E-Book-Ausgabe 2020
© 2012, 2020 Verlag Klaus Wagenbach
Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung: Julie August unter Verwendung des Gemäldes Koi-27 von © Jörn Grothkopp. Reihenkonzept von Rainer Groothuis. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
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ISBN 978 3 8031 4136 1
Auch in gedruckter Form erhältlich: 9783 8031 2829 4
Für Kris
[…] wie ausgeschieden du bist aus dieser Welt,
die schön ist und vielleicht einen Sinn hat,
wie ausgestoßen aus aller natürlichen Vollendung,
wie einsam in deiner Leere,
wie fremd und taub in dieser großen Stille […]
Max Frisch, Antwort aus der Stille
Ich nannte ihn Krawatte.
Der Name gefiel ihm. Er brachte ihn zum Lachen.
Rotgraue Streifen an seiner Brust. So will ich ihn in Erinnerung behalten.
Sieben Wochen sind vergangen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. In diesen sieben Wochen ist das Gras dürr und gelb geworden. Die Zikaden sitzen zirpend in den Bäumen. Unter meinen Füßen knirscht der Kies. Im prallen Licht der Mittagssonne sieht der Park seltsam verödet aus. Aufgeplatzte Blüten an Ästen, die sich müde zu Boden neigen. Ein blassblaues Taschentuch im Gestrüpp, kein Windhauch bewegt es. Die Luft ist schwer und drückt auf die Erde herab. Ich bin ein zusammengedrückter Mensch. Ich nehme Abschied von einem, der nicht mehr wiederkommt. Seit gestern weiß ich es. Er kommt nicht mehr wieder. Über mir spannt sich ein Himmel, der ihn – für immer? – in sich aufgesogen hat.
Noch kann ich nicht glauben, dass unser Abschied ein endgültiger ist. In meiner Vorstellung könnte er in jedem Augenblick auftauchen, vielleicht als ein anderer, vielleicht mit einem anderen Gesicht, mir einen Blick zuwerfen, der sagt: Ich bin da. Kopf gegen Norden, den Wolken nachlächeln. Er könnte. Deshalb sitze ich hier.
Es ist unsere Bank, auf der ich sitze. Bevor sie zu unserer wurde, war sie meine gewesen.
Ich kam hierher, um mir darüber klarzuwerden, dass der Riss in der Wand, jener hauchfeine Sprung quer über den Regalen, drinnen wie draußen seine Gültigkeit hat. Zwei ganze Jahre hatte ich damit verbracht ihn anzustarren. Zwei ganze Jahre in meinem Zimmer, im Haus der Eltern. Hinter geschlossenen Augen hatte ich seine gebrochene Linie nachgezeichnet. Sie war in meinem Kopf gewesen, hatte sich darin fortgesetzt, war mir ins Herz und die Adern eingegangen. Ich selbst ein blutleerer Strich. Meine Haut totenbleich, da keine Sonne sie beschien. Manchmal hatte ich Sehnsucht nach ihrer Berührung. Ich stellte mir vor, wie es wäre, nach draußen zu gehen und endlich zu verstehen: Es gibt Räume, die man niemals verlässt.
An einem kalten Februarmorgen gab ich meiner Sehnsucht nach. Durch den Spalt in den Vorhängen konnte ich einen Schwarm Krähen ausmachen. Sie flogen auf und nieder, auf ihren Flügeln die Sonne, sie blendete mich. Einen stechenden Schmerz in den Augen, tastete ich mich die Wände meines Zimmers entlang bis zur Tür, stieß sie auf, zog mir Mantel und Schuhe an, eine Nummer zu klein, ging hinaus auf die Straße und weiter an Häusern und Plätzen vorbei. Trotz der Kälte rann mir der Schweiß von der Stirn und ich empfand eine sonderbare Genugtuung darüber: Ich kann das noch. Ich kann einen Fuß vor den anderen setzen. Ich habe es nicht verlernt. Alle Mühen, es zu verlernen, sind umsonst gewesen.
Ich versuchte nicht, mich zu täuschen. Nach wie vor ging es mir darum, für mich zu sein. Ich wollte niemandem begegnen. Jemandem zu begegnen bedeutet, sich zu verwickeln. Es wird ein unsichtbarer Faden geknüpft. Von Mensch zu Mensch. Lauter Fäden. Kreuz und quer. Jemandem zu begegnen bedeutet, Teil seines Gewebes zu werden, und dies galt es zu vermeiden.
Wenn ich an jenen ersten Freigang. Denn so muss sich ein Gefangener fühlen, der mit vergittertem Blick seine Zelle mit sich umherträgt, genau weiß, er ist nicht frei. Also wenn ich an jenen ersten Freigang zurückdenke, dann kommt es mir vor, als ob ich mich, eine Figur aus einem Schwarzweißfilm, inmitten einer bunten Szenerie bewegt hätte. Ringsherum schrien die Farben. Gelbe Taxis, rote Briefkästen, blaue Werbetafeln. Ihre Lautstärke betäubte mich.
Mit hochgeschlagenem Kragen bog ich um die Ecken und gab acht, dabei niemandem in die Füße zu stolpern. Mir graute bei der Vorstellung, mein Hosenbein könnte im Vorübergehen den Mantelzipfel eines anderen streifen. Ich presste die Arme an die Seiten und lief, lief, lief, ohne nach rechts, ohne nach links zu schauen. Die grausigste Vorstellung war die zweier Blicke, die sich in einem zufälligen Moment ineinander verhaken. Sekundenlang ineinander verweilen. Nicht loskommen voneinander. Solche Übelkeit. Ich war ihr Gefäß. Randvoll. Je weiter ich lief, desto mehr spürte ich das Gewicht meines Körpers. Ein dampfender Leib unter vielen zu sein. Einer stieß mich an. Ich konnte nicht länger an mich halten. Mit einer Hand vor dem Mund lief ich in den Park und übergab mich.
Ich kannte den Park und auch die Bank bei der Zeder kannte ich. Ferne Kindheit. Mutter würde mich zu sich winken, auf ihren Schoß hochnehmen und mir mit ausgestrecktem Zeigefinger die Welt erklären. Schau, ein Sperling! Sie machte Tschirp-tschirp. Ihr Atem auf meinen Wangen. Ein Kitzeln im Nacken. Mutters Haare wehten sachte hin und her. Wenn man klein ist, so klein, dass man glaubt, es wird ewig so bleiben, ist die Welt ein freundlicher Ort. Das war mein Gedanke, als ich sie wiedererkannte. Die Bank meiner Kindheit. Diese Bank, auf der ich lernen sollte, dass nichts so bleibt, wie es ist, und dass es sich trotzdem lohnt, auf der Welt zu sein. Ich lerne es immer noch.
Er würde sagen: Es war eine Entscheidung.
Und tatsächlich entschied ich mich dazu, über den Rasen zu gehen, auf die Bank zu und davor stehen zu bleiben. Ich war allein, umgeben von Stille. Niemand da, der mich dabei ertappt hätte, wie ich einmal, dann noch einmal um die Bank herum, in immer enger werdenden Kreisen um sie herumwanderte. Der Geschmack im Mund, als ich mich schließlich niedersetzte. Der Wunsch, wieder Kind zu sein. Wieder aus Augen zu schauen, die staunen. Ich meine, es sind meine Augen, die zuallererst krank geworden sind. Mein Herz ist ihnen lediglich nachgefolgt. Und so saß ich in viel zu dünnem Gewand. Noch dünner die Haut, unter der ich fröstelte.
Danach trieb es mich jeden Morgen hierher. Ich sah dem Schnee zu, wie er fiel, ich sah dem Schnee zu, wie er wieder schmolz. Glucksendes Rinnsal. Mit dem Frühling kamen die Menschen und ihre Stimmen. Ich saß mit zusammengebissenen Zähnen. Ein Würgen im Hals. Das war der Riss in der Wand. Er trennte mich von denen, die eingewoben waren. Ein verliebtes Pärchen schlenderte flüsternd an mir vorbei. Die heimlichen Worte, die zu mir herüberdrangen, tönten fremd wie die Worte einer Sprache, die ich nicht beherrschte. Ich bin glücklich, hörte ich, unsagbar glücklich. Ein klebriger Zungenschlag. Ich schluckte das Würgen hinunter.
Ob mich jemand bemerkte, ich bezweifle es, und wenn, dann wohl so, wie man ein Gespenst bemerkt. Man sieht es, klar und deutlich, mag nicht glauben, dass man es gesehen hat, und blinzelt es fort. Ich war ein solches Gespenst. Sogar die Eltern nahmen mich kaum mehr wahr. Wenn ich ihnen zu Hause im Eingang oder auf dem Flur begegnete, raunten sie ein ungläubiges Ah, du bist’s. Sie hatten es längst aufgegeben, mich zu den Ihren zu zählen. Wir haben unseren Sohn verloren. Er ist gestorben, noch vor seiner Zeit. So müssen sie es empfunden haben. Als einen lebendigen Verlust. Allmählich jedoch hatten sie sich damit abgefunden. Die Trauer, die sie anfangs um mich gehabt haben mögen, war der Einsicht gewichen, dass es nicht in ihrer Macht lag, mich zurückzugewinnen, und wie sonderbar die Situation für sie auch sein mochte, selbst im Sonderbaren hatte sich bald eine gewisse Ordnung eingestellt. Man wohnt nebeneinander unter einem Dach, und solange nichts davon nach draußen dringt, hält man es für schlichtweg normal, so unter einem Dach zu wohnen.
Heute begreife ich, dass es unmöglich ist, jemandem nicht zu begegnen. Indem man da ist und atmet, begegnet man der ganzen Welt. Der unsichtbare Faden hat einen vom Augenblick der Geburt an mit dem anderen verbunden. Ihn zu kappen, dazu bedarf es mehr als nur eines Todes, und es nützt nichts, dagegen zu sein.
Als er auftauchte, hatte ich keine Ahnung.
Ich sage: Er tauchte auf. Denn so war es. An einem Morgen im Mai war er plötzlich aufgetaucht. Ich saß auf meiner Bank, den Kragen hochgeschlagen. Eine Taube flog auf. Mir wurde schwindlig von ihrem Flügelschlag. Als ich die Augen zu- und wieder aufmachte, war er da.
Ein Salaryman*. Mitte fünfzig. Er trug einen grauen Anzug, ein weißes Hemd, eine rotgrau gestreifte Krawatte. In seiner Rechten schlenkerte er eine Aktentasche, braunes Leder. Er ging, sie hin- und herschlenkernd, mit vornübergeneigten Schultern und abgewandtem Gesicht. Irgendwie müde. Ohne mich anzuschauen, setzte er sich auf die gegenüberliegende Bank. Schlug ein Bein über das andere. Verharrte so. Bewegungslos. Das Gesicht in seiner Abgewandtheit gespannt. Er wartete auf etwas. Etwas würde geschehen. Gleich, gleich. Erst nach und nach lösten sich seine Muskeln und er lehnte sich seufzend zurück. Solch ein Seufzen, in ihm war das Etwas, welches nicht geschehen war.
Ein flüchtiger Blick auf die Uhr, dann zündete er sich eine Zigarette an. Der Rauch stieg in Kringeln empor. Das war der Beginn unserer Bekanntschaft. Ein scharfer Geruch in meiner Nase. Der Wind blies den Rauch in meine Richtung. Noch ehe wir Namen ausgetauscht hatten, war es dieser Wind, der uns miteinander bekannt machte.
War es sein Seufzen gewesen? Oder die Art, wie er die Asche wegschnippte? Selbstvergessen, von sich selbst vergessen. Ich scheute nicht davor zurück, ihn so, wie er mir gegenübersaß, zu betrachten.
Ich betrachtete ihn wie ein vertrautes Objekt, eine Zahnbürste, einen Waschlappen, ein Stück Seife, und auf einmal sieht man es wie zum ersten Mal, seinem Zweck vollständig entfremdet. Kann sein, dass es diese seine Vertrautheit war, die ein besonderes Interesse in mir hervorrief. Seine gebügelte Gestalt war die tausender anderer, die tagein und tagaus die Straßen füllen. Sie strömen aus dem Bauch der Stadt und verschwinden in hohen Gebäuden, in deren Fenstern der Himmel in einzelne Teile zerbricht. Sie sind der Durchschnitt, typisch in ihrer Unauffälligkeit, rasierte Vorstadtgesichter, zum Verwechseln ähnlich. Er zum Beispiel hätte mein Vater sein können. Ein beliebiger Vater. Und doch war er hier. So wie ich.
Wieder seufzte er. Diesmal leiser. Wer so seufzt, dachte ich, ist nicht nur irgendwie müde. Fühlte es mehr, als dass ich es dachte. Ich fühlte, das ist einer, der des Lebens müde ist. Die Krawatte schnürte ihm die Kehle zu. Er lockerte sie, sah erneut auf die Uhr. Gleich war es Mittag. Er packte sein Bentō* aus. Reis mit Lachs und eingelegtem Gemüse.
Er aß langsam, kaute jeden Bissen zehn Mal. Er hatte Zeit. Den Eistee schlürfte er in kleinen Schlucken. Auch dabei sah ich ihm zu. Schon fast ohne Verwunderung über mich selbst. Denn damals ertrug ich es kaum, einem andern beim Essen und Trinken zuzusehen. Er jedoch tat es mit solcher Behutsamkeit, dass ich darüber meine Übelkeit vergaß. Oder wie soll ich es beschreiben: Er tat es in vollstem Bewusstsein dessen, was er tat, und dies machte aus einem alltäglichen Akt wie diesem einen bedeutsamen. Jedes einzelne Reiskorn nahm er in sich auf, brachte sich ihm gleichermaßen dar, mit einem dankbaren Lächeln.
Bei jedem anderen wäre ich auf und davon gelaufen, hätte das Mahlen des Kiefers für eine Bedrohung, das Malmen der Zähne für eine Gefahr gehalten. Ich fand es ungeheuerlich, wie eins ums andere in den Mund hinein und hinunter in die Gedärme rutschte. Ich selbst schlang, ohne nachzudenken. Der innere Zwang, mich zu erhalten, mich trotz allem zu erhalten, war mir ein Rätsel, dem auf den Grund zu gehen ich sorgsam unterließ. Besser nicht nachdenken darüber.
Sobald er fertiggegessen hatte, war er wieder ein gewöhnlicher Salaryman. Er schlug die Zeitung auf, las den Sportteil zuerst. Die Giants*, fett gedruckt, hatten einen triumphalen Sieg davongetragen. Zustimmend nickte er, während er mit dem Finger die Zeilen entlangfuhr. Ein Ring. Er war also verheiratet. Ein verheirateter Giants-Fan. Wieder zündete er sich eine Zigarette an. Danach noch eine und noch eine, der Qualm hüllte ihn ein.
Der Park war durch seine Anwesenheit kleiner geworden. Er bestand nun aus nur mehr zwei Bänken, seiner und meiner, den paar Schritten, die uns voneinander trennten. Wann würde er aufstehen und gehen? Die Sonne war von Süden nach Westen gewandert. Es kühlte ab. Er verschränkte die Arme. Die Zeitung lag aufgeblättert auf seinen Knien. Eine Schar Schulkinder kam lärmend über den Rasen gestolpert. Zwei ältere Frauen unterhielten sich über ihre Krankheiten. So ist das Leben, sagte die eine, man wird geboren, um zu sterben. Er war eingeschlafen. Schwerer Kopf. Die Zeitung flatterte zu Boden. Jederzeit kann es zu Ende gehen, hörte ich, manchmal habe ich gar kein Gefühl mehr da drinnen.
Im Schlaf löste sich sein Gesicht auf. Silbrige Strähnen in der Stirn, unter den Lidern jagte ein Traum den anderen. Zuckende Oberschenkel. Ich empfand etwas, dünn wie der Faden Speichel, der aus seinem offenen Mund heraushing. Noch fehlte mir aber das Wort dafür. Erst jetzt fällt es mir ein. Mitgefühl. Oder der jähe Impuls ihn zuzudecken.
Als er endlich erwachte, sah er müder aus als zuvor.
Sechs Uhr.
Er zog die Krawatte enger. Der Park füllte sich mit den Geräuschen des herannahenden Abends. Eine Mutter rief: Komm, wir gehen nach Hause. Der zärtliche Klang, als sie nach Hause rief. Ein Ziehen im Nabel. Er strich sich die Haare aus der Stirn, gähnte, stand auf. In der Rechten die Aktentasche. Wartete eine unschlüssige Sekunde lang. Worauf? Ging los und verschwand, grauer Rücken, hinter einem der Bäume. Ich sah ihm nach, bis er gänzlich verschwunden war, und es muss wohl in diesem Moment gewesen sein, in dem kurzen Moment, da ich ihn aus den Augen verlor, dass ich so seufzte wie er.
Und wenn schon. Ich schüttelte mich. Ich schüttelte ihn ab. Was hatte ich mit einem zu tun, den ich ohnehin nie mehr wiedersehen würde? Die alte Übelkeit erfasste mich. Unerträglich, wie ich mich schauend in das Schicksal eines Fremden gemengt hatte. Als ob es mich beträfe. Voll alten Ekels schüttelte ich ihn aus meinen Händen und Füßen. Wie schon gesagt: Ich hatte keine Ahnung. An jenem Abend, als ich mich zu Bett legte, das Laken schlug Wellen, an jenem Abend hatte ich nicht die geringste Ahnung, warum ich, kurz vor dem Ertrinken, sein Gesicht an der Wand zerbröseln sah. Ich trieb im Gewässer meiner Ahnungslosigkeit. Durch den Spalt in den Vorhängen schien der Mond darauf.
Ich hatte ihn nicht vergessen, als ich mich Tags darauf auf den Weg in den Park machte. In meinen Träumen war er mir abwechselnd als ein Reiskorn, eine Zigarette, ein Baseballschläger, eine Krawatte erschienen. Das letzte Bild war ein verschwommenes: ein Mann in einem Raum ohne Wände. Mit jedem Schritt wurde es blasser, ich löschte es aus.
Bei meiner Bank angelangt, war ich erleichtert, die seine leer vorzufinden. Dort, wo er gesessen hatte, war keine Spur von ihm zurückgeblieben. Ein Putztrupp war gerade dabei, die Mülleimer auszuräumen. Die Zigarettenstummel waren bereits zusammengefegt und in einen Plastikbeutel gekippt worden. Kein Ascheflöckchen erinnerte an ihn. Der Park war so groß, wie er eben war. An einem der Grashalme, die hier und dort aus dem Kies herauswuchsen, funkelte ein Tautropfen. Ich bückte mich nach ihm, er war warm von der Morgensonne. Als ich wieder hochkam, war er, wie am Tag davor, plötzlich aufgetaucht.
Ich erkannte ihn an seinem Gang. Ein wenig schief. Wie wenn er jemandem ausweichen wollte. So gehen die Menschen, die es gewohnt sind, sich durch eine wimmelnde Masse zu bewegen. Er trug denselben Anzug, dasselbe Hemd, dieselbe Krawatte. Die Aktentasche, schlenkernd. Eine Wiederholung. Er setzte sich, schlug die Beine übereinander, wartete, lehnte sich zurück. Seufzte. Dasselbe Seufzen. Blies den Rauch in Kringeln aus Nase und Mund. Ihn aus meinem Gedächtnis löschen zu wollen, war nunmehr vergeblich. Er war da, hatte in mir Platz genommen, war eine Person geworden, über die ich sagen konnte: Ich erkenne sie wieder.
Er hatte ein Stück Brot bei sich. Umständlich wickelte er es aus dem Papier, zerriss es in immer kleinere Hälften, formte Kügelchen daraus und streute sie vor die gurrenden Tauben. Für euch, hörte ich ihn murmeln. Und als er fertig war: Ksch-ksch. Weiße Federn wirbelten auf ihn herab. Eine war auf seinem Kopf gelandet. Sie verfing sich in seinem zurückgekämmten Haar und gab ihm etwas Verspieltes. Wäre er in T-Shirt und kurzen Hosen dagesessen, man hätte ihn für ein Kind halten können. Sogar die Langeweile, in die er kurz danach verfiel, war die eines Kindes. Er witschte unruhig hin und her. Bohrte die Fersen in den Boden. Blähte die Wangen auf. Ließ die Luft langsam entweichen.
Ich musste an die zähe Ewigkeit eines eben erst angebrochenen, endlos hingestreckten Tages denken. Die Gewissheit, dass er vergehen würde, war nichts gegen die fade Melancholie, mit der er verging, und Melancholie, dachte ich weiter, war das Wort, das uns beiden auf die Stirn geschrieben stand. Es verband uns. Wir trafen uns in ihm.
Im Park war er der einzige Salaryman. Im Park war ich der einzige Hikikomori*. Etwas stimmte nicht mit uns. Er sollte eigentlich in seinem Büro, in einem der Hochhäuser, ich sollte eigentlich in meinem Zimmer, zwischen vier Wänden hocken. Wir sollten nicht hier sein oder wenigstens nicht so tun, als ob wir hierher gehörten. Hoch über uns ein Kondensstreifen. Wir sollten nicht hochschauen, in diesen blauen, blauen Himmel. Ich blähte die Wangen auf. Ließ die Luft langsam entweichen.
Zu Mittag kamen andere wie er. Sie kamen in Grüppchen, setzten sich, die Krawatte über die Schulter nach hinten geworfen, auf die Bänke weiter abseits, und saßen, ein jeder mit seinem Bentō, fröhlich plaudernd beieinander. Endlich Pause, lachte einer, endlich Beine ausstrecken. Sein Lachen setzte sich fort in dem der anderen.
Warum war er nicht bei ihnen? Ich stellte Mutmaßungen an. Vielleicht war er einfach nur ein Durchreisender und er hatte den Anschluss verpasst. Musste warten, bis. Oder war einfach nur. Ich konnte es mir nicht erklären.
Sein Bentō, das waren dieses Mal Reisbällchen, Tempura*, ein Algensalat. Er brach die Stäbchen entzwei, hielt inne, wischte sich, eine heimliche Bewegung, mit dem Handrücken über die Augen. Sein angespannter Kiefer, ich sah es, er zitterte. Beschämt sah ich, er weinte. Es war ein zugeschnürtes Weinen, und ich allein war sein Zeuge. Die Beschämung darüber hielt an: Wer weint zu helllichter Stunde? Wer stellt sich dermaßen bloß? Und nicht nur sich selbst, sondern auch mich, seinen Beobachter! Er sollte nicht weinen, nicht vor mir. Er sollte die Tür hinter sich