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ISBN 978-3-7751-7161-8 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-4923-5 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
2. Auflage 2013
© der deutschen Ausgabe 2008
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de
Umschlaggestaltung: krausswerbeagentur.de, Herrenberg
Titelbild und Bilder im Innenteil: privat
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
1. | Selig sind … |
2. | Ich will euch trösten |
3. | Requiem der Versöhnung |
4. | O ewiges Feuer |
5. | Krieg |
6. | Wille |
7. | Onkel aus Boston |
8. | Humor |
9. | Seminar |
10. | Levins Mozart |
11. | Schulabschluss |
12. | Gächinger Kantorei |
13. | Studium |
14. | Oper |
15. | Motivation |
16. | Unterstützung |
17. | Germani |
18. | Rom |
19. | Heimkehr |
20. | Messa per Rossini |
21. | Kantor |
22. | Organist |
23. | Wandel |
24. | Auswendig |
25. | Freundschaft |
26. | Aufführungspraxis |
27. | Probentechnik |
28. | Kantatenchor |
29. | Förderer |
30. | Herausforderung |
31. | Aufnahmen |
32. | Solisten |
33. | Bachspezialist |
34. | Hänssler |
35. | Andreas Keller |
36. | Heimat |
37. | Berlin |
38. | Frankfurt |
39. | Martina |
40. | Frankfurter Kantorei |
41. | Bernstein |
42. | Eugene |
43. | Gesprächskonzert |
44. | Matthäuspassion |
45. | Dirigierkurs |
46. | Oregon Bach Festival |
47. | Arvo Pärt |
48. | Penderecki |
49. | Amerikanische Freundschaft |
50. | Japan |
51. | DDR |
52. | h-Moll-Messe |
53. | Unser Mund sei voll Lachens |
54. | Osteuropa |
55. | Lazarus |
56. | Gründung der Bachakademie |
57. | Santiago de Compostela |
58. | Caracas |
59. | Passion 2000 |
60. | Festivalensemble |
61. | Erinnerungen |
62. | Familie |
Vita: Helmuth Rilling | |
Dank | |
Anmerkungen | |
Vita: Sara Maria Rilling |
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Am 29. Mai 1933, im Jahr der Machtergreifung Adolf Hitlers, wurde Helmuth Rilling in Stuttgart geboren.
43 Jahre später befand sich der Dirigent in Israel mit seiner »Gächinger Kantorei Stuttgart« und dem Israel Philharmonic Orchestra. Es war das erste Mal nach Kriegsende, dass ein deutsches Ensemble dieses Land besuchte. Im Jahr zuvor war eine deutschisraelische Kulturwoche von den Israelis noch abgelehnt worden.
Im Israel Philharmonic Orchestra spielten zu dieser Zeit viele Juden aus Europa, größtenteils Deutsche, die geflohen waren – jeder mit einer eigenen schrecklichen Geschichte.
Vor der ersten Probe erkundigte sich der Dirigent, welche Sprache er verwenden solle. Zwar verstanden die meisten Deutsch, doch man empfahl ihm, nicht in dieser Sprache mit den Musikern zu kommunizieren, da die meisten diese nicht hören wollten. Das Werk, das die Gächinger Kantorei mit dem Israel Philharmonic Orchestra musizierte, war »Ein Deutsches Requiem« von Johannes Brahms.
Das Thema des Brahms’schen Requiems ist weniger das Gedenken an die Toten als vielmehr die Tröstung der Lebenden.
Die Musik deutet den Text auf eine tiefe und sehr emotionale Weise, und oft sind Musikern oder Zuhörern bei diesem Stück Tränen über die Wangen geflossen. »Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.«
»Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden«, beginnt der Chor im Pianissimo.
Vor der ersten Probe war Misstrauen zu spüren. Die jüdischen Musiker begegneten dem deutschen Ensemble mit Skepsis, dementsprechend war die Probenatmosphäre sehr angespannt. Beide Ensembles zu einem zu vereinen, schien sich nicht leicht verwirklichen zu lassen.
Vor dem ersten Konzert in Jerusalem erfuhr das Ensemble, dass abends Staatspräsidentin Golda Meir anwesend sein würde und das Konzert deshalb vom Orchester mit der israelischen Nationalhymne eröffnet werden sollte.
Helmuth Rilling kam auf den Gedanken, das Orchester nicht alleine spielen zu lassen, sondern gemeinsam mit dem deutschen Chor die israelische Nationalhymne zu musizieren.
Er besorgte die Noten und studierte mit seinem Chor die Nationalhymne ein.
Die Staatspräsidentin betrat den Saal, das Konzert begann – die ersten Worte des deutschen Chores in Israel waren hebräische.
Damit hatte niemand gerechnet. Alle Anwesenden waren zutiefst bewegt. Danach musizierten das Israel Philharmonic Orchestra und die Gächinger Kantorei gemeinsam innig »Ein deutsches Requiem« unter der Leitung von Helmuth Rilling. Dieses Konzert gehört zu den bewegendsten Momenten im Leben meines Vaters. Den Musikern und Zuhörern sollte jenes musikalische Ereignis noch lange in Erinnerung bleiben. Nicht nur die Staatspräsidentin, sondern auch große Teile der Regierung waren bei diesem Konzert anwesend und die Zeitungen schrieben von einem neuen Anfang der Beziehung zwischen beiden Ländern.
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Das Deutsche Requiem beginnt mit dunklen, warmen Klängen in den tiefen Instrumenten, während das Ensemble in anderen Sätzen schmerzerfüllt aufschreit. Einen Satz hat Brahms erst später hinzukomponiert, nachdem seine Mutter gestorben war. Nur für diesen Satz hat er den Solosopran vorgesehen. Der hohen Stimme hat der Komponist den Text »Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet« unterlegt. Es entstand ein sphärisch klingendes Stück und zugleich das verhaltenste und kammermusikalischste des Werkes. Die Streicher spielen gedämpft »con sordini«; es sind nur einzelne Bläser besetzt. Helmuth Rillings Interpretation dieses Satzes ist ergreifend.
Er hat seine Mutter nicht kennengelernt.
Im einzigen Fotoalbum aus seiner Kindheit befindet sich neben dem Bild des kleinen schwarzhaarigen Babys das Foto eines mit unzähligen Blumensträußen und Kränzen geschmückten Grabes – der Ruheort seiner Mutter. Im Zimmer meines Vaters steht ein Bild von ihr, auf dem sie etwa 30 Jahre alt ist, liebevoll lächelt und sehr lebensfroh wirkt.
Hildegard Plieninger wuchs als das jüngste von sieben Kindern des Pfarrers der Johanneskirche in Stuttgart auf. Sie hatte eine innige Beziehung zu ihrer zwei Jahre älteren Schwester Maria. Wenn sie einander nicht sahen, schrieben sich die Schwestern unzählige Briefe. Bereits in ihrer Kindheit liebte Hildegard Musik und begann in jungen Jahren, Geige zu spielen. Sie verbrachte viel Zeit mit diesem Instrument und teilte allen Menschen um sie herum mit, wie dankbar sie für die Musik in ihrem Leben war.
Als Tochter eines Pfarrers gehörte es zum guten Ton, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen. Doch Hildegard hinterfragte diese Pfarrerstochterregeln immer wieder. Sie lebte für ihre Leidenschaft und verhielt sich damit keineswegs konform mit den Konventionen dieser Zeit. Das kurze Leben dieser herzensguten Frau war erfüllt von einer stetigen Freude am Musizieren und der Weitergabe ihres musikalischen Wissens.
Neben dem Foto seiner Mutter befindet sich im Zimmer meines Vaters das Bild eines älteren Herrn, der auf einem Stuhl in der Sonne sitzt und lächelt. Sein Lächeln wirkt ganz anders, es ist von Schmerz gezeichnet. Auch scheint dieser Mensch nicht so positiv wie die Frau auf dem Bild neben ihm.
Eugen Rilling, der Mann auf jenem Bild, wurde 76 Jahre alt. Die letzten Momente seines Lebens verbrachte er beim Abendessen im Haus seines ältesten Sohns. Er hatte ein Glas Wein in der Hand, seufzte und verabschiedete sich mit den Worten »Ach Helmuth« vom Leben.
Im letzten Satz des Brahms’schen Requiems mit dem Text »Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben« gibt es eine Stelle, bei der Helmuth immer an seinen Vater denkt. Es ist die Stelle, wo zu dem Text »von nun an« die ersten Violinen mit Seufzermotiven in hohe Lagen steigen, um dann wieder abzusinken. Die Musik, die Brahms daraufhin schreibt, scheint den Eintritt in das Reich jenseits der Schwelle abzubilden, schwebend und geheimnisvoll muss sich Brahms diese Welt vorgestellt haben. Meinem Vater bedeutet diese der Wirklichkeit entrückte Musik unglaublich viel.
Eugen Rilling stammte aus einer Handwerkerfamilie. Sein Vater war Schmied in Honau, einem Dorf am Fuß der Schwäbischen Alb, und starb, als Eugen zwei Jahre alt war.
Eugen Rilling hatte zwei Schwestern. Die Lebensverhältnisse der Familie waren bescheiden. Mit Mühe gelang es, Eugen auf ein Lehrerseminar nach Backnang zu schicken. Dort entdeckte er seine Liebe zur Musik. Schon bald wurde ihm bewusst, wie viel er aufzuholen hatte. Er studierte Schulmusik an der Musikhochschule in Stuttgart. Hier kam er in Kontakt mit der »Singbewegung«, einem Kreis junger musikbegeisterter Menschen, und sang im »Stuttgarter Singkreis«, dem Chor seines Freundes Gustav Wirsching.
Eugen Rilling war eine stille, eher komplizierte Persönlichkeit. Er hatte häufig mit sich zu kämpfen und es gelang ihm oft nicht, die Menschen um ihn herum so anzunehmen, wie sie waren.
Im Stuttgarter Singkreis lernte er die lebensbejahende Hildegard Plieninger kennen. Sie war für ihn der liebste und gütigste Mensch, den er bisher getroffen hatte.
Die temperamentvolle Pfarrerstochter aus wohlhabendem Hause und der Handwerkersohn aus eher bescheidenen Verhältnissen verliebten sich ineinander, während in Deutschland die Situation schwierig zu werden begann.
Hildegard Plieninger und Eugen Rilling
Sie heirateten 1931 kurz nach Weihnachten und Hildegard wurde bald darauf schwanger.
Voller Vorfreude auf das Kind fragte sie Gustav Wirsching, Helmuths späteren Patenonkel, hoffnungsvoll, ob er denke, dass das Kind auch »a bissle musikalisch« würde.
Helmuth Rilling wurde geboren und alle waren beglückt. Hildegard kam ein paar Tage später nach Hause.
Plötzlich jedoch ging es ihr sehr schlecht.
Sie wurde wieder ins Krankenhaus gebracht – bereits bewusstlos. Sie sollte nicht mehr zu sich kommen und starb zehn Tage nach der Geburt ihres Sohnes. Eugen brachte es nicht über sich, bei der Beerdigung zu sprechen. Er bat Hildegards Vater, die Grabrede sowie die Organisation der Beerdigung zu übernehmen, was auch diesem sehr schwerfiel.
Der Tag des Abschieds von Hildegard barg aber noch etwas anderes als nur den Schmerz in sich. Ein trauriges Ereignis wurde durch ein schönes getröstet: die Taufe des kleinen Helmuth.
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Jahrzehnte später sollte aus dem schmerzhaften Prozess der Auseinandersetzung mit unserem schrecklichen geschichtlichen Erbe etwas einzigartig Schönes entstehen. Im Jahr 1995 lag das Ende des 2. Weltkrieges ein halbes Jahrhundert zurück. Helmuth Rilling hat immer wieder in seinem Leben danach gesucht, nicht nur Musik um ihrer selbst willen zu machen, sondern mit ihrer Hilfe Menschen zusammenzubringen, aufzurütteln und zum Nachdenken anzuregen.
Hier wollte er ein musikalisches Zeichen zum Gedenken an das Ende dieser Schreckenszeit setzen und gab ein neues Werk in Auftrag, bei dem die einstigen Feinde sich zu Freunden zusammenfinden sollten – eine Gemeinschaftskomposition mit dem Titel »Requiem der Versöhnung« von 14 verschiedenen Komponisten, die aus Ländern stammten, die im Krieg gegeneinander gekämpft hatten. Der inzwischen renommierte Dirigent überlegte, wer zu solch einem Thema etwas Gewichtiges zu sagen hätte. Bei der Suche nach möglichen Komponisten kam er mit Luciano Berio und Györgi Kurtag ins Gespräch. Beide waren nicht bereit, einen Requiemstext zu vertonen und Helmuth Rilling konnte diese Komponisten nur gewinnen, indem er ihnen vorschlug, einen Prolog und einen Epilog zu schreiben, bei dem sie die Texte selbst wählen durften. Alfred Schnittke war sehr krank und bat auch deshalb darum, die Mitarbeit des mit ihm befreundeten Komponisten und Dirigenten Gennadi Roschdestwenski zu akzeptieren. Pierre Boulez lehnte aus Zeitgründen ab.
Zeitweise schien es kaum möglich, das Requiem der Versöhnung zu verwirklichen, aber Helmuth Rilling und seine Mitarbeiter blieben unermüdlich.
Die 14 verschiedenen Komponisten wurden gefunden. György Kurtag, Luciano Berio, Friedrich Cerha, Krzysztof Penderecki, Alfred Schnittke, Bernhard Rands, Arne Nordheim, John Harbison, Marek Kopelent, Paul-Heinz Dittrich und Joji Yuasa gehörten der Generation an, die den Krieg selbst miterlebt hatten. Marc-André Dalbavie, Judith Weir und Wolfgang Rihm kamen erst nach Ende des Krieges zur Welt.
Nun hatte man ein aus 14 verschiedenen Schreibweisen bestehendes und in 11 unterschiedlichen Verlagen editiertes Werk, und Helmuth fragte sich, ob dieses aus so vielen Teilen bestehende Stück überhaupt als Gesamtwerk wirken würde. Zu seiner Überraschung stellte es sich jedoch weitaus homogener dar, als er gedacht hatte.
Die Wahl der Ensembles fiel neben der Gächinger Kantorei, auf den Krakauer Kammerchor und das Israel Philharmonic Orchestra.
Die Zeit der Aufführung fiel zwar in die Orchesterferien, aber in Anbetracht des hohen Stellenwertes dieses Projektes wurde beschlossen, die Ferien des Orchesters zu verkürzen.
Als der Stuttgarter Dirigent zu den Vorproben in Israel war, erlebte er seinen Taxifahrer in ungewöhnlich erregter Stimmung. Er hörte die israelischen Nachrichten. Ein Attentat hatte sich in der Nähe des Mann-Auditoriums ereignet, bei dem viele Menschen getötet worden waren.
Beim Eintreten in den Saal des Mann-Auditoriums fand er das Orchester in äußerst betrübter Stimmung vor. Es herrschte absolute Stille. Alle waren betroffen von dem nur wenige Meter entfernten Unglück. Meinem Vater war sofort klar, dass er diese Probe nicht wie eine normale Probe beginnen könne, und sprach darüber, das »Requiem der Versöhnung« als deutliches Zeichen gegen die Gewalt zu sehen und durch die Musik den schrecklichen Ereignissen etwas anderes entgegenzusetzen. Die Musiker waren tief bewegt.
Es ist eine Gabe meines Vaters, sich auf die jeweilige Situation einzustellen und die richtigen Worte zu finden, um die Menschen aufzuwecken oder zu trösten.
Als die israelischen Musiker nach Stuttgart kamen, um das »Requiem der Versöhnung« erneut zu proben und aufzuführen, war eine große Offenheit zu spüren. Das Orchester war bereit, alles zu geben, um den Versöhnungsgedanken des Werkes umzusetzen.
Die Uraufführung des »Requiems der Versöhnung« wurde ein großes Ereignis.
Roman Herzog, der damalige Bundespräsident, war Schirmherr des Konzerts, und Helmuth Rilling erhielt für seine Bemühungen um die Versöhnung der Völker den Theodor-Heuss-Preis.
Donna Brown, Ingeborg Danz und Helmuth Rilling mit dem Israel Philharmonic Orchestra beim Requiem der Versöhnung 1995
Viele Auszeichnungen und Anerkennungen hat mein Vater in seinem Leben erhalten, aber er blieb immer bescheiden. Vielleicht hängt das nicht zuletzt damit zusammen, in welcher Bescheidenheit er aufwuchs.
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Der Mensch, der sich in Helmuths ersten Lebensjahren besonders um ihn kümmerte, war seine Tante Maria. Wohl kaum jemand hatte Helmuths Mutter so nah gestanden wie ihre Schwester, und so war es für sie ganz natürlich, dass sie das Kind, das immer »Büble« genannt wurde, wie ihr eigenes umsorgte. Sie hatte keine Kinder.
Tante Ma war Krankenschwester in der Frühgeburtenstation einer Kinderklinik in der Stuttgarter Türlenstraße. In ihrem Zimmer verbrachte mein Vater den größten Teil seiner ersten drei Lebensjahre.
Tante Ma war eine selbstlose Frau, die ihre Arbeit liebte, aber das Wichtigste war ihr in diesen Jahren der kleine Helmuth, und sie setzte alle ihre Kraft ein, damit es dem Jungen gut ging. Sie war ihm auf eine Weise zugetan, die ihm ein zu Hause gab, das er sonst nicht gehabt hätte.
Viele Jahre hatten die beiden Schwestern leidenschaftlich zusammen im Kirchenchor gesungen und Tante Ma kannte seitdem fast alle Oratorien auswendig. Der Weg, den ihr Neffe verfolgen sollte, erfreute Tante Ma ganz besonders, wusste sie doch, woher diese Liebe zur Musik kam.
Als sie kurz vor ihrem Tod im Jahr 1971 im Krankenhaus lag, kam Helmuth mit zweihundert Sängern des Kantatenchores und musizierte für sie die Chöre der Kantate BWV 34 »O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe«. Mit den Worten des Kantatendichters konnte er seine tiefe Dankbarkeit und Zuneigung seiner Tante gegenüber besonders gut ausdrücken.
Eugen hatte das große Glück, im Leben noch einmal eine Frau zu finden, der er sein Herz schenken konnte.
Helga Eymael war Sängerin und kam aus einer wohlhabenden rheinländischen Familie. Sie war eine selbstbewusste Frau; dennoch wurde es als seltsam angesehen, dass sie mit schon über 20 Jahren noch nicht verheiratet war. Doch sie wartete auf den richtigen Mann und wusste ganz genau, wen sie auf keinen Fall heiraten wollte. Es sollte auf keinen Fall ein Schwabe sein, auch kein Lehrer, und sie wollte sich auch nicht auf einen Mann einlassen, den sie auf einer Singwoche kennengelernt hatte.
All das wurde für sie unwichtig, als sie Eugen Rilling auf einer Singwoche begegnete. Sie verliebte sich Hals über Kopf in diesen Mann, wie sie mir später voller Glück mitteilte.
Eugens kleinen Sohn behandelte sie liebevoll und wollte ihm wie eine Mutter sein, bevor sie eigene Kinder bekam.
Helmuth Rilling mit vier Jahren
Drei Jahre lebten Helga, Eugen und Helmuth zusammen, bis Helga schwanger wurde. Gunhild wurde geboren, als Helmuth schon sechs Jahre alt war; später kamen – im Abstand von zwei Jahren – Herbert, Wolfgang und Raimund zur Welt.
Für niemanden war es ein einfaches Leben. Es gab zu wenig Geld, zu wenig zu essen und nicht genug Platz für die vielen Kinder.
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Helmuth erinnert sich:
Die schönsten, frühesten und einzig ungetrübten Kindheitserinnerungen verbinden sich mit Musik. Mein Vater spielte Klavier, Beethovensonaten, Schubert-Impromptus. Die Mutter sang, der Vater begleitete, viele Schubert-, Beethoven- und Mozartlieder kann ich seitdem auswendig.
Eugen Rilling war Lehrer am Aufbaugymnasium in Markgröningen – eine Tätigkeit, die ihn sehr erfüllte. Dennoch wollte er sich in der Musik noch weiterbilden und nahm häufig Klavierstunden. Seine Frau hatte eine große, kräftige Stimme und es erfreute sie ungemein, wenn ihr Mann sie begleitete. Immer wieder musizierten die Eltern gemeinsam und gaben Liederabende. Der kleine Junge hörte diese Musik im Zimmer, in dem er schlief.
1939 kam ich in die Markgröninger Volksschule. Meine Erfolge hatte ich als Volksliedsänger in den kleinen Läden um den großen Marktplatz. »Prinz Eugen der edle Ritter« war mein Stargesang; immer bekam ich Bonbons oder ein Eis.
Vier Jahre später wechselte ich nach Ludwigsburg an das Schillergymnasium. Der Bahnhof lag am anderen Ende der kleinen Stadt, dorthin brauchte man eine Viertelstunde, dann mit dem Zügle 20 Minuten nach Ludwigsburg.
Es war Krieg. Der Vater war zur Wehrmacht eingezogen worden, war zuerst in Frankreich, dann in der Tschechoslowakei stationiert.
Für Eugen Rilling war der Einzug in den Krieg etwas, das ihn vollständig aus dem Gleichgewicht brachte.
Als sein Selbstbewusstsein in die eigenen musikalischen Fähigkeiten hätte wachsen können, wurde er gezwungen in den Krieg zu ziehen, was gar nicht seinem Wesen entsprach.
Immer wieder kam er in Kriegszeiten nach Hause, oft nur sehr kurz. Seine Kinder konnte er kaum aufwachsen sehen und kennenlernen, da er wieder zurück in den Krieg musste. Auch die Kinder wussten wenig von ihrem Vater. Die Familie war zerrissen.
Der kleine Helmuth erlebte den Krieg auf andere grausame Weise:
Der Zug, mit dem ich zur Schule fuhr, wurde von Tieffliegern beschossen, es gab Verwundete und Tote, ich sprang in einen Graben, mir war nichts passiert.
In einem Brief an seine Großeltern vom 30.11.1944 schrieb er:
Wir haben zur Zeit sehr wenig Schule, nur zwei Stunden am Tag. Alle Klassen haben in zwei Räumen Unterricht und alle Montage müssen wir ein Scheitle Holz mitbringen. Da ist es in der Schule immer angenehm warm.
Helmuth schrieb auch Briefe an seinen Vater, während dieser im Krieg war. Aber aus der Ferne wollte der Vater seinen Sohn erziehen und so bekam der 10-Jährige die Briefe verbessert wieder zurückgeschickt.
Zeitweilig wohnte ich bei der Familie meines Onkels in der Friedrichsstraße in Ludwigsburg. Drei meiner Vettern waren eingezogen worden, der 19-jährige Martin und sein 17-jähriger Bruder Albrecht kamen nie zurück.
Ludwigsburg war durch die Luftangriffe teilweise zerstört – unsere Schulklasse wurde zum Schuttwegräumen herangezogen.
Ich sollte im Haushalt helfen, z. B. Schuhe putzen oder Rossmist sammeln für den Garten. Ich hatte Klavierunterricht bei einer Frau Hämmerle, einer Kollegin meines Vaters, und sollte täglich eine Stunde üben. Das tat ich äußerst ungern, wollte lieber mit meinen Schulfreunden unterwegs sein oder lesen. Vor allem die 65 Karl-May-Bände – der Vater eines Klassenkamerades besaß sie alle, und ich meine, sie vollständig gelesen zu haben –; besonders gefiel mir »Winnetou 1–3« und das »Buschgespenst«.
Es war zu gefährlich geworden, nach Ludwigsburg in die Schule zu fahren. In den ersten Monaten 1945 grub ich für Prof. Römer, der mir Lateinunterricht gab, als Dach einen Unterstand in seinem Garten, in den er ging, wenn die Sirenen heulten und es Fliegeralarm gab.
In den letzten Kriegstagen hatten die Bauern auf Befehl der Wehrmacht die Durchfahrt auf den Obertorturm mit Baumstämmen verrammelt, um die feindlichen Truppen an der Durchfahrt zu hindern. Zwei amerikanische Panzer kamen angefahren – ich hab das vom Haus aus gesehen. Ich hörte Befehle und Drohungen und in einer halben Stunde hatten die Bauern den Baumstamm weggeräumt.
Im Nachkriegsdeutschland war der Besitz von Waffen strengstens untersagt. Auf Waffenbesitz folgte die Todesstrafe, da die Besatzungstruppen nichts so sehr fürchteten wie übrig gebliebene Widerstandskämpfer.
Eines Tages kamen amerikanische Soldaten, um das gesamte Haus der Rillings nach Waffen zu durchsuchen. Die ganze Familie mit Mutter, Großmutter und Kindern musste das Haus verlassen, während die Soldaten sich anschickten, es auf den Kopf zu stellen. Mutter und Großmutter waren ganz ruhig, da sie zu wissen meinten, dass es keine Waffen im Haus gab.
Dem ältesten Sohn hingegen wurde es einigermaßen unwohl. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen zu dieser Zeit bestand darin, mit seinen Schulfreunden die umherliegende Munition zu sammeln. Sie hatten entdeckt, dass man sie entschärfen und mit dem daraus gewonnenen Pulver die umliegenden kleinen Weinbergmäuerchen sprengen konnte, was den Buben großes Vergnügen bereitete. Die explosiven Funde wollten sie an einem Platz horten. Aber wo sollte man sie verstecken?
Im Hof des Rilling’schen Hauses gab es eine leer stehende Hundehütte. Das schien ihnen das ideale Versteck für das gesammelte Schießpulver zu sein.
Als die Soldaten das Haus durchsuchten, wurde der schwarzhaarige Lausbub schließlich so unruhig, dass er der Mutter von seinem Geheimnis erzählte.
Daraufhin wurden erst die Mutter und dann die Großmutter von panischer Angst gepackt und es fiel ihnen zunehmend schwer, die Hausdurchsuchung ruhig durchzustehen.
Die Amerikaner suchten ganz genau vom Dachboden bis zum Keller, aber auf die Idee, in der Hundehütte nachzusehen, kamen sie nicht.
So zogen sie nach ein paar Stunden wieder ab und die Familie konnte in ihr Haus zurückkehren.
Die Bestrafung des Übeltäters bestand in 25 Prügelschlägen, die ihm einen Monat lang täglich morgens im Keller von der Mutter verabreicht wurden.
Prügelstrafen waren damals nichts Ungewöhnliches. Kinder in der Schule mussten, wenn sie Fehler bei einer Aufgabe gemacht oder etwas angestellt hatten, nach vorne kommen, die Hände ausstrecken und bekamen vom Lehrer eine oder auch mehrere »Tatzen«1. Auch der junge Helmuth Rilling musste sich dieser Züchtigung unterziehen und erzählte seinen Freunden, dass er dabei sogar einen Choral gesungen hätte.
Amerikanische Soldaten waren im Aufbaugymnasium untergebracht. Unser Haus wurde für Offiziere requiriert. Ich hatte gehofft, dass sie wenigstens den Flügel mitnahmen. Aber als wir wieder einziehen durften, war er immer noch da. Dann wohnten französische Offiziere im ersten Stock – die Großmutter aus Mönchengladbach sagte uns Kindern, das seien unsere Feinde und wir dürften sie nicht grüßen.
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Das Leben begann sich zu normalisieren, aber es war ein armseliges Leben. Wir hatten Hunger, es gab wenig zu essen. Wir gingen Bucheckern sammeln und mussten Ähren lesen, also das, was die Bauern auf den Getreidefeldern nicht sauber abgeerntet hatten, aus den Furchen zusammenklauben. Zu Hause buk die Mutter Kartoffelbrot.
Mein Vater hatte das Glück, aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft schon bald entlassen zu werden, im Sommer 1945 war er wieder zu Hause.
Im Frühjahr 1948 wurde ich in der schönen Bartholomäuskirche von dem mir sehr verehrten, beinahe blinden Pfarrer Kumpf konfirmiert.
An Musik hatte ich Freude und hörte gerne zu, wenn zu Hause – oder auch in sehr bescheidener Weise in der Schule meines Vaters – musiziert wurde. Sonst erinnere ich mich nicht an irgendwelche Konzerte – es gab sie wohl nicht. Schallplatten und Radio besaß die Familie nicht.
Ich bastelte mir damals einen kleinen Kristalldetektor, auf den ich sehr stolz war.
Vom Klavierüben war ich nach wie vor nicht besessen, hatte aber Freude daran, mit dem geigenden Ludwigsburger Schulfreund Wolfgang Egerer etwa Glucks »Reigen seliger Geister« zu musizieren.
Die viel jüngeren Geschwister bestimmten den Zeitrhythmus. Helmuth als der Älteste musste viel im Haushalt helfen. Das tägliche Putzen der Schuhe versuchte er zu umgehen, indem er seinen Geschwistern Geschenke versprach, wenn sie ihr Schuhwerk in möglichst tadellosem Zustand ins Haus schleppen würden. Dieses Unterfangen erwies sich als recht erfolglos. Die Felder waren dreckig und die Geschwister sehr viel jünger. Das Essen reichte kaum für alle Familienmitglieder. Der Platz im Hause Rilling war spärlich für die Großfamilie. Die Mutter war mit den jüngeren Geschwistern beschäftigt und die Schule fand nur unregelmäßig statt.
Niemand hatte Zeit, sich um Helmuths Ausbildung zu kümmern. Der 14-Jährige war ganz auf sich allein gestellt, wusste aber bereits genau, in welche Richtung er gehen wollte.
Über die Ludwigsburger Schule erfuhr ich von der Möglichkeit, sich um die Aufnahme in die Internatsschule der württembergischen Landeskirche, die Evangelisch-Theologischen Seminare, zu bewerben. Nach vorausgehenden Auslesewochen auf dem »Dulkhäusle« bei Esslingen wurde ich im Frühsommer 1948 zum Landexamen zugelassen.
Ich hatte Glück, diese schwierige Aufnahmeprüfung zu bestehen, und bekam eine der 54 Freistellen für die letzten vier Gymnasiumsklassen in den Seminaren Schöntal und dann Urach.
Helmuth Rilling mit elf Jahren
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55 Jahre später befasste sich der fast 70-jährige Helmuth Rilling mit den Gedanken eines anderen 14-jährigen Jungen.
Im Jahr 2002 hatte sich die Bachakademie intensiv mit dem Werk Felix Mendelssohn-Bartholdys auseinandergesetzt.
Auf der Suche nach Werken Mendelssohns wurde die Bachakademie darauf aufmerksam gemacht, dass in der Berliner Staatsbibliothek unbekannte Handschriften dieses jüdischen Komponisten liegen und fand dort ein Jugendwerk Mendelssohns, das in keinem seiner Werkverzeichnisse bisher aufgetaucht war: Eine Oper mit dem Titel »Der Onkel aus Boston« für den Geburtstag seiner Mutter, die nur im Familienkreis der Mendelssohns aufgeführt worden war.
Helmuth bekam die handschriftliche Partitur zu sehen und musste entscheiden, ob es sich um ein Studienwerk oder um aufführenswerte Musik handelte. Er war überrascht angesichts des Ideenreichtums des jungen Mendelssohn und seine Bewunderung wuchs mit dem Studium der Partitur. Sie besitzt eine Fülle von Humor und die Leichtigkeit, die Mendelssohns Stil an anderer Stelle so liebenswert macht. Helmuth wurde sehr schnell klar, dass diese Oper aufgeführt werden musste.
Ein paar Jahre zuvor hatte er nach einem Konzert in Düsseldorf den ehemaligen Wirtschaftsminister Werner Müller kennengelernt und sich mit ihm angefreundet. Dieser äußerst intelligente Mann liebte die Musik über alles.
Helmuth erzählte Werner Müller von dem neu entdeckten mendelssohnschen Werk. Dieser war davon sehr angetan und gemeinsam planten sie die Uraufführung dieser komischen Oper in Essen am 3. Oktober 2004.
Zunächst musste man aus der handschriftlichen Partitur Mendelssohns ein Material herstellen, aus dem das Ensemble musizieren konnte. Ein russischer Musiker, der durch die Bachakademie nach Deutschland gekommen war, nahm sich die oft nur schwer leserliche Partitur vor und verbrachte Wochen an Klavier und Computer, um gut lesbare Noten zu erstellen. Eine Mitarbeiterin der Bachakademie schrieb die Stimmen für die Musiker heraus, was ihr etliche schlaflose Nächte bereitete.
Helmuth beschäftigte sich über Monate mit der Partitur, bis er sie auswendig kannte.
Es war geplant, dass die Aufführung mit den beiden von Helmuth gegründeten Ensembles, der Gächinger Kantorei und dem Bach-Collegium Stuttgart stattfinden sollte.
Mich hat es sehr fasziniert, ein so altes, aber noch nie gehörtes Werk eines so bekannten Komponisten mit entdecken zu dürfen. Gelegentlich gab es Stimmführungen oder Töne, die den Musikern in den Proben fraglich zu sein schienen, und gemeinsam wurde nach Lösungen gesucht.
Die in der Oper besetzten Solisten sollten dieses Werk halb szenisch aufführen und bekamen dafür Kostüme im Stil der Zeit Mendelssohns. Die Probenstimmung war erfüllt von der guten Laune der Musik.
Es gibt aber auch eine dramatische, zutiefst ergreifende Sopranarie, deren Text von Einsamkeit handelt – es hat mich bewegt, wie gut dieser 14-Jährige seinen Schmerz bereits ausdrücken konnte.
Am 3. Oktober 2004 wurden viele wichtige Leute aus Politik und Wirtschaft in die kurz zuvor fertiggestellte Philharmonie in Essen eingeladen, um dieser fast 180 Jahre vergessenen Oper beizuwohnen.
Werner Müller verstand diese Weltpremiere am Tag der Deutschen Einheit in seiner Ansprache als eine Art von Wiedergutmachung für die antisemitischen Angriffe auf Mendelssohn. Die Kompositionen des Juden waren in der Zeit der Naziherrschaft verboten gewesen. Ein Filmteam des WDR begleitete die Wiederentdeckung des »Onkel aus Boston« und eine CD wurde aufgenommen.
Im darauffolgenden Jahr wurde dieses Stück in Eugene/Oregon aufgeführt, nicht ohne zusätzliche komische Elemente. So gibt es eine Arie für einen sehr aufgebrachten Freund des Onkels aus Boston mit dem Text »er foppt mich ohne Zweifel«. Zu dessen Kostümierung zählte unter anderem auch ein eleganter, etwa einen Meter langer Spazierstock. Überschwänglich gestikulierte er in den Proben damit herum und näherte sich zusehends dem Dirigentenpult. In einigen Proben hatte er seinen Spazierstock dem Dirigenten auch im Tausch gegen den Taktstock angeboten, was das ganze Ensemble ungemein belustigte. Beim Konzert in Eugene nahm Helmuth diesen Tausch plötzlich an und dirigierte die komplette Arie mit dem gewaltigen Spazierstock. Er wedelte wild damit herum und versetzte Musiker und Publikum in größtes Entzücken.
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So etwas würde meinem Vater bei einer Matthäuspassion niemals in den Sinn kommen. Wenn er ein Werk aufführt, hat er es vorher genau studiert und er will die Bedeutung der Musik gemeinsam mit seinen Musikern ausdrücken.
Bei einem Abokonzert in der Stuttgarter Liederhalle standen Bachkantaten auf dem Programm.
Nach einer Pause folgte im zweiten Teil des Programms die weltliche Kantate »Phoebus und Pan«. In dieser Kantate geht es in einem Wettstreit zwischen dem lyrischen Sonnengott Phoebus und dem Gott der Felder und Hirten, Pan, darum, wer besser singen kann.
Komischerweise trat das Orchester nach der Pause nicht auf.
Der erste Musiker, der den Saal betrat, war ein Geiger mit einer französischen Mütze, kariertem Hemd und Hosenträgern über einer viel zu weiten Hose.
Er kam durch den Publikumsraum und zog einen mit Instrumenten gefüllten Leiterwagen hinter sich her. Während er sich langsam aber sicher der Bühne näherte, hatten dort inzwischen einige Chorsänger in Mönchskutten damit begonnen, Wein zu trinken. Immer mehr Musiker fanden sich auf der Bühne ein. Es gab Dirnen, kleine Königinnen und auch einen Geiger mit einem Imkerhut über dem Kopf, den man nach einer Weile als den Konzertmeister identifizieren konnte. Alle Musiker waren irgendwo auf der Bühne verteilt und man konnte klar erkennen, wer die Fans des Sonnengottes waren und wer auf der Seite des irdischen Waldgottes stand.
Soweit es das Publikum sehen konnte, waren alle Musiker schon irgendwie aufgetreten – bis auf einen.
Und da schlappte er heran:
Ein Penner mit einem grauen Schnurrbart, bekleidet mit einer zerfetzten Jeans, einer viel zu kurzen Jeansjacke und einem verwaschenen T-Shirt mit der Aufschrift »Oregon Punk Festival«.
Unter seiner Baseballmütze lugte ein kleines graues Pferdeschwänzchen hervor.
In der einen Hand trug er eine Einkaufstüte, die mit Bierflaschen gefüllt war, in der anderen hatte er einen Kochlöffel. Als Erstes nahm er sich eine der Bierflaschen und stellte sie neben das Dirigierpult.
Der Penner fuchtelte mit dem Kochlöffel in alle Richtungen, da die meisten auf der Bühne Anwesenden auch häufig ihre Plätze wechselten. Auf die Bewegungen des Kochlöffels hin begannen Phoebus und Pan ihren Sängerkrieg. Das Stuttgarter Publikum war äußerst erheitert. Nachdem am Ende des Wettstreits Pan die Schellenmütze aufgesetzt bekam und durch Phoebus das Schöne gesiegt hatte, sprach der Penner zum Publikum und lud alle, die wollten, in den nahe gelegenen Stuttgarter Hospitalhof ein, um noch ein wenig bäurisch oder königlich zu feiern.