚hilfreich?“
„Nun ja“, sagte der Mann und drehte das Glas in seinen Händen. „Nicht jeder bekommt so klare Hinweise, dass er sich am falschen Platz befindet.“
Ich überlegte mir, ob ich mich nicht klar genug ausgedrückt hatte. „Die Wohnungsbesitzer haben Eigenbedarf angemeldet“, versuchte ich, meine Situation noch einmal verständlich zu machen. „Da ich aber schon mehr als sechs Jahre dort lebe, kann man mich nicht von heute auf morgen auf die Straße setzen.“
„Sieben Jahre“, sagte der Mann und blickte versonnen auf die Tischplatte. „Es sind fast sieben Jahre.“
Ich verstand nichts. „Vielleicht werde ich doch prozessieren“, meinte ich nach einem Augenblick angespannter Stille.
Der Mann hob den Kopf. „Es sind fast sieben Jahre, und es gibt sehr klare Hinweise. Wenn Sie mich fragen, ich würde sie befolgen.“
Ich verstand ihn noch immer nicht. „Ich habe größte Schwierigkeiten“, gab ich ihm zu bedenken. „Zu Ende des Monats hat man mir gekündigt, in der Arbeit geht nichts so, wie ich es mir anfangs vorgestellt habe, und von meinem Privatleben will ich gar nicht erst anfangen zu erzählen.“
„Das habe ich mir schon gedacht“, bemerkte der Mann und schenkte Tee nach. „Wenn man die Hinweise nicht beachtet, häufen sich die Probleme. Schließlich steht einem das Wasser bis zum Halse, und dann sprechen die Menschen von Schicksal.“
„Ach ja, das Schicksal“, seufzte ich. „Im Grunde ist man doch völlig machtlos gegen diese verheerenden Konstellationen. Saturnquadrat auf der Sonne und Neptun im zweiten Haus, dazu noch Pluto direkt am Aszendenten.“
Der Mann runzelte die Stirn und sah mich über den Rand seines Glases scharf an. „Ich verstehe nicht ganz, wovon sprechen Sie bitte?“
„Ich spreche von meinem Horoskop.“
„Ah“, sagte der Mann, „wie interessant, und was hat das zu bedeuten?“
„Das hat zu bedeuten“, setzte ich zu einer ausführlichen Erklärung der Grundlagen klassischer Astrologie an, „dass in meinem Geburtshoroskop eine Grundkonstellation vorhanden ist, die bewirkt …“
„Wie bitte?“, unterbrach mich der Mann. „Wollen Sie mir eben erklären, dass eine bestimmte Grundkonstellation die Schuld an dem trägt, was Ihnen widerfahren ist?“
„Nun ja, zumindest ist es eine Erklärung für mein Schicksal“, versuchte ich einzulenken.
„Wie interessant. Und was, denken Sie, ist Schicksal?“
„Schicksal“, überlegte ich, „das ist das Programm, das ich auf dieser Erde zu leben habe aufgrund meines Verhaltens in meinem letzten Leben.“
Diesmal war es der Mann, der tief seufzte. „Ich glaube, Sie verwechseln Schicksal mit dem Gesetz von Ursache und Wirkung, dem sich Physiker und Theologen gleichermaßen beugen müssen, egal, ob sie an Wiedergeburt glauben oder nicht, denn es ist die Basis für die Existenz von Geist und Materie. Also noch einmal, was ist Schicksal?“
„Ich denke, dass Schicksal etwas ist, das, wie das Wort schon aussagt, mir geschickt wird …“
„Von wem?“, wurde ich blitzschnell unterbrochen.
„Von Gott, denke ich, oder von irgendwelchen Mächten, welche die Geschicke der Menschen lenken.“
Das Gesicht des Mannes zeigte nicht die geringste Andeutung eines Mienenspiels, wodurch ich keinerlei Hinweis auf Ablehnung oder Zustimmung erhielt. „Ah“, intonierte er erneut. „Gott also und geheime Mächte schicken Ihnen Ihr Schicksal. Warum eigentlich nicht der Präsident der Vereinigten Staaten oder die Post?“
Ich fühlte mich in den Grundfesten meiner religiös-philosophischen Anschauung missverstanden und angegriffen. „Ich glaube an Gott“, begann ich meine Verteidigung.
Das Gesicht meines Gegenübers blieb unbeweglich. „Dagegen ist absolut nichts einzuwenden“, sagte der Mann sanft. „Aber was hat das mit meiner Frage zu tun?“
„Ich weiß es nicht genau“, gab ich zu.
„Das ist gut“, meinte er, „denn das gibt uns die Möglichkeit, unseren Überlegungen jegliche Freiheit zu gewähren. Wo leben Sie?“
Die Frage erstaunte mich, da ich ihm doch gerade von meiner Wohnung und den mit ihr verbundenen Schwierigkeiten berichtet hatte. Wahrscheinlich hatte er gar nicht richtig zugehört.
„Ich lebe in einer Wohnung, deren Besitzer …“
„Ich weiß, ich weiß“, unterbrach mich der Mann. „Lesen Sie Zeitung?“
Ich nickte.
„Täglich?“
Ich nickte abermals. Er schien zufrieden.
„So wissen Sie also jeden Tag, welches Programm angeboten wird?“
„Natürlich“, antwortete ich etwas ungeduldig.
„Und von wem wird dieses Programm gemacht?“
„Keine Ahnung, von Konzertveranstaltern, Kinobesitzern, Universitäten, Vereinen, Privatpersonen, was weiß ich?“
„Aha“, sah sich mein Zuhörer wieder bemüßigt zu bemerken. „Veranlassen diese Leute auch, dass es Montag oder Mittwoch ist, dass die Sonne scheint, dass die Menschen zur Mittagszeit Hunger bekommen?“
„Aber das ist doch etwas völlig anderes“, rief ich. „Das eine hat doch mit dem anderen absolut nichts zu tun!“
Der Mann wiegte sein Haupt kummervoll hin und her. „Wie ich sehe, sind Sie weit davon entfernt zu begreifen, was Schicksal ist. Nehmen Sie doch einmal an, Sie erfahren, dass Ihr Lieblingssänger am Donnerstag in der Oper auftritt. Was haben Sie davon, wenn Sie erst am Freitag hingehen?“
„Aber das tut doch kein vernünftiger Mensch.“
„Doch“, sagte er. „Unentwegt, alle tun es und Sie auch. Und dann beklagen Sie sich über die Verkäuferin an der Kasse, über den Zeitungshersteller, über Ihr Schicksal und über Gott, der Ihnen dieses Missgeschick nicht hat ersparen können.“ Zum ersten Mal sah ich ihn schmunzeln. „Unser sogenanntes Schicksal“, fuhr er fort, „besteht aus verschiedenen Dimensionen. Eine, auf die Sie selbst keinen Einfluss haben, da sie ein starres und immer wiederkehrendes Programm darstellt. Dann eine, die sich aus den vielfältigen Aktivitäten der Personen ergibt, mit denen Sie zusammentreffen oder indirekt zu tun haben, und den Angeboten und Forderungen, die sich aus dieser Kommunikation ergeben. Man könnte diese Dimension als beweglich bezeichnen. Und drittens Ihre eigene Dimension, in der Sie sich nach eigenem Ermessen, nach eigenem Bedürfnis und mit eigener Verantwortung verwirklichen.“
„Sie meinen also, dass ich, sobald ich mit den beiden erstgenannten Dimensionen nicht harmonieren und kommunizieren kann, Schwierigkeiten bekomme, die nur ich selbst verursache?“
„Ja“, nickte er. „Die Lösung liegt nur bei Ihnen selbst, bei Ihrer Beobachtungsgabe, Ihrer Lernfähigkeit und an Ihrer Erkenntnisbereitschaft.“
Ich dachte nach. „Wenn aber nun jemandem, den ich liebe, ein Unglück widerfährt und ich mit ihm leide, wessen Schicksal erlebe ich dann? Mein eigenes oder eines, das sich in einer Dimension abspielt, die sich mir anbietet wie ein großes Buffet?“
„Das größte Leid erfahren die Menschen durch Außenstehende. Sie beziehen deren Tun auf sich selbst, identifizieren sich mit den Handlungen anderer. Dadurch erleiden sie ein scheinbares Schicksal. Denken Sie nur an die Liebe, die die Menschen und ihre Schicksale bis zur Unkenntlichkeit verändert, weil sie ihre eigene Richtung verloren haben.“
„Ich finde es gnadenlos, was Sie hier sagen“, brachte ich mühsam heraus.
Er lächelte. „Gnade braucht nur der, der fehlt, der gegen seine Destination handelt. Wer sein Schicksal erkennt, braucht die Gnade nicht in Anspruch zu nehmen, denn er lebt sein Schicksal, was bedeutet, er befindet sich in Harmonie mit den anderen Dimensionen. Er hat erkannt, dass er alleine der Schöpfer seines Schicksals ist.“
„Also kein Gott und keine höheren Mächte?“
„Nein.“ Er blieb unerbittlich. „Gott oder die höheren Mächte haben die Energie und die Idee gegeben, zusammen mit dem Auftrag, sich nach seinem Bild und Gleichnis zu entfalten. Sie sind nicht verantwortlich, wenn diese Gaben missbraucht werden.“
„Und wenn ich diese Gaben niemals haben wollte, wenn ich so, wie ich jetzt lebe, niemals existieren wollte, was dann?“
Der Mann lächelte zum zweiten Mal. „Sie haben Ihr Leben längst akzeptiert, sonst säßen Sie nicht hier an diesem Tisch als denkender und handelnder Mensch.“ Es entstand eine lange Pause.
„Wie schaffe ich es, die Dimensionen zu erkennen und zu durchschauen?“, fragte ich schließlich in die Stille hinein.
„Indem Sie lernen, sich selbst zu durchschauen und zu erkennen“, sagte der Mann und begann, die um ihn herumliegenden Bücher in Stapel einzuteilen.
„Wie um alles in der Welt lernt man denn, sich selbst zu durchschauen?“
„Das erfordert sehr viel Arbeit“, meinte er, stand auf, klemmte einen Stapel Bücher unter den Arm und ging auf die Leiter zu. „Wenn ich wüsste, wo ich mit der Arbeit zu beginnen hätte, würde ich es gerne versuchen“, sagte ich, während der Mann auf der obersten Sprosse der Leiter angekommen war. Er schwieg und begann bedächtig, Bücher einzuordnen. „Wenn Sie wollen“, kam es schließlich von oben, „dann kann ich Ihnen vielleicht helfen.“
„Ich will, natürlich will ich, ich würde alles …“
„Unter einer Bedingung“, schnitt er meine Beteuerungen ab. „Sie stellen keine Fragen und tun genau das, was ich sage.“ „Akzeptiert“, rief ich und bemerkte, dass in mir eine Fröhlichkeit aufstieg, die mich an Kinderzeiten erinnerte, an geheime Treffen, bei denen Abenteuer ausgeheckt wurden, von denen die Eltern nie etwas erfahren durften.
„Gehen Sie jetzt nach Hause“, beendete die Stimme von oben meine Reminiszenzen, „überlegen Sie sich alles in Ruhe, und kommen Sie wieder, wenn Sie ganz sicher sind, dass Sie wirklich in den Spiegel Ihres Selbst sehen wollen. Wenn Sie nicht bereit sind, einen vielleicht schmerzlichen Umwandlungsprozess mitzumachen und Ihre bisherigen Gewohnheiten aufzugeben, dann kommen Sie bitte nicht mehr. Für Unentschlossene ist mir nämlich meine Zeit zu schade.“
„Ich bin absolut sicher, dass …“
„Wenn das so ist“, wurde ich unterbrochen, „dann schreiben Sie bitte auf einen Zettel alle Dinge, die Sie anders machen würden, dürften Sie Ihr Leben noch einmal leben. Vergessen Sie auch die Begründung nicht. Und kommen Sie erst wieder, wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihre Liste vollständig ist.“
„In Ordnung“, willigte ich ein. „Wann treffe ich Sie wieder?“
„Ich bin in der nächsten Zeit immer hier“, sagte der Mann, ohne sich auf seiner Leiter umzudrehen. „Ich habe sehr viel aufzuarbeiten, vieles, das schon zu lange gewartet hat. Leben Sie wohl.“
Ich machte mich auf den Weg nach Hause, aber erst im Bus fiel mir auf, dass ich völlig vergessen hatte, mich weiter nach der Wohnung zu erkundigen.
Noch am selben Abend setzte ich mich hin, vor mir ein großes, weißes Blatt, und versuchte, mich zu konzentrieren und zu erinnern. Was würde ich anders machen, wenn ich mein Leben noch einmal beginnen könnte?
Sofort schossen mir tausend Dinge durch den Kopf. Bilder aus der Kindheit vermischten sich mit der jüngsten Vergangenheit und erzeugten ein wildes Puzzlespiel, dessen Teile keinerlei Zusammenhang erkennen ließen. Zuletzt entschloss ich mich, in meiner Kindheit zu beginnen und der Erinnerung freien Lauf zu lassen. Der Hochzeitstag meiner Großeltern tauchte wieder vor mir auf. Ich sollte ein Gedicht aufsagen. Man hatte es mir lange vorher gegeben. Doch ich hatte es immer wieder beiseitegelegt. Ich lernte nicht gerne Gedichte. Ich lernte überhaupt nicht gerne. Und so schob ich diese lästige Pflicht hinaus bis zur letzten Minute. Nein, ich blieb nicht stecken. Ich blamierte mich nicht, aber die Angst, die mir wie eine Faust damals im Magen gesessen hatte, die würde ich mir gerne erspart haben, denn es war die gleiche Angst, die mich mit dem Geschmack des möglichen Versagens bei allen Belastungen und Prüfungen meines späteren Lebens begleitet hat. Damals hatte sie ihren Anfang genommen.
Mein zwölftes Lebensjahr fiel mir wieder ein. Meine Tante hatte mir angeboten, nach England zu kommen und dort eine Schule zu besuchen. Wie und wer würde ich heute sein, hätte ich damals zugestimmt?