Über dieses Buch:
Kann man seine große Liebe jemals vergessen? Deutschland in den 1960er-Jahren: Isabelle Corthen verbringt eine idyllische Jugend auf dem Land. Gemeinsam mit Jon, dem Sohn des Dorflehrers, streift sie durch die Wälder und verbringt lange Sommertage am Seerosenteich. Bevor sie für ihr Studium auseinander gehen, versprechen sich beide ewige Treue. Jon setzt alles daran, so schnell wie möglich Arzt zu werden, um für seine Zukünftige sorgen zu können. Doch Isabelle gelingt selbst der Durchbruch als Modedesignerin. Und als sie Deutschland verlassen muss, um in Paris nach neuen edlen Stoffen und strahlenden Farben zu suchen, erkennen die beiden, dass eine gemeinsame Zukunft nicht so leicht wird, wie sie immer geglaubt haben …
Ein berührender Roman über die Kraft der Liebe – und darüber, warum es sich immer lohnt, für sie zu kämpfen.
Über den Autor:
Christian Pfannenschmidt, geboren 1953, war Journalist und Reporter für die Abendzeitung München, den Stern und das Zeit-Magazin. Heute lebt er als Autor in Köln und Berlin. Von ihm stammen unter anderem die Drehbücher der ZDF-Erfolgsserie »Girlfriends«. »Die Villa am Seerosenteich« wurde in mehrere Sprachen übersetzt und in der Verfilmung als ARD-Zweiteiler, verfolgten über 6 Mio. Menschen die Karriere von Isabelle, dem Mädchen vom Lande, das zur Chefin eines Modeimperiums aufsteigt. 2003 gründete er eine eigene Fernsehproduktion und setzte seine persönliche Erfolgsgeschichte mit TV-Serien wie u.a. »Die Albertis« und »Herzensbrecher – Vater von vier Söhnen« sowie der erfolgreichen Freitagabend-Reihe »Meine Mutter ist unmöglich« fort.
Bei dotbooks erschienen Christian Pfannenschmidts Romane »Die Villa unter den Linden«, »Der Klang unserer Seelen« und »Die Albertis«.
Außerdem haben ihn die Charaktere der »Girlfriends«-Serie nicht mehr losgelassen. Und so hat er – basierend auf den Drehbüchern – sieben Romane über die Freundinnen Marie, Ilka und Elfie geschrieben:
Band 1: »Fünf Sterne für Marie«
Band 2: »Freundschaft auf den dritten Blick«
Band 3: »Zehn Etagen zum Glück«
Band 4: »Demnächst auf Wolke sieben«
Band 5: »Kurz vor zwölf im Paradies«
Band 6: »Das 1x1 zum großen Glück«
Band 7: »Frühstück für zwei«.
Die ersten drei Romanen der »Freundinnen für's Leben«-Serie sind auch als Sammelband unter dem Titel »Das Hotel an der Alster« erhältlich.
Die Website des Autors: www.christianpfannenschmidt.de
Der Autor im Internet: www.facebook.com/PfannenschmidtChristian
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Aktualisierte eBook-Neuausgabe August 2019
Dieses Buch erschien bereits 1998 unter dem Titel »Der Seerosenteich« bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Copyright © der Originalausgabe 1998 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München
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Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/David Hughes, Orlio
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)
ISBN 978-3-95520-274-3
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Christian Pfannenschmidt
Die Villa am Seerosenteich
Roman
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Für meine Mutter
... Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.
Augustinus
»Wir hätten im Sommer herkommen sollen«, sagte er, hob einen Stein auf und warf ihn schwungvoll ins Wasser. Isabelle antwortete nicht, sondern blickte weiter auf den Teich, in dessen Mitte sich nun Ringe bildeten, sich vergrößerten und auflösten.
Noch schien die Sonne. Es war einer dieser kühlen, klaren Nachmittage, an denen man die Nähe des Winters spüren konnte. Die Seerosen waren verblüht. Ihre grünen, dicken Blätter breiteten sich fast über das ganze Wasser aus; sie bildeten einen Kontrast zu der Natur, die sich rings um das Ufer auf den Schlaf vorbereitete, zu dem Grau des Schilfs, den fast kahlen Zweigen der Trauerweiden, den matten, verblassenden Wiesen, den letzten rostigen Tönen der Bäume und Büsche. Aber auch die Zeit der Seerosenblätter war begrenzt, sie würden sich bald zusammenrollen und absterben. Und dann, nach dem Winter, würden aus den unterirdischen Wurzeln neue Triebe emporkriechen, aus dem Wasser hervordrängen und neue Blätter bilden, Knospen wachsen und erblühen lassen, in Weiß und Purpurrot, wie Kronen. Kronen des Lebens.
Isabelles Blick wanderte über die Landschaft, entlang den Knicks, folgte dem Lauf der Zäune bis zum Horizont. Es schmerzte sie, dies alles zu sehen, und doch, trotz aller Wehmut, oder vielleicht gerade deswegen, machte es sie glücklich. Ja, das war ihr Zuhause gewesen. Und wie lange hatte sie es nicht mehr gesehen.
Am liebsten hätte sie sich wie früher ins Gras geworfen, hätte zum Himmel geschaut und geträumt. Wolken betrachten, Figuren erkennen, Geschichten ausdenken. Wegfliegen, zurückkehren, angekommen sein. Aber sie war eine Frau von Mitte Vierzig, und neben ihr stand ein Mann, der sicher ein ganz anderes Bild von ihr hatte als das eines verletzlichen Mädchens in trauriger Stimmung.
»Wollen wir noch ein Stück gehen?« fragte er.
Isabelle sah ihn an. Er lächelte.
»Wollen wir?« fragte er noch einmal. »Oder soll ich Sie zurückfahren?«
Sie schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, was sie meinte, sah sie unsicher an. Isabelle mußte lachen. Diese Art von Mißverständnissen war ihr auch noch vertraut. Dabei war sie immer die Unklare gewesen, Jon der Präzise. Sie dachte an die Umwege ihres Lebens. Wäre vielleicht alles anders gekommen, wenn sie im richtigen Moment das Richtige gesagt hätte? Wäre ihr vielleicht all das Unglück und das Leid erspart geblieben, wenn sie sich selber bewußtgemacht hätte, rechtzeitig, was sie wirklich wollte? Wenn sie zu Jon gegangen wäre, früh genug, und ihm ihre Liebe gestanden hätte? Ach, zu spät, zu spät. Vergangen. Nie vergessen.
Sie ging auf ihren Begleiter zu, diesen jungen Mann, der da fragend vor ihr stand, die Hände in die Taschen seiner Kordhose gesteckt, den Kragen der Wildlederjacke hochgestellt, als brauchte er Schutz vor der Kälte des Nordens und des Daseins. »Natürlich will ich noch nicht zurück«, sagte sie. »Wir sind ja gerade erst angekommen!«
»Es sollte ja auch nur ein ...«, er suchte nach dem richtigen Wort, »ein erster Eindruck sein. Wir können doch jederzeit wiederkommen. Jetzt, wo Sie ...« Er brach ab und schien mit einem langen Blick Eindrücke der Umgebung aufzusammeln. Täuschte sie sich, oder war er ein wenig rot geworden? Um ihm über die Verlegenheit hinwegzuhelfen, hakte sie sich kurzerhand bei ihm unter und zog ihn mit sich. »Wir gehen ein Stück den Hügel hoch. Dahinter ist ein kleiner Eichenwald. Den will ich mir auch ansehen. Früher jedenfalls«, korrigierte sie sich, »war dort ein Eichenwald.«
Eine Windbö fegte über sie hinweg. Das Laub am Ufer des Sees wirbelte hoch. Die Blätter tanzten. Das Wasser kräuselte sich, als wollte es sich über das ungleiche Paar mokieren, das dort auf den Feldsteinen stand.
»Kommen Sie, junger Mann!«
Sie sprangen von den Steinen hinunter, überquerten die Wiese und gingen den Feldweg langsam nebeneinanderher, schweigend. Im Wipfel eines Baumes krächzte eine Krähe. Gestört von den Spaziergängern schwang sie sich auf, erst flatternd, dann gemächlich fortfliegend, wie ein schwarzes, zerrissenes Tuch im Wind.
»Vielleicht können wir auch in Luisendorf übernachten«, meinte Isabelle nach einer Weile. »Gibt es eigentlich Schmidts Gasthof noch?«
»Keine Ahnung!« Er zuckte mit den Schultern. »Ich war ja selber Ewigkeiten nicht mehr hier.«
»Warum duzen wir uns eigentlich nicht?« Sie schaute ihn kurz von der Seite an. Das gleiche Profil, der schöne Kopf mit dem dichten, schwarzen Haar, das Kinn mit dem Grübchen. »Ich bin die Ältere. Ich darf das anbieten.«
Sie blieb stehen und er auch, und beide spürten auf einmal, daß dies mehr war als ein Spaziergang und eine Erinnerung an längst vergangene Tage. Sie streckte ihm die Hand entgegen.
»Isabelle«, sagte sie fast ein wenig steif, »eigentlich Belle seit Jahrzehnten ... Jahrhunderten.«
Sie lachten. Er ergriff dabei wie selbstverständlich ihre Hand. »Aber du kannst auch Isa sagen.«
»Klingt kompliziert – Isabelle.« Er küßte sie flüchtig auf die Wange.
Plötzlich wurde ihr bewußt, was diese Rückkehr an den Seerosenteich, nach Luisendorf, dem Platz ihrer Kindheit, für sie bedeutete. Ihr wurde klar, was dieser Mann, dessen Lippen ihre Haut zart berührten, für sie getan hatte. Ins Leben hatte er sie zurückgeführt. Von einem Punkt aus, an dem sie geglaubt hatte, es gäbe kein Morgen mehr für sie, kein Hoffen, kein Glück. Mut hatte er ihr gemacht, sie überredet, überzeugt, mitgenommen, mitgerissen, hierhergebracht. Nach Hause. Zurück zu den Wurzeln.
Isabelle ließ seine Hand los. »Ich bin sehr glücklich, daß ich hier bin.«
»Das ist gut«, entgegnete er leise. »Das ist gut.«
Sie sprachen nicht mehr, gingen weiter. Nachdem sie die Anhöhe erklommen hatten, tauchte vor ihnen das Eichenwäldchen auf, feuerrot im Licht der Sonne, wie entflammt. Es war alles wie früher. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Vielleicht sieht so die Zukunft aus, dachte Isabelle. Vielleicht kann doch noch alles gut werden.
Sie ließen den Seerosenteich hinter sich und gingen dem glühenden Himmel entgegen.
1966
Johanna Kröger knotete hastig ihr Kopftuch zusammen, knöpfte auch den untersten Knopf ihrer Kittelschürze zu, stopfte die Hose in die schmutzigen Gummistiefel, nahm ihr Fahrrad, das gegen die Scheunenwand lehnte, stieg auf und raste los, die Dorfstraße hinunter. Gleich hinter Fenskes Hof bog sie links in den Feldweg ab, denn sie vermutete, daß die Kinder wieder am Hügel sein würden, am Seerosenteich.
Der frühe Mai war mild und sonnig, alles leuchtete frisch und grün, es war die große Zeit der Birken, des Flieders, des Bienenfleißes. Keine Zeit zum Sterben. Aber die Dinge kamen nun einmal, wie sie wollten, und Johanna war es recht so, denn sie interessierte sich für alles, was passierte, Gutes wie Schlimmes.
»Es gibt nix, was mich nichts angeht«, pflegte sie häufig zu sagen, wenn sie die Nachbarn zum Lachen bringen und ihre Klatschsucht rechtfertigen wollte.
In Luisendorf hieß Johanna nur »die Zeitung«. Darin lag ein wenig Verachtung, aber auch Gewißheit: Wenn man etwas in Erfahrung bringen wollte, brauchte man nur »die Zeitung« zu fragen; wenn man schludern wollte, etwas weitertratschen, gleich, ob es nun stimmen mochte oder nicht, konnte man es ohne jede Verantwortung tun.
»Ich hab's von ›der Zeitung‹ her«, erzählten sich die Bäuerinnen über den Gartenzaun hinweg oder im Eckladen von Bäcker Voss, der auch Kolonialwarenhändler, Poststation und Treffpunkt in einem war.
»Hör op«, winkten die Männer ab, die im Gasthof Schmidt gegenüber der Backsteinkirche Lütt und Lütt tranken, »ob das ›die Zeitung‹ snackt, oder in Bremen fällt 'ne Schaufel um!«
Sie taten so, als glaubten sie kein Wort. Und erzählten es doch am nächsten Tag schon weiter. Beim Klönschnack von Traktor zu Traktor; beim Mittagessen in der Küche; sonntags, feingemacht, nach dem Kirchgang; abends, müde im Bett.
Johanna Krögers altes schwarzes Fahrrad holperte über den steinigen, ein wenig abschüssigen Weg. Do, wat du wullt, hatte ihre Mutter ihr schon als Kind beigebracht, de Lüt snackt doch. Da war es doch besser, daß sie über die Leute redete als umgekehrt. War sie eben »die Zeitung«. Sie sollten bloß froh sein. Luisendorf mit seinen kaum fünfhundert Einwohnern war ein langweiliges Kaff.
Ein Stück einer norddeutschen Landstraße, auf dem Weg von Husum nach Flensburg. Eine Kirche, ein Gasthof, ein Laden, eine Schule, ein paar Katen, Häuser und Bauernhöfe und Land, flaches Land, so weit man schauen konnte. Träge und wohlgeordnet floß der Alltag dahin. Rituale bestimmten den Takt der Zeit, wie das Wetter, die Tiere, die Natur. Säen und ernten, hegen und pflegen, essen und trinken. Im Frühjahr wurden alte Hölzer, Sträucher und Zweige zu Haufen, die sie hier Baken nannten, aufgetürmt und verbrannt, gegen die Wintergeister. Dann der Tanz in den Mai, op de Deel; das sommerliche Volksfest in der Nachbargemeinde Albershude, mit Karussell, Bratwurststand und einem gewaltigen Bierzelt; im Herbst das Erntedankfest mit all seinen schönen Bräuchen; und schließlich die Adventszeit, der Heilige Abend und die Silvesternacht.
Dazwischen lagen die langen Tage, die schon in der Nacht begannen, das Versorgen der Tiere, die Arbeit auf dem Feld, die Samstage, an denen man ein Bad nahm, und die Sonntage mit Kirchgang und Braten, mit Gartenbegehen und Butterkuchenessen. Ja, und die Hochzeiten. Die waren eigentlich das Beste. Die Hochzeiten und die Geburten in Luisendorf. Und dann war da noch der Tod. Der Tod und die Beerdigungen.
Johanna Kröger strampelte schneller. Sie wollte nicht schuld sein, wenn das arme Kind zu spät käme. Das war keine reine Freude, dieser Auftrag. Aber was sollte sie machen? Sie hatte nur kurz bei Ida reinschauen wollen und gleich gemerkt, daß etwas nicht stimmte. Daß es zu Ende ging mit Hermann. Ida hatte schon nach dem Doktor geschickt.
»Wo ist deine Tochter?« hatte Johanna gefragt, als beide in der Diele standen.
»Sie ist spielen, unterwegs, mit dem jungen Rix.«
»Es wäre besser, sie käme jetzt nach Hause, nicht?«
Ida hatte nur genickt und war dann langsam und versunken, fast als wäre sie es, die sich von dieser Welt verabschieden müßte, die steile, knarrende Holztreppe nach oben gegangen.
Ein Schwarm Spatzen flatterte aus dem Roggenfeld auf wie eine Staubwolke und versank wieder in dem Meer junger grasgrüner Sprößlinge, nachdem Johanna Kröger vorbeigefahren war.
Rechts lag jetzt in Sichtweite, nur ein paar Schritte vom Weg entfernt, geschützt von Weidensträuchern, begrenzt von Schilf und Steinen und in der Sonne funkelnd wie ein Saphir, der Teich. Er war übersät mit Seerosenblüten. Die kleinen Nymphen nannte man sie hier und erzählte den Kindern Geschichten dazu, von Seejungfrauen und Prinzen, von Schätzen und Schlössern und Welten unterhalb der Wasseroberfläche, auf dem Grunde der Seen und Teiche.
Johanna Kröger bremste ab. Sie stieg vom Fahrrad, schob es ein paar Schritte und versuchte, Isabelle und ihren Freund Jon irgendwo zu entdecken. Schließlich blieb sie stehen, lehnte das Rad gegen das Holzgatter der Wiese, legte die Hände trichtergleich vor ihren Mund und rief nach dem Kind.
»Isabelle ... Isa ...«
Da tauchte ein Kopf auf, aus dem Gras. Die schwarzen Haare von Jon Rix, sein blasses, freundliches, fast mädchenhaft zartes Jungengesicht. Er drehte sich nach hinten um. Dann sah Johanna Kröger auch Isabelle, die flink aufstand und zu ihr gelaufen kam. Ein schmales dreizehnjähriges Mädchen, hoch aufgeschossen, mit einem klugen, schönen Gesicht, dessen blaue, wache, fast freche Augen jedem als erstes auffielen. Ihre schulterlangen weißblonden Haare – dick wie Pferdehaare, sagte Johanna Kröger oft zu Ida Corthen, deine Tochter hat Pferdehaare, das glückliche Kind –, ihre Haare flogen durch die Luft, während sie heraneilte. Wie ein Fohlen, dachte Johanna Kröger, springt ins Feld, weiß nichts von der Welt.
Jon erhob sich und kam auch heran.
»Was ist denn?« fragte Isabelle atemlos.
»Du sollst nach Hause kommen.«
»Jetzt schon? Warum das denn?«
»Deine Mutter hat mich geschickt.«
Jon hatte die beiden erreicht. Die Kinder standen hinter dem Holzgatter, Johanna Kröger davor. Sie ließ die Lenkradstange los, balancierte den Sattel dabei so vor ihrem Bauch, daß ihr Rad nicht umfiel, und knotete das Kopftuch auf.
»Tag, Frau Krö ... Frau ... Kröger«, sagte Jon höflich.
Er war der höflichste Junge, den sie kannte. Eine Höflichkeit, wie sie in diese rauhe Gegend und erst recht zu Kindern nicht paßte. Eine Höflichkeit, die nur Menschen mit Bildung zu eigen war, dem Pastor vielleicht, dem Bürgermeister von Albershude, den Städtern, die sich manchmal hierher verirrten; Leuten eben, die über den Luxus freier Zeit verfügten, viel Zeit, zuviel Zeit zum Nachdenken. Typisch für Menschen wie diesen Lehrer Rix, der ganz blaß um die Nase war, weil er sie so oft in die Bücher steckte. Ein seltsamer Mann, mit seinen knapp vierzig Jahren schon fast kahl, die wenigen Haare grau und im dürren Kranz vom Kopf wegspringend.
Vor einem Jahr hatte er den Posten des Dorfschullehrers angetreten, und von Anfang an war Johanna Kröger sich sicher, daß er und seine Familie ein Geheimnis hatten. Taten immer so freundlich und aufgeräumt. Aber ihr, Johanna Kröger, konnte man kein X für ein U vormachen. Irgendwann würde sie schon noch darauf kommen, was da nicht hasenrein war. Jetzt stopfte Johanna das Kopftuch in die rechte Tasche der Kittelschürze und schüttelte ein wenig den Kopf, so als müsse sie ihr kurzgeschnittenes Haar lockern und in Konkurrenz zu Isabelle treten.
»Tag«, sagte sie zu Jon und sah dann Isabelle fest an. »Es ist was mit deinem Vater!«
Isabelle guckte Jon an. Er schlug die Augen nieder.
»Nu tün nich lang rum hier, Kind, sondern komm!«
Johanna Kröger umfaßte mit festem Griff die Lenkstange. »Du kannst dich hintendrauf setzen, ich bring dich nach Hause.«
Ihr war die Situation nicht geheuer. Was taten die beiden Kinder hier eigentlich die ganze Zeit über, Tag für Tag? Das ging nun schon seit längerem so, das hatte sie sehr wohl beobachtet, und bei Licht besehen waren sie eben keine Kinder mehr. Wenn sie eine Tochter hätte, würde sie die hier nicht stundenlang unbeaufsichtigt mit einem Klassenkameraden herumkarjuckeln lassen.
»Also dann«, sagte Isabelle und sah Jon an, als wäre es eine Frage.
»Ja«, er senkte erneut den Blick. »Tschüs!«
Johanna Kröger setzte sich auf ihr Fahrrad und trat sofort in die Pedale, so daß Isabelle, die ein sportliches Mädchen war, mit einem Satz auf den Gepäckträger hüpfen mußte, um mitzukommen.
Jon kletterte auf das Gatter und sah ihnen nach. Isabelle winkte und er winkte zurück. Er wußte, daß sie sich auf einen schweren Weg begeben hatte. Die beiden wurden im Gegenlicht kleiner und kleiner, er hatte das Gefühl, Isabelle würde immer zarter und zerbrechlicher und er müßte von dem Holzzaun herunterspringen, ihr nachlaufen und zur Seite stehen.
Schon als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, war ihm klar gewesen, daß dieses Mädchen etwas Besonderes war. Jon war ein schüchterner Junge. Obwohl er aus der Stadt kam, wie man hier sagte, obwohl sein Vater die kleine rote Backsteinschule am Rande des Dorfes leitete und seine Mutter Bibliothekarin war, Jon sich also etwas darauf hätte einbilden können, aufgrund seines Familienstandes und der häuslichen Situation was Besseres zu sein, fühlte er sich den anderen Kindern oft unterlegen. Sie alle waren aus seiner Sicht eine eingeschworene Gemeinschaft, laut, derb und kraftvoll, wie ihre Spiele.
Jon fürchtete sich manchmal vor den anderen. Er war in Husum aufgewachsen, der Stadt mit den düsteren roten Häusern, dem tosenden Meer, dem wilden Himmel. Dort schon hatte er sich immer, wenn die Eltern ihrer Arbeit nachgingen, in die Stille seines Zimmers zurückgezogen, gelesen, gegrübelt, geträumt. Er war ein Einzelgänger, hatte seine eigene Welt. Das mochte auch etwas mit seiner stets prekären Gesundheit zu tun haben: Solange er sich erinnern konnte, war er nie ganz gesund gewesen. Kränklich. Immer erkältet. Ein schwaches Herz.
Und dann noch dieses Unglück: Für ihn war es ein Schock gewesen, als sein Vater entschied, daß sie nach Luisendorf ziehen würden. Aber er war alt genug, zu verstehen, daß dieser Umzug notwendig war, damit sie eine Familie bleiben konnten. Es war kein beruflicher Fortschritt für seinen Vater gewesen, im Gegenteil, sondern eine Art Flucht, ein Ausweg, der einzige, den es noch gab, um die Ehe zu retten.
Jons Mutter hatte eine Liebesaffäre mit einem anderen Mann gehabt. Mit einem »Dichter«, wie der Vater in den täglichen Streitereien, die dem Umzug vorausgingen, höhnte. Erst wollte sie allein fortgehen, dann hatte sie die Beziehung zu dem Dichter beendet, aber danach hatte alles wieder von vorn angefangen.
In dieser Zeit hatte sich nicht nur das Verhältnis der Eltern untereinander, sondern auch das zu ihrem Sohn grundlegend verändert. Während die Mutter Jon auf einmal mit Geschenken und anderen Liebesbezeigungen überhäufte, gleichzeitig aber alles andere vernachlässigte, übernahm der Vater die Arbeiten zu Hause und verwendete seine Freizeit auf die strenge Erziehung des Sohnes.
Jede freie Stunde, die er mit Isabelle verbringen wollte, mußte er sich erbetteln. Die meiste Zeit verbrachte er damit, Aufgaben zu bewältigen. Einkaufen, sein Zimmer aufräumen, den Tisch decken, abtrocknen, das Fahrrad putzen. Den Rasen hinter dem Haus mähen, der eher eine Wiese war, groß und wuchernd, mit dem klappernden, scheppernden, rasselnden Handrasenmäher! Wie oft saß Jon sogar an Samstagen und Sonntagen hinter seinem Schultisch und lernte unter Aufsicht seines Vaters. Vom kleinen Platz vor der Schule, in dessen Mitte sich ein Kastanienbaum schattenspendend ausbreitete, drang das Lachen, Kreischen und Toben der Kinder, die hier auch außerhalb der Schulzeit spielen durften, in das Klassenzimmer. Jon mußte seine Hände flach auf die Tischplatte legen und englische Vokabeln aufsagen. Sein Vater stand daneben und schlug ihm mit einem dreißig Zentimeter langen Holzlineal im Takt der Silben auf den Handrücken, mal sanfter, mal stärker.
»Fa...ther, mo-ther, bro-ther, si-s ... si-s ...«
»Nun?«
»Sis-ster.«
Das Schlimmste war, daß Jon stotterte, wenn er aufgeregt war. Sein Vater versuchte es ihm abzugewöhnen. Die Dorfkinder verspotteten Jon, was das Stottern noch verstärkte. Nur Isabelle schien es nicht zu stören. Sie machte nie eine Bemerkung darüber. Bei ihr, die ihm so freundlich, offen und unkompliziert gegenübertrat, fühlte er sich aufgehoben und sicher genug, ganz und gar frei zu sprechen.
Sie war im vergangenen Jahr, als er seinen ersten Schultag in Luisendorf hatte, ein wenig verspätet und als letzte in den Klassenraum gekommen, hatte sich kurz entschuldigt und vorgestellt und dann neben ihn gesetzt, ihm die Hand zur Begrüßung hingestreckt und ihn angestrahlt, so herzlich, daß Jon sofort spürte: Wir werden Freunde. Und so kam es dann auch.
Seither waren sie jeden Tag zusammengewesen. Sie stauten mit Feldsteinen und Kieseln Bäche, bauten damit kleine Seen und Wasserfälle und glaubten in ihrer Phantasie, in einer exotischen, fernen Landschaft zu leben und Abenteuer zu bestehen. Sie pflückten blühenden Löwenzahn, schnitten mit Jons Fahrtenmesser die Stiele am Ende kreuzweise auf und hielten sie so lange ins Wasser, bis sie sich auf wunderbare Weise und wie von Zauberhand gelenkt aufrollten. Sie machten Fahrradwettrennen, unternahmen Ausflüge, klauten Maiskolben und durchstreiften die wogenden Kornfelder, die sich dadurch in geheimnisvolle Irrgärten verwandelten.
Im Herbst, nach der Ernte, bauten sie sich aus Strohballen Hütten, in denen sie sich versteckt hielten, bis es dunkel wurde und kalt und unheimlich. Gemeinsam mit anderen Kindern veranstalteten sie Stoppelschlachten, bei denen Isabelle so heftig mit dem herausgerissenen Wurzelwerk um sich warf, daß sie fast jedesmal als Siegerin das Feld verließ. So ein Kräftemessen war Jon nicht geheuer. Er mochte sich nicht prügeln, war kein Freund von Fußballspielen und auch nicht von winterlichen Schneeballschlachten, bei denen er grundsätzlich eingeseift wurde.
Lieber lief er mit ihr auf dem zugefrorenen Seerosenteich Schlittschuh, Runde um Runde, Drehung um Drehung, schneller und schneller, bis er glaubte, mit einem letzten Stoß abheben und fliegen zu können. Lieber lag er an trüben Tagen im Schulgebäude (in dem die Familie Rix auch wohnte) auf dem Dachboden und lauschte dem Regen, der auf die Ziegel und gegen die Fenster prasselte. Lieber saß er mit Isabelle in der Küche des Bauernhäuschens ihrer Eltern, über die Hausaufgaben gebeugt, während eine große, bauchige Kanne mit Kaffee, auf dem Kohleherd warm gehalten, in regelmäßigen Abständen ein gemütliches und beruhigendes Blubbern von sich gab. Jon war ein romantischer Junge.
Und er war in Isabelle verschossen. Aber er traute sich nicht, es ihr zu sagen. Denn er konnte sich nicht vorstellen, daß so ein kluges, schönes, mutiges Mädchen, das alle so gern mochten, seine Gefühle erwidern könnte.
Er sprang vom Gatter herunter und schlenderte langsam den Weg hinauf, der zum Dorf zurückführte. Im Vorbeigehen riß er einen Grashalm aus dem Boden, formte mit den Händen eine Höhle, legte den Halm zwischen die Seitenflächen seiner Daumen und blies kräftig hinein. Über die flache, von der Maisonne erleuchtete Landschaft tönte es laut und durchdringend, immer und immer wieder, wie der Ruf eines verirrten Tieres.
Isabelle betrat das Haus, schlüpfte aus ihren Schuhen und stellte sie unter die Eichenholzgarderobe, neben die Gummistiefel ihres Vaters, die er nun schon so lange nicht mehr angezogen hatte. Ihre Mutter hatte sie gehört und kam die Treppe herunter. Sie trug auch keine Schuhe, sondern lief auf Strumpfsocken, wie man hier sagte.
»Wo warst du nur wieder?« fragte sie ihre Tochter nervös. »Wie siehst du nur aus? Deine Hose. Hundertmal habe ich dir gesagt, daß Grasflecken nicht rausgehen ...«
Sie stand dicht vor ihrer Tochter und strich ihr die Haare aus der Stirn.
Isabelle setzte zu einer Erklärung an, aber ihre Mutter ließ sie nicht zu Wort kommen, sondern zupfte an ihr herum. »Wo ist deine Haarspange?«
Ehe Isabelle etwas antworten konnte, griff ihre Mutter zu der Messingschale, die in die Ablage der Garderobe eingelassen war, nahm ein Gummiband heraus, trat hinter ihre Tochter, raffte deren Haare mit der einen Hand zusammen, um dann mit der anderen das Band darüber zu streifen, so daß ein Pferdeschwanz entstand. »Nimm die Haare aus dem Gesicht ... wasch dir die Hände ... zieh deine Puschen an ... dann geh rauf ... dein Vater will dich sehen ... ach, Kind ... Doktor Eggers ist gleich da. Es geht Vater nicht gut.«
Sie zog ein Taschentuch heraus, doch nicht, weil sie weinen mußte. Sie reichte es Isabelle, damit sie sich den Zucker aus den Mundwinkeln wischen konnte – Reste vom Guß der Rosinenschnecken, die Jon seiner Freundin von seinem Taschengeld spendiert hatte. Er kriegte fünf Mark jeden Monat. Isabelle bekam nichts von ihren Eltern. Ihre Mutter meinte, Taschengeld sei eine Erfindung von Städtern. Alles, was Kinder auf dem Land bräuchten, bekämen sie zu Hause. Alles eben nicht, fand Isabelle.
Sie hatte schon früh ein gutes Gefühl für den Wert des Geldes entwickelt. Das verdankte sie ihrem Großvater. Er hatte die letzten Jahre seines Lebens bis zu seinem Tod im vergangenen Herbst bei ihnen gewohnt und seiner Enkelin Aufträge erteilt, für deren Erledigung er ihr Geld zusteckte. Heimlich, denn Isabelles Mutter wollte nicht, daß ihre Tochter für ein paar Groschen die Morgenzeitung oder Zigarren holte oder einen Brief wegbrachte.
Am besten gefiel Isabelle dabei, daß sie ihrem Großvater abends vor dem Schlafengehen, während er, einen Zigarrenstummel im Mund, in der Küche noch die Todesanzeigen studierte, für fünfzig Pfennig das Bett anwärmen durfte. Dann kam er mit seinen Filzpantoffeln nach oben geschlurft, ging, während sie unter der Federdecke lag, an seinen Kleiderschrank, nahm eine Zigarrenspankiste heraus, öffnete sie, fingerte unter den Geldscheinen den Fünfziger heraus und warf ihn ihr in hohem Bogen zu. Sie fing die Münze auf, sprang aus dem Bett, gab ihm flüchtig einen Gutenachtkuß und verschwand wieder nach unten in ihr Zimmer, das neben der Stube lag.
Bald schon kam Isabelle darauf, ihrem Großvater – dem Vater ihres Vaters – vorzuschlagen, ihm auch zum Mittagsschlaf das Bett anzuwärmen, und das nicht nur im Winter, sondern auch in den Sommermonaten. Er willigte ein. Sie ließ sich von ihrem Großvater eine leere Zigarrenkiste schenken und machte daraus ihre Kasse, die sie im Nachttisch versteckte. Von Zeit zu Zeit zählte sie ihren Schatz: Er mehrte sich durch Pfandgeld für leere Bierflaschen, die sie in der Nachbarschaft sammelte, durch Aushilfen in der Bäckerei Voss, durch Botendienste, für die sich Isabelle im Dorf anbot. Niemand wußte, daß sie Erspartes besaß, außer Jon. Ihm erzählte sie alles. Auch, daß sie das Geld dafür nutzen wollte, einmal ein eigenes Geschäft zu eröffnen, ganz gleich was für eines, und daß es ihr Ziel war, einmal berühmt zu werden.
Jon war Isabelles Vertrauter. Er war für sie der wichtigste Mensch auf der Welt, sie war froh, daß er ihr Freund war, sie träumte sogar von ihm. Sie träumte, daß er sie küßte. Jon war ganz anders als alle anderen Kinder, so ruhig und klug; er redete beinahe so wenig wie ihr Großvater, aber was er sagte, war immer genau das richtige. Auf alle Fragen wußte er eine Antwort, oder wenigstens wußte er, wie man eine Antwort bekam: Jon hatte tolle Bücher, über die Welt der Tiere, die Welt des Mittelalters, über die Sagenwelt, das alte Ägypten ebenso wie über das England des vergangenen Jahrhunderts, in dem ihre größten Helden lebten, David Copperfield und Oliver Twist. Jon besaß die beiden Dickens-Romane in wundervollen illustrierten Ausgaben; gemeinsam betrachteten sie die Zeichnungen, die ihnen wie ein Abbild des wirklichen Lebens erschienen. Manchmal las er ihr daraus vor, und sie fühlten sich dann wie die Romanfiguren.
»Nun geh rauf!« befahl ihre Mutter.
Während sie in der Küche verschwand, ging Isabelle die Treppe hoch. Sie hielt sich, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, zwei Stufen auf einmal hinauf- oder hinunterzustürmen, am Geländer fest, so, wie ihr Großvater es immer getan hatte. Ihr fiel plötzlich auf, wie laut die Eichenstanduhr in der Diele tickte, und sie blieb kurz stehen und drehte sich erstaunt um. Dann gab sie sich einen Ruck, nahm die letzten Stufen und öffnete die Tür zum Schlafzimmer der Eltern.
Ihr Vater lag, die Augen geschlossen, in der linken Hälfte des frisch bezogenen Ehebettes. Die andere Hälfte war abgedeckt, denn seitdem er so krank war, hatte er darauf bestanden, daß seine Frau im benachbarten Zimmer, der Großvaterkammer, wie sie den Raum nannten, schlief.
Er sah schmal aus, bleich und alt. Isabelle war immer bewußt gewesen, daß ihr Vater erheblich älter war als die Väter ihrer Freundinnen und Klassenkameradinnen, aber wie er jetzt so dalag, kam er ihr wie ein Greis vor. Er litt an Leukämie. Sie schloß leise die Tür und kam auf Samtschritten heran.
Ihr Vater öffnete die Augen: »Kind! Ich hab schon auf dich gewartet. Komm, setz dich zu mir.« Er zog seinen Arm unter der Bettdecke hervor und klopfte sanft auf den Platz neben sich.
»Papa«, sagte Isabelle. »Papa!« Sie umarmte ihn.
»Sei nicht traurig.« Er schob ihren Kopf sanft von sich, umfaßte ihr Gesicht mit den Händen und schob es hoch, so daß er sie ansehen konnte. »Ich habe nicht mehr lange Zeit ...«, fuhr er fort und rang nach Luft. »Ich werde sterben ...«
»Nein, Papa!«
»Doch.«
»Aber Doktor Eggers kommt gleich. Mama sagt ...«
»Wir haben uns doch nie gegenseitig etwas vorgemacht, hm?«
»Nein.«
»Ich hab dich sehr lieb, Isabelle. Und ich möchte, daß du weißt, daß ich immer bei dir sein werde, auch wenn ... wenn ...« Er schwieg eine Weile, drehte seinen Kopf zur Seite und blickte aus dem Gaubenfenster hinaus. »Ich habe ein bißchen Angst, weißt du ...«, fuhr er fort, »du bist erst dreizehn, aber ich finde, du bist alt genug, daß wir darüber reden, nicht wahr?«
Isabelle wußte nicht, was sie antworten sollte.
»Vor dem, was da kommt«, fuhr er fort. »Aber der liebe Gott wird mich schon aufnehmen, was?«
Seine Tochter nickte.
»Ich hab auch Angst um deine Mutter. Um dich nicht. Nein.« Er lächelte. »Du bist mine seute Deern ...«
»Papa ... ich hab dich auch so lieb ...«
»Du mußt wirklich nicht traurig sein. Ich habe ein gutes Leben gehabt, alles, was ich wollte ... viel erlebt, so eine kluge Tochter, unser schönes Zuhause ... Du mußt nun auf das alles mit aufpassen, Isa. Du wirst das schon machen, deiner Mutter zur Seite stehen, nicht?«
»Ja.«
»Du bist was Liebes.« Er hob die Hand, um Isabelle zu streicheln, war aber zu schwach dazu. »Du bist meine Tochter, du bist was Besonderes. Vergiß das nie.«
Sie schüttelte den Kopf, ohne wirklich zu verstehen, was er meinte.
»Geh immer auf die Menschen zu, das ist das, was ich dir mit auf den Weg geben will, bleib immer schön bei der Wahrheit, dir selbst gegenüber, Kind: Ehrlichkeit und Offenheit sind nun mal das Wichtigste im Leben.«
Er schloß kurz die Augen; als er sie wieder öffnete, blickte er seine Tochter nicht mehr an, sondern starrte ins Leere. Es war, als ob er Fieber hätte. Leise murmelte er vor sich hin:
»‹Ich wanderte schon lange, da kamest du daher.
Nun gingen wir zusammen. Ich sah dich nie vorher.
Noch eine kurze Strecke – das Herz wird mir so schwer –
Du hast noch weit zu gehen. Ich kann nicht weiter mehr.«
Er sprach jetzt so leise, daß sie ihn kaum noch verstand. »›Un wenn min Hanne lopen kann, so gat wie beidn spazeern ...‹« Isabelle kannte all die norddeutschen Gedichte, ihr Vater hatte sie oft rezitiert. Aber jetzt klangen die Zeilen plötzlich ganz anders, und ihr Vater sah so merkwürdig aus ...
»›... denn seggt de Kinner alltohop ...‹«
Sie stand vorsichtig auf, so, als wollte sie ihn nicht wecken, und ging rückwärts zur Tür. In diesem Augenblick trat ihre Mutter mit Doktor Eggers ins Zimmer. Der Arzt ging sofort ans Bett, stellte seine Tasche auf den Boden, öffnete sie und suchte etwas darin. Isabelles Mutter ergriff die Hand ihrer Tochter und zog sie zu sich. »Nun geh man runter«, sagte sie. »Du hast ja nun mit ihm gesprochen.«
Isabelle wollte protestieren, aber ihre Mutter schob sie auf den Flur hinaus. »Warte unten in deinem Zimmer.« Mit diesen Worten schloß sie die Tür hinter sich.
Verstört blieb Isabelle einen Moment am Treppenabsatz stehen, dann ging sie hinunter. Es war vollkommen still im Haus.
Gretel Burmönken goß aus der Glasflasche einen kräftigen Schluck Spiritus in den Deckel der Tabaksdose, den sie für solche Zwecke in der Speisekammer aufbewahrt hatte. Dann wickelte sie die Vierländer Enten aus dem Pergamentpapier und legte sie neben den Deckel auf den Küchentisch. Dabei summte sie fröhlich vor sich hin. Aus dem Radio, das auf dem gemütlich brummenden Bosch-Kühlschrank stand, tönte ein Schlager, den Gretel über alles liebte und der kürzlich bei einem Festival, dem Grand Prix de la Chanson, den ersten Preis eingeheimst hatte: »Merci, chérie«. Gretel nahm von der Fensterbank die Schachtel Welt-Hölzer, schüttelte sie kurz, um zu überprüfen, ob noch Streichhölzer darin waren, nahm eines heraus, entzündete es mit einem Ratschen und hielt es an den Spiritus, der sofort brannte.
»... für die Stunden mit dir, merci ...«, sang Gretel gemeinsam mit Udo Jürgens und setzte sich an den Tisch. Sie nahm eine der Enten und sengte die Reste der Federn ab, indem sie das Tier über die Flamme hielt und sorgfältig drehte und wendete.
Die Küche der Trakenbergschen Villa, vierzig Quadratmeter groß, fast bis unter die Decke mit Delfter Kacheln gefliest, pieksauber, wie Gretel Burmönken ihr Reich gern beschrieb, und nach dem neuesten technischen Stand ausgestattet, befand sich im Souterrain des Hauses. Durch die vier halbhohen vergitterten Fenster, die über den Arbeitsflächen, dem Spülstein und dem Herd lagen, hatte man einen Blick über den Garten: die Rhododendronhecken, die das Grundstück einfaßten und die jetzt kurz vor der Blüte standen; die sanft abfallende, nach englischem Vorbild rappelkurz gehaltene Rasenfläche; den Pavillon am Ende des Abhangs und darunter, anscheinend so nah, als gehörte sie noch zum Anwesen, die Elbe. Schiffe zogen vorbei, kleine Kähne, große Pötte. Sie kamen aus fernen Welten oder eben um die Ecke, sie fuhren fort, hinaus aufs Meer, und sie trugen nicht nur ihre Fracht mit sich, sondern immer auch, so fand Gretel, ein Stück Sehnsucht.
Sie seufzte. Sie mußte an den Weißrussen denken, an damals, die Zeit kurz vor dem Krieg in Hamburg, da war sie gerade mal zwanzig gewesen, und sie und er hatten auf einer Bank im Stadtpark gesessen, und als er seufzte, hatte sie ihn gefragt: »Warum seufzt du?« Da hatte er empört geantwortet: »Aber ich saufe doch nicht!«, und sie hatte laut losprusten müssen und ihm das Wort »seufzen« erklärt, und dann hatte er auch gelacht. Jaja, lang, lang ist's her.
Merci, chérie ...
Gretel stand auf, wischte sich die Hände an ihrer Rüschenschürze ab – eine Geste, die ihr zur Gewohnheit geworden war –, und ging in die Speisekammer, in der sich Töpfe und Pfannen, Vorräte und Gewürze befanden. Sie nahm den gußeisernen Bräter heraus, das Salzglas, eine Pfeffermühle und einen Zweig von dem Thymian, der neben anderen Gartenkräutern, mit Bindfaden zum Sträußchen gebunden, an der Innenseite der Tür hing. Sie rieb die Enten mit Salz und den Thymianblättchen ein, pfefferte sie und legte sie in den Bräter. Dann goß sie eine Tasse Wasser hinzu und schaute auf die Küchenuhr, die über der Tür hing. Es war zehn Uhr morgens. Zu früh, um jetzt schon das Mittagessen aufzusetzen. Die Musiksendung war beendet. Ein Sprecher verlas Nachrichten: Zwei Starfighter waren bei einem Nato-Manöver kollidiert und in die Nordsee gestürzt, Kanzler Erhard hatte sich zum Bundeshaushalt geäußert, der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß verteidigte auf einer Südafrika-Reise die Apartheidpolitik der Regierung in Pretoria.
Gretel schaltete das Radio ab. Sie wollte nichts dergleichen hören. Es war Zeit für Frau Trakenbergs Tee. Einem alltäglichen, wohlvertrauten Ritual folgend, setzte Gretel den Wasserkessel auf, stellte eine Teetasse auf das Tablett, röstete Weißbrot, butterte die Scheiben und bestrich sie mit Orangenkonfitüre. Dann gab sie Darjeeling-Blätter in die Kanne und goß das kochende Wasser hinzu. Aus einem Schränkchen nahm sie eine frische Serviette, zog sie durch den silbernen Serviettenring und legte sie neben den Frühstücksteller, das Sahnekännchen und das Kandisschälchen aus chinesischem Porzellan. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk, sah sich kurz um – Herd ausgeschaltet, Fenster geschlossen, die Spiritusflamme verloschen –, hob das Tablett hoch und verließ die Küche.
Seit zehn Jahren arbeitete sie nun schon als Köchin bei den Trakenbergs. Fast fünfzig Jahre alt, klein, dick, mit roten Wangen und den Augen einer Fünfzehnjährigen, war sie die gute Seele des Hauses. Für Carl Trakenberg, zwei Jahre jünger als sie und ihr Schwarm, für seine Frau Charlotte und deren Tochter Vivien, für den Gärtner und die leider ständig wechselnden Putzfrauen, für die Elbvorort-Nachbarschaft und die Hamburger Gesellschaft, die bei den Trakenbergs ein und aus ging, war sie einfach »die Burmönken«. Man schätzte ihren spröden norddeutschen Humor. Man bewunderte ihren Fleiß und ihre Zuverlässigkeit. Und vor allem: man liebte ihre gute Küche. Sie hatte alles stets im Griff, und alle, wie sie selbst gern sagte, »unter Wind« – sie machte keinen Unterschied zwischen Arm oder Reich, Jung oder Alt, sie machte keinen Hehl aus ihrer Meinung (und sie hatte zu allem eine Meinung!), sie bestimmte den Alltag und den Tagesablauf im Hause Trakenberg, und zwar vom Morgen bis zum Abend.
Gretel öffnete mit dem Ellenbogen die Tür zum Schlafzimmer, das sich im ersten Stock der Jahrhundertwendevilla befand. Das Ehepaar schlief seit Jahren in getrennten Räumen. Charlotte Trakenberg war bereits wach. Sie saß, den Rücken zur Tür gewandt, an ihrem Schreibsekretär und sah die Briefe durch, die ihr Mann ihr allmorgendlich dorthin legte.
»Guten Morgen! Sie sind ja schon auf.« Gretel stellte das Tablett auf die stoffbezogene Bank am Fußende des Bettes.
Charlotte Trakenberg drehte sich um. »Morgen. Ja ... danke Ihnen.«
Sie war eine hochgewachsene, schlanke Frau, deren starken Willen man ebenso an ihrem Gesicht ablesen konnte wie eine Neigung zur Schwermütigkeit. Sie hatte Schlupflider, eine große, scharfgeschnittene Nase und nach unten gezogene Mundwinkel. Ihre langen, dunkelbraunen Haare waren stets, selbst am Morgen, sorgfältig zu einem Chignon eingeschlagen. Über ihrem Seidenschlafanzug trug sie einen engen, bodenlangen Morgenrock aus roter Mohairwolle, dessen Kragen und Ärmel mit einem Besatz aus Vogelfedern versehen waren, die bei jeder Bewegung und jedem Atemzug flatterten, als wären sie lebendig und wollten aufsteigen. Charlotte Trakenberg hatte sich zu ihrer Köchin umgewandt und einen Arm über die Lehne des Stuhles gelegt. Sie sah aus wie eine adelige Dame auf einem Altmeistergemälde.
»Soll ich eingießen?« fragte Gretel.
»Lassen Sie nur.«
»Noch Wünsche? Sonst gehe ich nämlich wieder in die Küche. Die Dinge erledigen sich ja nicht von allein.«
Charlotte Trakenberg stand auf. »Danke nein. Ist Elke schon da?«
»Von der habe ich noch nichts gehört und gesehen. Wahrscheinlich wieder krank.«
»Gott, Frau Burmönken, das ist Schiffbruch auf der ganzen Linie ...« Sie goß sich Tee ein, nahm die Tasse hoch, nippte daran und stellte sie wieder zurück. Der Tee war ihr zu heiß. »Es muß doch in dieser Stadt jemanden geben ... der putzen will!«
»Tja«, antwortete Gretel, »ich hab Ihnen ja schon gesagt: Das große Haus mit all dem Gedöns ... Sie haben ja auch so Ihre Vorstellungen ... das ist etwas für eine Haushälterin. Mit einer Putzfrau kommen wir auf Dauer nicht längs.«
»Ich muß es noch einmal mit meinem Mann besprechen.« Sie ging an ihren Platz zurück und setzte sich wieder.
»Kommt er heute mittag zum Essen?« fragte Gretel.
»Nein. Er bleibt in der Stadt.«
»Dann hab ich ja alles umsonst vorbereitet! Ente.« Gretel war verärgert.
»Na ja, Frau Burmönken, das Kind muß ja auch was haben, wenn es von der Schule kommt ... übrigens, denken Sie dran: Morgen abend haben wir eine Gesellschaft. Sechs Personen. Machen Sie mir bitte bis heute nachmittag Vorschläge. Es wäre auch schön, wenn Sie servieren könnten und sich überhaupt bereit halten würden ...«
Gretel nickte, stellte Charlotte Trakenberg die Teetasse auf den Sekretär und ging zur Tür. Sie wollte gerade das Schlafzimmer ver lassen, als das Telefon auf dem Nachttisch klingelte. Mißbilligend sah Charlotte Trakenberg zu dem Apparat aus weißem Bakelit hinüber, dessen Glocke schrill läutete. »Seien Sie doch so nett ...« Gretel ging an den Nachttisch und nahm den Hörer ab. »Haus Trakenberg?«
Charlotte Trakenberg wartete einen Moment, aber als sie bemerkte, daß es ein Anruf für die Burmönken war, wandte sie sich ab, las weiter ihre Post und trank dabei in kleinen Schlucken ihren Tee. Für eine Weile war sie versunken in den Brief einer Freundin, die ihr aus Brasilien geschrieben hatte, folgte deren Geschichten und Beschreibungen. Doch plötzlich hielt sie inne, ließ den Bogen sinken und sah erneut zur Burmönken hinüber.
Bleich und schweigend hörte die dem Anrufer zu, dann sagte sie: »Ist gut!«, legte den Hörer auf die Gabel zurück und faltete die Hände vor der Brust, als würde sie beten.
»Ist was passiert?« fragte Charlotte Trakenberg.
Gretel antwortete nicht.
»Frau Burmönken! Ich rede mit Ihnen!«
Die Köchin löste sich aus ihrer Erstarrung, ging ein paar Schritte in Richtung Tür und blieb dann in der Mitte des Raumes stehen. »Ja«, sagte sie, »ein Freund ... von mir ... der Familie ... aus meinem Heimatdorf.«
»Gott! Nun sagen Sie doch etwas!«
»Er ist gestorben.«
»Ach, Sie Arme.« Charlotte Trakenberg erhob sich und ging auf ihre Köchin zu. »Kann ich irgend etwas ...«
Gretel richtete sich auf. »Verzeihen Sie, aber ich muß Sie bitten, mir freizugeben.«
»Freigeben? Aber um Himmels willen, wann denn?«
»Sofort! Ich muß noch heute nach Luisendorf.«
»Ich verstehe, daß Sie jetzt aufgeregt sind. Aber bitte bedenken Sie, wir haben ja morgen unsere Gesellschaft. Und diese ... diese Elke ist nicht da. Ich kann unmöglich auf Sie verzichten, Frau Burmönken. Wie soll das gehen?«
Gretel blickte ihrer Arbeitgeberin streng ins Gesicht. »In all den Jahren, Frau Trakenberg, habe ich immer meine Arbeit hier vornean gestellt, war nie krank, habe nie gefehlt, auch damals nicht, als meine Cousine ins Krankenhaus kam. Diesmal geht es aber nicht anders. Das sind meine engsten und ältesten ... und ...«, sie war den Tränen nahe, weinte aber nicht, »besten Freunde. Ich muß dorthin!«
Charlotte Trakenberg sah zu Boden. »Nun gut«, sagte sie, »in Gottes Namen. Mein Beileid.« Sie ging schnurstracks an ihren Sekretär zurück.
Mit gesenktem Kopf verließ Gretel Burmönken den Raum.
In ihrem Souterrainzimmer angekommen, das am Ende des Küchenflures neben dem Weinkeller lag, band sie ihre Schürze ab, nahm einen Koffer vom Schrank herunter und fing an zu packen. Als sie ins Badezimmer trat und das Licht anknipste, hielt sie inne und besah sich im Spiegel. Mit den Händen zog sie die Haut ihres Gesichtes straff, so, als könnte sie die Zeit zurückdrehen und die Wunden und die Falten glätten, die sie ihr zugefügt hatte. »Ida, Ida ...«, murmelte sie leise.
Ida Corthen war eine Freundin seit Jugendtagen. Gretels jüngere Schwester Ilse hatte die Klassenkameradin eines Tages mit auf den Hof der Burmönkens gebracht. Das stille, ernste Mädchen aus der Nachbarschaft gehörte bald zur Familie, sie war das siebte Kind geworden, half mit auf dem Feld, durfte bei den Burmönkens übernachten, und sie und Ilse waren unzertrennlich. Aber dann war Ilse gestorben, keine zwölf Jahre alt, und Gretel hatte sich Idas angenommen. Wie eine ältere Schwester stand sie Ida zur Seite, auch später noch, Mitte der dreißiger Jahre, als Gretel fortgegangen war und ihre erste Stelle angetreten hatte, in Hamburg in der Johnsallee, bei einer Arztfamilie, die dann nach London gezogen war und sie als Hausmädchen hatte mitnehmen wollen.
Es gab im Leben immer wieder diese Wegkreuzungen, das hatte sie gelernt, an denen man sich entscheiden mußte, in welcher Richtung man weiterging. Dort standen, unsichtbar, die guten und die bösen Geister. Ohne sich zu erkennen zu geben, lockten sie: Folge mir. Ging man in die falsche Richtung, erwartete einen das Unglück. Gretel wußte mittlerweile, daß es immer nur darauf ankam, auf sich selber zu hören. Sie konnte zwischen den guten und den bösen Geistern unterscheiden, sie hatte es immer richtig gemacht, fand sie.
Auch mit Hermann. Kurz vor dem Krieg hatten sie sich auf einem Tanzfest im Kaffeegarten des Winterhuder Fährhauses kennengelernt, ausgerechnet, unter ein paar hundert Gästen. Er war ihre große Liebe gewesen. Er lernte auf Melkmeister in Aumühle. Doch er erwiderte ihre Gefühle nicht. Sie hatten sich trotzdem immer und immer wieder getroffen, denn sie verstanden sich gut, und Gretel hatte von ihrer Mutter gelernt, daß eine Frau einen Mann nicht drängen soll, daß sie warten können muß, daß eine Sache nur gut ausgehen kann, wenn er sich müht und um sie wirbt, nicht umgekehrt. Also versteckte sie ihre wahren Gefühle. Doch bald sah sie ein, daß es keinen Zweck hatte. Kurzerhand lud sie Ida an einem Sonntag zu sich ein und verkuppelte die beiden miteinander: So konnte Hermann ihr erhalten bleiben. Er war zehn Jahre älter als Ida, und die beiden paßten wunderbar zusammen, das hatte Gretel gut erkannt. 1943 wurde geheiratet, ein bißchen auch, weil sie fürchteten, Hermann könnte nicht zurückkommen aus Frankreich.