Über dieses Buch:
Zinos lebt ohne Schulabschluss in Hamburg-Altona, sein geliebter Bruder sitzt im Gefängnis, die Eltern kehren nach Griechenland zurück, und der erste richtige Sex ist vorbei, ehe er überhaupt begonnen hat. In ihrem Debüt erzählt Jasmin Ramadan eine irrwitzige Geschichte zwischen Coming of Age und Roadmovie: Die weiteren Stationen des genauso verfressenen wie ständig vom Pech in der Liebe verfolgten Helden sind die griechischen Inseln, ein Hamburger Bordell und schließlich die Karibikinsel Adios, wo er sich bereits im Paradies wähnt. Nach seiner Odyssee, die ihn beinahe das Leben kostet, beschließt Zinos, endlich erwachsen zu werden und ein Restaurant zu eröffnen – das Soul Kitchen.
„Dieser Roman ist das fehlende Puzzlestück meines Films. Sehr witzig, sehr traurig, sehr frivol.“ Fatih Akin
Über die Autorin:
Jasmin Ramadan, l974 geboren, lebt in Hamburg-Altona. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Ägypter. Sie studierte Germanistik und Philosophie und erhielt 2006 erhielt den Hamburger Förderpreis für Literatur. Soul Kitchen ist ihr erster Roman.
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Neuausgabe Mai 2013
Copyright © der Originalausgabe 2009 Blumenbar Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung und Titelbildabbildung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München
ISBN 978-3-95520-225-5
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Jasmin Ramadan
Soul Kitchen
Roman
Der Geschichte erster Teil –
das Buch vor dem Film
dotbooks.
Für Nadine
l975 – l997
Besonderen Dank an:
Philipp Baltus
Nils Kasiske
Heidi Ramadan
Claudia Schneider
Fatih & Adam
»Ein Mann, der um seine Existenz fürchtet, fickt nicht gut.«
Seit heute Mittag trank Zinos Kazantsakis nur heißes Wasser, mit dem Geschmack von Zitronenschale. Wenn er ein paar Kilo abnehmen oder seine Nerven beruhigen wollte, schüttete Zinos Unmengen davon in sich hinein. Udo Pavese hatte dieses Getränk einmal heißer Kanarienvogel genannt.
An Pavese hatte er schon lange nicht mehr gedacht. Bei ihm hatte Zinos einst kochen gelernt. Udo Paveses Vater stammte aus Turin, und dort hatte er dieses Getränk als Junge zum ersten Mal mit den Männern in den Cafés zu sich genommen.
Pavese stellte zuerst eine Glaskanne auf ein Stövchen, füllte sie mit kochendem Wasser, schälte eine Zitrone rund– herum, ohne abzusetzen, und ließ die Schale am Stück ins Wasser gleiten. Der Anblick der Schale – wie sie über der kleinen Flamme des Teelichtes im heißen Wasser trieb – entspannte Pavese. Und dieses beinahe geschmacklose Getränk vertrieb auch den quälend zügellosen Hunger, an dem Zinos so häufig litt.
Nun knurrte sein Magen wieder, und ihm war ein bisschen schwindelig. Vielleicht sollte er einen ordentlichen Joint rauchen. Dann wäre er vielleicht weniger wütend auf Nadine, die ihren Abschied feiern würde, um dann nach Shanghai zu ziehen. Zinos war nicht nach Feiern. Er war sicher, Nadine zu verlieren. Wie sollte man zusammen sein, wenn man nicht mal auf dem gleichen Kontinent lebte?
Bei der Eröffnung seines Restaurants vor ein paar Jahren hatte Zinos gehofft, dass seine Irrfahrt durchs Leben für immer zu Ende sei. Seine letzte Reise aber schien immer noch wie ein Fluch auf ihm zu lasten. Keinem Menschen hatte er erzählt, was in der Karibik wirklich passiert war.
Wie oft im Leben hatte er geglaubt, angekommen zu sein. Er hatte das Paradies gefunden – einen schöneren Ort als Adios kannte er nicht. Vielleicht wäre er jetzt aber auch nicht hier, wenn all das nicht passiert wäre. Er hätte das SOUL KITCHEN nicht eröffnet – und Nadine nicht getroffen. Sie war die erste Frau, die er liebte, die nicht narzisstisch, verlogen, labil, drogensüchtig, irre oder eine Nutte war. Jetzt aber würde sie abhauen. Vielleicht passten ihre Leben einfach nicht zusammen.
Er arbeitete, er frittierte, aß Frittiertes, dachte an das Finanzamt, kiffte, trank ein paar Bier und Ouzos, unterhielt sich mit Bekannten und Fremden, setzte sich ab und zu in die Sonne, fuhr mit seinem Auto rum, hörte mit Sokrates griechische Musik, bis er müde wurde, und schlief traumlos.
Das war sein Leben.
Er hatte sich immer gefragt, ob Nadine das reichte.
Mit ihr zu schlafen war immer gut gewesen, aber in letzter Zeit war es kaum noch dazu gekommen. Es gab nämlich ein paar Dinge, um die er sich jetzt kümmern musste. Seit Wochen musste er sich jetzt um Geldgeschichten kümmern.
Ein Mann, der um seine Existenz fürchtet, fickt nicht gut, aber ein Mann, der sich vor gar nichts mehr fürchtet, auch nicht. Das hatte sein großer Bruder Illias immer gepredigt, wie so vieles. Eine von Illias’ Lebensweisheiten – das könnte Zinos jetzt wenigstens zum Lachen bringen, aber sein Bruder war wieder mal im Knast.
Zinos atmete tief durch und schloss die Augen. In diesem Moment ertönte ein Schiffshorn, und schlagartig befiel ihn die altbekannte Melancholie. Am liebsten wollte er auf den nächsten Dampfer und einfach weg. Er würde Nadine niemals vergessen. So wie er auch alles andere nicht vergessen konnte. All die Rezepte, die ihn an vergangene Zeiten erinnerten, und all die Menschen, die untrennbar mit diesen verknüpft waren
REZEPT: HEISSER KANARIENVOGEL
MAN BRAUCHT
– eine hitzebeständige Glaskanne
– ein Stövchen, ein bis drei Teelichte
– ein kleines, scharfes Messer
– ein kleines Teeglas
– mindestens einen Liter frisch abgekochtes Wasser
– eine große Zitrone
– ein paar Stunden Zeit
ZUBEREITUNG
Zuerst ein Teelicht anzünden, in das Stövchen stellen, Wasser aufsetzen und die Zitrone heiß abwaschen. Das kochende Wasser in die Kanne gießen und diese auf das Stövchen stellen. Während man die Zitronenschale direkt in das Wasser hineinschält, aufpassen, dass sie nicht abreißt. Die nackte Zitrone in den Kühlschrank legen, denn sie verdirbt entblößt sehr schnell.
Man betrachtet die Schale in der Kanne, bis man vollkommen versunken ist. Dann hat der Aufguss genug gezogen. Die Zitronenschale nicht entfernen und den Aufguss über den Tag verteilt trinken. Man kann auch immer wieder heißes Wasser nachgießen. Ab und zu sollte man nach dem Teelicht sehen und es auswechseln, falls es erloschen ist. Wenn die Kanne leer ist, unbedingt noch mal mit geschlossenen Augen an der Zitronenschale riechen. Abends dann gut und reichlich essen.
»Verunsicherung ist der erste Schritt zur Erkenntnis.«
Seit Zinos zehn war, befürchtete er, nichts in seinem Leben würde sich je verändern. Sein Bruder Illias dagegen war nur zwei Jahre älter als er, hatte aber längst aufgehört, sich für die gemeinsame Carrerabahn zu interessieren. Zinos’ Wiederbelebungsversuche blieben vergeblich. Dabei war die Carrerabahn immer der beste Anlass für Kloppereien gewesen, die reinigend waren – und die brüderliche Gemeinschaft stärkten.
Statt wie früher gleich nach dem Aufwachen mit Zinos zu spielen – so lange, bis die Mutter drohte, das Frühstück den Armen auf der Straße zu bringen –, trainierte Illias ein paar Minuten mit einem Springseil, ehe er dann sofort das Haus verließ.
Das gemeinsame Zimmer der beiden war fast zwanzig Quadratmeter groß. Illias hatte schon mit sechs Jahren auf dem Bett bestanden, das der Tür zugewandt stand. Schon damals war er stets auf der Hut gewesen: Bei jedem Spiel mit den Actionpuppen musste Zinos die FBI-Typen spielen, die internationale Einsatztruppe, den dümmlichen Polizisten. Illias durfte immer auf der Flucht sein, und am Ende erledigte er Zinos’ Truppen mit einem einzigen vernichtenden Schlag.
Er hatte diese Rollenverteilung längst satt. Doch selbst ihre beiden Meerschweinchen, Rummenigge und Maradona, mussten die immergleiche Tour durch die olle Arieltonne machen. Zinos’ Meerschweinchen verblieb stets in der Tonne – weil Illias ihm mit einem Playmobil-Lkw den Weg abschnitt.
Maradona starb lange vor Rummenigge. Doch das blieb nur ein kurzer Triumph für Zinos. Nach einem Tag der Trauer adoptierte Illias einfach das Tier seines Bruders. Zinos musste eine Buntstiftzeichnung dreimal unterschreiben. Auf dem Blatt war ein stilisiertes Meerschweinchen zu sehen und daneben ein Pfeil, der auf ein großes, starkes Strichmännchen zeigte, das den Namen Illias trug.
Nicht, dass Illias ein ausgeprägtes Interesse am Malen und Zeichnen pflegte – nein, es war nur so, dass er große Probleme mit dem Schreiben hatte, die er auch bis zur vierten Klasse nicht löste. Viel mehr als seinen Namen konnte er aus Buchstaben nicht machen.
Die Eltern weigerten sich, Tests durchführen zu lassen, die wohl eine Legasthenie zutage gefördert hätten. Sie sprachen damals so gut wie kein Deutsch. Möglich, dass sie also einfach nicht verstanden, was das Anliegen der besorgten Lehrerin war. Auch möglich, dass sie in jeder Hinsicht besser zu wissen glaubten, was gut für ein Kind ist.
Die Mutter jedenfalls unterrichtete Illias schon früh in Trauerarbeit. Sie warf Maradona, immerhin in Geschenkpapier gewickelt, in den Müllcontainer im Hof. Zinos musste im Auftrag seines Bruders nach dem geblümten Päckchen suchen; seine Füße waren unter den Armen von Illias festgeklemmt, und so hing er vornüber im Müllcontainer. Als er das Päckchen hochzog, rutschte Maradona heraus. Illias sprang nun selbst in die Tonne, um die Leiche zu bergen.
Er hielt die Klinge seines Taschenmessers noch einmal vor das kleine Maul, um sich des Tierchens Ende zu versichern. Dann wurde Maradona im Steinpissoir des Spielplatzes verbrannt.
Es war an diesem Abend im Jahre l983, als Zinos seinen Bruder zum letzten Mal weinen sah.
Illias lernte auch auf der Hauptschule nicht Schreiben. Aber er lernte schnell, sich auf andere Weise deutlich auszudrücken. Nachdem er auf dem Schulhof alles erreicht hatte, suchte er sich ein neues Terrain.
Eine Weile spielte er Fußball, und er hatte einen Trainer, der etwas von ihm hielt. Bald aber arbeitete er lieber mit den Schiedsrichtern zusammen – und erkannte, dass es auch Karrieren ohne Schulabschluss gab.
Mit Zinos spielte er da schon lange nicht mehr. Sie teilten zwar noch ihr Zimmer, doch Illias nutzte es nur noch als eine Art begehbares Schließfach. Er befahl, das Zimmer immer abzuschließen. Und es war Zinos verboten, in die Kartons zu gucken, die überall herumlagen und sich türmten. Den Eltern verkündete Illias, in der Pubertät sei das eigene Zimmer die wichtigste Intimzone.
Zinos glaubte, er würde mit Ordnung, seinem Fleiß und der Tatsache, dass er sich Zeit mit dem Erwachsenwerden ließ, die Eltern über die ständige Abwesenheit des Bruders hinwegtrösten.
Nach wie vor gewährte dieser keine Einblicke in sein Treiben außer Haus. Eines Nachmittags, als Zinos wie immer gewissenhaft am Schreibtisch saß und seine Hausaufgaben erledigte, hörte er seinen Bruder schon im Flur zu jemandem sagen:
»Hier rein, Süße, meine Mutter lernst du wann anders kennen. Die hat die Hände voll Hack, und du hast nicht das Richtige an.«
Zinos drehte sich nicht um; erst als es auf dem Linoleum ein paar Mal klack, klack! machte, wandte er seinen Kopf und entdeckte etwas Großes, Schönes, Grelles, das stark duftete – Daniela.
Sie war wie ein Mädchen aus einer Bravo-Foto-Lovestory – in Farbe! Ihre Haare: blond, toupiert, voller Bändchen und Perlen, verdeckten ihre ganze linke Gesichtshälfte. Mit ihrem rechten Auge schaute sie kühl herab; es war metallic blau geschminkt. Ihre Lippen glänzten. Sie trug ein kurzes Kleid, das nur aus Tüll bestand. Lackpumps machten dieses angenehme Klack-klack- Geräusch.
Zinos sprach kein Wort mit ihr Trotzdem wurde sie seine erste große Liebe.
Einmal ließ sie ihren Walkman auf Illias’ Bett liegen. Zinos roch an dem Schaumstoff der Kopfhörer, setzte sie auf und drückte auf Play. Es erklang I want to be your man von Roger. Es wurde sofort sein Lieblingslied, und er fing beinahe an zu weinen.
Wie ein Süchtiger atmete er den Duft von Danielas Parfüm ein, während sie klack, klack! machte. Ihre Besuche bescherten Zinos endlich das, was alle anderen Jungs in seiner Vorstellung schon lange gehabt hatten: den Traum, aus dem man aufwacht, weil einem etwas passiert war. Er war zu der Zeit fast vierzehn und hatte schon befürchtet, nicht richtig zu funktionieren
Als er sich in dieser Angelegenheit einmal bei Illias erkundigt hatte, behauptete dieser, schon mit neun eine ganze Colaflasche vollgewichst zu haben, an nur einem Tag. Zinos hatte seitdem, mit einer Colaflasche in Reichweite, einige Male versucht, etwas herauszubekommen. Doch das Ergebnis war nichts weiter als ein wunder Pimmel – und ein Gefühl der Erniedrigung.
Mit Daniela aber ging dann alles ganz schnell. Zum ersten Mal verlor er das Interesse an Schulnoten. Und er wusste plötzlich: Ein Mann zu werden bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als seinem Körper und seinem Herzen ausgeliefert zu sein.
Er fragte sich, wann Illias wohl in der Pubertät gewesen sein mochte. Wahrscheinlich hatte er auch sie einfach nur besiegt. Außerdem war Illias ein Lügner. Niemals würde jemand alleine eine ganze Flasche mit Sperma füllen können. Er verkniff sich, seinen Bruder darauf hinzuweisen. Aber er fragte ihn seitdem nicht mehr um Rat.
Illias predigte trotzdem immerzu: »Wer keine Angst hat, kann nicht mutig sein!«
Und er sagte auch: »Wenn dir jemand schwul kommt, Zini, sag mir Bescheid, den brech’ ich ab!«
Eine Zeit lang erfuhr Zinos, wenn auch keinen Wachstums-, so doch einen Popularitätsschub, da es sich in der Schule herumgesprochen hatte, dass Illias sein Bruder war. Sogar von Thomas Neumanns Clique wurde er zum Skateboarden mitgenommen. Zinos hatte kein eigenes Board und konnte seine Eltern nicht davon überzeugen, ihm eins zu kaufen. Er hatte keine Ahnung, wie Illias davon Wind bekommen hatte. Eines Morgens aber wachte er mit einem Skateboard im Arm auf.
Zinos übte fleißig und wurde beinahe fester Bestandteil der Clique um Thomas Neumann, der in einer großen Altbauwohnung in der Wohlers-Allee lebte. Einmal, nach der Schule, hingen sie dort mit ein paar Jungs rum. Da stellte Thomas plötzlich eine Vase in die Mitte des Zimmers und ordnete an, dass um die Wette gewichst werden solle.
Wer verlor, musste Gras kaufen gehen.
In den nächsten Tagen wurde Zinos in der Schule ignoriert, und ein unbeliebtes Mädchen steckte ihm, dass Thomas rumerzählte, Zinos habe einen Schwanz, so klein wie ein Radiergummi und habe deshalb nicht vor den anderen wichsen wollen.
Zinos erzählte Illias davon. Der sprang auf und brüllte: »Ich hab dir doch gesagt – wenn dir jemand schwul kommt, sollst du Bescheid sagen! Dein Ding geht niemanden was an, klar? Und selbst wenn du gar keins hättest oder zwei Säcke – das muss keiner wissen!«
»Aber ich habe einen Schwanz, der ist okay, ehrlich«, murmelte Zinos, ohne zu wissen, ob das stimmte.
Später fiel ihm auf, dass er seinen Bruder zum letzten Mal als kleines Kind nackt gesehen hatte. Warum hatte Illias seinen Schwanz seitdem versteckt? Es passte nicht zu ihm. Plötzlich war alles klar: Sein Bruder musste mindestens zwei Säcke haben. Denn er war der größte Bruder, den man haben konnte.
Irgendjemand schlug Thomas Neumann zusammen und trat ihm so heftig in die Eier, dass er ins Krankenhaus musste.
Zinos wurde allmählich respektiert, hatte aber noch immer keine richtigen Freunde. Das Skateboardfahren ersetzte er durch Essen. Besonders groß wurde sein Appetit, als Illias eines Tages plötzlich verhaftet wurde. Polizisten kamen in ihr Zimmer und beschlagnahmten sämtliche Kartons.
Zinos hatte nie darüber nachgedacht, dass das, was sein Bruder trieb, so verboten sein könnte, dass man dafür ins Gefängnis kommen konnte. Man konnte. Die Sachlage war eindeutig und die Verhandlung schnell beendet.
Nun hatte Zinos ein eigenes Zimmer. Seit es ein begehbares Schließfach gewesen war, hatte ihre Mutter dort nicht mehr geputzt. Nun saugte sie exzessiv Staub, rückte alle Möbel beiseite, wischte stundenlang und putzte das Fenster, bis sie einen Krampf im Arm bekam. Dazu sang sie den ganzen Tag theatralische griechische Lieder. Sie wusch die Gardinen bei fünfundneunzig Grad, bügelte, zog die Betten ab, hängte die Matratzen aus dem Fenster und besprühte alles, was ihr in die Hände fiel, mit dem Raumspray Grüner Apfel.
Von nun an schlief sie selber häufig in Illias’ Bett – weil der Vater seit der Verurteilung seines ältesten Sohnes im Schlaf vor sich hin schimpfte; manchmal brüllte er sogar.
Da Zinos immerhin schon fast siebzehn war, wäre dies eigentlich der Zeitpunkt gewesen, um sich von seiner Mutter zu lösen. Stattdessen übernachteten sie nun beide, so wie früher in der ersten Wohnung der Familie, in einem Zimmer. Zu Zinos’ Erstaunen machte ihn das glücklich. Nach wenigen Wochen aber zog sie wieder zurück ins Ehebett, denn der Vater murmelte nur noch ab und zu – und hörte sofort damit auf, wenn die Mutter ihm die Wange streichelte.
Zinos schätzte seine Mutter und ganz besonders ihre Küche, mit all den köstlichen Kohlehydraten und Fetten. Sie war eine Meisterin der Aufläufe. Gekonnt variierte sie Hack, Nudeln, Kartoffeln, Gemüse, Tomaten-, Käse- und Sahnesoße. Zinos wärmte sich bis zu dreimal täglich etwas auf und aß davon gerne nachts und vor der Schule auch kalt: aus der Tupperwaredose im Kühlschrank. Ihr griechisches Essen machte nicht einfach nur satt, es stellte ruhig.
So dämmerte Zinos ein paar Monate vor sich hin – bis er oben auf dem Einbauschrank eine Tüte mit einem nagelneuen Atari-Computer entdeckte. Die Polizei musste sie übersehen haben, und seine Mutter hatte stoisch drum herum gewischt. Der Atari wurde Zinos bester Freund. Aus den Pickeln im Gesicht und auf dem Rücken war Akne geworden. Der vom Doktor versprochene Wachstumsschub kam tatsächlich, und mit ihm kam auch das Testosteron, und zwar im Überfluss.
Er war zu einem wabbeligen Antityp geworden, der nicht Pickel, sondern Abszesse im Gesicht hatte, dessen lange Haare nachfetteten, kaum waren sie nach dem Waschen getrocknet, und dessen größte Freude es war, sich schon vor der Schule Bifteki, Pastitsio und Moussaka in den Mund zu stopfen und alles mit Erdbeer-Kaba hinunterzuspülen.
Zinos rechnete nicht mehr damit, dass Mädchen je an ihm interessiert sein könnten. Und trotz des Wachstumsschubs war bei einseinundsiebzig Schluss. Zwei Mädchen in seiner Klasse waren noch immer größer als er.
Ein wenig Hoffnung schöpfte er dank Prince, mit dem er neben einer geringen Körpergröße auch den Frauengeschmack teilte. Er träumte von all den Frauen, mit denen Prince sich umgab, und verlor sich stundenlang in dessen Fickballaden. Und die Frauen waren sinnlich und versaut, dabei aber romantisch und treu. Am liebsten machte Zinos es mit Apollonia zu den Klängen von International Lover, Adore, Pink Cashmere und Darling Nikki.
Wenn er aus der feuchtheißen Geborgenheit Apollonias in sein Zimmer zurückkehrte, überfiel ihn manchmal Frustration – und Scham. Und obwohl er noch immer den größten Halt in der ordentlichen Schularbeit fand, merkte er, dass diese Art von Streben, dessen nächster Schritt das beste Abitur wäre, ihn längst nicht mehr glücklich machte.
Er bat seinen Philosophielehrer, der auch der Vertrauenslehrer der Schule war, um Rat.
Herr Brigge saß unter einer surrenden Hundert-Watt-Birne und riet Zinos, sich doch einmal etwas zu trauen. Zum Beispiel, um die Fantasie anzuregen, eine Aufgabe einmal nicht perfekt zu erfüllen! Man dürfe sich nicht immer fragen, was andere von einem erwarteten! Begeistert reckte Herr Brigge seine Faust in die Höhe, als hätte er in einer olympischen Disziplin den Weltrekord aufgestellt.
Was andere von ihm dachten, war tatsächlich etwas, das Zinos ziemlich verunsicherte. Doch was war, wenn er nur noch machte, was er wollte, ohne dabei an die anderen zu denken – und dann ging alles schief? Herr Brigge schien ganz begeistert darüber zu sein, dass Zinos voller Ängste und Zweifel steckte. Er legte ihm die Hände auf die Schultern und sagte:
»Verunsicherung ist der erste Schritt zur Erkenntnis.« »Aber was für eine Erkenntnis? Erkenntnis zu was denn, Herr Brigge?«, rief Zinos aufgeregt.
»Die Erkenntnis darüber, was du willst – und was nicht. Nur dieses Wissen führt dich sicher durch dein Leben. Denn das Leben ist eine Komposition aller Entscheidungen, die man trifft.«
Nichts war je einleuchtender gewesen als Herrn Brigges Worte in diesem Moment. Und wie auf Kommando brannte die Glühbirne über den Köpfen der beiden durch.
Zinos entschied schon bei der nächsten Schulaufgabe umzusetzen, was Herr Brigge ihm geraten hatte. Seine Unsicherheit wies ihm den Weg. Jetzt musste er ihr nicht mehr, ja, er durfte ihr nicht mehr ausweichen.
So wie Illias gesagt hatte: »Wer keine Angst hat, kann nicht mutig sein!«
In Geschichte bekamen sie die Hausaufgabe, die wichtigsten Ereignisse des eigenen Geburtsjahres aufzuschreiben. Zinos entschied alles Politisch-Historische beiseitezulassen und schrieb in seinem Aufsatz über die Gründung von AC/DC und über den Vogel des Jahres l973, der der Eisvogel gewesen war. Er las seinen Aufsatz laut vor, und zum ersten Mal brachte er seine Mitschüler zum Lachen. Er bekam sogar Applaus. Der Geschichtslehrerin entglitt zwar ein Lächeln, trotzdem gab sie ihm eine Fünf.
Es war die schlechteste Note, die er je bekommen hatte. Trotzdem hatte er keine Angst – sondern war bloß verunsichert. Zinos war bereit. Wofür, das wusste er zwar noch nicht, aber das machte ja nichts, denn Verunsicherung war ja der Wegweiser!
Immer wieder hörte er Herrn Brigges Worte: »Nur wenn du deine Unsicherheiten erkennst, erkennst du dich selbst!«
Unter all dem Speck und der Akne lauerte ein hübsches Bürschchen. Genau wie Illias trotz allem klug sein konnte, konnte Zinos auch ein gut aussehender Typ sein. Er beschloss, eine Mischung aus Prince und Herrn Brigge zu werden.
Doch Zinos’ neue Kühnheit wurde bald erheblich gestört.
An seinem achtzehnten Geburtstag weckten seine Eltern ihn frühmorgens. Sie strahlten so, als hätten sie selbst Geburtstag oder gerade eine Marienerscheinung gehabt. Zinos bekam ein Stück kalten Nudelauflauf, Mokka und Erdbeer-Kaba ans Bett. Dann schoben sie ihn aus der Wohnung und in den Volvo. Die Fahrt ging raus aus Altona in Richtung Innenstadt.
Sie hielten bei der Musikhalle, liefen ein Stück und blieben schließlich in der Nähe des Gänsemarktes vor einem schäbigen Altbau stehen. Sein Vater zückte einen Schlüssel. Ganz oben angekommen, schloss er die Tür zu einer wirklich kleinen Wohnung auf. Es war nur ein Raum mit Miniküche, in deren Ecke auch noch eine Duschkabine untergebracht war. Es gab kein Bett, aber Zinos’ Vater zog und rüttelte plötzlich an dem riesigen gemusterten Sofa, wobei er die ganze Zeit über »Warte, warte, warte!« rief. Er war erst wieder still, als sich das Bettsofa in seiner ganzen multifunktionalen Pracht entfaltet hatte.
Zinos wurde wieder nach draußen gezerrt, wo seine Eltern auf das mit Geschenkpapier beklebte Klingelschild deuteten und das Papier abrissen. Da stand es: ZINOS KAZANTSAKIS. Shit. Zinos wollte doch gar nicht ausziehen! Es war verstörend, wie seine Eltern sich freuten. Vor allem, als sie mit der ganzen Wahrheit rausrückten. Die Eigentumswohnung war nämlich eher ein Geschenk an sie selber – an ihre Freiheit. Sie hatten die Tickets für die Rückkehr nach Griechenland längst gekauft. Zinos protestierte. Er argumentierte, sie könnten jetzt nicht abhauen, sonst entginge ihnen die volle Rente. Doch Zinos’ Vater, der noch immer das Deutsch eines Vorbeiziehenden sprach, brachte es mit seinem ersten und letzten Satz in korrektem Deutsch auf den Punkt:
»Besser arm an Land als reich auf See!«
Schon in zwei Wochen würden sie sich für immer aus Deutschland verabschieden. Zinos flehte, sie sollten ihn mitnehmen, aber seine Mutter beschwor ihn zu bleiben: wegen der Schule, wegen des Studiums. Er solle Arzt werden und dann nach Griechenland kommen, die Praxis des alten Jorgos übernehmen, dessen Sohn ja zum Leid des ganzen Dorfes lieber Schlachter geworden sei. Zinos rief, er wolle auch lieber Schlachter werden. Oder Rennfahrer, Korbflechter, Vogelschützer. Aber er werde nicht Medizin studieren, nur weil der junge Jorgos mache, was er wolle. Oh, nein! Er wolle nicht die Verantwortung für die Gesundheit von ein paar Hundert Griechen übernehmen.
Zinos warf seine Eltern aus der Wohnung.
Nach ein paar Minuten ließ er sie wieder rein, denn sie hatten geklingelt.
Den Rest des Tages verbrachten sie gemeinsam in Zinos’ neuem Reich. Sie redeten kaum. Seine Mutter machte Nudelauflauf – den besten, den sie je gemacht hatte. Zinos aß, weinte – und beschloss, sich erst dann wieder satt zu essen, wenn er ein glücklicher Mensch geworden war. Er musste irgendetwas unternehmen, um nicht vor Einsamkeit unterzugehen. In dieser Situation übergewichtig zu sein, war sicher kein Vorteil. Der Drang, selbst Geld zu verdienen, wuchs mit jedem Kilo, das er verlor. Und von dem Startgeld, das seine Eltern ihm gegeben hatten, war nur noch ein einsames Fünf-Mark-Stück übrig. Zinos gingen bald nur noch halbe Gedanken durch den Kopf, die sich schließlich auf einen einzigen Satz reduzierten:
»Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.«
Er wusste nicht so recht, was das bedeutete. Aber er brach die Schule ab, um sich einen Job zu suchen.
REZEPT: NUDELAUFLAUF-PASTITSIO:
MAN BRAUCHT
– fünfhundert Gramm Makkaroni
– ein Kilo Hack
– hundertfünfzig Gramm Kefalotiri-Käse oder Parmesan
– drei Eier
– fünfzig Gramm Butter
– Semmelbrösel
– eine große Zwiebel
– eine große Dose Tomaten
– einen Esslöffel Tomatenmark
– ein Bund Petersilie
– zehn Esslöffel Olivenöl
FÜR DIE SOSSE
– sechs Esslöffel Butter
– sechs Esslöffel Mehl
– einen Liter Milch
– Salz, Pfeffer
– Muskatnuss
– drei Eier
ZUBEREITUNG
Zwiebeln, Tomaten und Petersilie hacken. Das Öl in einem Topf erhitzen, Zwiebeln und Hack zusammen anbraten. Petersilie, Tomaten, den Saft und das Mark dazu, salzen, pfeffern, rühren. Deckel drauf und etwa eine halbe Stunde einkochen lassen. Beiseite stellen, damit das Ganze abkühlt.
Käse reiben, ein Viertel davon mit den Eiern verrühren, in den Topf geben und gut umrühren.
Die Makkaroni nicht zu weich kochen, die Butter und den Rest Käse daruntermischen.
Den Backofen auf zweihundert Grad vorheizen.
In einem Topf die Butter für die Soße zerlassen, Mehl mit einem Schneebesen nach und nach unterrühren und anschwitzen. Bei geringer Temperatur langsam die Milch zugeben und köcheln lassen. Wenn die Soße sämig ist, den Topf vom Herd nehmen, würzen und die verquirlten Eier drunterrühren.
Eine Auflaufform einfetten und mit Semmelbröseln ausstreuen. Die Hälfte der Makkaroni verteilen, dann das Hack mit den anderen Zutaten darauf verteilen und mit den restlichen Makkaroni bedecken. Die Soße obendrauf und für ungefähr vierzig Minuten im Ofen garen lassen, auf jeden Fall so lange, bis die Oberfläche braun ist.
Dazu schmeckt jedes Getränk. Zum Beispiel Bier, Rotwein, Fruchtsaft, Spezi, Kakao und Erdbeermilch. Ouzo, Raki, Wodka oder Ähnliches besser danach trinken. Wenn man sich gern besonders lange matt und satt fühlen will, sollte man etwas aus der ersten Reihe dazu trinken und auf den Schnaps verzichten. Den Nudelauflauf unbedingt auch lauwarm probieren; dabei fernsehen oder folkloristische Musik hören! Und morgens sollte man ihn auch einmal gleich nach dem Aufstehen probieren, nachdem er in Alu- oder Frischhaltefolie über Nacht im Kühlschrank gestanden hat.
»Dein Schiff geht sogar im Hafen unter.«
Bevor er sich weiteren Gedanken über einen Arbeitsplatz hingab, erwog Zinos den Verkauf von Dingen aus seinem Privatbesitz. Am einträglichsten erschien ihm seine Plattensammlung. Im Gegensatz zu Illias war Zinos immer gut mit seinen LPs umgegangen. Er hatte sie stets wieder in die Schutzhülle gesteckt und möglichst selten gehört. Trotzdem waren Illias’ Platten begehrter – ausnahmslos amerikanische Hip-Hop-Alben, mit denen er seine Jugend beschallt hatte.
Zinos’ einzige musikalisch wertvolleren LPs – von Prince und Michael Jackson – waren alle noch bei World of Music erhältlich. Immerhin nahm Zinos genug Geld ein, um sich einen Großeinkauf im Supermarkt leisten zu können. Die Carrerabahn wurde er dann mit ein paar anderen Sachen bei einem Hallenflohmarkt los. Nachdem Zinos schließlich auch seinen geliebten Ghettoblaster – dessen zweites Kassettendeck nicht mehr zuging – viel zu billig an ein paar Dreizehnjährige am Jungfernstieg verkauft hatte, nur um sich Burger und Pommes leisten zu können, entschied er, dass er nicht zum Händler geboren war. Doch ihm fehlte die Inspiration für Neues.
Er schlich sich am Gänsemarkt durch den Notausgang ins Ufa-Kino. Die Nachmittagsvorstellung war gerade zu Ende, und ein paar Senioren, die sich in den fensterlosen Gängen verirrt hatten, kamen wie so oft durch die Notausgänge an der Rückseite des Gebäudes heraus. Zinos hielt ihnen höflich die Tür auf, um dann selbst hineinzuschlüpfen. Er kannte die verwinkelten, mit wild gemusterten Tapeten verkleideten Gänge des Kinos gut. Immer, wenn er hier mit Illias gewesen war, hatten sie sich von einem Kinderfilm in einen ab sechzehn oder achtzehn geschlichen und jeden Winkel des Gebäudes erkundet.
Heute Nachmittag war es Zinos ziemlich egal, wo er landen würde. Er betrat den ersten Saal, dessen Tür offen stand. War man erst einmal drin, wurde man nicht mehr kontrolliert. Ganze drei Besucher saßen versetzt hintereinander.
Es wurde dunkel. Der Vorhang mit psychedelischem Muster öffnete sich; dann kam die erste Werbung: Ein verschwitzter dunkelhaariger Typ in der Wüste nähert sich einer überdimensionalen Plakatwand, auf der eine riesige Colaflasche zu sehen ist. Er greift nach der Flasche, trinkt sie aus und fühlt sich danach cool und stark.
Zinos stand auf und lief in den nächsten Saal – um die gleiche Werbung noch mal zu sehen. Insgesamt schaffte er es an diesem Nachmittag, viermal den Typen in der Wüste zu sehen, der bloß einen Schritt zurücktritt und damit seine Perspektive ändert, um zugreifen zu können. Diese Werbung sendete Zinos eine konkrete Botschaft über das Leben, so wie es sonst nur Illias vermochte.
Wie damals, als Illias ihn über die Liebe aufklärte: »Viele kleine Lieben machen dich immun gegen die eine große Liebe, Zini. Im Leben geht es immer um Geld oder Leben, und eine Frau will beides von dir. Also darf die Muschi nie die Macht über dich bekommen.«
Die Colawerbung konnte nur bedeuten, dass Zinos Abstand zu seinem Schmerz bekommen musste, um zuzugreifen, das Leben packen und genießen zu können.
Als Erstes musste er sich also einen Job nehmen, damit er endlich mal durch die Vordertür hereinkommen konnte – nicht nur im Kino. Er musste Geld verdienen. Es war an der Zeit, sich selbst zu verkaufen, das machten doch fast alle Menschen; so schlimm konnte es also nicht sein. Seine Arbeitskraft würde er nicht vermissen – jedenfalls nicht so, wie seine Räuber Hotzenplotz-Platte. Es war seine Lieblingsplatte gewesen, und sie hatte auch das meiste Geld gebracht. Er war danach so traurig, dass er sich einen Tag später Räuber Hotzenplotz als Kassette kaufte, anstatt etwas zu essen. Und jetzt hatte er nicht mal mehr einen Kassettenrekorder. So konnte es unmöglich weitergehen.
Zinos Kazantsakis verließ das Kino durch die Vordertür. Er machte die Augen zu und beschloss, in die Richtung zu gehen, aus der er das nächste Auto kommen hören würde. Am ersten Ort, der in dieser Richtung auf seiner Straßenseite lag und an dem man Geld verdienen konnte, würde er nach Arbeit fragen.
Ein wenig unentschlossen stand Zinos kurz darauf vor einem winzigen Laden, über dessen Schaufenster stand: EI, EI – OVALES RUND UMS EI. In der Mitte des Schaufensters waren Eierbecher zu einer Pyramide aufgetürmt, daneben lag ein ovales Kochbuch. Alle möglichen mit Eimotiven verzierten Dinge standen auf einem Podest. Zinos spazierte weiter, vorbei an einer langen Häuserfront ohne Eingang. Nicht weit entfernt lag der Bahnhof, und Zinos befürchtete bereits, in der McDonald’s-Fillale zu enden. Kurzfristig gestattete er sich drei weitere Verweigerungen – da stieg ihm der Geruch von etwas Schmackhaftem in die Nase. Zinos merkte, wie hungrig er war. Es roch hier auf der Straße so herrlich nach gebratenem Fleisch, dass Zinos sich ein riesiges Stück frisches Weißbrot vorstellte, das er in eine Pfanne in öligen Bratensatz drücken würde. Er wollte essen, bis er nicht mehr sprechen – und nicht mehr denken konnte.
Über dem Eingang des Restaurants prangte ein Schild mit geschwungener Leuchtschrift: PAVESES PIZZA PALAST. Genau in dem Moment, als Zinos’ Blick darauf fiel, fing es zu blinken an. Er trat ans Fenster, ein kurviges Mädchen versah die vielen kleinen Tische mit rot-weiß karierten Deckchen, wie Zinos sie aus Bud-Spencer-Filmen kannte. Als der Vater damals einen Videorekorder gekauft hatte, wurden alle in der Familie gleichermaßen abhängig davon.
Zinos stand eine Weile einfach nur da und wollte das schöne runde Mädchen nicht stören. Sie strich die Deckchen auf den Tischen glatt, als würden die ersten Gäste frühestens morgen kommen. Das Mädchen kam plötzlich auf den Eingang zu und sperrte drei Schlösser auf. Als die Tür sich öffnete, sah sie Zinos an, ohne eine Miene zu verziehen.
»Kann ich was für dich tun?«
Ihr Gesicht war aus der Nähe noch schöner.»Ja, äh … Ich wollte nur fragen, ob ihr eine Aushilfe braucht oder so.«
»Oder so?«, meinte sie und zog die Augenbrauen hoch. Zinos fragte sich, um wie viele Jahre sie älter war als er.
»Arbeit eben. Egal, was.«
Er zuckte ein bisschen zu oft mit den Schultern und kratzte sich am Bein, obwohl es gar nicht juckte.
»Hast du schon mal Gastro gemacht?«, fragte sie etwas netter.
»Ähm, ich hab meiner Mutter schon in der Küche ausgeholfen
Sie lachte.
»Na dann. Der Chef ist hinten, komm rein und warte kurz, ich guck mal, ob er Zeit hat. Wir könnten wirklich jemanden brauchen. Ab Winter ist wieder mehr los, wegen Kino, und weil die anderen ihre Terrassen schließen.«
»Ich brauche einfach nur dringend einen Job – egal, was.« »Klingt gut. Willst du was trinken?«
»Gerne, ’ne kalte Cola aus der Flasche.«
Sie bat ihn herein und stellte ihm eine Flasche auf einen Tisch, der etwas abseits stand und nicht eingedeckt war.
»Das ist der Personaltisch, du kannst dich ruhig setzen.«
»Dann sieht das wohl gut für mich aus.«
Sie verzog keine Miene und sagte:
»Vielleicht. Ich bin übrigens Bo.«
»Wie Bo Derek?«
»Nee, wie Bogdana, ich bin Jugo.«
»Aha, tut mir leid.«
»Wieso?«
»Na ja, ist doch Krieg bei euch.«
»Ja, aber damit hab ich doch nichts zu tun. Wir haben unser Ferienhaus in Kroatien; jetzt können wir natürlich nicht mehr hin. Ich find’s beschissen, ich war diesen Sommer in Griechenland. Last Minute, all inclusive. Ich war drei Wochen besoffen und fast nur nachts am Strand.«
»Ich bin Grieche. Zinos übrigens.«
»Ich dachte, ihr heißt alle Jannis und Jorgos. Ich hab schon mit drei Jannis was gehabt! Beachparty, du verstehst ...
Zinos wusste nicht, was er dazu sagen sollte.
Illias hatte ihn vor solchen Frauen immer gewarnt. Bogdana verschwand nach hinten, und Zinos stellte sich ihren nackten Hintern unter der engen roten Schürze vor. Nach ein paar Minuten kam sie zurück, hinter ihr ein Typ, der tatsächlich ein bisschen so aussah wie der Typ aus der Colawerbung in der Wüste. Nur ungefähr zwanzig Jahre älter.
»Du willst also bei uns arbeiten, Zinos?«
Er gab Zinos nicht die Hand und setzte sich an den Tisch. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort:
»Warum hier?«
»Ich wohne hier in der Nähe.«
»Das ist schon mal gut. Bist du zeitlich gebunden, oder kannst du auch mal spontan einspringen?«
»Ich kann immer!«, sagte Zinos begeistert – und eine Spur zu laut.
»Warum? Studierst du nicht?«
»Nee.«
»Machst du was anderes?«
»Was denn anderes?«
»Was weiß ich – Schauspieler, Gitarrist oder so ein Quatsch! Also, was sind deine Interessen?«
»Ich hab grad keine Interessen – außer hier zu arbeiten.« »Willst du – vielleicht Koch werden?«
»Ja, warum nicht!«
Zinos fand sofort, dass das eine gute Idee war.
»Hey!, Vorsicht! Ich bin nicht der Scheißberufsberater. Ich bin bloß Udo.«
»Sind Sie kein Italiener?«
»Nur halb. Mutter ist deutsch, Papa aus Turin. Ich bin Udo Pavese. Deswegen heißt der Laden ja auch so.«
»Wie?«
»Na, mein Palast! Paveses Pizza-Palast! Kannst du lesen? Mir egal. Hauptsache, du kannst hören. Du kannst morgen früh vorbeikommen, dann zeig ich dir alles. Du arbeitest richtig mit auf Probe beim Mittagstisch, da ist in der Küche genug los, um zu sehen, ob du ’ne Heulsuse bist oder nicht. Du kannst doch Salat waschen und auf Tellern verteilen? Zu jedem Essen gibt’s hier Salat. Dressing machen wir mittwochs; der Eimer reicht die Woche. Richtiges Essen gibt’s hier nur hinter den Kulissen. Unser Publikum will Pizza und Pasta nach Nummern und Salat in Streifen. Wer zahlt, kriegt seine Wünsche erfüllt, und Musik gibt’s aus den Charts, dann bleiben die Leute länger und saufen weiter. Gute Musik läuft hier nur nach Feierabend! Magst du Innereien?«
Bo, die direkt hinter Udo stand, nickte mehrmals und hielt den Daumen hoch.
Zinos nickte und hielt ebenso den Daumen hoch.
»Auf jeden Fall, Leber und so.«
»Leber ist was für Anfänger.«
»Klar, ich esse alles, Herz, Magen, Darm, und besonders gern Blinddarm.«
Udo grinste, dann lachte er laut, tätschelte Zinos die Wange, stand auf und ging in die Küche. Kurze Zeit später kehrte er mit einem Teller voller Brotscheiben zurück, die mit einer braunen Paste bestrichen waren.
»Crostini di Fegato! Gutes mit Leber! Iss, mein Junge.«
Zinos war hungrig, also zerbrach er sich nicht den Kopf. Er begann zu essen, und es schmeckte ihm sehr.
Pavese hob die Colaflasche an und sagte: »Was soll das hier?«
Bo zog ihm die Flasche aus der Hand und brachte Zinos ein Glas Rotwein. Sie hatte den besten großen Hintern. Ihn nur anzusehen ließ alles, was man gerade aß, nur noch köstlicher werden.
Dann strömten die ersten Gäste ins Lokal. Die Bedienungen liefen flink zwischen den Tischen umher, trugen Unmengen von Tellern, dazu lief Dance-Pop, irgendwas von Snap. Pavese war mit dem leeren Teller in der Küche verschwunden. Niemand verabschiedete sich von Zinos. Er wollte noch einen Schluck Wein trinken, da riss ihm Bo den Tisch fast unter dem Glas weg.
»Tut mir leid, den brauchen wir, und deinen Stuhl brauchen wir auch. Bis morgen!«
Bo war mindestens fünf Jahre älter als er. Wahrscheinlich sogar schon fast dreißig. Er würde hart arbeiten. Zu Hause legte er sich sofort ins Bett und hörte noch ein bisschen Musik aus dem Radiowecker. Zum ersten Mal freute er sich über Rhythm is a Dancer von Snap. Bo lief dazu mit ihrem großen Hintern um die Tische und zwinkerte ihm zu. Zufrieden schlief er ein und wurde kurz darauf von einem Lied geweckt, das aus der Wohnung seines Nachbarn dröhnte: Ice Ice Baby von Vanilla Ice. Dieser Nachbar tanzte anscheinend wild dazu herum. Um drei Uhrmorgens. Als dann auch noch We want some Pussy von 2 Live Crew und die ersten Töne von Me, so horny erklangen, stand Zinos in Boxershorts vor der Nachbartür und klingelte Sturm, bis ein Typ in Unterhose öffnete.
»Ey, ich habe schon geschlafen!«
Der Typ fuhr sich durch die Haare und streckte Zinos die Hand entgegen.
»Olli erstmal.«
Ollis Hand klebte.
»Ich bin Zinos – und ich will jetzt schlafen.«
Zinos hielt die Hand weg von seinem Körper. Einen Stock tiefer forderte eine Frau lauthals brüllend ihre Ruhe.
»Ich fang morgen früh einen neuen Job an, ich muss jetzt pennen«, sagte Zinos.
»Ey, sag das doch gleich. Was für einen Job denn?«
»In der Küche im Pizzaladen, hier um die Ecke.«
»Bei Udo?«
»Genau.«
»Dann sind wir Kollegen. Ich mach da am Wochenende Bar.«
»Cool, dann kenn ich schon drei, die da arbeiten.«
»Wen denn noch?«
»Bo.«
»Pass bloß auf. Die ist gefährlich.«
»Warum das denn?«, fragte Zinos.
»Also, die würde ich nicht mal mit einem Strahlenschutzanzug anfassen. Aber Bo macht den besten Service, sie macht bessere Cocktails als ich. Und sie kann sogar mit Innereien kochen. Udo hat’s ja damit. Musstest du schon seine Crostini di Fegato probieren?«