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Über dieses Buch:

Alles scheint so perfekt zu sein: Anne und ihr Mann Wolf haben eine Altbauwohnung in Hamburg-Eppendorf, er illustriert Kinderbücher, sie ist Mutter aus Leidenschaft. Ihre drei Jungs im Alter zwischen elf und achtzehn halten Anne auf Trab – doch immer mehr spürt sie: etwas fehlt, etwas muss sich in ihrem Leben ändern! Als sie gemeinsam Wolfs besten Freund Paul besuchen, wird Anne schmerzlich bewusst, wonach sie sich seit über zwanzig Jahren heimlich sehnt: Paul. Sie liebt ihn, er liebt sie. Beide haben es immer gewusst, konnten es sich aber nie eingestehen … Doch nun, an diesem Sonntag auf der Wiese hinter dem alten Bauernhaus, ist alles anders – doch können Anne und Paul jetzt wirklich alles riskieren für ein ungewisses Glück?

Über den Autor:

Christian Pfannenschmidt, geboren 1953, war Journalist und Reporter für die Abendzeitung München, den Stern und das Zeit-Magazin. Heute lebt er als Autor in Köln und Berlin. Von ihm stammen unter anderem die Drehbücher der ZDF-Erfolgsserie »Girlfriends«. «Die Villa am Seerosenteich» wurde in mehrere Sprachen übersetzt und in der Verfilmung als ARD-Zweiteiler, verfolgten über 6 Mio. Menschen die Karriere von Isabelle, dem Mädchen vom Lande, das zur Chefin eines Modeimperiums aufsteigt. 2003 gründete er eine eigene Fernsehproduktion und setzte seine persönliche Erfolgsgeschichte mit TV-Serien wie u.a. »Die Albertis« und »Herzensbrecher – Vater von vier Söhnen« sowie der erfolgreichen Freitagabend-Reihe »Meine Mutter ist unmöglich« fort.

Bei dotbooks erschienen Christian Pfannenschmidts Romane »Die Villa unter den Linden«, »Der Klang unserer Seelen«, »Die Villa am Seerosenteich« und »Das alte Bauernhaus des Glücks«.

Außerdem haben ihn die Charaktere der »Girlfriends«-Serie nicht mehr losgelassen. Und so hat er – basierend auf den Drehbüchern – sieben Romane über die Freundinnen Marie, Ilka und Elfie geschrieben:

Band 1: »Fünf Sterne für Marie«

Band 2: »Freundschaft auf den dritten Blick«

Band 3: »Zehn Etagen zum Glück«

Band 4: »Demnächst auf Wolke sieben«

Band 5: »Kurz vor zwölf im Paradies«

Band 6: »Das 1x1 zum großen Glück«

Band 7: »Die kleine Pension an der Alster«

Die Bände 1-3 der »Girlfriends«-Serie sind bei dotbooks auch in dem Sammelband »Das Hotel an der Alster« erschienen. Die Bände 4-6 der Serie erschienen bei dotbooks unter dem Titel »Sommer im Hotel an der Alster«.

Weitere Informationen über den Autor unter: www.christianpfannenschmidt.de

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe Mai 2020

Dieses Buch erschien bereits 2001 unter dem Titel »Die Albertis« bei Rowohlt, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Originalausgabe Rowohlt, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/lanych, Nella und adobeStock/fotografci

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-95520-275-0

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Christian Pfannenschmidt

Das alte Bauernhaus des Glücks

Roman

dotbooks.

KAPITEL 1

Anne

Es war einfach so, dass sie Angst hatte. Angst vor Frauen mit Perlenketten und vor betrunkenen Männern; vor Sonntagen, Fritteusen, Tunnels und Menschenansammlungen. Anne fürchtete sich aber auch davor, stehen geblieben zu sein im Leben, und vor Veränderungen. Am schlimmsten jedoch war die ständige Angst, einem ihrer drei Söhne könne etwas passieren, oder sogar Wolf, ihrem Mann.

»Hör bloß auf!«, hatte ihre Freundin Ebba letzte Woche noch gesagt.

»Aber ich sage doch gar nichts!«, erwiderte Anne.

Sie saßen bei Da Nando,ihrem Lieblingsitaliener.

»Du brauchst nichts zu sagen, Annette!« Ebba drehte die Spaghetti auf ihre Gabel, schob sie sich in den Mund und sprach kauend weiter. »Dir steht alles immer ins Gesicht geschrieben.« Sie zeigte mit der Gabel, an der noch etwas Tomatensauce klebte, auf ihre Freundin. »Du denkst gerade: Hoffentlich kriege ich von diesen Muscheln keine Lebensmittelvergiftung.« Sie lachte über ihren Witz.

Anne legte demonstrativ ihr Besteck auf den fast noch vollen Teller. »Genau!«

Sie schüttelte ihre dicken blonden, kinnlangen Haare. Das tat sie immer, wenn sie im Begriff war, sich zu ärgern. Dann trank sie wie zur Beruhigung einen Schluck Weißwein. Aragosta. Schön kalt. Wunderbares Sommergetränk. Schmeckte nach Weit-weg-und-nie-mehr-Wiederkommen. Zu spät, zu spät. Mist. Sie stellte ihr Glas zurück auf die rot-weiß karierte Tischdecke. Die Kerze verströmte ein weiches, warmes Licht.

»Such dir einen Job, Annette!« Ebba zutzelte eine Muschel aus der Schale, während Lucio Dalla rau und kratzig »Cosa Sera« sang, und sah ihrer Freundin fest in die Augen. »Du musst unter Leute. Dich mal wieder erproben. Sonst ... sonst ... du siehst bald aus wie jemand, der irgendwie die Bahn verpasst hat, Darling!« Mit dem sorgfältig manikürten und cremefarben lackierten french nail ihres linken Zeigefingers zog sie die Falten auf Annes hoher Stirn nach und die Linien um ihre blauen Augen. Anne atmete kaum. Dann wurde sie wütend, umfasste das Handgelenk und schob den Arm ihrer Freundin fest zurück.

»Die Bahn verpasst? Im Eilzug durchs Leben, so wie du?«

»Eilzug. In welcher Zeit lebst du? 1812? Eilzug ...«

Anne ließ sich nicht beirren: »Ich bin eben keine tolle Karrierefrau ohne Familie. Die alles so mit ... mit links macht, wie du!« Sie wurde einen Tick lauter. »So doll und vorbildlich ist dein Leben ja nun auch nicht gerade. Ich beneide dich wirklich nicht darum, Ebba, dass du jeden Tag in deine Bank latschst und Millionen Aktien umschaufelst. Und abends nach Hause ...«

»Nachts!«

»Nachts nach Hause kommst, und keiner ist da, und überhaupt.«

»Und überhaupt!« Ebba betupfte sich mit ihrer Serviette die Mundwinkel. »Und überhaupt konntest du noch nie gut argumentieren, wenn es um dich geht. Du lenkst immer ab. Du willst die Wahrheit nicht hören.«

»Sag sie mir, Ebba. Sag sie mir. Du weißt, dass ich auf dich höre.«

Ebba lächelte ihr schönstes Lächeln. Wie toll sie aussieht, dachte Anne, stolz statt neidvoll, meine beste Freundin. Und wie sie so aufrecht dasitzt, die rostbraunen Haare damenhaft eingeschlagen, damit keiner etwas von der Dunkelkammer in ihrem Inneren ahnt. Das Make-up perfekt, als habe der Tag gerade erst begonnen. Die Perlenkette in genau der richtigen Länge, und eine Wohlhabenheit ausstrahlend, als gäbe es einen Mann an ihrer Seite, der für sie zahlt. Das Kostüm, maßgemacht und faltenlos, als sei es ebenso geliftet wie Ebbas Gesicht.

Sie kannten sich seit langer Zeit. Sie waren verschieden wie Tag und Nacht. Und dennoch – oder gerade deswegen – hingen sie zusammen wie Topf und Deckel, wie Baum und Wurzel, wie Kopf und Herz. Kennen gelernt hatten sie sich durch eine ganz alltägliche Geschichte, auf der Sparkasse. Ebba war damals dort Kontoführerin gewesen, Herrscherin über Guthaben und Dispositionskredite, eine strenge Herrscherin, besonders gegenüber der Familie Alberti, die zu jener Zeit über wenig und unregelmäßige Einkünfte verfügte. Das Girokonto war mehr als überzogen. Es hagelte Briefe. Es gab zahlreiche Telefonate zwischen Ebba Mommsen und Wolf, unangenehme Gespräche, die Anne und ihren Mann ärgerten und kränkten. Schließlich wollte die Sparkasse den Geldhahn zudrehen. Von da an (und bis zum heutigen Tag) übernahm Anne die Finanzen. Sie machte einen Termin, zog sich schick an und sprach bei Ebba vor. Die Überraschung war: Auf Anhieb konnten sie sich gut leiden. Ebba zeigte Verständnis und Herz. Anne hatte schon immer geglaubt, dass in den wirklich schwierigen Situationen des Lebens plötzlich ein Mentor auftaucht, der einem hilft. Damals war Ebba ihr Mentor gewesen. Als Ebba die Sparkasse verließ, um zu einer Privatbank zu wechseln, bedankte sich Anne bei ihr mit einem Abendessen, bei sich zu Hause. Nach dem Essen zog sich Wolf zurück, um zu arbeiten. Die beiden Frauen blieben allein in der Küche, tranken und unterhielten sich, und entdeckten viele Gemeinsamkeiten. Erst morgens um vier Uhr verließ Ebba die Wohnung der Albertis. Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

»Erstens«, Ebba hielt ihren Daumen hoch, »du hast einen lieblosen Ehemann, der ...«

»Ebba! Ich bitte dich.«

»... nicht mal merken würde«, sie beugte sich verschwörerisch vor, »wenn du nicht mehr da wärst. Trantütig wie er ist. Immer nur seine albernen Zeichnungen im Kopf.«

»Du bist ungerecht. Mit diesen ‹albernen› Zeichnungen ernährt er eine fünfköpfige Familie. Einigermaßen jedenfalls.«

»Zweitens ...«, sie hob die Stimme und hielt den Zeigefinger hoch, »... du hast drei Söhne, die eigentlich alle flügge sind.«

»Luis ist zehn!«

»Pavel ist siebzehn, Edward achtzehn, korrigiere mich. Die Zeit rast, Anne, sie rast. Schau dich an. Du bist jetzt neununddreißig. In zwei, drei Jahren lebst du allein mit Wolf in eurer Riesenwohnung, in diesem schrecklichen Kinderwagen-Stadtviertel, und wenn du sterben wirst, dann nicht einer Krankheit wegen. Sondern vor Langeweile.«

Sie aß weiter. Sie war zufrieden mit sich. Wie immer eigentlich.

Anne wollte etwas antworten, aber sie wusste, dass es stimmte, was ihre Freundin gesagt hatte. Sie trank ihr Glas in einem Schluck leer. Der Weißwein lief ihr kühlend die Kehle herunter. »Trotzdem«, wandte sie ein.

»Trotzdem was?«

»Ich bin ein Familienmensch. Ich liebe meine Söhne über alles. Ich brauche das eben, dies ...«

»Aber das ist ja der Irrsinn. Du kannst doch deine Jungs lieben. Du sollst doch deine Familie behalten. Und dennoch ...«, sie legte die Gabel auf die restlichen Nudeln und schob den Teller von sich, »... oder gerade deswegen: etwas für dich tun. Für dich! Weißt du überhaupt noch, wie das geht?« Ebba nahm Annes Hand. »Und wenn du dir schon keinen Job suchst, dann wenigstens einen Liebhaber.« Sie lachte auf.

Anne stimmte mit ein. »Ich bin eben ganz anders als du.«

»Weil wir gerade davon reden.« Ebba sah in Richtung Bartresen, hinter dem Nando stand und seinen drei Kellnern Instruktionen gab. Sie zeigte zu ihm herüber. »Den schnapp ich mir auch. Heute Abend. Ist längst fällig. Du wirst sehen, Darling. Hast du Zigaretten dabei?«

Anne schüttelte den Kopf.

»Nando?«, rief Ebba durch das Restaurant, so laut, dass ein paar Gäste aufschauten. Es klang selbstbewusst, es klang heiter. Und es klang wie: Bei Fuß!

Nando sah herüber, lächelte, kam. Sie bestellte ein Päckchen Marlboro und eine zweite Flasche Wein, und als er mit den Zigaretten und dem Aragosta zurückkehrte, Feuer gab, Komplimente verteilte und kraftvoll den Korken aus der Flasche zog, begann Ebba mit ihm zu flirten. Anne lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und musste sich bemühen, nicht laut loszulachen. Sie war eine Schlange, ihre Freundin. Und das sagte sie ihr auch, als der Wirt gegangen war.

»Ich werde heute Nacht mit ihm schlafen«, erklärte Ebba fröhlich.

»O Gott!« Anne schloss sekundenlang die Augen. »Sei doch nicht immer so gewöhnlich!«

»Ooch ... unser Lehrerstöchterlein ...«, Ebba leckte mit ihrer Zungenspitze die Lippenstiftreste vom Rand ihres Weißweinglases, »du wirst sehen, ich werde mir seinen schönen, sardischen Schwanz ...«

»Gott bewahre mich davor, dass ich das sehe!«

Anne und Ebba lachten. Um ein Uhr nachts waren sie die letzten Gäste. Um Viertel nach eins hatten die Kellner Feierabend. Ciao! Arrivederci! Buona notte! Nando saß an einem Ecktisch und machte Kasse. Um kurz nach halb zwei bestellte sich Anne ein Taxi, obwohl sie nicht müde war. Als sie um zehn vor zwei über die Alsterterrasse des Lokals ging und unter dem Licht der Lampions hindurchhuschte und sich noch einmal umdrehte, sah sie drinnen im Restaurant ihre Freundin mit dem Wirt tanzen. Eng umschlungen.

An diesen Abend in der vergangenen Woche musste sie denken, als sie jetzt in der Küche stand und mit Tellern warf. Sie war wütend. Wütend auf ihren Mann. Wütend auf ihre Söhne. Und was am schlimmsten war: wütend auf sich. Je länger sie an das Gespräch mit Ebba dachte, desto wütender wurde sie. Ebba, Ebba, Ebba ... ich bin ich, dachte sie, ich bin anders als sie und ich bin eben auch keine starke Frau. Ich war nie eine. Und ich werde auch nie eine sein. Wie Blitze schossen ihr diese Sätze durch den Kopf, und als brauche sie zur Bestärkung noch den Donner, nahm sie den nächsten Frühstücksteller vom Küchentisch und schmiss ihn auf den Steinfußboden. Wusch. Noch einen. Klirr. Den letzten. Päng. Klapper.

Keiner ihrer Söhne rührte sich in der Wohnung. Typisch. Und wenn die Welt brennt: Mama wird das Feuer schon löschen. Aus Pavels Zimmer dröhnte House-Musik. Edward schien noch zu schlafen, trotz des Lärms. Luis sang glockenhell im Flur ein Lied von Liebe und anderen Sorgen. Anne hörte, wie sich Wolf, seit nun fast zwanzig Jahren der Mann an ihrer Seite, nebenan im Badezimmer rasierte und dabei die Nachrichten hörte. Auch typisch, dachte sie, und guckte auf ihre Armbanduhr, Sonntagmittag und Monsieur pflegt sich. Nicht mich. Nicht das Familienleben. Kümmert sich nur um sich und seine Arbeit. Um nichts sonst, obwohl das seine Aufgabe gewesen wäre. Zumindest in den vergangenen vier Tagen, in denen sie bei ihren Eltern in Bremen gewesen war. Aber nein. Nichts, nichts, nichts. Sie ging zur Schublade neben der Spüle und trat mit Schwung einen halben Teller beiseite. Aber ich hab ja auch selbst Schuld, dachte sie: drei Söhne hochpäppeln – bei Licht besehen war Wolf der vierte – und denen immer nur die liebende Mutter geben, das war eben unmodern. Sie nahm ein Päckchen Zigaretten und eine Streichholzschachtel aus der Schublade.

Das passte halt nicht in die Zeit. Anne schob sich den Filter zwischen die Lippen und zündete sich die Zigarette an. Da wurde man halt ausgenutzt. Schlecht behandelt. Falsch verstanden. Leider. Sie inhalierte tief und drehte die Streichholzschachtel hin und her, während sie den Werbeaufdruck betrachtete. Da Nando. Wieso kam sie nicht auf so eine Idee wie Ebba? Einfach drauflos flirten und sich mal einen Mann schnappen. Ein Verhältnis haben. Mal wieder mit einem Mann schlafen. Begehrt sein. Marktwert testen,wie Ebba es nannte. Anne schmunzelte, als sie sich an dieses Bild der Tanzenden erinnerte. Sie lehnte gegen die Spüle und dachte über die ganze Geschichte nach, die Ebba ihr am Tag darauf erzählt hatte. Die Zigarettenasche fiel herunter. Als Anne den Wasserhahn aufdrehte und den glimmenden Stummel unter den Strahl hielt, hörte sie die Stimme von ihrem Mann: »Wieso rauchst du?«, fragte er.

Sie warf die Kippe in den Mülleimer und sah Wolf an. Da stand er, frisch geduscht und rasiert und gecremt und parfümiert barfuß und mit einem Frotteehandtuch um die Hüften geschlungen, ein Mann von fast vierzig Jahren, einsneunzig groß, kräftig, behaart und trotz seines Bauches noch immer ein attraktiver Mann, und starrte erst seine Frau an und dann auf die Scherben.

»Was ist hier los? Was soll der Scheiß?«

»Sonst noch Fragen?« Sie ging auf ihn zu. »Ich habe aufgeräumt.«

»Aufgeräumt?« Immer wenn er sein System bedroht sah, nahm seine Stimme eine fremde Färbung an, sie wurde härter und leiser. Gefährlich leise. »Bist du verrückt?«

Anne wurde laut. »Wolf, ich möchte dich bitten, mich nicht ständig zu kritisieren! Ich habe sehr anstrengende Tage hinter mir.« Sie stand jetzt direkt vor ihm. »Es war kein großes Vergnügen, diese zwei Tage bei meinen Eltern, das kannst du mir glauben.«

»Wieso soll ich das jetzt ausbaden? Du wolltest sie besuchen, du ...«

Sie ließ ihn nicht ausreden. »Und es war vor allen Dingen kein Vergnügen, dann nach Hause zu kommen, in der Hoffnung, ein bisschen aufgefangen zu werden, ein wenig umsorgt zu werden ... und stattdessen wieder nur: angemacht wird ...«

Anne versuchte ihn nachzumachen, ging auf und ab, während sie redete, trat auf eine Scherbe, kickte sie zur Seite. »Weshalb hast du nicht gekocht und nicht eingekauft, Annette! Warum hat Pavel kein Abi und macht eine so lächerliche Ausbildung zum Kfz-Mechaniker? Warum studiert Edward noch nicht? Wieso saut Luis alles voll mit Honig und Nutella? Wo sind meine GAP-Hemden?« Sie machte eine Pause. »Dieser ganze Mist! Ja? Du kannst dich auch mal um was kümmern, Wolf. Du kannst dich auch mal zuständig fühlen für ... deine ... deine Söhne.« Sie schob ihn beiseite und ging zur Tür. »Oder für mich!«

»Verstehe nicht, warum hast du eigentlich immer Probleme mit allen Leuten?«

»Mit allen Leuten?«

»Mit deinen Eltern. Mit deinen Kindern. Mit mir.« Er gab selbst die Antwort. Ganz ruhig. Ganz bestimmt. Ganz leise. »Ich will dir sagen warum: weil du Probleme mit dir hast!«

»Jetzt geht das wieder los! Du hast ja an nichts Schuld. Immer bin ich es. Es sind immer die anderen bei Herrn Wolf Alberti. Nichts Neues. Nichts Neues!« Sie verließ die Küche, er hörte sie im Flur weiter schimpfen, mit ironischem Unterton. »Keine Blümchen für Sybillchen! Paulebär nicht angerufen, wann wir zum Käffchen kommen. Eine Schlampe deine Frau!« Den letzten Satz schrie sie: »Sybille und Paul sind deine Freunde, Wolf! Nicht meine!« Mit diesen Worten knallte sie die Tür zum Schlafzimmer hinter sich zu. Wolf sah sich genervt um, kniete sich hin und begann, die Scherben aufzusammeln. Dabei schnitt er sich in den Daumen. Er fluchte. Der Sonntag war gelaufen.

Als Anne wieder aus dem Schlafzimmer kam, war keine halbe Stunde vergangen, aber die Welt schien sich geändert zu haben. Sie hatte sich geschminkt und umgezogen, trug einen Leinenanzug und Tennisschuhe und hatte ihr Lieblingsparfüm aufgelegt. In der Küche waren alle Spuren der Wut beseitigt. Wolf hatte geputzt und aufgeräumt. Unordnung bedrohte ihn, er konnte sie nicht ertragen. Im Laufe ihrer Ehe hatte er ein geheimes System entwickelt, das wiederum Anne Angst machte. Egal wie viel er zu tun hatte, sein Schreibtisch sah stets wie unbenutzt aus. Lediglich sein Zeichenblock lag darauf. Und zwar genau in der Mitte. Daneben, nicht achtlos liegen gelassen, sondern kerzengerade an der rechten Kante des Papiers, der Bleistift, mit dem er arbeitete. Er war immer angespitzt. In einem Becher aus nachtblauem, böhmischem Kristallglas, das Annes Mutter ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, befanden sich die anderen Stifte, alle mit der Spitze nach oben. Offenbar graute Wolf davor, dass der Boden des Bechers mit Bleikrümeln oder Buntstiftresten verunreinigt sein könnte. Niemand durfte seine Sachen berühren, Dinge verschieben, Möbel, wie etwa seinen schwedischen Gesundheitsstuhl, verrücken, sich in seinem Arbeitszimmer ausbreiten. Selbst die Putzfrauen (und die Familie Alberti hatte eine Unzahl von ihnen verschlissen) wussten, dass über der Eingangstür zu Wolfs Reich ein unsichtbares Schild hing: Betreten und anfassen verboten.

Im Badezimmer hielt er dieselbe Ordnung. Rasierer, Schaum, Deodorant, Zahncreme, Rasierwasser: alles sortiert wie für eine Ausstellung. Er hasste Dreck, Staub, Fusseln. Seine Augen schienen Lupen zu sein, seine Ader für Sauberkeit war weiblich, sein Spürsinn für Flecken detektivisch. »Du hast da was!« Dieser Satz von ihm, verbunden mit einem Fingerzeig auf ihre Blusen, Pullover, Röcke oder Hosen brachten Anne auf die Palme. »Gib her, ich mach dir das weg« oder »So kannst du nicht los!« waren Standardsätze und Befehle gleichermaßen, die zeitraubendes Umziehen und Fleckenentfernung zur Folge hatten, und meist eine handfeste Ehekrise. »Unser Fleckenpapst!«, pflegte Anne dann resigniert zu sagen und sich jedes Mal aufs Neue zu wundern, wie er mit Essig und Seifenlauge, Sprays, Pulver, Schaum und stinkenden Elixieren umgehen konnte. Es war ein nie enden wollendes Thema, besonders bei den Kindern. Im Auto durften sie weder essen noch naschen noch trinken. Vor der Wohnungstür mussten sie ihre Schuhe ausziehen. Händewaschen vor den Mahlzeiten, Händewaschen nach den Mahlzeiten, Maßregeln während der Mahlzeiten. Trink langsam. Pass auf, während du eingießt. Iss langsam, Sau nicht rum. Guck, wo du deine Gabel hinlegst. Du hast gekleckert. Ihre Mutter hätte nicht schlimmer sein können.

Manchmal erwischte sich Anne bei der Überlegung, die Speisen danach auszusuchen, ob sie beim Zubereiten und Verzehren möglichst wenig Spuren hinterließen. Astronautenfood wäre ideal gewesen. Aber die Kinder liebten Spaghetti mit Tomatensauce, krümelnde Brötchen, Cola, die beim Öffnen der Flasche spritzte. Ihre Söhne hatten ein fast ebenso perfektes System entwickelt, dem Kontrollwahn ihres Vaters auf diesem Gebiet zu entwischen. Hartnäckig aber blieb er ihnen auf der Spur. Sein Bemühen, sie bändigen zu wollen, war in Wahrheit sein Versuch, sich selbst zu bändigen. Der geniale Künstler, der autistische Ehemann, der kindische Vater, der unablässig und vergebens versuchte, Ordnung in sein Leben zu bringen. Es war ein ständiger Kampf, der immer schlimmer wurde und an den sich Anne immer weniger gewöhnen konnte.

Sie seufzte. Die Geschirrspülmaschine summte, als sei nichts gewesen. Es roch frisch und sauber. Aus dem gekippten Fenster drang Vogelzwitschern herein und das Kreischen der vorbeifahrenden U-Bahn. Irgendwo in der Ferne hupte ein Sonntagsfahrer. Annes Mann saß am Küchentisch und kritzelte mit schnellem Strich einen Ski laufenden Bobtail auf ein Blatt Papier. Es war der Entwurf für sein neues Kinderbuch. Er hatte Erfolg mit seinen Kindergeschichten über Tiere, die wie Menschen waren. Der Maulwurf mit dem Lexikon. Die Tanzschule der Mäuse. Die Katze, die ein Löwe sein wollte. Und nun der Hund im Wintersport. Trotz aller Verärgerung: Es rührte sie, Wolf so versunken in seiner Arbeit zu sehen.

Neben ihm kniete Luis in giftgrünen Shorts und knallrotem T-Shirt auf einem Stuhl und sah seinem Vater zu. Er liebte Farben. Er war ihr Nesthäkchen. Ihr Sorgenkind. Der Liebling aller. Sie hielten ihn sich klein, viel kleiner, als er war. Ein hübsches, selbstbewusstes Kind mit schwarzen Locken und dunklem Teint, mit braunen Augen und einem weichen Mund. »Mein kleiner Schnullermund«, sagte Wolf oft zu ihm. Er sah keinem von beiden ähnlich, aber Luis war noch nicht in dem Alter, wo ihm das aufgefallen wäre.

Ganz im Gegensatz zu seinen Brüdern Edward und Pavel, die ihrem Vater, wie alle immer sagten, »wie aus dem Gesicht geschnitten« waren. Sportliche, groß gewachsene Jungen, ein Jahr auseinander, und im Wesen vollkommen gegensätzlich.

»Edward, unser Schlauköpfchen.« Und: »Pavel, unser Handwerker«, war Wolfs Kommentar zu seinen Söhnen.

Während Pavel, wenn man ihn suchte, im Keller oder vor dem Haus beim Basteln an seinem Motorroller zu finden war, saß Edward entweder vor dem Computer oder lag im Bett und las in Sachbüchern, die davon handelten, wie man »Millionär in nur einem Jahr« wird, oder so entzückende Titel hatten wie »Werde reich und lass die andern für dich arbeiten«. Er war ein Fakten- und Zahlenmensch. Er interessierte sich für Aktien, Geld war seine Leidenschaft, schon als Kind war er geizig gewesen, sparte sein Taschengeld auf, hütete sein Sparbuch, verstand es wie kein anderer – und seine Eltern mit ihren ständigen Finanzproblemen waren ihm da weiß Gott kein Vorbild aus einer Mark zehn zu machen und aus zehn hundert. Jeden Job, der sich ihm anbot, ergriff er, handelte den Höchstlohn aus, ließ sich selbst die kleinsten Handreichungen im Haushalt bezahlen. Edward war eine seltsame Mischung aus Lebenskünstler und Finanzgenie. Er konnte faul sein wie kein Zweiter in der Familie, und dann wieder fleißiger als seine beiden Brüder zusammen. »Ich arbeite echt nur, wenn es was bringt«, hatte er ihnen einmal erklärt, »und auch nur so lange, bis ich genug habe, um aufzuhören.« Er plante, das Maximale aus dem Leben herauszuholen, mit dem minimalsten Aufwand. Ob dieses Prinzip funktionieren würde: Seine Mutter hatte ihre Zweifel daran. »Aber alle sind doch heute so!«, erzählte er ihr. »Dieses Schuften bis zum Umfallen und nichts davon haben, wie ihr das eingebläut gekriegt habt, von wegen ohne Fleiß kein Preis und so: ist völlige Scheiße. Ich will doch nicht so ein sinnentleertes Leben führen wie du und Papa!«

Einmal hatte sein Großvater ihn um Rat gefragt, wie er zehntausend Mark anlegen solle. Innerhalb eines halben Jahres hatte sich die Summe verdoppelt. Edward kassierte fünf Prozent davon. Sein Großvater war entzückt. Anne schämte sich dafür. Wie konnte ein Kind, ihr Sohn, ausgerechnet!, so materialistisch sein? Hatten sie und Wolf ihren Söhnen nicht beigebracht, dass andere Werte im Leben zählten? Vertrauen, Freundschaft, Liebe, Zivilcourage: Edward lachte darüber. »So 'n Quatsch, Mama! Guck euch mal an, du machst dich von morgens bis abends im Haushalt kaputt und verdienst keinen Cent, und Papa ackert wie ein Kuli mit seinen Kinderbüchern und immer quakt ihr rum, dass ihr kein Geld habt. In meiner Klasse gibt es keine Familie die kein Haus hat. Oder wenigstens eine Eigentumswohnung. Ihr rafft das nicht. Aus euch wird nichts. Das ist eindeutig.«

Schön, wenn die Kinder eine so hohe Meinung von den Eltern hatten. Wolf konnte sich darüber amüsieren. Sie nicht. Sie fühlte sich nach solchen Gesprächen ausgelaugt. Fast vierzig Jahre auf dem Buckel, ein Leben lang für die Familie da gewesen sein und am Ende Resignation?

»Aus euch wird nichts!« Das hatte ihr entzückender Vater vor langer Zeit auch schon mal gesagt. Neunzehn Jahre war sie damals. Die Erziehung ihrer Eltern war darauf ausgerichtet gewesen, dass aus ihr und ihrer Schwester »mal was Anständiges wird«. Sport hatte sie studieren wollen, von einem Leben in Unabhängigkeit hatte sie geträumt und von einem Porsche. Dann hatte sie Wolf kennen gelernt, auf einem Kostümfest für Studenten. Lilale im Curiohaus in Hamburg. Noch in der selben Nacht hatten sie zusammen geschlafen. In Wolfs Auto. Heute dachte sie oft: wie unbequem muss das gewesen sein, wie würdelos. In ihrer Erinnerung aber war es lustvoll, berauschend, ohne jedes Schuldgefühl, voller Drang nach Liebe und Angenommensein. Zu beider Überraschung war sie sofort schwanger geworden. Wochen brauchte sie, bis sie sich traute, ihrer Mutter die Wahrheit zu sagen, bei einer Tasse Kaffee in einer Bremer Konditorei. Und ihre Mutter, die Praktische, war sofort mit ihr losgezogen, ins Kaufhaus, hatte Babywäsche ausgesucht und einen Kinderwagen. »Nun hast du ja deinen Porsche!«, sagte ihr Vater nur kühl, nachdem er von der Schwangerschaft erfuhr und sie mit dem Kinderwagen nach Hause kam. Kurz vor Edwards Geburt hatten sie geheiratet, »mit Rückenwind«. Auch so ein Ausspruch ihrer Mutter. Anne und Wolf hatten eine Doppelhochzeit gefeiert, gemeinsam mit Wolfs bestem Freund Paul Ross, der damals schon zwei Jahre mit seiner Freundin Sybille verlobt war. »Das ist 'n anständiger Kerl!«, hatte ihr Vater immer befunden. Ohnehin war er mit ihrer Wahl nie einverstanden gewesen. »Was soll der sein, dein Wolf? Ein Künstler? Na, denn mal gute Nacht! Ich komme nicht auf für euch, ich hoffe, das wisst ihr, beim Bumsen habt ihr mich auch nicht gefragt.« Seine Schonungslosigkeit und sein Direktheit und seinen Egoismus hatte Edward offenbar vom Großvater geerbt. Manche Gene schienen eine Generation zu überspringen.

Wolf sah von seinem Zeichenblock auf. Aus seinem Blick sprach so viel Liebe, dass sie ihm nicht standhalten konnte. Sie senkte die Augen.

»Wieder beruhigt?«, fragte er.

Sie nickte.

»Papa hat gesagt, du bist ausgeflippt!«, krähte Luis.

»Können wir los?«, fragte Anne und sah auf ihre Armbanduhr. »Es ist gleich zwei. Wir kommen wieder mal zu spät. Was ist mit den anderen?«

Luis sprang von seinem Stuhl: »Edward liegt noch im Bett!«, petzte er voller Schadenfreude und flitzte aus der Küche.

Wolf strich über seinen Bleistift, als wolle er ihn glatt streichen und erhob sich: »Er kommt nicht mit. Ist erst um drei ins Bett.« Er nahm seine Arbeitsutensilien, kam auf sie zu. »Frieden?«

Sie nickte. Er verließ die Küche und sie hörte ihn laut rufen: »Abflug! Pavelotzki!«

Anne nahm ihre große Basttasche aus Südfrankreich, die immer über dem antiken Eichenstuhl ihrer Eltern hing, holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Champagner, die sie als Mitbringsel für ihre Freunde vorgesehen hatte, und eine Glasschüssel voller Schokoladenmousse, ihrer Spezialität, packte beides ein und legte vorsichtig einen Meißener Teller dazu, den sie am vergangenen Wochenende von Sybille für den Transport von Kuchenresten geliehen hatte. Dann ging sie in den Flur. Pavel kam aus seinem Zimmer, nur in Unterhose mit wirren Haaren. »Jetzt schon los?«, jammerte er. »Ich hab noch nicht mal gefrühstückt.«

Ungerührt gab ihm Anne einen Klaps auf seinen Hintern, nahm von der Garderobe ein Taschenbuch, das sie Sybille leihen wollte und stopfte es in die Basttasche. »Das kennen wir ja von dir, nicht? Du willst dich ja partout nicht an normale Zeiten halten.«

»Normal, normal«, grummelte Pavel, »ich bin wahrscheinlich schneller unten als ihr.« Er verschwand wieder in seinem Zimmer.

Anne ging aufs Klo. Sie hatte diesen Tick seit ihrer Pubertät: Selbst wenn sie nicht musste, ging sie vorsichtshalber noch einmal auf die Toilette, bevor sie das Haus verließ. Vergaß sie es, stellte sich schon nach wenigen Minuten ein quälender Drang ein, pinkeln zu müssen. Wie ein Albtraum war das für sie. Ständig hatte sie dieses Problem. Wenn sie länger unterwegs war, gab es garantiert keine Toilette in der Nähe. Wenn es eine gab, war sie besetzt oder so unsauber, dass Anne die Flucht ergriff. Toiletten-Ausbaldowern war ein Spezialthema von ihr. Besonders auf Reisen oder bei gesellschaftlichen Anlässen. Anne brauchte eine Toilette, wo sie sich völlig ungestört fühlte, der Begriff stilles Örtchen war, so fand sie, ein wirklich passendes Synonym. »Alle Frauen haben eine schwache Blase«, behauptete Wolf, der sich gerne über diese Manie bei ihr lustig machte, »eine schwache Blase und Verstopfung.« Was sie anging, stimmte das offenbar. Seit Jahren schon nahm sie Abführmittel, die sie von ihrem Freund Paul Alberti als kostenloses Warenmuster zur Verfügung gestellt bekam. Morgens aß sie deshalb ein Joghurt und trank den Kaffee schwarz, mischte sich zu den Mahlzeiten jede Art von Ballaststoffen unter ihr Essen. Anne beneidete ihre Männer darum, wie wenig Probleme sie hatten, mit der Verdauung, und wie beherzt sie mit diesem Thema umgingen. Klar, Männer waren eben auch da privilegiert, schließlich konnten sie selbst im Stehen pinkeln.

Als Anne aus dem Bad zurückkam, war Wolf im Begriff, aus dem Arbeitszimmer den Autoschlüssel zu holen; Luis hüpfte auf einem Bein den Flur entlang, und Pavel war fertig angezogen. Er trug ein Kapuzen-T-Shirt, das er in weite Khakishorts gestopft hatte, und schwarze Schnürstiefel ohne Strümpfe. In der Hand hielt er einen Ledergürtel. Seine Mutter registrierte sein Outfit aus dem Augenwinkel, ging zur Wohnungstür und öffnete sie.

»Ich möchte los.«

Alle redeten durcheinander.

Pavel latschte in den Hausflur, zog den Gürtel durch die Schnallen seiner Hose und ging langsam die Stufen hinunter.

Annes Handy klingelte. Sie fand es nicht sofort. Es lag in ihrer Basttasche, versteckt unter den anderen Sachen.

»Alberti ?«

»Annette?« Es war ihre Mutter. »Wieso hören wir nichts von dir?«

Die Kinder krakeelten herum. Anne hielt ihr linkes Ohr mit dem Zeigefinger zu.

»Wieso solltet ihr was hören?«, entgegnete Anne gereizt. »Es ist alles in Ordnung.«

»Na ja, du bist hier weg, und dann kannst du doch mal anrufen und dich melden und sagen, ob du gut angekommen bist. Man macht sich ja Sorgen.«

»Mamilein, sei nicht bös, aber es war so viel los, und jetzt habe ich auch keine Zeit, weil wir ...«

»Na, das kennt man ja. Bei euch ist ja immer viel los.« Ihre Stimme klang leicht beleidigt. »Ich weiß überhaupt nicht, warum du dir immer so viel zumutest, anstatt dir mal Ruhe zu gönnen, und ...«

Anne unterbrach ihre Mutter: »Du, wir sind gerade auf dem Sprung. Ich rufe euch heute Abend an, oder so.«

»Oder so. Bitte sehr.« Am anderen Ende wurde aufgelegt. Anne wunderte sich. Eigentlich war ihr Vater für das Beleidigtsein zuständig, zu ihrer Mutter passte das gar nicht. Wahrscheinlich hatte er hinter ihr gestanden und sie angestachelt. Sie verstaute das Handy in ihrer Tasche und ging zur Tür.

»Erster!«, brüllte Luis, drängelte sich an den anderen vorbei, an seinem Vater, seiner Mutter und an Pavel, der stehen geblieben war, um seinen Gürtel zuzuschnüren. Irgendwie sah er, wann immer man ihm begegnete, zerzaust und unausgeschlafen aus. Unrasiert und fern der Heimat! War eine stehende Rede von Annes Vater, wenn er ihm begegnete.

Wolf verschloss sorgfältig die Tür und folgte seiner Familie. »Du hast vergessen, dich zu kämmen, Pavelotzki!«, sagte er leise.

»Und gewaschen hat er sich auch nicht!«, rief Luis, der fast unten war.

Der Ausflug konnte beginnen.

KAPITEL 2

Paul

Sommerblauer Nachmittag! Kieselkühle Luft und federleichtes Vogelsingen. Licht wie aus Milchkrügen gegossen. Sonnentupfer, blinkend, auf dem Urwalddickicht der Kastanienbäume. Darunter: Schatten, träger, müde machender, die Zeit anhaltender Schatten.

Paul lag, nur mit einer karierten Bermuda bekleidet, auf dem Rasen seines Gartens, streckte die Arme und Beine von sich, blinzelte zur Baumkrone hoch, gähnte, rollte sich zufrieden zur Seite, schloss die Augen und träumte sich davon.

Was träumt Paul? Er träumt davon, kein Arzt mehr zu sein, keine Familie mehr zu haben, keine vierzig Jahre alt zu sein, sondern ein Junge von siebzehn, der weder Pflichten hat noch Verantwortung trägt und keine Sorgen kennt. Es ist sein geheimster Traum, den er nicht einmal seiner Frau Sybille anvertrauen würde, ein Traum von Freiheit und Wildnis, von Fischefangen und Hasenjagd und Pilzesammeln, vom Mundharmonikaspielen auf der Wanderung durch die Wälder, vom Feuermachen in der Einsamkeit und vom Schlafen unter einem Bett aus Laub und Tannenzweigen, begleitet höchstens noch von seinem bestem Kumpel, einem, wie Wolf es einst war. Paul ist immer der Abenteurer geblieben, der er schon als jugendlicher Ausreißer war, ein Abenteurer, der sich beizeiten gefangen hat, der eingefangen wurde, nach allen Regeln der Gesellschaft, der studiert hat, geheiratet hat, reüssiert hat – und nun ohne Abenteuer dasteht und nur noch seine Träume hegt und pflegt.

Dass Verrat die Folge dieser selbst gewählten Gefangenschaft sein und dass dies der Tag des Verrats werden wird, dass er der Verräter ist und sein Freund Wolf das Opfer, davon träumt Paul nicht. Er ahnt es nicht einmal.

«Paul?« Das war die Stimme von Sybille. Er drehte sich auf den Rücken, öffnete die Augen. Sybille stand direkt über ihm. Sie war ungeschminkt, ihr Gesicht sah so glatt und frisch aus, als würde sie Werbung für eine Antifaltencreme machen. Ihr Haar hatte sie zum Pferdeschwanz zusammengebunden.

Paul hatte bei ihr im Laufe der Zeit eine versteckte exhibitionistische Seite entdeckt. Sie liebte es, ihre Figur, der man die Geburt der zwei Töchter nicht ansah, herauszustellen. Die Knöpfe der weißen Bluse, die sie zu den Jeans trug, hatte sie nur halb zugeknöpft. Die nackten Füße steckten in Wildlederslippern. Um ihre linke Fessel spannte sich ein Goldkettchen. Sonst hielt Sybille nicht viel von Schmuck, selbst ihr Ehering steckte nicht auf ihrem Finger, sondern lag in einer Seifenschale im Badezimmer. Seit Jahren schon.

Paul lächelte. »Ich weiß. Du brauchst nichts zu sagen.«

Mit einem Satz sprang er hoch. Er war ein sportlicher Mann, obwohl er fast nie Sport trieb. Er war fast so groß wie Wolf, aber schlank und muskulös. Sein Gesicht war kantig, er hatte ein kräftiges Kinn, das Auffälligste aber war die Nase: Wie von Michelangelo gemeißelt, gerade gezogen, ebenmäßig und von zwei Nasenflügeln geprägt, die so geschwungen waren, dass sie ihm etwas irritierend Selbstbewusstes, ja, fast Arrogantes gaben. Paul hatte wache Augen, fast ein wenig kalt wirkten sie, und strahlten die Aura eines klugen, analytischen Mannes aus. Ihre Farbe war nur ein paar Nuancen heller als sein graues Haar, das er kurz geschnitten trug.

Sie gingen über den Rasen, der teppichdicht eine sanfte Anhöhe bildete, auf die Terrasse zu. Sie sprachen dabei, ohne stehen zu bleiben, ohne sich anzusehen.

»Wo sind die Mädchen?«, fragte er.

»Ich habe keine Ahnung. Sie sind nach dem Mittagessen weg ... in ihren Zimmern, raus ... woher soll ich das wissen

Sie weiß nie, wo ihre Kinder sind, dachte er. »Na ja, war ja nur 'ne Frage.«

»Verstehe ich schon«, entgegnete sie, »den Subtext kenne ich ...« Sie waren auf der Terrasse angelangt. »Soll heißen: Warum helfen sie dir nicht, den Kaffeetisch zu decken?« Paul entgegnete nichts. Er steckte den Sonnenschirm, der auf den Steinfliesen lag, in den Zementfuß und spannte ihn auf. Gemeinsam und wortlos packten sie und er jeweils ein Ende des Teakholztisches an, hoben ihn hoch und stellten ihn in den Schatten. Dann gruppierten sie die Gartenstühle drumherum. Sybille zählte stumm durch: neun Personen. Es war ein bisschen eng, aber es ging. Die Kinder würden ohnehin nicht lange sitzen bleiben, das kannte man ja schon.

Man kannte sowieso alles: Familie Alberti aus Hamburg besucht die Familie Ross in Ahrensburg. Ein wohlvertrautes Ritual. Sonntagsausflug. Kaffeebesuch. Essen, trinken, lachen, tiefe Gespräche, lange Spaziergänge, Abschied erst um Mitternacht. Praktisch seit zehn Jahren ging das so, seit Paul hier draußen, »auf dem Land«, wie er zu sagen pflegte, die Arztpraxis übernommen und mit seiner Familie hierher gezogen war. Anfangs kam Wolf öfters auch allein, unter der Woche, weil er glaubte, im Garten seines Freundes die besten Inspirationen zu bekommen. Stundenlang saß er dann hinten unter dem Baum, unter dem Paul eben gelegen hatte, auf einem Klappstuhl, ein Notizbuch vor sich auf den übereinander geschlagenen Beinen, einen großen Leinenhut auf dem Kopf, eine filterlose Zigarette zwischen den Lippen. Auf einem Beistelltisch neben sich stand ein Aschenbecher, den er jede halbe Stunde leerte, daneben lag eine Zigarrenkiste, aufgeklappt, in der Bleistifte lagen, zwei schwarze Kunststoff-Anspitzer und das nahezu gleichmäßig zusammengerollte Gummiband, mit dem Wolf die Zigarrenkiste nach getaner Arbeit immer verschloss.

Paul ertappte sich manchmal dabei, wie er mitten im Gespräch mit einem Patienten seinem Gegenüber plötzlich nicht mehr zuhörte, sondern aus dem Fenster des Sprechzimmers hinaus sah in den Garten, hinunter zu seinem Freund, und ihn beim Nachdenken und Zeichnen beobachtete. Wolf: Das war für ihn seit der Schulzeit immer der Künstler gewesen, der Träumer, still, seelenvoll, gedankenreich, das Gegenteil von ihm. Irgendwie schien schon damals alles vorprogrammiert zu sein. Paul sollte Arzt werden, wie sein Vater. Niemals! hatte er gedacht, noch als er kurz vor dem Abitur stand. Niemals so werden wie sein Vater, niemals so ein bürgerliches, wohl geordnetes Leben führen. Frei sein: Das war die Idee von ihm und Wolf gewesen, unabhängig werden, Widerstand zeigen, das Risiko wagen. Sie wollten auf einem Schiff die Welt bereisen. Und niemals zurückkommen. Irgendwo in der Ferne an Land gehen und in das Fremde eintauchen. Eine Robinsonade schwebte ihnen vor. Aber alles kam ganz anders, in New York schon war Schluss mit dem Träumen gewesen.

Pauls Mutter hatte ihm damals eine Reise auf einem Container-Schiff geschenkt, das einem befreundeten Reeder gehörte. Wolf durfte er mitnehmen. Sie flogen mit kleinem Gepäck nach Italien. In Livorno gingen sie an Bord. Stolz nahmen sie vom Kapitän Identitätskarten als Schiffsjungen entgegen, die ihnen ermöglichten, in allen Häfen, wo der Frachter festmachte, an Land zu gehen. An Italiens Küste vorbei durchpflügte das Schiff das Mittelmeer, durchquerte die Straße von Gibraltar, bis es auf offener See war. Nordamerika war das Ziel, entlang der Ostküste führte die Route und wieder zurück. Die beiden Abiturienten erholten sich von ihrem Schulstress. Wolf zeichnete den Freund. Paul schrieb Tagebuch und Briefe an seine Freundin Sybille, die für ein Jahr als Au-pair-Mädchen nach Paris gegangen war. Sie schliefen bis mittags, sonnten sich, lasen, spielten Karten. Sie fraßen, soffen, schmiedeten Pläne, redeten bis in die tiefen Nächte, oben an Deck, auf klapprigen Liegestühlen, unter sternklarem Himmel, und das Meer rauscht ewig. Sie sahen Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge, erlebten Stürme, beobachteten Delphine, die links und rechts des Bugs das Schiff anscheinend spielerisch begleiteten, sahen Fliegenden Fische, entdeckten einen Wal. Das intensive Erleben von Natur berauscht die Sinne und verwandelt Menschen, betört ihre Gefühle. Ein geheimnisvoller Zauber lag auf einmal über der Freundschaft, und eines Nachts passierte etwas Seltsames. Sie hatten sich an billigem Rotwein betrunken, stundenlang diskutiert und waren dann erregt und müde in ihre Kabine gegangen. Als Paul sich auszog und nackt auf seine Pritsche warf, legte sich Wolf schweigend zu ihm. Er küsste ihn. Paul war so verblüfft, dass er sich nicht wehrte. Mehr noch: Es gefiel ihm. Es war eine ungewöhnliche und einzigartige Erfahrung, es war das erste Mal für sie beide. Am nächsten Morgen war ihre Freundschaft wie verwandelt. Sie hatte sich nicht vertieft, sondern nur verändert: Ein Schleier seltsamer und unerklärlicher Fremdheit hatte sich darüber gelegt. Sie sprachen kein Wort über die vergangene Nacht. Sie mieden es, sich in die Augen zu sehen. Nie wieder kamen sie sich so nah. Paul, der immer ein Anfasser gewesen war, merkte, dass Wolf selbst dann zurückschreckte, wenn er nur arglos ihm den Arm auf die Schulter legte oder ihn in irgendeiner Weise berührte. Als sie sich New York näherten, wurde Wolf immer stiller. Paul beobachtete, dass er damit begann, seine Sachen zusammenzupacken. Dann eröffnete Wolf ihm, dass er in New York von Bord gehen werde. In knappen Worten erklärte er, dass er beabsichtige, früher zurückzufliegen, um zu versuchen, sich schneller als geplant einen Studienplatz der Hamburger Kunsthochschule in der Armgartstraße zu ergattern. Widerspruch und Nachfragen verboten sich. Sie baten den Kapitän, ihnen über Funk ein Hotelzimmer zu organisieren. Unrasiert, braun gebrannt und mit kniekurz abgeschnittenen Jeans standen sie schließlich an der Rezeption des Sheraton-Hotelsin der 6th Avenue, wo ein arroganter Portier sie von oben bis unten musterte und fragte, ob sie sicher seien, in diesem Hotel eine Reservierung zu haben. Die so heiter und unbeschwert begonnene Reise wurde kompliziert. Ihre dreihundert Dollar, die sie sich zur Sicher-heil und als Notgroschen, wie Pauls Mutter sagte, in Hamburg eingesteckt hatten, reichten weder für die Übernachtung noch für Rückflüge, Kreditkarten besaßen sie nicht, und ihre Schecks wurden nicht akzeptiert. Streit lag in der Luft. New York war laut und hässlich zu ihnen, denn kaum eine Stadt ist so grausam zu Menschen, die kein Geld haben, wie diese Metropole. Paul und Wolf verkrachten sich und wechselten kaum noch ein Wort miteinander. Wolf, der das Chaos deshalb so abgrundtief hasste, weil er ein Meister darin war, es zu verursachen, flippte aus. Sie prügelten sich nachts in Chinatown, und ein Passant rief die Polizei und sie mussten abhauen. Danach klingelte Paul verzweifelt seine Mutter aus dem Bett und überredete sie, wiederum über Freunde, Geld und Tickets zu organisieren. Als sie wieder in Hamburg landeten, war ihre Freundschaft beendet. Als Wolf sein Kunststudium begann, hatten sie sich endgültig aus den Augen verloren.

Ein halbes Jahr darauf las er in der Zeitung, dass Pauls Vater gestorben war. Typisch Wolf: Er ging zur Beerdigung, und er kam zu spät. Die Trauergemeinde hatte sich längst aufgelöst. Nur Paul stand noch da, in seinem schmalen schwarzen Abiturientenanzug, die Hände in den Taschen vergraben, den Kopf gesenkt, starrte er auf die schon welkenden Blumenkränze, auf die Gebinde, die weißen Schleifen, zurechtgezupft damit man die schwarzen Zeilen lesen konnte, die wie Kapitelüberschriften wirkten: Ein letzter Gruß, du fehlst uns so, In tiefer Trauer, Unvergessen.

Als Wolf neben ihn trat, so, als würde er sich heranschleichen, stumm, so, als gäbe es nichts zu sagen, drehte Paul seinen Kopf zur Seite, zu ihm hin, und Wolf sah, dass Paul nicht weinte. Sie umarmten sich. Es war keine zärtliche Umarmung, keine innige, nicht einmal eine freundschaftliche. Sie umarmten sich kurz, heftig, und beiden schien es, als würde der andere den verlorenen Freund daraufhin abklopfen, ob er noch Waffen bei sich trüge. Als sie sich losließen und sie nebeneinander stehend auf die Grabstätte blickten, sagte Wolf nur leise: »Scheiße«, und Paul antwortete »Ja« und das war der Neubeginn. Sie waren nun erwachsen und mit ihnen ihre Freundschaft. Alles war anders geworden. Unbewusst entwickelten sie sich zu Konkurrenten. Weil Paul Sybille hatte, setzte Wolf alles daran, auch eine Freundin zu finden. Eine Zeit lang schlief er mit jeder Frau, die er kriegen konnte. Als er Annette auf jener Studentenparty traf und merkte, dass sie auch Paul gefiel, entschloss er sich, sie zu heiraten. Dass Anne schon bald schwanger wurde, gefiel ihm. So wurde die Idee zur Doppelhochzeit geboren, und so geschah es auch, vor langer Zeit. Wie viel war seitdem geschehen. Und sie waren noch immer Freunde.

»Paul!« Sybille stand vor ihm mit einem Stapel kleiner Teller. »Hörst du das nicht? Kannst du nicht wenigstens rangehen?«

Im Wohnzimmer klingelte das Telefon.

»Jaja ...«, murmelte er nur und ging hinein. Während sie weiter den Tisch deckte, hörte sie, wie er sich drinnen meldete und nach einem Moment des Schweigens ein paar Worte sprach. Kurz darauf kehrte Paul zurück.

»Ich muss noch einmal los.«

»Los?«

»Zu Frau Merk ...«

»Wieso? Wir haben keinen Dienst!«

»Es ist was mit ihrem Mann ...« Er verschwand. Eilig ging er durch das kühle Wohnzimmer, von dem eine Treppe in die obere Etage führte. Durch den schmalen, langen Flur trat er ins Ankleidezimmer, das an das gemeinsame Schlafzimmer angrenzte, und zog sich schnell um. Er liebte diesen Raum, den er beim Einzug nach seinen Wünschen von einem Tischler hatte einrichten lassen. In die Decke eingelassene Punktstrahler verströmten ein klares, warmes Licht. Hinter verglasten Schiebetüren, die sich fast lautlos beiseite schieben ließen, verbargen sich begehbare Kleiderschränke mit Schubladen, Fächern, Kleiderstangen. Seine Anzüge, Sakkos, Hemden, die Krawatten und die Wäsche, Strümpfe, Pyjamas, Morgenmäntel, die Wintergarderobe von Kunststoffhüllen geschützt, korallenfarbene Hermès-Kartons in allen Größen, Reisetaschen, Koffer, Schuhe und die Steifftier-Sammlung aus den Kindertagen: alles war sorgfältig ausgewählt und alles war geschmackvoll und teuer. Es roch nach Parfüm und nach Holz, nach Wohlhabenheit und Stil. Dies war sein Haus. Fast vierhundert renovierte Quadratmeter hinter Backsteinmauern aus den zwanziger Jahren, vom Studio unter dem Dach bis zum sauber gekachelten Keller, von der Praxis, die durch einen separaten Eingang zu betreten war und links des Gebäudes lag, bis zum halbrunden Wintergarten auf der anderen Seite: Alles war nach seinen Vorstellungen restauriert, renoviert und eingerichtet worden. Parkett, Vertäfelungen und Stuckdecken, grauer Marmor und schwarze Steinintarsien, die Wände geputzt und cremefarben gestrichen, sorgfältig ausgewählte moderne Möbel, Antiquitäten und Kunst, von denen seine drei Gemälde von Karl Hofer, die er auf Auktionen ersteigert hatte, sein besonderer Stolz waren, vor allem aber die drei Kamine, die er im Wohn-, Schlaf- und Herrenzimmer hatte einbauen lassen, schenkten ihm das Gefühl von Behaglichkeit und Angekommensein. Ja, Paul war ein glücklicher Mann. Und doch gab es etwas, versteckt im hintersten Winkel seiner Seele, das manchmal und sehr leise nach mehr rief, nach etwas, das fehlte, etwas, das nichts mit materiellen Werten und mit Status zu tun hatte. Wann immer aber er diesen Ruf zu hören glaubte, machte er eine schalldichte Tür zu, verschloss sie, legte den Schlüssel weit weg, dorthin, wo er hoffte, ihn nie wieder zu finden.