Cover

Über dieses Buch:

Jung, schön, tot. Drei Frauen hat ein eiskalter Killer entführt, gefoltert und ermordet. Das nächste Opfer befindet sich schon in seiner Gewalt. Den Ermittlern fehlt jede Spur. Immer ist ihnen das mörderische Genie einen Schritt voraus – und dann wendet er sich direkt an sie. Er ist bereit, sein Treiben zu beenden, doch er verlangt einen hohen Preis. Die Polizistin Storm Harper soll sich ihm ausliefern, um sein finales und blutiges Meisterstück zu werden. Schnell mehren sich Stimmen, die fordern: Es ist besser, ein einzelnes Opfer zu bringen, als das Leben vieler zu gefährden. Für Storm beginnt ein atemloser Wettlauf mit der Zeit …

Sehr spannend, sehr abgründig, sehr Wulff – der neue Thriller, der Sie das Fürchten lehren wird.

Über die Autorin:

Laura Wulff ist das Pseudonym der bekannten deutschen Autorin Sandra Henke, die in der Nähe von Köln lebt und arbeitet. Obwohl sie das Gelübde »Bis dass der Tod euch scheidet« ernst nimmt, hofft sie, dass ihr Name trotzdem nie in einer Ermittlungsakte der Kriminalpolizei auftauchen wird. Sie trinkt gerne ein Glas blutroten Wein, findet, dass Neid die Seele vergiftet, und könnte nicht für Schuhe morden, wohl aber für ein gutes Buch.

Laura Wulff veröffentlichte bei dotbooks bereits die Thriller »Leiden sollst du« und »Nr. 13«.

Die Website der Autorin: www.sandrahenke.de

Die Autorin im Internet: www.facebook.com/sandra.henke.autorin

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Originalausgabe Juni 2013

Copyright © 2013 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Christina Seitz

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de, unter Verwendung von Bildmotiven von photocase/foryourimage und Thinkstockphoto/Hemera

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95520-271-2

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Laura Wulff

OPFERE DICH

Thriller

dotbooks.

A dying man needs to die

as a sleepy man needs to sleep,

and there comes a time when it is

wrong, as well as useless, to resist.

Stewart Alsop

(1914–1974)

Ein sterbender Mensch muss sterben

genauso wie ein müder Mensch schlafen muss,

und es kommt ein Zeitpunkt, an dem es

falsch und ebenso sinnlos ist, sich dem zu widersetzen.

„Der Tod als Erlösung.“ Storm erinnerte sich an seine Worte: „Manchmal breche ich ab, bevor ich komme, mache eine Pause und gebe ihr etwas zu trinken. Wenn wir beide uns erholt haben, fange ich von vorne an.“ Auf einmal erkannte sie die Wahrheit: „Die Zärtlichkeit gehört mit zu seinem Spiel. Er macht den Frauen Hoffnung, indem er freundlich ist. Sie denken dann, dass der Täter eine nette Seite hat und dass er sie vielleicht, ja, vielleicht schonen wird, nur sie, ausgerechnet sie. Aber genau das Gefühl braucht er, und er würde sie niemals gehen lassen. Der Mord ist schließlich das große Finale. Nur durch ihn erhält der Killer die Befriedigung, auf die sein Spiel abzielt.“ Wie Sex und Orgasmus.

Durch ihre Erklärung war das Soko-Team einen Moment abgelenkt gewesen. Nun blickten alle wieder zur Leinwand hin. Erstaunt riss Storm ihren Mund auf. Malcolm neigte sich nach vorne, als würden die paar Zentimeter, die er nun näher am Bild war, ihn schärfer sehen lassen.

Der Killer hatte weitere Buchstaben in Megans Haut geritzt. Sein Werk war nun vollendet. Er legte den Spieß in eine Nierenschale aus Edelstahl und verschwand kurz aus dem Bild. Je zwei Buchstaben verunstalteten ihren Busen. Zwischen den Brüsten prangte ein blutiger Kreis. Megan hob den Kopf, um zu sehen, was der Fremde mit ihr angestellt hatte. Er zeichnete den Kreis mit dem Zeigefinger nach und strich das Blut auf ihre Lippen. Entsetzt zog sie ihren Kopf zurück, wobei sie mit dem Hinterkopf auf den Seziertisch knallte.

„Da steht STORM. Verdammt, er hat ihr deinen Namen eingeritzt.“ Benhurst schlug die Hand auf seinen Mund und errötete, weil er sich erst jetzt der Tragweite bewusst wurde.

„Glaub jetzt nicht, dass er Megan wegen dir foltert“, sagte Malcolm eindringlich und drehte sich zu Storm um. „Das hätte er sowieso getan. Das sind nur Psychospielchen. Er macht Druck.“

Stumm nickte Storm. Ihr war heiß und kalt zugleich. Sie fühlte sich elend. Noch elender als am Morgen nach den paar Stunden Schlaf in der Zelle. Lass das alles nicht an dich ran, redete sie sich gut zu, aber sie wusste, dass ihr die Aufzeichnung längst unter die Haut gegangen war. Die arme Megan Cropps! Sie litt Todesängste. Storm ertrug Megans verzweifelten Blick kaum noch. Er würde sich wahrscheinlich für immer in Storms Seele brennen.

Commissioner Lombard kam zu ihr und klopfte ihr auf den Rücken. „Halten Sie durch, Harper. Es ist wichtig, dass sie die Aufzeichnung weiter ansehen. Vielleicht fällt ihnen etwas auf. Die Hälfte haben Sie schon geschafft.“

Ein Zischen war zu hören. Der Killer hielt einen Bunsenbrenner vor die Kamera und somit auch nah vor Megans Gesicht. Die gequälte Frau schrie vor Panik.

1.

„Wenn du mich wirklich aufhalten willst, dann komm zu mir“, lockte er mit gefährlich dunkler Stimme. „Komm zu mir, sei mein letztes Opfer. Dann werde ich mein grausames Schlachten einstellen.“

Detective Storm Harper konnte nicht glauben, was sie da hörte. Sie presste den Telefonhörer fester an ihre Ohrmuschel und bemühte sich, die Panik, die sie dazu drängte, einfach aufzulegen, zu unterdrücken, aber es wollte ihr nicht gelingen. Ihre Professionalität und die Erfahrung aus zwölf Jahren Polizeidienst beim Fort Twistdale Police Department in Michigan waren wie weggeblasen. Sie zitterte. Auf ein solches Telefonat mit einem Seriensexualmörder war sie in ihrer Laufbahn niemals vorbereitet worden. Ein weiterer Grund für ihre Unsicherheit war, dass sie sich nicht an ihrem Arbeitsplatz, auf dem Revier, befand, sondern spätnachmittags zu Hause in ihrer Küche saß, nur mit Slip und T-Shirt bekleidet. Der Wachsmörder, wie die Sonderkommission ihn nannte, hatte sie kalt erwischt.

„Du bist so schweigsam“, bemerkte der Anrufer nachdenklich. „Wenn du mit der Presse sprichst, bist du nie um eine Antwort verlegen, musst nie um Worte ringen. Und jetzt fällt dir nichts ein?“

„Was wollen Sie von mir?“, brachte sie mühsam hervor. Sie fasste sich an die Kehle, weil sie daran denken musste, wie er seine Opfer tötete: Er tröpfelte Wachs in die Nasenlöcher der Frauen, die er entführt hatte, bis sie nur noch durch den Mund atmen konnten. Dann ließ er flüssiges Wachs in ihren Mund laufen, bis ihre Kehlen verschlossen waren. Während sie jämmerlich erstickten, ergötzte er sich an ihrem Todeskampf, dichtete schließlich auch ihre Ohren mit Wachs ab und tropfte die heiße Flüssigkeit über ihre Augen, bis ihr ganzes Gesicht mit Kerzenwachs bedeckt war. Nachdem er so eine wächserne Totenmaske geschaffen hatte, füllte er auch die restlichen Körperöffnungen mit der sich langsam aushärtenden Masse.

Kerzenwachs. Das klang so harmlos. Am Anfang hatten sich die Medien über den Begriff „Wachsmörder“ lustig gemacht. Bis das zweite, dann das dritte Opfer mit einer solchen Wachsmaske gefunden worden waren. Und die Bevölkerung begriff, dass auch etwas Banales wie Wachs absolut tödlich sein konnte.

Seine Stimme klang eine Spur schärfer: „Das sagte ich bereits. Es ist ganz einfach. Alles, was du tun musst, ist dir die Augen zu verbinden, dir Handschellen anzulegen und darauf zu warten, dass ich dich abholen komme. Keine Sorge, es wird dann nicht lange dauern, bis ich bei dir bin. Den Moment deiner Entscheidung werde ich nicht verpassen.“

Ihr Puls raste. Das Blut rauschte in ihren Ohren. „Für wie naiv halten Sie mich?“

„Ich halte dich für arrogant und abgebrüht. Du passt perfekt in mein Beuteschema. Eine Frau, die vom Erfolg verwöhnt ist und sich nicht scheut, ihre Ellbogen auszufahren, um sich in der Männerwelt durchzusetzen.“

„Sie kennen mich doch gar nicht“, zischte sie ihn an. Storm hatte das Bedürfnis, sich zu verteidigen. Und sie hatte Angst.

Er lachte leise, beinahe verführerisch. „Ich kenne dich besser, als du glaubst, denn ich habe dich genau beobachtet wie alle meine Opfer. Zum Beispiel weiß ich, dass du jetzt gerade in deiner Küche sitzt und auf die Packung Lucky Strike starrst, die vor dir auf dem Tisch liegt. Die Lust auf eine Zigarette ist quälend, aber du möchtest dich durch nichts von diesem Telefonat ablenken lassen, deshalb steckst du dir keine an.“

Bestürzt schaute sie sich um. Sie sprang vom Stuhl auf, eilte zum Fenster und spähte hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen, aber noch immer hingen schwere graue Wolken über den Dächern von Fort Twistdale. Doch da war niemand. Zumindest sah sie niemanden. Aber er konnte sie sehen, irgendwie. Alarmiert suchte sie mit den Augen ihre Küche nach einer Kamera ab.

Und tatsächlich entdeckte Storm sie.

Ein kleines Loch im Holzgehäuse der Kaffeemühle ihrer Grandma verriet ihr, dass der Wachsmörder die Mühle entkernt und das kleine Aufnahmegerät im Gehäuse versteckt haben musste. Das einzige Erinnerungsstück sowohl an ihre Oma als auch an ihre „erste Kindheit“, wie Storm die ersten fünf Jahre ihres Lebens nannte, zerstört zu sehen tat weh. Sie bewegte sich vorsichtig zur Dunstabzugshaube hin, wo die altmodische Kurbelmühle seit dem Tod ihrer Großmutter vor zwei Jahren unangetastet stand. Er war dabei sehr geschickt gewesen: Staub überzog die Kaffeemühle wie eine Kruste, so dass sie nicht so wirkte, als ob jemand sich daran zu schaffen gemacht hatte. Ganz davon abgesehen, musste Storm mal ein ernstes Wort mit Ms. Carter, ihrer Putzfrau, reden.

Sie kam sich so dumm vor! Der Serienkiller hatte sie vorgeführt, er machte sich lustig über sie. Er wollte ihr seine Macht zeigen, ihr Angst machen, und das war ihm gelungen. Aber nun wusste sie wenigstens, dass sie in seinem Fokus stand. Sie nahm all ihren Mut zusammen: „Hören Sie, Sie haben einen entscheidenden Fehler gemacht. Ich bin keines Ihrer üblichen Opfer.“

Am liebsten hätte sie die Kaffeemühle genommen und mitsamt der Kamera gegen die Wand geschleudert. Stattdessen nahm Storm sie vorsichtig herunter und stellte sie in die Spüle, um keine Fingerabdrücke zu zerstören. Über das Spülbecken legte sie ein Holzschneidebrett. Sie hatte wenig Hoffnung, dass die Spurensicherung überhaupt Spuren des Täters finden würde, denn bisher war er äußerst vorsichtig vorgegangen.

„Ich werde dich nicht entführen“, sagte er mit einer Vertrautheit, die sie schaudern ließ. „Für solche Späße habe ich andere Gespielinnen. Du wirst dich mir freiwillig stellen – oder das Morden wird weitergehen.“

Nervös lief sie in der Küche auf und ab und überlegte eifrig, wie sie dieses Telefonat für sich nutzen konnte. „Das ist so krank! Wieso sollte ich das machen? Ich bin doch nicht lebensmüde.“ Ihr Blick fiel auf ihr Handy, das im Korridor auf dem Schuhschrank lag.

„Dein Beweggrund ist offensichtlich.“ Er machte eine bedeutungsschwangere Pause. „Du möchtest andere Frauen vor mir retten. Und ich verspreche dir, dass du mein letztes Opfer sein wirst. Ich werde mich mit Fußfesseln an den Seziertisch ketten, auf dem du liegst, und den Schlüssel schlucken, damit ich nach deinem Tod nicht fliehen kann. Du darfst einen Brief mit unserem Aufenthaltsort an deinen Partner Detective Malcolm schicken, der bei ihm ankommen wird, wenn du längst tot bist. Er wird nichts für dich tun können, denn ich werde meine Vorgehensweise verändern, ich werde noch schneller werden, denn uns soll nur eine Nacht verbinden. Eine einzige Nacht möchte ich mit dir spielen. Du wirst mein Meisterwerk werden. Nach dir wird es keine mehr geben. Versprochen.“

Storm glaubte ihm kein Wort. Sie wollte fast fragen, wer ihr garantierte, dass er keinen Ersatzschlüssel für die Fußfesseln besaß oder eine Metallsäge in der Nähe verstecken würde, aber diese Frage hätte ihm zu verstehen gegeben, dass sie über seinen Vorschlag ernsthaft nachdachte. Was nicht der Fall war.

Der Mörder, vielleicht bald ihr Mörder, sprach weiter: „Ich könnte dir Dinge zeigen, die man nicht auf der Polizeischule lernt. Du würdest die Opfer durch deine persönlichen Erlebnisse so gut verstehen wie kein anderes Mitglied deiner Sonderkommission. Eigene Erfahrungen, sie sind so wertvoll ...“ Er atmete hörbar ein und wieder aus. „Ich habe bei Cheryl Port zum ersten Mal Waterboarding ausprobiert, weil ich neugierig darauf war. Es wird heutzutage noch in Gefangenenlagern praktiziert, legalisiert durch die jeweilige Regierung, ich habe mir eine Doku angesehen. Fernsehen kann sehr inspirierend sein. Ich wollte sehen, wie Cheryl auf die Wasserfolter reagiert. Hab ihr ein Handtuch über das Gesicht gelegt. Ganz langsam habe ich Wasser darübergegossen. Es muss sich für sie angefühlt haben, als würde sie ertrinken. Sie hat geschrien, bis der Würgereflex sie daran hinderte. Immer wieder habe ich ihr Zeit gegeben, sich zu erholen. Hab ihre Brüste gestreichelt, ihr beruhigende Worte ins Ohr geflüstert. Sie musste erst wieder stabil sein, bevor ich meinen Fetisch an ihr ausleben konnte.“

„Fetisch? So bezeichnen Sie Ihre Tötungsmethode?“ Sie erinnerte sich nur zu gut. Cheryl hatte ausgesehen, als wäre ihr Gesicht das einer Wachsfigur. Vor ihrem Tod musste sie durch die Hölle gegangen sein. Lucille Canberra, die Gerichtsmedizinerin des Fort Twistdale Police Departments, hatte festgestellt, dass die Lungen des Opfers abnorm aufgebläht waren, und sie hatte Rückstände von Schaumpilz gefunden, einem schaumigen Belag aus Luft, Wasser und Bronchialschleim auf Nase und Mund. Außerdem befanden sich in Cheryls Magen Spuren von Vanilleschaumbad. Der Killer musste das Wasser, das er auf ihr abgedecktes Gesicht gegossen hatte, damit angereichert haben. Er schien ein Faible für Vanille zu haben.

Storm wurde flau im Magen. Zumindest hatte ihr dieser Anrufer den Beweis geliefert, dass er wirklich der Serienkiller war, denn diese neue Foltermethode des Wachsmörders hatte das FTPD der Presse gegenüber noch nicht erwähnt. Die Medien hätten die Bevölkerung mit der detaillierten Beschreibung in Aufruhr gebracht. Jeder Mitbürger hatte eine Schwester, eine Tochter, eine Mutter … Niemanden hätte es kaltgelassen zu erfahren, dass, jedes Mal wenn der Killer sein grausames Spiel von vorne begann, Cheryls Atmung vor Schreck dreißig bis sechzig Sekunden ausgesetzt hatte. Sie hatte panisch eingeatmet, und Wasser war in ihre Luftröhre und ihre Bronchien gelangt. Was folgte, waren Sauerstoffmangel im Gehirn und Muskelkrämpfe, bis ihre Atemversuche immer schwächer geworden waren. Doch bevor es zum Atemstillstand kam, hatte der Seriensexualmörder das nasse Tuch von ihrem Gesicht entfernt. Er ließ sie kurz wieder zu sich kommen. Dann war ihre Tortur von vorne losgegangen.

„Es war nur ein Versuch, ein Test am lebenden Objekt“, warf er ein, „um das Spiel ein wenig interessanter zu machen. Mir war eben langweilig, und wir alle brauchen ein wenig Abwechslung.“

Storm horchte auf. Es war ungewöhnlich, dass ein Serientäter seine Methoden variierte. Er verfeinerte sie mit der Zeit, um die Qual seiner Opfer – und damit den Kick für sich selbst – zu erhöhen, ja, das war typisch, aber kein Serienmörder veränderte einfach so seine Vorgehensweise, nur um mehr Spaß zu haben. Der Wachsmörder war intelligenter, als sie alle angenommen hatten. Oder seine Gier wurde immer größer.

Auf Zehenspitzen huschte sie in den Flur hinaus. Vor ihr auf dem Schuhschrank lag nun ihr Mobiltelefon. Sie brauchte es nur zu greifen und ihrem Partner Malcolm Lawrence eine SMS zu schreiben oder ihn mithören zu lassen, damit er im Bilde war und die nötigen Maßnahmen einleiten konnte.

Sie schrak zusammen, als der Anrufer leise drohte: „Tu das nicht.“

„Wie bitte?“ Ihre Stimme war belegt.

„Lass dein Handy liegen“, warnte er sie und klang gleichzeitig so ruhig, als wäre er sich seiner Überlegenheit sehr sicher. „Du weißt, dass Megan Cropps in meiner Gewalt ist. Ich würde sie für deinen Fehler büßen lassen. Mach ihr den Aufenthalt bei mir nicht schwerer, als er ohnehin schon für sie ist.“

Aufgebracht flog Storm herum und suchte fieberhaft mit den Augen nach dem Versteck einer weiteren Kamera, denn es musste noch eine zweite, vielleicht sogar noch mehr in ihrem Haus geben, und sie ballte die Hand zur Faust. Aber sie fand nichts, keinen Hinweis, zumindest nicht auf den ersten Blick. Alles sah so aus wie immer. Oder beobachtete er sie aus einem sicheren Versteck, wartete ganz in der Nähe? Wut und Furcht übermannten sie, doch sie durfte sich nichts anmerken lassen. Unter keinen Umständen durfte sie ihm zeigen, dass er Macht über sie hatte. Angst erregte ihn. Sobald er Blut geleckt hatte, hätte sie keine Chance mehr gegen ihn.

Aber wusste er nicht sowieso längst, wie sie sich fühlte?

Storm atmete tief durch. Sollte sie ihre Springfield holen? Das Schulterholster hing an der Garderobe gleich neben dem Eingang. Aber dann müsste sie durch den Korridor gehen – und dort würde er sie vielleicht beobachten können. Sie entschied sich dagegen, ging zurück in die Küche und setzte sich wieder, nur einen Schritt vom Messerblock entfernt, um eine Waffe in Griffweite zu haben, sollte der Wachsmörder plötzlich vor ihr stehen. „Warum?“, fragte sie ihn.

„Die meisten Menschen bekommen nicht die Antworten, die sie erhoffen, weil sie nicht die richtigen Fragen stellen. Also?“

„Warum dieses veränderte Spiel – und warum ich?“

„Das sagte ich bereits. Du musst besser zuhören. Du passt perfekt in mein Beuteschema. Was gibt es Schöneres, als den weiblichen Detective, der gegen mich ermittelt, zu foltern und zu töten? Danach kommt nichts mehr. Keine Steigerung. Ich weiß, dass es keine Erlösung für mich gibt. Daher habe ich entschieden, dass du es sein wirst, die mich von meinem Schicksal, meiner Lust erlöst. Du wirst das ultimative Opfer sein, und danach ist mein Schaffen vollendet.“

Er hörte sich so an, als würde er an das glauben, was er sagte. Obwohl Storm wusste, dass sie ihn nicht provozieren durfte, rutschte ihr heraus: „Werden Sie mich erst vergewaltigen und dann umbringen oder sich an meinem Leichnam vergehen?“

„Oh, Storm. Du weißt doch, dass es nur Spaß macht, wenn das Opfer alles miterlebt“, rügte er sie amüsiert. „Leid erregt mich, nicht Nekrophilie.“

Das Police Department war sich bisher nicht sicher gewesen. Alle Leichen hatten Abdrücke von Fesselungen an Armen und Beinen gehabt. Es gab Spuren, die auf Geschlechtsverkehr hindeuteten, die jedoch nicht hundertprozentig auf eine Gewalttat schließen ließen. Storm hatte sich über diese Ergebnisse gewundert und fragte weiter: „Wieso benutzen Sie Gleitgel? Weshalb nehmen Sie die Frauen nicht einfach so?“ Sie fürchtete sich vor der Antwort, aber es war ihre Pflicht, so viele Fakten wie möglich zu sammeln, die für die Aufklärung des Falles wichtig sein konnten. Gedankenversunken strich sie über ihren Unterarm. Sie hatte eine Gänsehaut, obwohl es heiß im Haus war. Zu heiß, wie sie mit einem Mal fand.

„Weil sie furztrocken sind.“ Er lachte schallend. „Ich will doch nicht, dass mein Schwanz verletzt wird. Masochistisch bin ich nicht. Außerdem vögele ich sie langsam. Ich nehme mir Zeit mit meinen Frauen, beim Foltern wie beim Ficken. Ich liebe es, sie zu rasieren und gut zu ölen, mich dann auf sie zu legen und tief in sie einzudringen, während ich mich an ihrem angewiderten Mienenspiel errege. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ich bestimme, wie lange es dauert und wann ihre Qual zu Ende ist.“

Er geriet ins Schwärmen, Storm musste ihn stoppen, bevor es ihr den Magen umdrehte. Sie dachte an Megan Cropps, die vielleicht sogar nackt, gefesselt und geknebelt mit ihm im selben Raum lag und sich nicht bemerkbar machen konnte. Wie schlimm es sein musste, zu hören, was Schreckliches auf einen zukam, wollte Storm sich in diesen Moment gar nicht vorstellen, denn sie selbst war nun ein Teil seiner Fantasien geworden. Das war nicht gut. Gar nicht gut.

„Ich möchte mit Megan sprechen“, bat sie und ging zur Heizung, um sie abzudrehen. Sie schwitzte vor Anspannung. Die Hitze lähmte ihre Gedanken. Sie nahm wieder Platz, holte ihr Feuerzeug aus der Zigarettenpackung und drehte es in der Hand. „Wie geht es ihr?“

Er ging nicht auf ihre Frage ein. „Sie ist Opfer Nummer vier. Vier ermordete Frauen in anderthalb Jahren. Es wird weitere geben. Viele mehr, denn ich gestehe, ich bin süchtig nach ihnen. Willst du das zulassen? Du hast ihr Schicksal in deiner Hand.“

„Das ist nicht wahr“, brach es aus Storm heraus, und sie war froh, dass keiner der anderen Ermittler anwesend war, denn dieses Gespräch lief keineswegs nach Lehrplan. Sie ließ sich von ihm aus der Reserve locken, weil er vorgab, ihr die Kontrolle über Leben und Tod zu überlassen, obwohl sie genau wusste, dass das nicht den Tatsachen entsprach.

„Du brauchst mir nur ein Zeichen zu geben. Ein einziger Tod gegen viele Tode – ein für die Polizei günstiger Tausch, wie ich finde.“

„Und ich – habe Pech gehabt?“ Sie sprang auf und schob ihren Stuhl geräuschvoll zurück, so dass er über die Bodenfliesen schabte. Sein Vorschlag war unglaublich! Er musste total durchgeknallt sein, wenn er glaubte, sie würde auch nur eine Sekunde darüber nachdenken, darauf einzugehen.

„Du wirst nur zweiunddreißig Jahre alt werden, aber in die Geschichte Amerikas eingehen. Und du wirst mich, einen Serienkiller, überführen. Ist das etwa nichts?“

Storm hörte ein Geräusch in der Leitung, das sie nicht zuordnen konnte.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte er. „Wie du weißt, habe ich Besuch, und es ist unhöflich, jemanden warten zu lassen. Denk über meinen Vorschlag nach. Der ultimative Deal. Alles, was du opfern musst, um mich zu stoppen und berühmt zu werden, ist dein Leben. Mehr nicht.“

2.

Die Leitung war tot. Er hatte aufgelegt.

„Mehr nicht?“, echote Storm. Nun schrie sie ihre ganze Frustration in den Hörer hinein. „Das ist alles, was du verlangst? Nur mein jämmerliches Leben, du krankes Arschloch?“

Mit voller Wucht warf sie das Telefon gegen die Wand. Es zerbrach krachend. Die Einzelteile fielen scheppernd auf den gefliesten Küchenboden. „Na, toll, jetzt habe ich auch noch mein Telefon kaputt gemacht.“

Sie freute sich schon darauf, mit Lobster zu reden. Eigentlich hieß der Commissioner Lombard, wurde aber von allen so genannt, da sein Gesicht permanent hochrot war. Der Grund dafür war eine Allergie, die er aber nicht behandeln ließ, weil er nach eigenen Angaben „keine Zeit hätte“, zum Arzt zu gehen. Weil er wie ein Hummer aussah, hatte irgendwer ihm den Spitznamen „Lobster“ verpasst, und den wurde er nun nicht mehr los. Er würde Storm in der Luft zerreißen, weil sie erstens keinen Weg gefunden hatte, das PD während des Telefonats zu benachrichtigen, und weil sie zweitens dem Serienmörder keine entscheidenden Informationen hatte entlocken können. Aber sie hatte eben immer nur in Fort Twistdale, einer Kleinstadt zwischen Mount Pleasant und Grand Rapids, Dienst geschoben und keine spezielle Ausbildung in wie-telefoniere-ich-clever-mit-einem-Killer oder Sonstiges absolviert, weil die Polizeidienststelle in Lower Peninsula ständig unterbesetzt war.

Mir fehlt die Erfahrung mit Serienkillern, gab sie zerknirscht zu.

Es klingelte an der Haustür. Storm zuckte zusammen, als wäre eine Bombe neben ihr eingeschlagen.

Alle ihre Sinne waren alarmiert. Sie huschte hinaus in den Flur, zog leise die Springfield aus dem Holster und die Handschellen aus ihrem Parka und lief auf Zehenspitzen zur Tür. Adrenalin rauschte durch ihre Venen. Natürlich würde der Wachsmörder nicht höflich klingeln, um dann über sie herzufallen. Aber er war ein Spieler. Er würde sich ihr vermutlich irgendwann vorstellen, wenn auch in Verkleidung, um ihr zu zeigen, wie nah er ihr ungehindert kommen konnte. Macht. Das war alles, worum es ihm ging.

Storm wagte einen Blick durch den Türspion. Vor dem Eingang verlagerte ein Mann sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Dann klingelte er ein zweites Mal, diesmal energischer. So leicht ließ er sich offensichtlich nicht abweisen. Storm schätzte ihn auf Anfang dreißig. Seine dunklen, zurückgegelten Haare und der blaue Anzug unter dem Trenchcoat wirkten wie eine Verkleidung. Das elegante Businessoutfit passte einfach überhaupt nicht zu seinem Dreitagebart.

Jemand, der einen Anzug trägt, rasiert sich auch, fand Storm.

Er strich über seine Bartstoppeln und schaute über seine Schulter hinweg nach rechts und links. Machte das Warten ihn nervös? Weshalb verschwand er dann nicht wieder?

Storm taxierte ihn, soweit das durch den Spion möglich war. Konnte er der Wachsmörder sein? Hatte er in der Nähe des Hauses gestanden und mit ihr telefoniert, während ihn eine diabolische Vorfreude ergriff, weil er sie nur Sekunden später treffen würde?

Er klopfte, und sie sah, dass er sein Ohr an die Haustür legte. „Hallo? Ich weiß, dass Sie zu Hause sind. Ihr Wagen steht in der Auffahrt. Ich werde nicht eher weggehen, bis Sie mein unschlagbares Angebot gesehen haben: Meine Gebäudeversicherung, die Tornadoschäden zu hundert Prozent abdeckt. Einhundert Prozent, haben Sie mich gehört? Für nur fünfzig Dollar mehr im Monat. Das Angebot ist nur vorübergehend, eine Aktion.“

Egal, ob er der Killer war oder nicht, sie durfte ihn nicht gehen lassen, ohne ihn auf Herz und Nieren zu prüfen. Der Vertreter war einfach zu penetrant. Und log zudem, denn solche Konditionen wären für eine Versicherung der sichere Ruin. Aber wäre der Wachsmörder wirklich so dumm zu glauben, sie würde ihm die Vertreter-Masche abnehmen? Den Mann, mit dem sie eben telefoniert hatte, hätte sie intelligenter eingeschätzt.

Impulsiv riss sie die Tür auf. Sie richtete ihre Waffe auf den Fremden. „Lassen Sie Ihren Aktenkoffer fallen, legen Sie sich mit dem Bauch auf den Boden und nehmen Sie die Hände über den Kopf.“

Bevor sie die letzten Worte ausgesprochen hatte, schleuderte er ihr seinen Koffer entgegen. Er drehte sich um und nahm seine Beine in die Hand.

Storm, die eben noch gedacht hatte, sie würde überreagieren, war nun nicht mehr überzeugt davon. Sie wehrte den Koffer ab. Er krachte zu Boden, genau auf ihren Fuß. Da sie barfuß war, schrie sie vor Schmerz auf. War ihr Zeh gebrochen? Sie sah zu dem flüchtenden Mann hin und kam zu dem Schluss, dass es in diesem Moment keine Rolle spielte. Fest entschlossen, ihn keinesfalls entkommen zu lassen, biss sie die Zähne zusammen. Sie machte einen Satz nach vorne, verzog gequält ihr Gesicht und rannte, so schnell sie konnte, hinter ihm her.

Er wollte gerade über den kleinen, weißen Zaun springen, der den Vorgarten eingrenzte, als ein Stein ihn am Kopf traf. Verdutzt schaute er nach rechts. Da traf ihn ein weiterer Stein direkt an der Schläfe. Blut sickerte aus der Wunde, aber nicht besonders viel. Nur seine Haut war aufgeplatzt.

Gerade als er sich an die Stirn fasste und das Blut in seiner Hand betrachtete, warf sich Storm auf ihn. Sie schlugen der Länge nach hin. Er schrie auf, und sie zog ihm den Griff ihrer Waffe über den Schädel. Blitzschnell packte sie seine Handgelenke und bog seine Arme auf den Rücken. Die Handschellen klickten.

Sie erhob sich wieder, baute sich vor ihm auf und sagte: „Sie sind verhaftet …“, und begann, ihm seine Rechte mitzuteilen.

„Sind Sie verrückt geworden?“, schrie er und drehte den Kopf, damit er zu ihr aufsehen konnte. Ein dünnes Blutrinnsal war über seine Nase gelaufen und gerann bereits. „Ich bin doch nur ein harmloser Versicherungsvertreter.“

„Und warum sind Sie dann weggelaufen?“ Sie winkte ihrer Nachbarin zu, einer alten Dame, die in ihrem Vorgarten stand, der unmittelbar an Storms Grundstück grenzte. „Wo haben Sie gelernt, so gut zu zielen, Ms. Brewster?“

Martha Brewster kicherte verschmitzt. Sie trug ein cremefarbenes Twinset, Perlenohrringe und roten Lippenstift. Ihre Zähne waren genauso unnatürlich gelb wie ihre Haare, die zu einer Doris-Day-Frisur toupiert waren. „Mir ist immer so langweilig. Da habe ich mir ein Hobby angeschafft. Steine werfen. Mal trifft es den Postboten, mal Mister Woolburk, der neben mir wohnt. Er schimpft immer, weil meine Wicken in seinen Garten wachsen. Abfällig sagt er ‚wucherndes Gestrüpp‘ dazu. Das musste ich ihm doch irgendwie heimzahlen, nicht wahr?“

„Wie gut, dass Sie mich nicht auf dem Kieker haben“, meinte Storm und zwinkerte ihr zu.

„Sie sind ja nie zu Hause, Kindchen.“ Der Blick der alten Dame erhellte sich. „Aber Sie können mich ja deswegen verhaften. Das wäre doch mal ein Abenteuer für eine alte Frau wie mich.“

„Ein andermal vielleicht. Jetzt muss ich erst einmal meine Kollegen rufen. Wären Sie wohl so freundlich und würden kurz auf den da“, Storm zeigte auf den am Boden liegenden Mann, der mittlerweile resigniert hatte, „aufpassen, damit ich mein Handy holen kann?“

„Leihen Sie mir Ihre Waffe?“ Mit Unschuldsmiene fügte Ms. Brewster hinzu: „Um ihn in Schach zu halten.“

„Nein.“ Storm fiel wieder ein, dass sie nach wie vor untenherum nur einen Slip trug. Verlegen zog sie den Saum ihres T-Shirts nach unten.

„Schade. Er kam mir gleich verdächtig vor.“ Ms. Brewster kam zum Zaun, der die Grundstücke trennte, und lehnte sich darüber, um die Kopfwunde des Mannes näher zu betrachten.

Storm beeilte sich. Nicht nur, weil sie befürchtete, dass der Verdächtige versuchen könnte zu flüchten, sondern auch, weil sie ihrer Nachbarin zutraute, dem Kerl noch einen Stein zu verpassen. Sie lief ins Haus zurück und fingerte als Allererstes eine Zigarette aus der Packung. Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie Mühe hatte, sie anzuzünden. Während sie das Nikotin gierig inhalierte, nahm sie ihr Mobiltelefon vom Schuhschrank und kehrte zur Garderobe zurück, von wo sie durch die offene Eingangstür den vermeintlichen Vertreter im Blick behalten konnte.

„Machst du eigentlich nie Feierabend?“, meldete sich ihr Partner. Er und seine Frau waren D.I.N.K.s – double income no kids – und genossen ihre Freizeit in vollen Zügen. Sie gingen oft gut essen und ins Theater, erlaubten sich Kurztrips am Wochenende und trafen sich häufig nach Feierabend im Shoppingcenter, um beim Einkaufen zu entspannen. Malcolm investierte sein Geld offensichtlich jedoch nicht in Kleidung, er war genauso leger angezogen, wie er sich auch benahm. Wobei mochte Storm ihn wohl gestört haben?

Sie betrachtete sich im Garderobenspiegel. Ihre kurzen braunen Haare standen wirr vom Kopf ab. Ihr Blick hatte etwas Hektisches. Sie hob die Hand an, in der sie den Glimmstengel hielt: Schweißflecken unter den Achseln. Das auch noch! Sie sah mitgenommener aus, als sie gedacht hatte. In diesem Moment – verschwitzt, paffend und halb nackt – war sie so weit vom Idealbild der braven Tochter ihrer Eltern entfernt wie die Erde vom Mond. Aber das war ja nichts Neues. „Du musst sofort zu mir kommen.“

„Du klingst aufgeregt. Was ist passiert?“

„Kann sein, dass ich den Wachsmörder geschnappt habe.“ Sie zuckte mit den Achseln, als könnte Malcolm sie durchs Handy hindurch sehen. Dann nahm sie einen tiefen Zug aus ihrer Lucky Strike und sagte, während sie gleichzeitig den Rauch aus ihren Lungen blies: „Und bring die Spurensicherung mit.“

3.

Storm fühlte sich am folgenden Tag wie gerädert. Sie kam aus dem Büro des Commissioners gekrochen, als hätte sie ein Truck überfahren. Ein dumpfer Schmerz kroch ihren Nacken hoch. Sie massierte ihre Schläfen.

„Brauchst du ein Aspirin?“

Malcolm tat so, als würde er zufällig denselben Korridor benutzen, aber sie ahnte, dass er in der Nähe gelauert hatte, um in Lombards Büro zu stürzen, sollte dieser laut werden, während er sie in die Mangel nahm. Malcolm war beinahe so etwas wie ihr Ziehvater geworden, seit er hier im PD angefangen hatte. Sie verbrachte mehr Zeit mit ihm als mit ihrem richtigen Dad. Und mochte ihn auch besser leiden.

Erste graue Haare sprossen zwischen seinen schwarzen kurzen Locken. Er war ein schöner Mann. Der Afroamerikaner hatte das ebenmäßigste Gebiss, das sie jemals gesehen hatte. Mit seinen siebenundfünfzig Jahren besaß er jede Menge Erfahrung, hatte in Detroit Dienst geschoben und war erst vor drei Jahren nach Fort Twistdale gekommen, weil er den Großstadtsumpf, wie er selbst sagte, satthatte und es endlich ruhiger angehen wollte.

Das war wohl eine Fehlentscheidung gewesen. Denn nun hatte er es mit einem Psychopathen zu tun. Und mit einer Kollegin, der es im entscheidenden Moment an Coolness gefehlt hatte.

„Ich probiere es erst einmal mit einem starken Kaffee.“ Storm raufte sich die Haare und betrat ihr gemeinsames Büro.

Es gab zwar eine Kaffeemaschine im Aufenthaltsraum, aber die spuckte eine Brühe aus, die man kaum trinken konnte. Deshalb hatten sie und Malcolm zusammengelegt und sich eine eigene Maschine für ihr Büro gekauft, die die Bohnen frisch mahlte, wenn man eine Kanne Kaffee aufgoss.

Die Glaskanne war bis oben voll. Es duftete im Büro köstlich nach Kaffee. Malcolm war ein Schatz. Sie goss sich einen Becher ein und nippte daran, obwohl der Kaffee noch viel zu heiß war. Es war vermutlich Einbildung, aber ihr Kopf war gleich ein wenig klarer. „Ich fühle mich schrecklich.“

Malcolm hängte seine Jacke über die Stuhllehne. „Ist das ein Wunder? Der Anruf, die Kameras, der Vertreter, die Nacht in der Zelle, weil die Spurensicherung dein Haus auf den Kopf gestellt hat, und dann auch noch Lobster.“

„Das meinte ich nicht“, wiegelte sie ab. „Ich habe es vermasselt. Ich hatte die Chance, ich habe mit dem Killer gesprochen, aber ich habe ihm rein gar nichts entlocken können. Ganz im Gegenteil: Ich habe mich auch noch provozieren lassen.“

„Das stimmt nicht. Wir haben Grund zur Annahme, dass Megan Cropps noch lebt.“ Er setzte sich lässig auf seinen Schreibtisch. Der Tisch war erstaunlich aufgeräumt. Die Akten waren akkurat gestapelt. Alle Kugelschreiber befanden sich in der Stiftebox. Und seine Kaffeetasse stand wie üblich an ihrem Platz: auf dem Tassenwärmer, einer kleinen elektrischen Heizplatte, die seine Kollegen ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatten.

„Das wissen wir nicht mit Sicherheit“, wandte sie ein und blies in ihren Kaffee. „Außerdem hat das Telefonat gezeigt, dass er selbstsicherer ist, als wir angenommen hatten. Er ist sich seiner Tat bewusst und scheint nicht mit einem schlechten Gewissen zu kämpfen.“

Sie trank einen Schluck und verbrannte sich die Zungenspitze. „Er befindet sich in einer Hochphase. Warum soll er sich auch Sorgen machen? Wir haben keinen Hinweis auf seine Identität, und er ist sogar in der Lage, eine Polizistin nach allen Regeln der Kunst vorzuführen.“

„Damit hat niemand gerechnet. Jeder von uns wäre genauso perplex gewesen, wenn er plötzlich so einen Anruf bekommen hätte. Du hattest Feierabend.“

„Ein Cop hat nie Feierabend“, murmelte sie.

„Wenn du so denkst, kannst du dich in ein paar Jahren selbst in die Klapse einweisen.“

„Aber er hat mich angerufen. Ich stehe nun dumm da.“ Storm seufzte und schlenderte zum Fenster, um frische Luft ins Büro zu lassen. Das Frühjahr zeigte sich in diesem Jahr nicht unbedingt von seiner lieblichen Seite, aber an diesem Morgen machte der Regen eine Pause.

Kaum hatte sie das Fenster geöffnet, bereute sie es auch schon. Unzählige Blitzlichter blendeten sie. Kameras klickten. Eine Menge Menschen drängte sich unter ihrem Bürofenster, das sich in der ersten Etage des Gebäudes befand. Fragen und Rufe prasselten auf sie ein, jemand hielt ihr an einer langen Stange sogar ein zotteliges Mikrofon hin. Die Stimmen der Reporter überschlugen sich.

„Wie hat seine Stimme geklungen? Was hat er gesagt?“

„Fühlen Sie sich bedroht? Haben Sie Angst, sein nächstes Opfer zu werden? Denken Sie, Sie können nachts noch ruhig schlafen?“

„Haben Sie mit Ms. Cropps gesprochen? Oder ist sie tot?“

„Wie hat er sie gefoltert? Hat er sie vergewaltigt?“

Wütend warf Storm das Fenster wieder zu und drehte sich weg. „Sensationslustige Meute“, murmelte sie.

Sollten sie doch ihren Rücken fotografieren und filmen. Interviews waren das Letzte, was sie jetzt geben wollte. Zudem gab es eine offizielle Nachrichtensperre, weil angenommen werden musste, dass der Wachsmörder die Berichterstattung verfolgte. Die meisten Serienkiller genossen ihre zweifelhafte Berühmtheit. Manchmal nahmen sie sogar selbst Kontakt mit der Presse auf. Das hatte der Wachsmörder bisher nicht getan. Er holt sich nur einen zusätzlichen Kick, indem er eine Polizistin in den Fokus der Medien rückt, dachte sie bitter. Sein nächstes Wunschopfer. Träum weiter!

„Mach dir keine Sorgen“, beruhigte Malcolm sie. „Wir haben der Presse nur mitgeteilt, dass der Killer dich bedroht hat, denn über kurz oder lang wäre ihnen sowieso aufgefallen, dass du unter Personenschutz stehst.“

„Die sind doch gar nicht an der Aufklärung des Falls interessiert, sondern nur an den schmutzigen Details, weil damit Geld zu verdienen ist“, klagte sie an, ließ sich in ihren Bürostuhl fallen und legte undamenhaft die Füße hoch. „Ich habe es so satt, freundlich zu ihnen zu sein.“

„Auf den Pressekonferenzen werde ich ab sofort sprechen. Befehl vom Chef. Wir wollen dem Killer keine unnötige Substanz bieten.“ Malcolm schaltete seine Miniaturwarmhalteplatte ein, stand auf und schlenderte zur Kaffeemaschine.

„Ein Wunder, dass Lobster mich nicht ab sofort nur noch Streifenwagen fahren lässt. Ihm fehlen wahrscheinlich einfach nur die Leute“, seufzte Storm.

„Ich habe eine schlechte Nachricht für dich“, begann er vorsichtig und goss sich Kaffee ein. „Wir mussten Neville Jordan heute Morgen laufenlassen. Er kann nicht der Wachsmörder sein. Officer Benhurst hat mit der Versicherung telefoniert und sein Alibi überprüft. Zur Zeit des Anrufs belästigte er deine Nachbarn mit seinem Tornado-Sonderangebot. Das haben alle bestätigt.“

Storm, die angesäuert war, weil sie beim Verhör nicht hatte dabei sein dürfen, kippelte mit ihrem Stuhl. Als sie jedoch meinte, den Commissioner im Korridor mit jemandem sprechen zu hören, nahm sie ihre Füße vom Tisch und setzte sich wieder aufrecht hin. „Aber weshalb ist Jordan dann losgerannt? Er hätte mir einfach nur Frage und Antwort stehen müssen, aber er ist geflüchtet, als hätte er etwas zu verbergen.“

„Verdammt, Storm, du hast ihm deine Knarre vors Gesicht gehalten.“ Malcolm wandte sich zu ihr um, aber er schaute sie nicht vorwurfsvoll an, sondern lächelte amüsiert. „Er war bis ins Mark erschrocken und meinte, dass er ja schon so manche Abfuhr erhalten hat, aber so etwas hätte er noch nicht erlebt.“

„Scheiße, ich habe mich lächerlich gemacht.“

„Du hast ihm nicht einmal deine Dienstmarke gezeigt.“

Diese Rüge tat weh, denn Malcolm hatte verdammt noch mal recht. Sie hatte sich nicht in einer Notsituation befunden, sondern hätte genügend Zeit gehabt, um Neville Jordan ihre Dienstmarke vor die Nase zu halten. „Bei einem Prozess hätte das als Verfahrensfehler gegolten.“

„Aber zu einer Anzeige oder Anklage wird es nicht kommen, weil er nicht der Wachsmörder ist.“ Malcolm kehrte zu seinem Platz zurück und stellte seinen Becher auf den Kaffeewärmer, blieb jedoch stehen und stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab. „Allerdings hat Jordan angekündigt, das PD zu verklagen. Wegen polizeilichem Übergriff.“

„Weiß Commissioner Lombard das schon?“

Malcolm lächelte milde. „Es reicht, wenn er es erfährt, sobald das Schreiben von Jordans Anwalt auf seinem Tisch liegt. Es macht keinen Sinn, jetzt schon die Pferde scheu zu machen. Lombard ist eh schon gereizt, weil wir den Killer nach anderthalb Jahren immer noch nicht gefasst haben.“

„Danke.“ Dann fiel ihr ein, was ihre Nachbarin gesagt hatte. Sie richtete sich kerzengerade auf. „Habt ihr schon Martha Brewster vernommen? Sie fand Jordan auch verdächtig.“

Sein Lächeln erstarb. Er nickte. „Leider hat das nichts zu sagen, denn Ms. Brewster hat ausgesagt, dass alle Vertreter ihr suspekt erscheinen. ‚Die wollen doch nur mein Geld.‘ Sie kann Klinkenputzer nicht leiden. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass sie niemanden so richtig leiden kann. Die alte Dame ist zwar eine engelsgleiche Erscheinung, aber hat es faustdick hinter den Ohren. Sie hat mir sogar angeboten, Jordan höchstpersönlich in die Mangel zu nehmen, denn sie würde die Wahrheit garantiert aus ihm herausquetschen.“

„Das nehme ich ihr sogar ab“, sagte Storm und lachte. Das Lachen befreite. Sie stellte den Becher ab und reckte sich. Durch das Strecken löste sich die Verspannung in ihrem Nacken ein wenig. Eine Kopfschmerztablette würde sie an diesem Morgen nicht brauchen. „Wäre ja auch zu einfach gewesen. Der Killer steht vor meiner Tür, ich verhafte ihn und stehe als Heldin da.“

„Helden haben es nie einfach.“

Resigniert trank Storm ihren Becher halb leer und bekam Sodbrennen. Sie trank definitiv zu viel Kaffee, besonders seit sie die Maschine gekauft hatten, die Bohnen frisch mahlte. „Hat die Technikabteilung den Anruf des Killers schon zurückverfolgen können?“

„Na, klar. Du kennst doch Stevie. Du wirst es nicht glauben.“ Malcolm richtete sich auf und nahm auf seinem Bürostuhl Platz. Dann schlang er seine Finger ineinander, ließ seine Gelenke knacken und legte seine Hände auf die Schreibtischunterlage. „Das Mobiltelefon, von dem aus er dich angerufen hat, gehört: Martha Brewster.“

„Was?“

„Sie bemerkte den Diebstahl ihres Mobiltelefons erst, nachdem die Officer Patterson und Benhurst vor ihrer Tür standen, weil sie, wie sie sagte, ihr Handy nie braucht, aber unbedingt eins haben musste, um mit der Zeit zu gehen.“ Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Benhurst hat das Handy in der Buchsbaumhecke ihres Vorgartens gefunden. Er hat wirklich eine bemerkenswerte Spürnase. Wenn du jemals etwas verlegt hast, setze Benhurst darauf an.“

„Dann hat das Schwein die ganze Zeit in der Nähe gelauert“, schlussfolgerte Storm, ballte die Hand zur Faust und schlug auf den Tisch. Aber in Wahrheit versuchte sie mit ihrer Wut nur ihre Angst zu unterdrücken. Sie sprang auf und lief im Büro hin und her. „Der Killer hat mich aus nächster Nähe beobachtet. Hat mich taxiert und ausspioniert, wie er es mit all seinen Opfern macht. Und ich blöde Kuh habe rein gar nichts gemerkt.“

„Wie hättest du das auch sollen? Er hat schon fleißig bei anderen Frauen geübt. Der Kerl ist ein Profi“, gab Malcolm zu bedenken.

„Aber ich bin ein Cop.“ Sie blieb stehen und breitete verzweifelt die Arme aus, als wollte sie mit dieser Geste sagen: Was soll das nur alles? „Ich weiß seit anderthalb Jahren, dass ein Serienkiller Fort Twistdale unsicher macht. Ich kenne seine perversen Methoden. Verdammt, ich bin seitdem hinter ihm her, und dann ruft er mich einfach so an und macht mir den perversen Vorschlag, sein nächstes Opfer zu werden.“

„Du solltest nicht so viel fluchen.“

„Entschuldigung. Klingt es besser, wenn ich sage: Er überbrachte mir seine Einladung per Telefon und machte mir die höfliche Offerte, seine nächste Gespielin zu werden?“, fragte sie aufgebracht. Als er schwieg, ließ sie ihre Arme wieder frustriert hängen. Kleinlaut setzte sie hinzu: „Schönere Begriffe für Folter und Vergewaltigung fallen mir gerade nicht ein.“

Malcolm stand auf. Er kam zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Väterlich schaute er ihr in die Augen. „Dich hat der Anruf mehr mitgenommen, als du zugibst.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.