Über dieses Buch:
Wenn das große Glück einfach nicht anbeißen will … Gloria Frey hat sich daran gewöhnt, allein zu sein – aber schade ist es schon, dass der frische Schwung in ihrem Leben nur von der Friseurin stammt … Das ändert sich schlagartig, als Gloria einen charmanten Galeristen kennenlernt – können sie zusammen einen Neuanfang wagen? Bei einem Urlaub im traumhaften Bordeaux wird jedoch klar, dass seine Familie eine Menge Geheimnisse zu verbergen hat. Ein brisantes Erbstück droht nun auch einen Schatten auf Glorias Zukunftsträume zu werfen. Nicht gerade rosige Aussichten, doch sie ist fest entschlossen, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen!
Turbulent, warmherzig und herrlich bissig: Ein Roman über die Kraft von zweiten Chancen und das Glück, das mitten im Chaos zu finden ist.
Über die Autorin:
Sissi Flegel (1944–2021) veröffentlichte zahlreiche Kinder- und Jugendbücher, die in 14 Sprachen erschienen sind und mehrfach preisgekrönt wurden, bevor sie begann, sehr erfolgreich auch für erwachsene Leser zu schreiben; darunter ihre Bestsellerreihe um »Die Geheimnisse der Sommerfrauen«.
Bei dotbooks veröffentlichte Sissi Flegel ihre Bestseller-Reihe um »Die Geheimnisse der Sommerfrauen« und »Die Träume der Sommerfrauen« sowie ihre heiteren Romane »Die Geheimnisse der Lavendelfrauen«, »Der Sommer der Apfelfrauen«, »Roter Wein mit Brombeernote«, den historischen Roman »Die Keltenfürstin« und mehrere Kinder- und Jugendbücher.
»Die Geheimnisse der Sommerfrauen« sind auch in folgenden Einzelromanen erhältlich:
»Vier Frauen und eine SMS«
»Vier Frauen und ein Feuerwerk«
»Vier Frauen und ein Baby«
»Vier Frauen und ein Garten«
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Aktualisierte eBook-Neuausgabe Juli 2019
Dieses Buch erschien bereits 2009 unter dem Titel »Frauen mit Feinschliff« bei Knaur Taschenbuch Verlag, München, und 2013 unter dem Titel »Das Flüstern der Vergangenheit« bei dotbooks GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe 2009 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München
Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Frannyanne, getideaka und Zwist 42
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-95520-112-8
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Sissi Flegel
Der Geschmack von Wein und Liebe
Roman
dotbooks.
Gloria klappte die Vogue zu, in der sie sich über den neuen Look für Herbst und Winter informiert hatte, während Jenny ihr die Haare föhnte und dabei von ihrem neuen Liebhaber berichtete: nicht mehr ganz jung, nicht arm und dazu auch noch ungebunden. Ein Juwel also, das ihr ein gütiges Schicksal in den Schoß geworfen hatte. Jenny war so überwältigt von ihrem Glück, dass sie immer wieder die Bürste sinken ließ.
Ihr Chef nahm sie ihr aus der Hand und bearbeitete energisch Glorias halblange und nicht mehr ganz natürlich blonden Haare. »Unsere Jenny ist eine kleine Schwatzbase«, meinte er nachsichtig. »Aber die Farbe hat sie hervorragend hinbekommen, finden Sie nicht auch?«
Gloria bestätigte das gerne. Ihrem langjährigen Friseur würde sie nur ungern widersprechen. Sie schätzte ihn und fand, in dem Spruch, den ihre Freundin Ines immer wieder zitierte, stecke ein Körnchen Wahrheit: Lieber wechselt eine Frau den Ehemann als den Haarkünstler.
»Haben Sie heute noch etwas vor, Gloria?«, fragte er sie und signalisierte mit der vertraulichen Anrede, dass er ihre Zustimmung wohlwollend zur Kenntnis genommen hatte.
»Meine Freundin hat mich überredet, sie zur Eröffnung einer neuen Galerie zu begleiten.«
»Eine Galerie?«, wiederholte Rudi und lächelte, eitel, wie er war, sein Spiegelbild an.
»Moderne Malerei«, erklärte Gloria knapp. »Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust.«
»Vielleicht lernen Sie ja einen netten Mann kennen«, warf Jenny eifrig ein. »Jetzt, wo Sie schon seit fast zwei Jahren Witwe sind, wäre das doch nicht schlecht, oder? Höchste Zeit sogar, würde ich meinen.«
»Mein Mann ist erst seit anderthalb Jahren tot«, stellte Gloria richtig. »Und auf einen neuen Mann habe ich wirklich keine Lust. Ich finde das Alleinsein sehr erholsam.«
Rudi verteilte etwas Gel in ihrem Haar. »Für einen glamourösen Look«, behauptete er und gab dann Jenny, die noch immer neben ihm stand, recht. »Es wird nicht mehr lange dauern, dann haben Sie das Alleinsein satt. Vor allem, wenn im Herbst die Tage kürzer und die Nächte länger werden.«
Jenny lächelte wissend. »Stimmt. Wo Sie doch noch so fabelhaft aussehen und lebenslustig sind. Soll ich einen neuen Lippenstift für Sie aussuchen?«
»Um meine Lebenslust zum Ausdruck zu bringen?« Gloria schüttelte den Kopf. »Das wäre wohl ein missverständliches Signal.«
Ich und lebenslustig?, dachte Gloria, während Rudi sich um den glamourösen Look bemühte. Ihre Mutter hatte einen ähnlichen Ausdruck gebraucht, als Gloria fünfzehn, sechzehn Jahre alt gewesen war. Damals hatte sie einen Freund nach dem anderen gehabt und neben der Schule alles Mögliche ausprobiert: Tennis, Reiten, Jazzdance und sogar Judo. Ihre Mutter hatte ihr vorgeworfen, lebenshungrig zu sein.
Empört geschnaubt hatte sie damals und war mit wippendem Pferdeschwanz aus dem Zimmer gestürmt. Sie und lebenshungrig! Natürlich hatte sie in ihrer Jugend die Höhen und Tiefen des Lebens auskosten wollen – möglichst alles auf einmal. Aber jetzt, Mitte fünfzig, war sie bedeutend ruhiger geworden.
»Mal sehen«, sagte sie daher ausweichend, stimmte aber trotzdem dem Lippenstift zu, den Jenny für sie ausgesucht hatte, bezahlte und ließ sich von Rudi in den Mantel helfen. »Viel Spaß heute Abend«, wünschte er ihr, legte den Kopf schief und sagte bewundernd: »Die Haarfarbe und der hellere Lippenstift lassen Sie zehn Jahre jünger erscheinen. Mein Kompliment!«
»Was? Nur lumpige zehn Jahre?«, entgegnete sie lachend. »Jenny, haben Sie das gehört? Trotzdem Dank – und viel Spaß noch mit Ihrem neuen Freund!«
»Den werde ich haben!«
Warum dauert es beim Friseur nur immer viel länger, als man denkt?, fragte Gloria sich und stellte nach einem Blick auf die Uhr fest, dass sie nur noch eine gute Stunde Zeit hatte, bis ihre Freundin sie abholen würde. So schnell es der Verkehr erlaubte, fuhr sie Richtung Lokstedt. Als sie die Breitenberger Straße erreicht hatte, bog sie nach links ab und hatte bald danach die ruhige, von alten Bäumen gesäumte ruhige Nelkenstraße mit den Einfamilienhäusern inmitten gepflegter Gärten erreicht.
Vor ihrem weiß gestrichenen Zaun hielt sie an, öffnete das Tor, fuhr die Einfahrt hinauf und parkte direkt vor der ebenfalls weiß gestrichenen Haustür mit dem Türklopfer aus Messing. Sie sammelte die Einkaufstüten ein und schloss auf. Reicht die Zeit noch für einen Tee? Rasch stellte sie Wasser auf, verstaute die Einkäufe und zog eine Schublade heraus, die einzig und allein den verschiedenen Sorten vorbehalten war, denn sie goutierte Tee wie andere Menschen edle Weine.
Vor Jahren hatte sie eine kleine Firma ausfindig gemacht, die sich auf wenige, aber ausgesucht edle Tees spezialisiert hatte. Jetzt hatte sie die Qual der Wahl: Was sollte es denn sein? Ein Darjeeling First Flush? Ausgeschlossen, er war von einer Qualität, die man bewusst genießen musste. Dasselbe galt für den wunderbaren Earl Grey, ein reiner Darjeeling mit natürlichem Bergamotte-Öl aus biologischem Anbau, und für die edlen Weißen und Grünen Tees aus China sowieso. Ein Ceylon Pekoe? Ein Yunnan? Ein Uttaranchal vom Himalaja? Ein seltener Nilgiri?
Während sie die Kanne vorwärmte, entschied sie sich für einen einfachen malzigen Assam. Sie goss das kochende Wasser über die Blätter, legte den Deckel auf die Kanne und freute sich an der Nachmittagssonne, die die Küche in ein warmes Licht tauchte.
Während der Tee zog, öffnete sie die Tür zum Garten. Sie war nicht mit dem sprichwörtlichen grünen Daumen gesegnet, deshalb hatte sie sich immer auf pflegeleichte Büsche und wenige Blumen, Iris und alte Nelken, beschränkt. Nur auf der Terrasse standen etliche große Terrakotta-Töpfe mit Rosenbäumchen, die sie liebevoll pflegte.
Jetzt ging sie in die Küche zurück, goss den Tee ab und eine Tasse ein und betrachtete das Kräuterbeet neben der Tür. Da wuchsen natürlich Schnittlauch, Petersilie und Liebstöckel, aber auch Salbei, Minze, Melisse und dreierlei Thymiansorten.
Während sie den Assamtee trank, nahm sie sich vor, in den nächsten Tagen mit den Herbstarbeiten im Garten zu beginnen. Aber nun wurde es wirklich Zeit!
Sie stellte die Tasse auf den runden Tisch und eilte nach oben ins Schlafzimmer. Ohne viel zu überlegen, holte sie ein leichtes Kleid aus dem Schrank. Knapp über das Knie reichte der Saum, was in Ordnung war – nur der Ausschnitt war für die Ausstellungseröffnung vielleicht etwas zu gewagt. Und waren die Farben nicht zu lebhaft? Der rote Mohn zu leuchtend rot, das Grün zu grün? Ach was, sagte sie sich, zog den Reißverschluss zu und nahm die Jugendstilbrosche – ein Erbstück ihrer Großmutter – aus dem Etui. So, jetzt war der reizvolle Ausblick auf ihren Busenansatz doch wesentlich dezenter. Sie schlüpfte in rote Stilettos, zog die rote Handtasche aus dem Schrank und ging ins Bad, wo sie Wimperntusche auftrug und die Lippen mit dem neuen Stift nachzog – und in diesem Augenblick klingelte es an der Haustür.
Sie rannte nach unten, nahm eine leichte Jacke vom Bügel, warf die Haustür ins Schloss und küsste ihre Freundin Ines auf die Wange. »Hallo! Du kommst früh!«
»Quatsch! Ich habe mich verspätet, weil mein Mann in letzter Minute Anspruch aufs Familienauto erhoben hat. Wir müssen mit deinem fahren, was bedeutet, dass du tüchtig Gas geben musst!«
Die Reifen quietschten, als Gloria aus der Neben- in die belebtere Hauptstraße bog.
»Freust du dich auf den Abend?«, erkundigte sich ihre älteste und beste Freundin.
»Ich weiß nicht. Es ist die erste Ausstellungseröffnung meines Lebens«, gestand sie.
»Dann lass dich überraschen.«
Zehn Minuten später stellte Gloria den Wagen in der Nähe der Kunsthalle ab, dann schob sie ihre Hand unter den Arm ihrer Freundin. Ihre Absätze klapperten auf dem Asphalt, und der Wind fuhr in ihre Haare, so dass Gloria auflachte. »Wenigstens sehe ich jetzt nicht mehr aus, als wäre ich extra beim Friseur gewesen!«
Das Lachen verging ihr, als sie sich dem Gebäude näherten, in dem sich die neueröffnete Galerie befand. »Wollen all die Leute dahin, wohin auch wir gehen?«, fragte sie entgeistert. »Die Frauen sind so schick! Ines, du hättest mir sagen müssen, dass ein einfaches Fähnchen nicht das Richtige für den Anlass ist.«
»Aber warum denn? Wenigstens fällst du in deinem Mohnblumenkleid auf«, verteidigte sich Ines, die einen grauen Hosenanzug aus Samt mit einem braunen Strickhemdchen trug – sehr schlicht, sehr unterkühlt, sehr schick.
»Kleidungsmäßig lässt du mich ins offene Messer laufen«, klagte Gloria. »Das ist nicht schön von dir.«
»Zu deinem Temperament passen die Mohnblumen. In einem klassischen Kostümchen bist du nicht du selbst – es sei denn, es wäre aus Goldbrokat und hätte einen großzügigen Ausschnitt für deine üppige Oberweite.«
»Du bist unmöglich«, protestierte Gloria und hätte gerne noch energischer protestiert, doch ihre Freundin schritt zielstrebig nach vorn, nahm in der Mitte der zweiten Reihe Platz und deutete auf den Stuhl zu ihrer Linken.
»Warum setzen wir uns nicht weiter nach hinten?«
»Weil wir gesehen werden wollen«, entgegnete Ines ungerührt.
Gloria musterte die Anwesenden: die Herren trugen samt und sonders dunkle Anzüge oder graue Hosen mit Blazer, die Damen erschienen im kleinen schwarzen Kostüm oder in hellen Röcken mit pastellfarbenen Jacken im Chanel-Stil. Inklusive Perlenkette natürlich.
Was blieb ihr übrig, als ihr unpassendes Kleid mit Fassung zu tragen?
Den Redner des Abends schrieb sie nach dem ersten prüfenden Blick ab. Es war einer jener aufgeblasenen Umstandskrämer, die sich an ihren eigenen Worten berauschen und sich demzufolge sofort vom Manuskript lösen – was unweigerlich eine überzogene Redezeit zur Folge hat. Wohl oder übel ließ sie den Vortrag über sich ergehen, wobei sie weniger auf die Ausführungen zu dem Thema »Der Pinselstrich und die Verwendung der Farbe und des Lichts« achtete als darauf, nicht einzuschlafen. Leider gelang ihr das nicht. Sie riss die Augen auf, als sie der Herr zu ihrer Linken sanft am Ellbogen berührte. »Die Pflicht ist zu Ende«, sagte er lächelnd. »Jetzt winkt uns die Kür. Ich bringe Ihnen etwas zu trinken.«
Der Sekt erweckte sie prompt zum Leben. Ines hatte sich unter die Anwesenden gemischt, von denen sie einige kannte, so dass sich Gloria gerne auf eine Unterhaltung mit dem netten Herrn einließ, der sie so freundlich geweckt hatte.
»Interessieren Sie sich für Kunst?«, fragte dieser.
Gloria zögerte mit ihrer Antwort, dann gab sie sich einen Ruck. »Dafür hatte ich bisher weder Zeit noch Gelegenheit. Und Sie? Kaufen Sie etwa diese …?« Sie biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge und deutete lediglich auf die vielfarbigen Pinselstriche.
»Sonst wäre ich nicht hier«, entgegnete er lachend und stellte sich vor. »Horst Weymoden. Kunsthändler und Galerist.«
»Oje.« Verlegen tauschte sie ihr leeres gegen ein volles Glas. »Sie sollten sich nicht mit einer Ignorantin abgeben, Herr Weymoden.«
»Damit meinen Sie aber nicht sich!«
»Wen sonst? In Sachen Kunst bin ich ein Banause.«
Er sah sie erstaunt, ja ungläubig an. »Wenn Sie dieser Ansicht sind, sollten wir uns bei einem guten Essen über den Unterschied zwischen einem Ignoranten und einem Banausen unterhalten. Darf ich Sie einladen? Mich interessiert, auf welchem Gebiet Sie sich auskennen.«
»Ich mich auskenne?«, wiederholte Gloria spöttisch. »Herr Weymoden, ich bin Hausfrau!«
Er lachte und schüttelte den Kopf. In dem Moment stellte sich der Redner neben Weymoden, Gloria nickte kurz und machte sich auf die Suche nach Ines. Damit, dachte sie, war die Bekanntschaft beendet – doch sie täuschte sich. Nach wenigen Augenblicken tauchte Weymoden neben ihr auf, reichte ihr seine Karte und fragte nach ihrem Namen. »Finde ich ihn im Telefonbuch? Ja? Gut. Ich darf Sie doch anrufen? Ich habe nämlich leider noch einen Termin.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, eilte er zum Ausgang. Ines hob spöttisch die Augenbrauen. »Volltreffer, meine Liebe.«
»Kennst du den Herrn? Er heißt Horst Weymoden.«
»Nur vom Hörensagen. Er besitzt eine bekannte Galerie, ist Kunsthändler und sieht obendrein noch sehr gut aus. Oder findest du das etwa nicht?«
»Na ja … «
Schon am nächsten Tag rief Horst Weymoden an und verabredete sich mit Gloria zum Abendessen. Punkt neunzehn Uhr stieg er aus einem silberfarbenen Cabrio. Sie musterte ihn durch das Flurfenster. Groß war er und recht schlank. Er trug einen hellgrauen Anzug, der aussah, als sei er maßgeschneidert. Als sie die Haustür öffnete, sah sie in hellbraune Augen. Sie bemerkte seine noch immer dunklen, leicht krausen Haare, das energische Kinn und die gerade, einen Hauch zu groß geratene Nase.
»Schon fertig?«, fragte er erstaunt und, wie ihr schien, auch etwas enttäuscht, weil sie ihn nicht ins Haus bat, sondern gleich die Tür abschloss.
Er fuhr nach Sankt Georg und parkte vor einem kleinen Restaurant, das für seine Küche bekannt war. Gloria hatte auf ein Mittagessen verzichtet, war deshalb ausgesprochen hungrig und wählte ohne falsche Bescheidenheit das viergängige Menü. Horst schloss sich ihr an, suchte die Weine aus, teilte ihre Wahl dem Kellner mit und kam sofort zur Sache.
»Jetzt sagen Sie mir bitte«, meinte er, während er sich vorbeugte, »was außer dem Haushalt Sie sonst noch tun.«
»Woher wollen Sie wissen, dass ich mehr als Haushalt im Sinn habe?«, entgegnete sie und kreuzte die Arme vor der Brust.
»Menschenkenntnis«, erwiderte er knapp.
»Die Sie nicht trügt?«
»Selten. Nicht in Ihrem Fall.«
»Hm. Sind Sie nicht reichlich neugierig?«
»Haben Sie etwas dagegen?«
»Warum sollte ich Ihnen etwas von mir und über mich erzählen? Nur um Ihre Neugier zu befriedigen?«
»Wäre das so schrecklich? Sie interessieren mich.«
»Aber warum denn?«
»Sie waren in Ihrem Mohnblumenkleid der einzig fröhliche Anblick unter all den Armani- und Chanel-Frauen. Wer ein solches Kleid tragen kann, ist ungewöhnlich. Also?«
»Also was?«
»Was tun Sie?«
»Sind Sie immer so hartnäckig?«
»Gehe ich Ihnen auf die Nerven?«
Eigentlich ja, wollte Gloria schon antworten, aber etwas in seinem Blick hielt sie zurück. Sein Interesse an ihr schien nicht gespielt zu sein.
»Sie sind wohl nur, um Ihren Ausdruck zu gebrauchen, Armani- und Chanel-Frauen gewohnt?«
Er nickte. »Und schwarz gekleidete, stark geschminkte Künstlerinnen«, ergänzte er. »Einer Mohnblumenfrau mit einer Lilienbrosche in reinem Jugendstil bin ich bisher noch nicht über den Weg gelaufen.«
»Ich war gestern zum ersten Mal in meinem Leben auf einer Vernissage und wusste daher nicht, was man üblicherweise trägt«, verteidigte sich Gloria. »Aber eines versichere ich Ihnen: Eine Künstlerin bin ich nicht.«
»Das habe ich auch nie angenommen«, sagte Weymoden. »Sind Sie verheiratet?«
»Mein Mann ist vor eineinhalb Jahren gestorben.«
»O! Das tut mir leid.«
»Es muss Ihnen nicht leidtun.« Gloria breitete die Serviette auf ihrem Schoß aus, denn der Kellner trug die Vorspeise auf: zwei gefüllte und frittierte Zucchiniblüten mit einer gegrillten Gamba. »Er war fünf Jahre lang schwer krank. Und in dieser Zeit …«, Gloria reichte ihm das Brotkörbchen, »… in dieser Zeit musste ich mich beschäftigen. Ich habe – sorry, ich hab vergessen, das Handy auszuschalten!«
Aus ihrer Handtasche drang Nancy Sinatras spröde, desillusionierte Stimme. »These boots are made for walkin’ …« Gloria warf einen kurzen Blick auf das Display, erkannte die Nummer einer Bekannten, die abends gerne ein Schwätzchen hielt, und schaltete das Handy aus.
Weymoden schüttelte den Kopf. »Eine temperamentvolle Mohnblumenfrau mit einer so bösen Melodie! Welche Überraschungen haben Sie denn sonst noch auf Lager? Und womit haben Sie sich beschäftigt, als Ihr Mann krank war?«
»Die gefüllte Zucchiniblüte ist köstlich«, wich Gloria aus, dann wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit.
Vor knapp sieben Jahren hatten die Ärzte bei ihrem Mann Prostatakrebs diagnostiziert. Zuerst wurden ihnen Hoffnungen gemacht. Die Therapie schien erfolgreich zu sein, und beide waren sicher, den Krebs besiegt zu haben.
Die Erleichterung und Freude waren so groß, dass sie zum ersten Mal in ihrem gemeinsamen Leben ganz bewusst die schönen Seiten genossen – in ihrem Fall waren es Reisen. Sie flogen in die USA, dann nach Portugal, nach England und schließlich in die Türkei. Das stellte sich als Fehler heraus, denn Olaf vertrug die Hitze nicht. Weil er aber ein preiswertes Hotel ohne Klimaanlage ausgesucht hatte, gab es kein Entrinnen. Er litt, konnte kaum etwas essen und hing tagsüber nur im Liegestuhl herum, weshalb sie keinen einzigen der geplanten Ausflüge unternehmen konnten. Aber auch wenn Olaf gesund gewesen wäre, gestand sich Gloria ein, hätte sie außerhalb der Hotelanlage nicht viel zu sehen bekommen, denn ihrem Mann ging es nie darum, eine ihm unbekannte Gegend zu erforschen und deren Besonderheiten aufzuspüren. Bei ihm drang nichts in die Tiefe, ganz gleich, was er an Schönem erlebte. Und wie Fett in einer neuen Teflonpfanne blieb auch nichts haften. Er war der Typ Mensch gewesen, der nach einer Weltreise nichts anderes zu berichten wusste als: »In Bombay sind mir die vielen Bettler auf die Nerven gegangen, in Tokio sollte ich Nudelsuppe mit Stäbchen löffeln, in Mexico war es brüllend heiß, auf Feuerland affenkalt, und in Rio wurde ich erwartungsgemäß beklaut.«
Der Türkeiurlaub war der Anfang vom Ende gewesen. Als sie wieder in Hamburg waren, wurde Olaf von einem hartnäckigen Durchfall geplagt, was sie zunächst auf die Nachwirkungen der Hitze und des ungewohnten Essens schoben. Aber dann wurden Metastasen entdeckt, und das eigentliche Leiden begann. Über fünf Jahre zog es sich hin; es war eine lange Zeit, in der Olaf immer unzugänglicher wurde.
»Woran denken Sie?«, riss Horst Weymoden sie aus ihren Erinnerungen.
»An die Vergangenheit«, entgegnete Gloria schuldbewusst. »Sehen Sie, während der Krankheit schlief mein Mann sehr unruhig. Nachts weckte er mich, wenn er meine Hilfe brauchte, und danach fiel es mir häufig schwer, wieder einzuschlafen. Deshalb kaufte ich einen kleinen Fernseher und verfolgte vom Bett im Gästezimmer aus die Börsenberichte. Ich habe BWL studiert«, setzte sie hinzu.
Horst bedeutete dem Kellner, sich mit dem zweiten Gang noch etwas zu gedulden, und wandte sich wieder Gloria zu.
»Ihr Mann war unheilbar krank?«
Gloria nickte. »Wenige Jahre vor Ausbruch der Krankheit hatte ich eine kleine Erbschaft gemacht und durchgesetzt, das Geld nach meinen Vorstellungen verwenden zu können.
Den kleineren Teil steckte ich in unser Haus, den größeren legte ich in Aktien an. Mit Erfolg, wie sich bald herausstellte – aber natürlich waren es auch die Jahre des allgemeinen Aufschwungs«, schränkte sie ihren Erfolg ein. »Wollen wir nicht weiteressen?«
Der zweite Gang bestand aus einer Tomatenessenz mit Basilikumklößchen. »Auch nicht schlecht«, lobte Gloria und fuhr fort: »Dann passierte die Sache mit meiner Tante Elfriede. Als Sechzigjährige ging Tante Elfriede, Anthroposophin und überzeugt von homöopathischer Medizin, einem Hochstapler auf den Leim. Sie saß dem Mann im Zug zwischen Köln und Hamburg gegenüber und lauschte seinem faszinierenden Bericht über eine Firma, die sich auf die Herstellung eines rein pflanzlichen Präparats zur Stärkung des vegetativen Nervensystems spezialisiert hatte und dieses mit Hilfe der absolut phantastischen Nanomedizin entwickelte. Tante Elfriede überwies dem sympathischen Herrn noch am Tag ihrer Ankunft in Hamburg einen saftigen Betrag zu Forschungszwecken – dies, ohne zu wissen, worum es sich bei Nanomedizin oder dem Präparat namens Bio-Nano überhaupt handelte.«
Horst pfiff leise durch die Zähne.
»Ich war genauso entsetzt wie Sie und versuchte, Näheres über den angeblichen Unternehmer zu erfahren. Das Ergebnis war äußerst dürftig. Ich bat einen Chemiker, mit dem ich seit unserer Studienzeit lose befreundet bin, sich schlauzumachen. Die Wahrheit war eine Katastrophe: Der Mann besaß zwar eine eingetragene Firma, doch die bestand aus einem Hinterzimmer mit wenigen Reagenzgläsern, einem veralteten Mikroskop, einer sehr fortschrittlichen Kaffee- und Espressomaschine und einem einzigen Forscher – das war er selbst. Seine Forschung beschränkte sich auf das Ausfindigmachen und Ausnehmen gutgläubiger Menschen. Meist waren das ältere Damen wie Tante Elfriede, die sich von seinem gepflegten Äußeren, seinem Charme und seinem hochtrabenden Vokabular blenden ließen. Tante Elfriede war einem Kapitalanlagebetrüger aufgesessen, der nach dem Motto arbeitete: Verehrteste, Ihr Geld ist nicht weg, es hat nur ein anderer.«
»Was für eine elegante Erklärung«, meinte Weymoden anerkennend. »Wie ist es weitergegangen?«
»Tante Elfriedes Geld war unwiederbringlich dahin, aber sie war dann doch so vorsichtig geworden, dass sie mir den Rest ihres Ersparten zur Verwaltung überließ. Damit war ich ziemlich erfolgreich, worauf Elfriede frohgemut die Werbetrommel rührte.
Nach und nach nahmen die meisten ihrer Freundinnen meinen Anlageberatungsdienst in Anspruch, und als ich dann noch eine der Damen davon abhalten konnte, einem Neffen einen beträchtlichen Betrag zur Gründung einer eigenen Firma zu leihen, und ihr nachwies, dass dessen geplantes Unternehmen – Zahnersatz aus der Gegend östlich des Urals! – zum Scheitern verurteilt war, war mein Glück gemacht: Meine Anlageberatung hatte sich herumgesprochen. Ich habe mir einen festen Kundenstamm geschaffen, und vor kurzem hat sogar eine mittelständische Hamburger Firma Kontakt mit mir aufgenommen – mal sehen, ob was draus wird. Die Entscheidung steht noch aus.«
»Das machen Sie also«, sagte Weymoden aufatmend. »Wie interessant.«
Der dritte Gang, Kalbsfilet mit Gemüse und knusprigen Kartoffelplätzchen, wurde aufgetragen. »So, nun wissen Sie schon ziemlich viel über mich.« Gloria legte den Kopf schief. »Jetzt sind Sie an der Reihe. Was Sie beruflich machen, weiß ich. Aber privat?«
»Ich bin seit vier Jahren geschieden und lebe allein. Meine Frau hatte ein Verhältnis mit meinem besten Freund, die Scheidung war unumgänglich und ziemlich unangenehm, denn mit Hilfe ihres Anwalts schlug sie heraus, was nur möglich war. Das ist aber längst ausgestanden; wir grüßen uns wieder, wenn wir uns über den Weg laufen, und wenn es sich nicht vermeiden lässt, telefonieren wir sogar ohne Streit und ohne dass alte Wunden wieder aufgerissen werden.«
»Haben Sie Kinder?«
»Drei. Der Älteste ist Anfang dreißig, Orthopäde, verheiratet und hat zwei kleine Söhne. Meine Tochter ist Mitte zwanzig, sie hat Kunstgeschichte studiert und arbeitet seit kurzem bei Christie’s, der Jüngste, dreiundzwanzig Jahre ist er alt, ist Schreiner. Er hat eine ausgesprochen sympathische Lebensgefährtin, die mit dem zweiten Kind schwanger ist. Und Sie? Haben Sie Kinder?«
»Eine Tochter, Astrid. Sie hat wie ich BWL studiert, weil ihr nichts Besseres eingefallen ist, und hat jetzt Schwierigkeiten, den Einstieg ins Berufsleben zu finden. Zurzeit jobbt sie als Kellnerin.«
»Wohnt sie bei Ihnen?«
Gloria schüttelte den Kopf. »Während der Krankheit ihres Vaters ist sie ausgezogen. Sie konnte das Leiden nicht ertragen, was ich nachvollziehen konnte. Außerdem hatte ich für sie sowieso keine Zeit. Inzwischen …«, Gloria drehte den Stil des Weinglases zwischen den Fingern, »… inzwischen ist unser Verhältnis leider etwas angespannt.«
»Das wird wieder«, sagte Weymoden rasch.
»Hoffentlich.«
Schweigend löffelten sie die Crème brulée aus, die Spezialität des Hauses, dann bestellte Weymoden zwei Mocca, und Gloria sah auf die Uhr. »Es ist spät geworden. Wissen Sie«, fügte sie lebhaft hinzu, »dass dies mein erster Abend, nein, mein erstes Zusammensein überhaupt mit einem neuen Bekannten seit dem Tod meines Mannes ist?«
»Tatsächlich? Wie gut, dass ich es bin.« Weymoden bedeutete dem Kellner, die Rechnung zu bringen.
Später vor ihrem Haus hielt er sie zurück. »Bevor wir das nächste Treffen nicht ausgemacht haben, lasse ich Sie nicht aussteigen«, drohte er.
»Was ist mit den Armani- und Chanel-Frauen?«, spottete Gloria.
»Mir genügt eine einzige Mohnblumenfrau. Übrigens … Mohnblumen! Wie wäre es mit einem Ausflug nach Seebüll?«
»Seebüll?«, wiederholte Gloria. »Das sagt mir nichts.«
»Der Maler Emil Nolde hat sich in Seebüll an der friesischen Küste ein Haus bauen lassen. Seine Mohnblumen müssen Sie einfach sehen!«
»Ach du lieber Himmel! Wir haben vor lauter Vergangenheit nicht über mein Banausentum und meine Ignoranz in Sachen Kunst gesprochen!«
»Stimmt. Das muss unbedingt nachgeholt werden. Am Samstag stehe ich um neun Uhr bei Ihnen auf der Matte. Einverstanden?«
»Ich werde den Wecker stellen«, versprach Gloria. »Vielen Dank für das feine Essen, und schlafen Sie gut!«
Beschwingt schloss sie die Tür auf und versuchte ihre Jacke auf den Haken zu werfen. Natürlich fiel sie zu Boden, aber sie hob sie nicht auf. Stattdessen knipste sie sämtliche Lichter im Erdgeschoss an, goss sich einen Kräuterschnaps als Verdauungshilfe ein und wollte gerade mit dem Gläschen Bénédictine durch die Räume wandern, als die Türklingel schrillte. Dann hörte sie Weymodens Stimme. »Nicht erschrecken! Ich bin’s!«
Als sie die Tür öffnete, fiel sein Blick auf das Gläschen mit der hellgrünen Flüssigkeit. »Ist das etwa ein Bénédictine?«
»Ja«, bestätigte Gloria überrascht und konnte nach dem guten Essen nicht umhin, ihn zu fragen, ob er auch eine Verdauungshilfe nötig hätte.
»Unbedingt«, bestätigte er prompt. »Aber ich bin nicht deswegen gekommen. Ich habe etwas vergessen.«
»Das kann nur in Ihrem Auto oder im Restaurant liegen«, stellte sie sofort fest.
»Leider nein. Es handelt sich nicht um einen Gegenstand, sondern um eine Auskunft, die nur Sie mir geben können.« Er folgte ihr in die Küche. »Ich muss unbedingt noch wissen, wieso Sie so eine dramatische Melodie auf Ihrem Handy haben. These boots are made for walkin’?«
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Gloria ausweichend und goss ihm ein Gläschen ein. »Reicht das?«
»Für eine lange Geschichte ganz bestimmt nicht.«
»Wissen Sie was?« Sie lehnte sich an den Küchentisch, kreuzte die Arme vor der Brust und lächelte ihn freundlich an. »Einen noch Fast-Fremden sollte man nicht am ersten Abend mit unerquicklichen Geschichten aus seinem Leben langweilen. Wie wäre es mit Samstagabend? Vorausgesetzt, wir sind uns nähergekommen?«
»Näher als am heutigen Abend?«
»Mit Nähe habe ich nicht körperliche Nähe gemeint«, stellte Gloria klar.
»Eigentlich wollte ich auch nur sicherstellen, dass Sie nicht auswandern wollen. Oder aus Hamburg wegziehen.«
»Ach du lieber Himmel! Nein, natürlich nicht. Weder das eine noch das andere. Ich hab doch gerade erst mein Haus renovieren lassen.«
»Danke«, antwortete Weymoden und trank den Likör aus. »Jetzt kann ich beruhigt schlafen.«
»Na klar, der Bénédictine ist auch ein ausgezeichnetes Schlafmittel«, spottete Gloria.
»Dass Sie die Wanderschuhe nicht zum Auswandern in ein weit entferntes Land brauchen – das ist mein Schlafmittel«, sagte er. »Der Likör …«
»… war nur ein Vorwand?«
»Aber nein! Oder trauen Sie mir zu, durch geschlossene Holztüren blicken zu können? Ich bin Kunsthändler und kein Magier.«
»Vielleicht wäre es gut, wenn Sie ein solcher wären«, spottete Gloria weiter. »Eine Ignorantin in Sachen Kunst ist ein harter Brocken!«
»Meine Zähne sind in bestem Zustand! Und stell dir vor, Gloria: Ich liebe harte Brocken.«
Gloria?, dachte sie, als er endgültig weggefahren war. Sind wir schon beim Vornamen angelangt? Doch es ließ sich nicht leugnen, Horst hatte sie beeindruckt. Er war so ganz anders als Olaf, ihr verstorbener Mann. Nicht zum ersten Mal gestand sie sich ein, dass sie als junge Frau die körperliche Anziehungskraft mit Liebe verwechselt hatte.
Die Ehe war schwierig gewesen. Dass ihr Mann keine Kinder wollte, gestand er ihr erst nach sieben Jahren, als sie endlich mit Astrid schwanger war. Infolgedessen half er ihr auch nicht – nie stand er beispielsweise auf, wenn die Kleine nachts weinte. Oft war sie so wütend auf ihn, dass sie nahe daran war, ihn zu verlassen. Und doch gelang es ihm mit geradezu nachtwandlerischer Sicherheit, nur so weit zu gehen, wie sie es gerade noch ertragen konnte. Aber die Jahre seiner Krankheit verlangten ihr alles ab, denn davon abgesehen, dass sich seine angeborene Sparsamkeit zu schlimmem Geiz auswuchs, ließ er sie kaum mehr aus den Augen und hielt sie ständig auf Trab. Darüber ging das letzte bisschen Liebe, das sie für ihn noch empfunden hatte, dahin.
Als er schließlich gestorben war und sie die mit seinem Tod verbundenen Formalitäten erledigt hatte, engagierte sie umgehend den jüngsten und flottesten Innenarchitekten Hamburgs. Zwei Monate musste sie warten, bis er einen Termin für sie hatte, aber sie saß nicht untätig herum, o nein! Zuerst übergab sie Olafs Anzüge und Hemden der Heilsarmee, dann bestellte sie eine Entrümpelungsfirma und warf den abgewohnten Krempel, an dem sie sich schon längst sattgesehen hatte, mit größtem Vergnügen aus dem Haus. Zwei Teppiche, den Schlafzimmerschrank, den Rasenmäher, die Gefriertruhe und die Waschmaschine sowie ein paar Bilder behielt sie ebenso wie Astrids Kinderzimmereinrichtung sowie alle Erinnerungsstücke an deren Kindheit und Jugend. Die Fotoalben legte sie in Schachteln und trug sie in den Keller; sie brauchte Abstand und wollte nicht an die Vergangenheit erinnert werden.
Nachts schlief sie auf einer Luftmatratze, tagsüber schlenderte sie durch die besten Einrichtungshäuser und innovativsten Werkstätten Hamburgs und schmiedete Pläne. Als der junge Mann dann endlich kam, wusste sie genau, was sie wollte. Da, wo es ihr an Mut und Vorstellungskraft mangels Erfahrung fehlte, half er nach, und so wurde das Haus endlich so, wie Gloria es sich immer gewünscht hatte. Im Erdgeschoss gab es außer der Küche nur einen einzigen großen Raum. Dem hätte Olaf niemals zugestimmt! Diese Heizkosten! Nur über meine Leiche, hätte er gewütet. So war es ja nun auch gekommen. Gloria zog spöttisch die Mundwinkel herunter und sank auf die neue Couch. Die liebte sie ganz besonders – die Kombination aus kühler Sachlichkeit, geraden Linien und dem Bezug aus italienischer Seide mit einem exotischen Mustermix. Und dann ihre Arbeitsecke mit dem langen Glastisch und dem riesigen, weißgerahmten Bildschirm! Die großen Glasfenster gingen zum Garten hinaus, der rechteckige Esstisch reichte ausgezogen für zehn Personen, und das Schönste war, dass trotz der Vielfalt der Raum nicht vollgestellt, sondern ausgesprochen großzügig wirkte.
Auch die Küche war viel freundlicher geworden. Eine Schrankwand hatte sie hinzugekauft, wodurch sie Platz für einen kleinen runden Tisch samt vier Stühlen gewonnen hatten. Alles leuchtete zwar skandinavisch blau-weiß, aber die sonnenblumengelben Polster und der ebenso gelbe Lampenschirm über dem Tisch brachten Farbe und Wärme. Ja, sie war zufrieden mit ihrem Leben, dachte Gloria, stellte die beiden Likörgläschen in die Spülmaschine und duschte noch rasch, bevor sie unter die Decke kroch.
Je länger es andauerte, desto mehr belastete Gloria das gespannte Verhältnis zu ihrer Tochter. Im Laufe der folgenden Tage rief sie immer wieder an, um ein Treffen zu vereinbaren. Ein klärendes Gespräch war unumgänglich; sie war nicht bereit, ihre Tochter nach dem Abschluss des kostspieligen Studiums noch länger finanziell zu unterstützen: Astrid musste sich endlich nach einer festen Stelle umsehen!
Aber immer, wenn sie sie persönlich erreichte, war entweder der Handyempfang schlecht, was natürlich ein Vorwand war, oder sie hatte angeblich keine Zeit. Einmal hörte Gloria im Hintergrund eine männliche Stimme. »Hast du Besuch?«, fragte sie.
»Das geht dich nichts an«, entgegnete Astrid patzig und beendete das Gespräch, worauf Gloria sofort die Wiederholungstaste drückte und energisch wurde. »Entweder kündige ich den Dauerauftrag für deine Unterstützung noch heute, liebe Tochter, oder du siehst ein, dass wir uns unterhalten müssen.«
Astrids Stimme wurde schrill. »Das kannst du nicht bringen! Es geht einfach jetzt nicht. Ich bin fix und fertig!«
Gloria erschrak – offensichtlich hatte ihre Tochter mehr Probleme, als sie geahnt hatte. »Gut«, sagte sie deshalb betont ruhig und sachlich, »wenn es dir nicht gut geht, sollten wir etwas tun, was dich wieder auf die Beine stellt. Was hältst du davon, wenn wir ein paar Tage zusammen wegfahren?«
»Woran denkst du?« Astrids Stimme klang reichlich misstrauisch. »An deine ‚zweite Heimat‘?«
»Jetzt, wo du es sagst, finde ich die Idee nicht schlecht. Wie wäre es mit einer Woche Sylt?«
Astrid zögerte mit der Antwort, und Gloria hatte den Eindruck, dass ihre Tochter tatsächlich nicht allein war. »Ich rufe heute Abend zurück, Ma«, sagte sie schließlich. »Um acht?«
»Acht Uhr«, bestätigte Gloria. Ihre Tochter schien wirklich Hilfe zu benötigen, und eine Woche Sylt würde ihnen die Zeit geben, sich auszusprechen. Zudem war die Insel ihr tatsächlich zu einer Art zweiter Heimat geworden, ein Rückzugsgebiet in schlechten Zeiten. Seit Olaf krank geworden war, geisterte der Wunsch, dort ein Häuschen zu kaufen, immer wieder durch ihren Kopf. Aber natürlich hatte sie hier in Hamburg ihre Wurzeln, und dann war da auch die Verantwortung für ihre Tochter. Sie musste einfach in ihrer Nähe sein, dazu fühlte sie sich als Mutter verpflichtet.
Sie hatte die wunderschöne Insel während ihrer ersten Semesterferien kennengelernt. Ferien mit der Familie wären ihr damals, lebenshungrig, wie sie in den Augen ihrer Mutter war, wie ein Gefängnisaufenthalt erschienen. Da die Insel vor dreißig, vierzig Jahren der Inbegriff des unkonventionellen, verrückten, sogar verruchten Lebens war, jobbte sie ein Vierteljahr in einem Müttererholungsheim in Westerland als Mädchen für alles. Ihre Studienfreunde besuchten sie, sie machte jede Menge Bekanntschaften, saß einem Maler Modell, lernte segeln und Krabben pulen, bekam einige Heiratsanträge, die sie alle lachend ausschlug, und stürzte sich jeden Morgen voller Begeisterung in den neuen Tag. Es war eine wilde Zeit gewesen – wild, aber nicht freizügig, denn die Pille war damals noch in der Erprobungsphase. Um ein Rezept zu bekommen, musste man sich beim Arzt einem peinlichen Verhör unterziehen.
Das tat sie sich nicht an, weshalb alle Freundschaften wunderbar unkompliziert blieben. Wider Erwarten hatte sie sich damals nicht in einen Mann, sondern in die Insel verliebt.
Sie liebte die reetgedeckten Friesenhäuser, die struppige Heide und das widerstandsfähige gelbe Dünengras, den fast weißen Strand und die zerzausten Kiefern, die ruhige Watt- und ganz besonders die stürmischere Meeresseite.
Sie liebte die langen, auch in heißen Sommern menschenleeren Strände zwischen den Ortschaften. Sie genoss die einsamen Wanderungen oder die Radtouren, auch wenn diese bei steifem Gegenwind schweißtreibend waren.
Vor allem aber liebte sie die Gegensätze: An Kampen schätzte sie die Eleganz, die Champagnerbars, vor denen all die Jaguars und Porsches parkten, die eleganten Boutiquen und die beautiful people. Westerland war laut, quirlig, ja sogar schrill. In List gab es einen mit Antiquitäten und Kuriositäten vollgestopften Schuppen, den sie liebend gerne durchstöberte. Keitum wiederum war ruhig und gefiel ihr wegen der sorgfältig gepflegten Gärten voller Rhododendren und gestutzten Buchsbäumchen.
Wenn man Gloria gefragt hätte, was auf der Insel sie am meisten liebte, hätte sie ohne zu zögern Kampen genannt, denn da, fand sie, waren die Gegensätze am ausgeprägtesten.
Gut, das war ihre ganz persönliche Meinung, aber gerade deshalb schwankte sie jetzt zwischen einer Woche in einem Wellness–Hotel und einer Ferienwohnung. Das Hotel hätte den Vorteil, dass Astrid etwas für ihr Aussehen tun könnte. Andererseits wären all die Massage-, Bade- und Kosmetiktermine ein willkommener Vorwand, ihrer Mutter und damit auch dem Gespräch aus dem Weg zu gehen. Schweren Herzens strich sie deshalb die Wellness und informierte sich stattdessen, ob die Wohnung, in der sie schon häufig einige Tage gemacht hatte, frei wäre. Frau Paulsen, die sich um die Vermietungen kümmerte, bedauerte. »Bis einschließlich Oktober ist die Wohnung belegt. Aber ich hätte ein reizendes kleines Häuschen für Sie, mitten in Kampen, an der Dorfstraße, ganz ruhig gelegen.«
Das klang so verlockend, dass Gloria versprach, ihr nach Astrids Anruf Bescheid zu geben, in welcher Woche sie und ihre Tochter kommen würden.
Tatsächlich meldete sich Astrid kurz nach acht Uhr. »Okay, Ma, in drei Wochen habe ich Zeit. Passt das?«
»Erst in drei Wochen?«, entgegnete Gloria erstaunt. »Na gut. Wenn’s nicht anders geht, richte ich mich eben danach. Aber mach keinen Rückzieher, ja? Ich kann ein Häuschen in Kampen für uns mieten.«
»Geht in Ordnung, Ma.«
Am Samstag war wunderschönes Wetter, und so trug Gloria ihr Mohnblumenkleid, als sie zu Horst ins Cabrio stieg. Sie lächelte ein bisschen spöttisch über das elegante schwarze Leder und die Wurzelholzverkleidung im Innern, warf die Handtasche und eine Jacke nach hinten und schlang sich den langen weißen Schal um den Kopf. »Es kann losgehen«, sagte sie munter.
Die Fahrt durch die Stadt bis zur Autobahn in den Norden verlief stockend und bot reichlich Gelegenheit, Horst zu beobachten. Seine Hände mit den langen Fingern und gepflegten Nägeln hielten das Lenkrad sicher und wirkten vertrauenerweckend. Er trug – typisch für einen Hanseaten – eine graue Hose und ein blaues Hemd, dessen Kragen offen stand. Um die Schultern hatte er einen roten Kaschmirpulli gelegt, seine etwas krausen Haare hatte der Fahrtwind verwuschelt, was ihn jungenhaft aussehen ließ, die Augen verdeckte eine sportliche Sonnenbrille.
Wegen des Fahrtwinds konnten sie sich nur mit Wortfetzen unterhalten. »Tolles Wetter, was?«
Oder: »Fahre ich Ihnen zu schnell?« Das verneinte Gloria. »Ich mag’s nicht, wenn jemand über die Autobahn schleicht!«
Das beantwortete Horst mit lautem Lachen und noch mehr Gas. Als er bei Flensburg die Autobahn verließ und auf der Landstraße Richtung Niebüll weiterfuhr, hatten sich dunkle Wolken vor die Sonne geschoben; ein paar Tropfen fielen, er drückte auf eine Taste, das Verdeck schloss sich, und plötzlich herrschte angenehme Stille im Wageninnern.
»Was wissen Sie über Emil Nolde?«
Gloria zuckte überrascht zusammen. »Nichts. Ich bin eine Ignorantin in Sachen Kunst – haben Sie das schon vergessen?«
In dem Moment schienen sich die Wolken zu öffnen, ein heftiger Regenschauer prasselte aufs Auto, der Scheibenwischer tat sein Bestes und wurde der Wassermenge doch nicht Herr, jetzt fuhr Horst langsam und konzentriert und sah angestrengt durch den Vorhang vor der Scheibe – aber so plötzlich, wie der Regen begonnen hatte, hörte er auch wieder auf, an den Zweigen und Gräsern funkelten und glitzerten die Tropfen, die Sonne strahlte, silbriger Dunst lag in der Luft, weiße Wolken, aufgeplustert wie riesige Federbetten, segelten westwärts und ließen den Himmel so hoch, weit und majestätisch erscheinen, dass die grünen Wiesen und gelben oder braunen Felder nur als Grundlage für die sich über ihnen wölbende Pracht zu dienen schienen.
Horst bog in einen Feldweg ein. »Lassen Sie uns hier einen Augenblick aussteigen.«
Er ging ums Auto herum, half ihr aus dem niederen Sitz und legte, als sie neben ihm stand, den Arm um ihre Schultern.
Mit dem anderen machte er eine weitausholende Bewegung, dann zog er sie nach unten, bis sie beide auf ihren Fersen saßen. »Was sehen Sie?«
»Die Felder. Und darüber den Himmel mit den Wolken.«
»Was nimmt mehr Raum ein? Der Himmel oder die Felder?«
»Oh! Der Himmel natürlich!«
»Prüfung bestanden«, sagte er lächelnd und zog sie hoch. »Das ist ein Motiv, das Nolde sein Leben lang fasziniert hat. Die Weite, der Himmel, die Wolken. Nichts ist klein, eng und verhuscht; hier kann man atmen – und genau das, die Möglichkeit der Entfaltung nämlich, hat er in vielen seiner Bilder festgehalten. Kommen Sie, wir fahren weiter.«
»Und was ist mit der Mohnblumenfrau?«
»Warten Sie’s ab, in einer Viertelstunde müssten wir in Seebüll sein.«
Tastsächlich tauchten schon bald die Wegweiser zum Noldehaus auf, dann sah Gloria einen für norddeutsche Verhältnisse hohen Hügel, darauf stand ein graues, kompromisslos quaderförmiges Gebäude: das Noldehaus.
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee, bevor wir uns die Bilder ansehen?«
»Gerne.«
Acht Busse zählte Gloria auf dem Weg zum Eingang, und mindestens zwanzig, dreißig Autos. »Als wäre es ein Wallfahrtsort«, sagte sie mehr zu sich als zu Horst.
»Es ist ein Wallfahrtsort. Nolde hat sich über viele Konventionen seiner Zeit hinweggesetzt; dazu braucht’s natürlich eine Menge Kraft. Und die hatte er, was sich in seinen Bildern ausdrückt.«
»Wissen Sie was? Eigentlich möchte ich den Kaffee doch erst nach der Besichtigung trinken«, gestand Gloria.
Horst schien sich darüber zu freuen. »Dann gehen wir zuerst in den Garten. Vielleicht haben wir ja Glück.«
»Sie meinen, wegen der vielen Besucher?«
»O nein; die verteilen sich übers Gelände, die werden uns nicht stören.«
»Inwiefern brauchen wir also Glück?«
»Nur Geduld …« Zielstrebig eilte Horst den Gartenweg entlang. Noch blühte der Phlox in allen Farben, zu denen sich jetzt im späten Sommer Astern und Dahlien gesellten.
Und da war er, der Mohn. Ein Mohn mit fast handtellergroßen, seidig schimmernden Blütenblättern in einem leuchtenden, strahlenden, eleganten Rot.
»Das ist eine …« Gloria schwieg verlegen.
»Was?«
»Ich kann’s nicht sagen, es würde kitschig klingen.«
»Sagen Sie es trotzdem. Bitte.«
Ihr Blick wanderte von den Mohnblüten in hellstem Rosé über Gelb, Orange, Hell- und Dunkelrot bis fast Violett zu dem dahinterstehenden zartblauen Rittersporn und tiefblauen Eisenhut und blieb schließlich wieder am selbstbewussten Rot des Mohns hängen. »Es ist eine königliche Pflanze. Sie behauptet sich einfach dadurch, dass sie ist, wie sie ist«, sagte sie halblaut. »Jetzt lachen Sie mich aus, stimmt’s?«
Längst hatte Horst die Sonnenbrille abgenommen. Er strahlte sie an, so glücklich und stolz zugleich, dass sie ganz verlegen wurde.
»Kommen Sie, kommen Sie«, drängte er, nahm ihre Hand und zog sie geradezu hinter sich her, hinein in die Eingangshalle, eine breite Treppe hoch, dann durch einen Saal, einen zweiten … Dort blieb er stehen. »Der königliche Mohn.«
Nolde hatte tatsächlich Mohnblüten gemalt. Elegant, üppig, höchst präsent und triumphierend rot. Über ihnen wölbte sich der weite Himmel, sonst war nichts auf dem Bild.
»Genau!«, flüsterte Gloria entzückt. »Die Blüte und der Himmel. Beide sind einzigartig, beide stehen sich in nichts nach, beide sind gleichberechtigt in ihrer Schönheit.«
Das war der Augenblick, in dem Horst endgültig sein Herz verlor. »Gloria! Gloria, ich liebe dich!« Er schlang seine Arme um Gloria und küsste sie vor allen Besuchern.
Und Gloria? Sie, die Zögerliche, Vorsichtige, Spröde, fühlte sich nur einen winzigen Augenblick lang überrumpelt. Dann aber waren die Küsse das Natürlichste der Welt. Gloria schwamm in reiner Glückseligkeit.
Später wanderten sie durch die Räume, aber sie nahmen die übrigen Bilder kaum wahr, so sehr waren sie überwältigt und erfüllt von ihren Gefühlen. Der Appetit war ihnen vergangen, im Restaurant sahen sie sich kurz an, dann gingen sie zum Auto. »Ans Wasser?«, fragte Horst. Gloria nickte und lehnte sich an seine Schulter.
An der See stiegen sie aus und setzten sich an einer verschwiegenen Stelle in den Sand, wo sie sich ohne auch nur ein weiteres Wort zu wechseln ausgiebig küssten.
Als sie am Abend wieder in Hamburg waren, war es selbstverständlich, dass sie die Nacht bei Horst blieb.
Das war der Beginn von Glorias zweitem Leben.
In der Nacht wachte sie auf und schmiegte sich mit ihrem ganzen Körper an Horst. Sie hat nicht recht gehabt, dachte sie glücklich, als sie sich in diesem Augenblick an eine alte Freundin erinnerte, die ihr während der schweren Zeit mit Olaf zur Seite gestanden war. Die hatte sie zu trösten versucht, indem sie ihr sagte: »Meine Liebe, die Summe allen Übels bleibt sich immer gleich.« Nein, das stimmte ganz und gar nicht. Es gab wohl schlimme, sogar sehr schlimme Zeiten. Aber irgendwann änderten sich die Verhältnisse, dann wurden aus schlimmen gute Zeiten. Man musste nur Geduld haben, und die Hoffnung durfte man nie aufgeben.