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Marco Polo
kam 1254 als Sohn des venezianischen Kaufmanns Niccolò Polo auf die Welt. Zusammen mit seinem Vater und Onkel brach er 1260 zu seiner berühmt gewordenen Reise auf. 1298 gerät er nach einer Seeschlacht in Genueser Gefangenschaft. In Haft verfasst er den hier vorliegenden Reisebericht. Er stirbt 1324 in Venedig.

Dr. Detlef Brennecke (geb. 1944)
war in seiner Jugend Filmschauspieler in Berlin. Später lehrte er als Professor Skandinavistik in Frankfurt am Main. Seine zahlreichen Bücher über Abenteurer und Entdecker wurden in etliche Sprachen übersetzt.

Zum Buch

»Ich habe nicht die Hälfte von dem erzählt, was ich gesehen habe, weil keiner mir geglaubt hätte.«

Marco Polo

Marco Polo reiste im Jahr 1271 mit seinem Vater und seinem Onkel in Richtung China. Ziel war der Palast des Kublai Khan. Mehr als zwanzig Jahre lang wird Marco Polo dem Enkel Dschingis Khans als Berater dienen und in seinem Auftrag ausgedehnte Reisen durch die Weiten des Chinesischen Reiches unternehmen. Was der junge Marco Polo im fernen China entdeckte, übertraf die kühnste Vorstellungskraft. Seine Beobachtungen blieben für die Nachwelt erhalten: im vielleicht bedeutendsten Reisebericht überhaupt.

Durch sein Sprachtalent gewinnt der junge Marco Polo das Vertrauen des Kublai Khan, des Großkhans der Mongolen. In diplomatischer Mission wird er auf Reisen durch das riesige Reich entsandt. In Hangzhou dient er drei Jahre lang als Gouverneur. Polo durchquert China und Tibet und stößt bis nach Südostasien vor, in die Gebiete des heutigen Birmas, Thailands, Vietnams und Indonesiens. Die Details, die er in seinem Bericht festhält, sind unglaublich: Er sah riesige Städte, einen mobilen Palast, unermessliche Weiten und märchenhafte Schätze.

Heute gilt Marco Polos Schrift als eines der einflussreichsten literarischen Werke des ausgehenden Mittelalters und als einer der bedeutendsten Reiseberichte überhaupt.

DIE 100 BEDEUTENDSTEN ENTDECKER

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Marco Polo.
Frontispiz der ersten deutschen Ausgabe seines
Reiseberichts, Holzschnitt von 1477

Marco Polo

Die
Beschreibung
der Welt

Die Reise von Venedig
nach China

1271 – 1295

Herausgegeben
von Detlef Brennecke

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013

ISBN: 978-3-8438-0346-5

www.marixverlag.de

INHALT

VORWORT DES HERAUSGEBERS

»Nicht den zwanzigsten Teil habe ich beschrieben« Dennoch ist Marco Polos Bericht bis heute unerschöpflich

PROLOG

ERSTES BUCH

ZWEITES BUCH

EPILOG

EDITORISCHE NOTIZ

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

Empfehlungen für Leser, die mehr über Marco Polo wissen wollen

LEBENSDATEN

VERZEICHNIS DER ORTSNAMEN

VORWORT DES HERAUSGEBERS

»Nicht den zwanzigsten Teil habe ich beschrieben«

Dennoch ist Marco Polos Bericht bis heute unerschöpflich

Zögernd noch und verschwommen lösten sich im Morgendämmern der Geschichte Europas aus Trugbildern und Gerüchten die Schemen eines Reiches im fernsten Osten. Geisterhaft waren Gestalten, die hinter dem Boreas wohnten, dem Wind, der von Norden her weht, schon im 8. Jahrhundert vor Christus in einem Fragment aus dem Frauenverzeichnis des griechischen Rhapsoden Hesiod vorübergehuscht. Als Vorboten gleichsam … Denn binnen Kurzem erschienen die »Hyperboreer« in einer Weltschau des Schamanen Aristeas von Prokonnesos bereits mit deutlichem Umriss: Sie seien eine Population, die anders als all ihre Nachbarn friedfertig auftritt. Mit diesen arglosen Menschen wurden von Stund an Gefilde verbunden, in denen die Seligen ebenso hausten wie Einäugige und Greifen, wo ewiges Leben herrschte und ein Funkeln und Leuchten erstrahlte vom Gold ringsumher: ein Zaubergarten am Rande der Oikumene, der besiedelten Breiten – zugänglich nurmehr den Göttern.

Danach, als sich im 6. Jahrhundert mit der Beschreibung der Erde des Hekataios von Milet verstörend und betörend Indien ins Blickfeld der Europäer schob, wurden die Mirakel des Orients dort angesiedelt, bis sie sich im Schatten des Fassbaren allmählich verloren. Denn hatte Skylax von Karyanda noch in seiner Umseglung der Säulen des Herakles an der Schwelle vom 6. zum 5. Jahrhundert von schaurigen Ausgeburten gefaselt, die ihre Plattfüße als Sonnenschirme benutzten, und von gigantischen Ameisen gefabelt, die im Sand nach Gold schürften, konnte Herodot in seinen Historien am Ausgang des 5. Jahrhunderts die Inder mittlerweile als Zeitgenossen bezeichnen, »die wir kennen und von denen wir genauere Zeugnisse haben«. Die Annahme freilich, dass ihre Gegend »der äußerste Landstrich im Osten« sei, wurde erst an jenem Tag des Spätsommers 326 zerstreut, als Alexander der Große auf seinem Marsch durch den Subkontinent am Hyphasis gen Süden schwenkte. »Vielleicht fließen ja noch viele andere größere Flüsse auf indischem Boden«, gab der Chronist der Kampagne, Arrian, um die Mitte des 2. Jahrhunderts nach Christus im Alexanderzug zu bedenken. »Aber ich kann nichts Sicheres über die Gebiete jenseits des Hyphasis behaupten, weil der Makedonenkönig nicht über den Hyphasis hinausgekommen ist.«

So gewissenhaft dies vorgetragen war, so aussagestark war es zugleich. Denn es bekräftigte, dass das Finis terrae nicht in Indien lag. Zumal es für diesen Befund seit ungefähr der Zeitenwende handfeste – oder sagen wir besser: hauchfeine – Beweise gab. In seinem Hexameter-Epos Über das Landleben (29 v. Chr.) lehrte der Römer Vergil, dass nicht jedwede Frucht in jeglichem Boden gedeiht, sondern zur rechten Entfaltung ihr ursprüngliches Umfeld benötigt. Schulmeisternd fragte er:

»Soll ich von alledem singen? Wie Balsam aus duftendem Holze träufelt, wie Beeren trägt der immergrüne Akanthus, wie Äthiopiens Waldung strahlt von schneeiger Wolle und die Chinesen von Blättern kämmen die seidigen Flocken?«

Allein den Volksnamen »Chinesen« kannten die Römer (und die Griechen) noch nicht. Sie sprachen von »Seres«, und das umschloss die Hersteller wie auch die Lieferanten von Seide.

Die Route, über die sie ihre Ware exportierten, begann an diversen Punkten in der Heimat der »Seres«. Daraufhin führte sie entweder auf einer nördlich der »Hemodischen Berge« sich verzweigenden Strecke um Wüsten herum oder verlief auf einer südlich des Himalaya sich verästelnden Straße durch Indien hindurch. Zuletzt erreichte sie die Ufer des Mittelmeers, wo sie sich nach Afrika und Europa, nach Byzanz und Alexandria abermals entfächerte. Ihr bevorzugtes Ziel indessen war Rom.

Kaum dass Vergil seine – den Nachgeborenen bare Unkenntnis verratende – Schilderung der Seidengewinnung gegeben hatte, pries Horaz in einer Epode (um 30 v. Chr.) die »seidnen Kissen« … besang eine Generation nach ihm Ovid in einem Liebesgedicht (um 2 n. Chr.) den Stoff, »den uns die Seres gewebt« … und rühmte Plinius der Ältere in seiner Naturkunde (77) – wie Aristeas von Prokonnesos einst die »Hyperboreer« – die »Seres« als Geschöpfe »von sanfter Gesittung«.

Schlossen die Römer aus dem Produkt der »Seres« womöglich auf deren Charakter? Sei’s drum! Seide wurde zum Inbegriff von schmachvoller Verweichlichung, sodass Tacitus in den Annalen (um 120) kolportieren konnte, wie der Senat anno 16 angeordnet hatte: »Die Männer dürfen sich nicht mehr durch das Tragen serischer Stoffe entehren.« Nur hielten sie sich nicht an die Kleiderordnung – am allerwenigsten die Kaiser! Zu groß war die Annehmlichkeit, die sie dem Volk am Saum von Asien verdankten. Denn dass es existierte, stand längst außer Frage. Und darum bekam es nun auch seinen ›richtigen‹ – weil auf die einheimische Ts’in-Dynastie aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert verweisenden – Namen.

Hatte doch der gräko-syrische Kaufmann Maes Titianos unlängst ein paar seiner Vertreter bis tief in den Osten geschickt. Und nachdem sie heimgekehrt waren, ließ er sie geflissentlich alle die von ihnen passierten Wege und Orte erfassen, die Gaue und Länder, die Gewässer und Höhen. Damit schuf er die Vorlage für das (verschollene) chorographische Register des Marinos von Tyros, Berichtigung der Karte der bekannten Erde (um 110), sowie für die Einführung in die Geographie (um 150) des Klaudios Ptolemaios. Und in der war jetzt ein Stamm namens »Sinai«1 vermerkt.

Seither konkurrierte in antiken Dokumenten die Benennung der »Chinesen« mit dem Begriff der »Seidenerzeuger«, standen die »Seres« neben den »Sinai« mit ihrer Kapitale »Thinai«. Darauf, dass diese Stadt in einem Land liegt, in »Thin«, woher Seide importiert wird, »sowohl in rohem Zustand als auch gesponnen und gewebt zu feinen Stoffen«, hatte um das Jahr 70 bereits ein anonym verfasster Leitfaden für die Handelsschifffahrt auf dem Indischen Ozean hingewiesen, der Periplus Maris Erythraei. Die geographischen Koordinaten für China wurden immer präziser markiert.

Dennoch geisterte durch das Gemunkel und Geraune über die »Sinai« oder »Seres« schablonenhaft eher eine Menagerie von Phantomen, Monstern und Schimären, als dass eine authentische Individualität den Hirngespinsten den Garaus machte.

Erst als Ammianus Marcellinus am Ende des 4. Jahrhunderts in seiner Römischen Geschichte erwähnte, dass Zinnen hoher Mauern, »die sich wie im Kreis zusammenfügen«, die Sitze der »Seres« umgeben, wurde ein verbürgter Stein ins Mosaik der Informationen gelegt. Und als Prokop um 550 in einem Abriss der Gotenkriege darauf zu sprechen kam, wie der Imperator Justinian zwei Mönche dazu gebracht hatte, Eier »einer gewissen Art von Würmern« nach Europa zu schmuggeln, war das Geheimnis um den Ursprung der Seide gelüftet und das Reich der Mitte symbolisch seiner Abschirmung beraubt.

Dass dies in einer Phase des Niedergangs der griechischen und römischen Traditionen und des Aufstiegs der islamischen Kultur geschah, hatte zur Folge, dass weiterführende Auskunft über China nächstens von arabischen Autoren zu erwarten war. Denn hatte nicht der Prophet in einem Hadith dazu aufgerufen: »Suchet Wissen und Wissenschaft, und wenn es in China wäre«?

Leider zeigten die Erträge aus jener Weisung, dass »China« bloß so verstanden wurde, als wenn ein Berliner heute »jottwede« sagt und damit etwas meint, das »janz weit draußen« liegt.

Eine Ausnahme bildete anfangs zwar die 851 festgehaltene Erinnerung des Kaufmanns Sulaimān von Basra an den Liebreiz der Landschaften Chinas und die Anlage seiner Städte, die Hofhaltung der Machthaber und Wieselei ihrer Schranzen, die Rechts- und Wirtschaftsordnung, die Ernährung der Leute und ihre Bestattungsfeiern – zudem an Anstößigkeiten wie jene, dass sich die Chinesen »nicht mit Wasser waschen«. Dann jedoch, nach diesem vielversprechenden Ansatz zu einer Völkerkunde, erzählte der Geograph Ibn Chordadhbeh um 900 in seinem Buch der Reisen und Königreiche lediglich wieder vom Güterverkehr zwischen dem Nahen Osten und China, »as-Sin«, und lieferte ansonsten keinerlei Neuigkeiten mehr – so wenig wie sein Kollege al-Istahri aus Persepolis ein Menschenalter nach ihm in einem Werk, das bezeichnenderweise denselben Titel trägt wie das Itinerar des Ibn Chordadhbeh, Buch der Reisen und Königreiche, irgendwelche Ergänzung machen konnte. Wie eh und je beeindruckte zuvörderst die enorme Distanz zwischen dem Hier und dem Dort: »Von Kolsum [am Roten Meer] bis China beträgt die Reise in gerader Linie ungefähr zweihundert Stationen«. Also rund neun Monate.

Mochten sich bisweilen auch Details einfinden wie 947 in der Übersicht über Die Goldwäscherstätten und Edelsteinminen des al-Mas’ūdi, blieb doch das Reich der aufgehenden Sonne für die Bewohner des Morgen- und des Abendlands, was es von Anfang an war: eine Terra incognita, in der sich allerdings einträgliche Abschlüsse tätigen ließen. Einen Geographie und Ethnographie verbindenden Forschungs- und Mitteilungsdrang hatte innerhalb von zwei Millennien keiner ihrer Besucher jemals dokumentiert, sodass sie nach wie vor ein Hort mit sieben Siegeln war. Noch als sich der flämische Franziskaner Wilhelm von Rubruk im Sommer 1254 in Karakorum aufgehalten und von dort aus einen Abstecher nach Tibet gemacht hatte, konnte er von dem, was hinterm Horizont verborgen war, schwerlich mehr berichten als: »Dahinter kommt Groß-Kataia, dessen Bewohner im Altertum, glaube ich, Serer hießen.«

Welch ein Vermögen an Wissen hatte dagegen ein Venezianer erworben, bevor er nach langer Abwesenheit von zu Hause im Jahr 1295 aus China in seine Vaterstadt heimgekehrt war!

Sein Name: Marco Polo.

In der Lagune an den oberen Ufern des Adriatischen Meeres gab es viele Familien, die in der Form »Polo« den Namen des Apostels Paulus trugen, der »verkündigen sollte unter den Heiden«. Polos gab es in Chioggia, dem Hafen südlich von Venedig; ferner im Kerngebiet der Stadt selbst; darüber hinaus auf Torcello, dem Bischofssitz im Norden; sowie im östlich gelegenen Jesolo, bei der Mündung der Piave … ja, noch im dalmatinischen Šibenik, unweit von Split, waren Polos angesiedelt. Kurzum, zwischen all den Martinos und Vitales, Andreas, Marcos, Lazzaros, Giovannis und Domenicos ist keine Linie zu erkennen, sodass die Ungewissheit über die Abstammung des Großen Reisenden erst beendet ist, als zwei Brüder Polo in die Geschichte eintreten: Niccolò und Maffeo, die Söhne des Andrea Polo da San Felice.

Aber Vorsicht auch bei den Angaben zu ihnen …!

»Der Leser möge wissen«, hebt die Beschreibung der Welt scheinbar bestens unterrichtet an, dass die beiden »im Jahre 1250 unseres Herrn« mit allerlei Waren nach Konstantinopel gekommen, doch sodann, um ihren Gewinn noch zu steigern, für eine Weile nach Sudak (= Soldadia)2 auf die Krim gezogen seien, wo der dritte der Brüder Polo, Marco der Ältere, ein Kontor besaß. Danach hätten sie sich an der Wolga »ein Jahr« im Dunstkreis des Cinghis Khan-Enkels Berke aufgehalten, seien aber durch sich ausbreitendes Kriegsgetümmel immer weiter gen Morgen verschlagen worden, bis sie in Buchara (= Bokhara) ein wenig Ruhe gefunden hätten. Hier nun habe sie ein durchreisender Botengänger eingeladen, ihm an die Residenz eines anderen Cinghis Khan-Enkels zu folgen, nämlich an die des Großkhans Kublai Khan, worauf sie »ein ganzes Jahr« benötigt hätten, um den während der Wintermonate mit seinem Hofstaat in Peking (= Kambalu) weilenden Herrscher zu erreichen.

Durch das Erscheinen jener »Leute aus italischem Lande« neugierig geworden, wie deren Glaubenslehre zu bekräftigen sei, habe der Großkhan seine Gäste am Ende mit der Botschaft entlassen, sie möchten sich zum Papst verfügen und ihn darum bitten, sie in Begleitung von hundert Sachverständigen aufs Neue nach Osten zu schicken. Diese Männer sollten imstande sein, die Überlegenheit ihres Gottes über die Götzen der Mongolen darzulegen – außerdem würde er sich über etwas Öl aus der Lampe freuen, die am Heiligen Grab brennt.

Mit der Zusage, ihren Auftrag auszuführen, seien sie zur Rückreise aufgebrochen und »drei Jahre« unterwegs gewesen, bis sie am Golf von Iskenderun (= Giazza) die Küste des Mittelmeers erreicht und »im Monat April 1269« den Hafen von Akko (= Acre) angelaufen hätten. Von hier aus wollten sie nach Jerusalem reiten, um eine Phiole mit der Substanz aus dem Ewigen Licht abzufüllen. Doch sie wären kaum von Bord ihres Schiffes gestiegen, da hätten sie vernommen, dass Papst Klemens IV. soeben entschlafen sei.

In toto sei ihre Aufgabe daher nicht zu lösen gewesen (wer sollte die hundert Weisen berufen?), weshalb die beiden treuen Seelen fürs Erste Venedig angesteuert hätten, »wo Niccolò Polo fand, dass sein Weib, die er bei seiner Abreise schwanger zurückgelassen hatte, gestorben war, nachdem sie ihn mit einem Sohne beschenkt hatte, der den Namen Marco erhalten und jetzt in einem Alter von neunzehn Jahren stand«.

Man muss kein Rechenkünstler sein, um festzustellen, dass an der Schilderung des Abenteuers etwas nicht stimmt. Zwar deckt sich das Alter von Niccolòs Sohn (neunzehn Jahre) mit der Dauer der Abwesenheit seines Vaters (von 1250 bis 1269), doch ergeben weder die erwähnten noch die wahrscheinlichen Reise- und Verweilzeiten eine Summe von neunzehn Jahren. Die einzige vertrauenswürdige Aussage ist die zum Tod von Papst Klemens IV., der am 29. November 1268 stattgefunden hat.

Glaubhaft ist deshalb die Rückkehr von Niccolò und Maffeo Polo im Frühjahr 1269. Bedenkt man nun, dass ihre Awentura schwerlich neunzehn Jahre gewährt haben kann – dass also die Datierung ihrer Ankunft in Konstantinopel auf 1250 ohnedies hinfällig ist (wo kamen sie im Übrigen her? Wie lange waren sie zuvor unterwegs gewesen?), dann bekommt die Mitteilung sehr früher Handschriften der Beschreibung der Welt Gewicht, wonach Marco Polo bei der Rückkehr seines Vaters Niccolò nach Venedig »fünfzehn Jahre« alt und somit 1254 geboren war.

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Marco Polo. Ausschnitt aus dem Titelholzschnitt
einer spanischen Ausgabe von 1503

Auf diese Zahl hat sich die Forschung ergo geeinigt; das ominöse »1250« dürfte ein läppischer Schreibfehler sein.

Doch seien wir dem selbstsicheren Schusselkopf nicht gram: Hat er uns doch durch seinen Lapsus mit der »1250« und durch seine Mogelei mit den »neunzehn Jahren« einen Einstieg in das Thema »Marco Polo« aufgezwungen, der uns mitten hinein in die venezianische Ära (und Aura) versetzte. Ahnen wir nicht bereits, welche Geschäftstüchtigkeit in ihr waltete, welche Weite des Blicks, welch eifrige Bekehrungslust? Jäh waren Kreuzritter aufgetaucht, Mongolenkämpfer, Kaufleute. Das Trachten nach Gewinn vermengte sich mit dem Streben in die Ferne, und dieses durchmischte sich nun mit dem Sinnen auf ein gottgefälliges »Handeln« – womit wir wieder am Anfang des Dreischrittes wären. Es war die Gangart, mit der Venedig in die Historie eintrat.

Ambitionierte Mythographen hatten die Erbauung der Stadt mit dem Fall Trojas verknüpft, mit dem Aufstieg Roms und dem Tag, an dem der Engel Gabriel der Jungfrau Maria eröffnet hatte, dass sie den Sohn Gottes gebären werde – an einem 25. März soll sich das ereignet haben. (Das Gründungsjahr, 421, war in diesem Zusammenhang von eher geringer Bedeutung.)

Was hinter dieser künstliche Wurzeln bildenden Klitterung hervorklingt, ist der Selbstbehauptungswille von Menschen in Bedrängnis: Im 5. Jahrhundert hatten sie vor den Hunnen zurückweichen müssen und keine andere Zuflucht gefunden als auf den Halligen im Morast der Lagune, wohin die Reiter Attilas nicht folgen konnten. Das wiederholte sich ein Jahrhundert später beim Ansturm der Langobarden. Und es ist bezeichnend, dass wir ausgerechnet aus der Vita eines unter diesem Volk amtierenden Papstes, Zacharias, erfahren, womit die Venezianer ihr Fortbestehen sicherten, während sie wie Vögel auf Pfählen im Wasser auf ihren Inseln vor der Küste hockten. »In jener Zeit geschah es«, berichtet die Quelle, »dass mehrere venezianische Kaufleute nach der Stadt Rom kamen und, Handelsgeschäfte vorgebend, eine große Anzahl von Sklaven männlichen und weiblichen Geschlechts aufkauften, um sie nach Afrika zu dem Volk der Heiden zu führen.«

Faktisch war ihnen ohne Territorium, auf dem sich Landbau betreiben oder Rohstoff gewinnen ließ, nichts anderes übrig geblieben als: Händler zu werden. Ohne Skrupel, wie man sieht, und von Anfang an mit einem weiten Betätigungsfeld.

Nachdem dann Karl der Große dem Langobardenregime in Italien ein Ende gemacht und es 812, im Frieden von Aachen, hingenommen hatte, dass die Stadt dem »Basileus Romaion« von Konstantinopel anheimfiel, sollten sich die Aktivitäten der Venezianer vorzugsweise nach Osten und Südosten richten – in die Levante, ins Schwarze Meer, bis zum Kaukasus hin.

Einen ersten Coup landeten sie, als die beiden Kaufherren Bonus aus Malmocco und Rusticus aus Torcello gemeinsam mit zwei Spießgesellen um die Jahreswende 828/829 bei einem Aufenthalt im ägyptischen Alexandria die Hüter des dort aufbewahrten Leichnams des heiligen Markus übertölpelten. »Die Wächter«, berichtet die Legende, »wurden durch die List der Venezianer und ihrer beiden griechischen Helfer hinters Licht geführt, indem man in das Grab des Evangelisten einen anderen heiligen [na, immerhin!] Leib legte, während man die Zöllner dadurch täuschte, dass Bonus und Rusticus im oberen Teil der Kiste, die die Reliquie aufgenommen hatte, Schinken und Schweinefleisch aufschichteten, die bekanntlich für die Sarazenen wie für die Juden ein Gegenstand der Abscheu sind. Als nun die Kiste an der Zollstation geöffnet wurde, riefen die Zöllner: ›Kazir! Kazir!‹ [›Schwein! Schwein!‹], was wohl ein Ausdruck des Entsetzens ist, und fertigten die Ladung ohne Weiteres ab. Freudig brachten Bonus und Rusticus ihren Schatz nach Venedig.«

Abermals finden wir das hier: dieses Gemenge aus Geschäftemacherei, Frömmigkeit und Reisefreude. Es sollte Venedig, das sich fortan mit dem Symbol des Markus, dem – geflügelten – Löwen, schmückte, Wohlstand bescheren und Macht – Macht im handfesten Sinn. Denn neben seiner Handelsflotte rüstete die Stadt bald Schiffsverbände aus, die zunächst die Hoheit über die Adria und hernach auch über den östlichen Mittelmeerraum gewannen. Venedig beteiligte sich am Ersten Kreuzzug von 1099 bis 1100 sowie am Dritten von 1188 bis 1191. Und als dann die frommen Gewalttäter im Jahre 1203 zum vierten Male ausrückten, um durch Mord und Totschlag im Heiligen Land die Gedenkstätten des Erlösers zu »befreien«, nahm das Geschehen eine Wendung, deren Anlass kein Historiker je herausgefunden hat: Statt ihren Kurs auf Akko beizubehalten, drehte die Armada unter Führung von Enrico Dandolo nach Backbord, fuhr die Ägäis hinan und stürmte Konstantinopel. Am 13. April 1204 fiel die Stadt. Aus dem Kreuzzug war ein Beutezug geworden.

Von da an war Venedig eigenständig. Der Doge firmierte in krämerseliger Pi-mal-Daumen-Berechnung als »Herr über ein Viertel und die Hälfte eines Viertels des (Oströmischen) Reiches«, er hatte auf Kreta das Sagen, ließ Koron und Modon auf der Peloponnes okkupieren – und binnen Kurzem gab es kaum eine Siedlung in jener Region, in der den Venezianern nicht eine Niederlassung gehörte. Venedig war vermögend. »Eine Stadt reich an Gold«, nannte sie Francesco Petrarca in einem seiner Rerum senilium libri, seiner »Bücher über Altersangelegenheiten« (1501), »doch reicher an Ruhm; mächtig durch Wohlstand, doch mächtiger durch Gesittung; auf marmornen Fundamenten gegründet, doch auf dem solideren Sockel der Einheit der Bürger verankert; von Salzfluten umgeben, doch von weisen Ratschlüssen beschützt.«

Ungeachtet der Rivalität mit dem aufstrebenden Genua setzte Venedig die Ausdehnung seines Einflusses fort: Es unterwarf 1269 Umago in Istrien, 1270 Cittanova in Slowenien und 1271 San Lorenzo, wiederum in Istrien.

Es war eine glorreiche Epoche, in welche die Brüder Polo heimgekehrt waren. Und vermutlich war es auch der Schwung jener Jahre, das Was-kostet-die-Welt!, von dem sie um Ostern 1271 angetrieben wurden, ihr Wort beim Großkhan einzulösen. Ein Nachfolger für Klemens IV. war noch nicht gefunden und die Sache mit den hundert Gelehrten demnach nicht zu regeln; aber wenigstens das Oleum Sanctum ließ sich aus Jerusalem beschaffen. Daher schien es ihnen ratsam, in Bälde erneut nach Akko aufzubrechen. Wobei sie diesmal den jungen Marco Polo mitnehmen wollten. Der war jetzt siebzehn Jahre alt.

Niccolò hatte nach dem Tod seiner Frau die Jahre von 1269 bis 1271 genutzt und war noch einmal auf Brautschau gegangen. Seine zweite Auserkorene hieß Fiordelise Trevisan und sollte dem jungen Marco Polo während dessen Reise mit Vater und Onkel einen Stiefbruder bescheren, Maffeo (den Jüngeren).

Niccolò hatte sein Haus gut bestellt. Und so machten sie sich zu dritt, Niccolò Polo, sein Sohn Marco und dessen Oheim Maffeo (der Ältere), um Ostern 1271 nach Akko auf den Weg. Sie besorgten das Öl, um das der Großkhan sie gebeten hatte, erhielten – da ein neuer Pontifex maximus noch immer nicht bestimmt war – ersatzweise vom päpstlichen Legaten in Akko, Tedaldo Visconti da Piacenza, ein Beglaubigungsschreiben und segelten gen Nordosten nach Iskenderun. Dort erfuhren sie zu ihrer Verblüffung, dass jener Würdenträger, den sie jüngst verlassen hatten, am 9. September 1271 als Gregor X. zum Stellvertreter Jesu Christi gewählt worden war. Also machten sie kehrt. Sie empfingen den apostolischen Segen, überdies ein paar Botschaften an den Großkhan, ferner Geschenke. Dann wurden sie entlassen – wenn auch nicht mit einem Geleit von hundert Kirchenmännern, so doch mit einem Gefolge von zweien: den Dominikanern Niccolò da Vicenza und Guglielmo da Tripoli. Nun konnte der Gran Viaggio beginnen …

Es liest sich wie eine Burleske aus der Feder Boccaccios, dass die beiden Fratres, als das Fähnlein der fünf Aufrechten hinter Iskenderun zwischen die Fronten eines Krieges geriet, all ihr Gottvertrauen verloren. Zitternd und zagend drückten sie den Polos die Legitimationen des Heiligen Vaters in die Hände und machten sich unter »Addio!« und »Valete!« mit wehenden Kutten aus dem Staub. Der Mission kam es zugute.

Im Familientross, unbelastet von den Dreinreden Fremder, zogen Niccolò, Maffeo und Marco Polo gen Südosten in Richtung Hormus (= Ormus) weiter. Von Westen her drang mancherorts – und dergleichen sollte sich auf der ganzen Reise wiederholen – die Kunde von entlegenen Städten und Stätten: vom Ararat, auf dem die Arche Noah gelandet sein sollte, von Mossul (= Mosul) und Shiraz (= Siras), von Isfahan (= Spaan) und Bagdad (= Baidach), wo ein frommer Schuhmacher vordem zum Nachweis der Stärke des christlichen Glaubens einen Berg versetzt hatte: Und die Erde bebte zur gleichen Zeit »in einer wunderbaren und erschrecklichen Weise«. Das gab der Chronik Würze.

Auch wenn es nicht ausdrücklich angekündigt wurde, hatten die drei offenbar die Absicht, ab Hormus mit Schiffen um Indien herumzufahren – vielleicht bis Quanzhou (= Zaitum), zum bedeutendsten Hafen im Reich Kublais, um dann von dort aus die vergleichsweise kurze Strecke zum Sommer-Hoflager des Großkhans in Shangdu (= Cle-men-fu) in der Nähe des heutigen Zhenglan Qi in der Inneren Mongolei mit Pferden zurückzulegen.

Indes hatten die Signori Polo aus der maritimen Metropole Venedig die Rechnung ohne die Schiffbaukunst in den Werften von Hormus gemacht, in denen weder eiserne Nägel verwendet noch Pech gebraucht wurden, wo man die Boote lediglich mit Einzelmast und -segel versah und als Anker – »Inschallah!« – zwei, drei Steinbrocken mitgab. Die mehr zusammengezurrten denn gezimmerten Fahrzeuge erschienen den kundigen Blicken der Vielgewandten »von der schlechtesten Art und sehr gefährlich«, sodass sie es vorzogen, ihr Unternehmen statt auf dem See-, auf dem Landweg fortzusetzen.

Sie ritten in nordöstlicher Richtung, erfreuten sich an der Lieblichkeit mancher Gegend in Persien, durchquerten erst eine, dann noch eine Wüste, bewunderten die Weiber, »die meiner Meinung nach die schönsten auf der Welt sind«, und sahen linker Hand in der Ferne die Wipfel des Elburs – Zeit, die Geschichte des Alten vom Berge einzuflechten, des Scheichs al-Dschebel oder »Gebieters des Gebirges«, des Anführers der Assassinen und Schreckens aller Kreuzfahrer.

Sie erzählt von einem Fürsten, der seinen Kämpfern für den Fall, dass sie ihm bedingungslos gehorchen würden, den Einzug in das Paradies versprach. Um zu zeigen, dass er seine Zusage zu halten vermag, ließ er den Recken, ohne dass sie es merkten, ein Rauschmittel in den Wein mischen, worauf sie in tiefen Schlummer versanken. Eiligst wurden sie daraufhin in einen Schlossgarten geschafft, in dem sie nach ihrem Erwachen von frivolen Nymphen durch allerlei »Freude und Kurzweil« umturtelt und verwöhnt wurden. Nach einiger Zeit bekamen die Krieger aufs Neue die Droge verabreicht und fielen abermals in einen Schlaf. Und als sie daraus erwachten, fanden sie sich an ihrem Ursprungsort wieder. In Erinnerung aber an den vermeintlichen Schnupperkurs im Paradies schworen sie ihrem Herrscher, »in seinem Dienst zu sterben«.

Das Märchen schwirrte schon seit einem Jahrhundert durch die Literaturen des Orients und Okzidents und schlug nun bei seiner Aufnahme in die Beschreibung der Welt feste Wurzeln – Wurzeln, aus denen Ableger wuchsen. Philologen wundern sich sporadisch darüber, dass Landsleute Marco Polos wie Giovanni Boccaccio nichts von dem Mann zu wissen scheinen. Aber ist die Tatsache, dass in der achten Geschichte des dritten Tages im Dekameron (um 1350) von einem Pulver gemunkelt wird, wie »es der Alte vom Berge zu gebrauchen pflege«, nicht doch ein Anzeichen dafür, dass der Florentiner den Reisebericht des Venezianers gekannt hat?

Jedenfalls wurde die Novelle ein produktives Souvenir. Das ging so weit, dass sich Hermann Löns dazu verstieg, für seine Sammlung Mümmelmann und andere Tiergeschichten (1909) eine tränentreibende Fuchs-du-hast-das-Kitz-gerissen-Saga mit dem Titel zu verfassen: »Der Alte vom Berge«. Dass der Fund aus Persien realiter eine Fama war, ein mit Vorsicht zu genießendes Gerücht, räumte Marco Polo selbst ein. Er griff ihn aber auf und verstaute ihn, weil ihm Intermezzi dieser Art Gelegenheit zum Innehalten boten, zum Rasten, wobei sich die Menge der geschilderten Eindrücke geruhsam verarbeiten ließ. Dann konnte es mit frischen Kräften weitergehen.

Das Trio hatte die unwegsamen Felslabyrinthe Afghanistans rechts liegen gelassen und ritt nun auf Kaschmir (= Kesmur) zu und auf das Hochland des Pamir (= Pamer). »So groß ist die Höhe der Berge, dass keine Vögel in der Nähe ihrer Gipfel zu sehen sind, und wie außerordentlich es auch scheinen mag, es wurde versichert, dass wegen der Schärfe der Luft Feuer, die angezündet werden, nicht dieselbe Hitze geben wie in niedrigeren Gegenden [und] auch nicht so kräftig wirken bei der Zubereitung von Speisen«. Alles dies speichernd, das Gesehene und Gesagte, erreichten sie Kashgar (= Kashcar) im Westen der Wüste Takla Makan. Von hier aus wanderten sie auf der südlichen jener großen Karawanenrouten, die sechs Jahrhunderte später von dem deutschen Geographen Ferdinand von Richthofen den Namen »Seidenstraße« bekommen sollte. Yarkant (= Karkan) … Hotan (= Kotan) … Qiemo (= Ciarcian) … Qarklik (= Lop) … Dort ließen sie sich aus den Sätteln gleiten und spähten mit Schaudern zurück auf den siedenden Hexenkessel, in dem Menschen, die ihn zu betreten wagen, von bösen Geistern ins Verderben geführt werden: durch lockendes Stimmengesäusel, durch Schreie in Not, durch Pferdegetrappel und Mummenschanz von Gespenstern. »Sie sollen auch zuweilen die Luft mit den Klängen von Musik erfüllen und mit dem Lärm von Trommeln und mit Waffengeklirr, wodurch sie die Reisenden nötigen, sich enger zusammenzuhalten und in strengerer Ordnung zu ziehen. Deswegen halten es die Reisenden auch für nötig, die Vorsicht zu brauchen, bevor sie sich der Nachtruhe überlassen, weit vor ein Signal aufzustellen, welches den Weg zeigt, den sie am anderen Tage weiterziehen wollen, ferner auch jedem Lasttier eine Glocke umzuhängen, damit sie sich nicht so leicht zerstreuen.«

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Ein weiteres »Porträt« Marco Polos, von dem es keine authentische
Darstellung gibt. Holzschnitt von Sebastian Münster, 1544

Ist es nicht packend und bewegend zu gewahren, dass sich der schwedische Asienabenteurer Sven Hedin bei seinem Treck durch die Takla Makan am 27. April 1895 genau an diese Sätze aus der Beschreibung der Welt erinnert hat? »Es galt, dicht beisammenzubleiben. Verlor man die anderen außer Sicht, so konnte man den Sturm weder durch Rufe noch Flintenschüsse übertönen; man verirrte sich und wäre rettungslos verloren gewesen. Man sah nur das nächste Kamel; die Übrigen verschwanden in einem undurchdringlichen Schleier. Nur ein eigentümlich pfeifender, sausender Ton ließ sich hören, wenn die Milliarden von Sandkörnern vorbeieilten. – Vielleicht waren es diese eigentümlichen Laute, die auf Marco Polos Phantasie einwirkten, da er in seiner Schilderung von den Schrecken der ›großen Wüste‹ schreibt.«3

Irgendwo in dieser Gegend konnten die drei Sendboten die Spur aufnehmen, die Niccolò und Maffeo Polo vor ungefähr acht Jahren auf ihrem Weg zum Großkhan gezogen hatten. Jetzt war es nicht mehr weit bis Shangdu. Im Norden, so wurde ihnen gemeldet, befand sich zwischen der Takla Makan und der Gobi das Reich der Tangut (= Tanguth). Die Polos beließen es beim Hörensagen und gelangten auf das Gebiet der Uiguren und dort nach Zhangye (= Kampion). »In dieser Stadt blieb Marco Polo mit seinem Vater und seinem Oheim ungefähr ein Jahr, wie es da die Verhältnisse nötig machten.«

Eine Sprache wie aus einem politischen Bulletin: voller Wörter, aber nichtssagend. Was war geschehen? Hatte Marco, der vor rund einem Jahr, 1272, in Badakhshan (= Balaschan) schon einmal das Bett hüten musste, einen Rückfall erlitten? Oder war die Abordnung aus dem unbekannten Westen, wie Alvise Zorzi in seiner Biographie Marco Polo (1982) vermutet, in die Mühlen der Bürokratie geraten – zumal Kublai gerade einen Krieg an der Südflanke seines Reiches führte und allen Grund hatte, Fremdlingen gegenüber misstrauisch zu sein? Oder hatten sie einen Handel eingefädelt, eine Liebschaft angeknüpft? Wir wissen es nicht.

Umso genauer sind wir durch das erste Kapitel4 der Beschreibung der Welt über das Eintreffen der drei Wallfahrer aus dem Abendland beim Herrscher der Mongolen informiert: »Als sie sich seiner Person näherten, bezeugten sie ihre Ehrerbietung, indem sie sich an der Türe mit dem Angesichte niederwarfen. Er befahl ihnen sogleich, sich zu erheben und ihm die Umstände ihrer Reise zu erzählen, mit allem, was bei ihrer Unterhaltung mit Sr. Heiligkeit dem Papste stattgefunden. Sie erzählten nun die Ereignisse in guter Ordnung und der Kaiser hörte ihnen mit besonderer Aufmerksamkeit zu. Die Briefe und die Geschenke vom Papst Gregorius wurden dann vor ihm hingelegt, und nachdem er die Ersteren gelesen, lobte er die Treue, den Eifer und den Fleiß seiner Gesandten, und indem er mit gebührender Ehrfurcht das Öl vom Heiligen Grabe in Empfang nahm, gab er Befehl, dass es mit religiöser Sorgfalt aufbewahrt werden solle. Er bemerkte Marco Polo und frug, wer er wäre. Niccolò Polo antwortete, es sei sein Sohn und der Diener Sr. Majestät. Da geruhte der Großkhan, ihn unter seinen besonderen Schutz zu nehmen, und ernannte ihn zu einem seiner Ehrenbegleiter.«

Man schrieb den Juni 1275. Mehr als vier Jahre waren die Männer seit ihrem Aufbruch von Venedig unterwegs gewesen.

Die Länge ihrer Herreise war dem Zeitraum angemessen, in dem sich Niccolò, Maffeo und Marco Polo in der Umgebung des Großkhans nunmehr aufhalten sollten.

Kublai, dessen Großvater Cinghis Khan durch sein Vorpreschen bis zum Dnjepr die Voraussetzung dafür geschaffen hatte, dass die Horden Ögödais, seines Sohnes und damit eines Onkels von Kublai, im Jahr 1241 bis ins schlesische Liegnitz vorstoßen konnten, wo sie nach ihrem Sieg über Herzog Heinrich II. von Schlesien seltsamerweise den Rückzug aus Europa antraten – dieser Spross aus einem wilden Reitervolk, gebot, wenn auch als Großkhan, nur noch über einen Bruchteil des einstigen Mongolenreichs. In Familien- und Stammesfehden hatten die Nachfahren Cinghis Khans dessen Herrschaftsgebiet vom Gelben bis zum Kaspischen Meer Gezänk um Gezänk zerstückelt, wobei sich Kublai Khan Ostasiens bemächtigt hatte. Im Augenblick des Eintreffens der Polos weitete er mithilfe des Feldherrn Bayan seine Hegemonie von Nordchina (= Kataia) nach Südchina (= Manji) aus. Es war in seinen Augen eine große Zeit.

Und da der zwanzigjährige Marco die Gunst dieses Fürsten genoss und offenkundig auch von ihm geleitet und gefördert wurde, eignete sich der Jüngling die Perspektive seines Gönners an: Alles um den Großkhan war erlaucht. Alles um den Großkhan war prunkvoll. Alles um den Großkhan war gerecht und gelehrt und gedeihlich und so weiter und so weiter …

Das beginnt mit einem Loblied auf das Äußere dieses Mannes, dessen Antlitz »wie der liebliche Schein der Rose« erstrahlt und dadurch seinem Wesen Gefälligkeit verleiht. Alvise Zorzi hat diese Beschreibung mit den überlieferten Bildnissen Kublais verglichen, die einen gedrungenen Alten mit einem – in der Tat blutvollen – feisten runden Schädel zeigen, und sich prompt in seinem Schönheitssinn getäuscht gefunden: »Dies ist eine der wenigen Stellen, wo sich Marco weder als guter Beobachter noch als guter Berichterstatter erweist.« Aber erstens hat Zorzi das Sprichwort seiner lateinischen Ahnen vergessen, wonach »de gustibus non est disputandum«, also über ›Geschmäcker‹ nicht zu streiten ist; und zum Zweiten übersah er, dass Marco Polos offensichtliche Schönfärberei ein Warnsignal ausstrahlt für alle, die in der Idealisierung des Großkhans als Adonis einen »der wenigen« Ausrutscher wähnen, eine Unschärfe oder Gedächtnistrübung.

Nein! Dieses nicht enden wollende Schwärmen und Schwelgen ist reines Bewundern, ist Nachhall eines verjährten Behagens und gewiss in dem Moment, in dem es wahrgenommen wird, auch Nostalgie: Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit … Heimweh nach der Ferne. Und Kublai verkörperte sie in rosiger Anmut!

Hierin liegt die Suggestivität der Beschreibung der Welt. Denn stärkt es nicht den Glauben an das Gute, von einem zu lesen, der – wie Kublai gegen den Schuft Nayan – auszog, die Falschheit zu tilgen? Und erquickt es nicht die Seelen der Christen zu hören, dass einer wie Kublai ihre Schwestern und Brüder in der Diaspora gegen Spötter in Schutz nahm? Und ist es nicht – jetzt wird es allerdings heikel – eine Lust, sich auszumalen, wie das vonstattenging, wenn alle zwei Jahre »bis zu vier- oder fünfhundert der erlesensten jungen Mädchen« herbeigeschafft wurden, um in einer Endausscheidung (unter anderem durften sie nicht schnarchen!) zu bestimmen, welche zwanzig oder dreißig der mongolischen Jungfern für das Bett des Großkhans zurückbehalten wurden?

Überhaupt: die kleinen Unschicklichkeiten! Und die großen Zahlen!

In einer neugierig machenden Entrüstung, die dem Publikum am liebsten die Augen zuhalten würde, dann aber einen Spalt zum Hinschauen freilässt, werden in regelmäßigen Abständen die vermeintlich losen Sitten bei den durchwanderten Völkern geschildert. Dass zum Beispiel in der Nähe von Kerija (= Peyn) die Frauen sich einen neuen Mann nehmen können, sobald der alte mehr als zwanzig Tage abwesend ist – und dass dasselbe vice versa für die Männer gilt (nota bene: Die Polos waren unterdessen Hunderte von Wochen nicht mehr daheim). Oder dass in Uiguristan (= Kamul) die Hausherren ihren Besuchern die eigenen Weiber aufdrängen und sich dann zur Gewährleistung eines zwanglosen Aufenthalts ihrer Gastfreunde absetzen. Oder die Leute von Xichang (= Kaindu), die die Fremden regelrecht in ihre Hütten zerren, sich dann rücksichtsvoll davonschleichen und erst wiederkehren, wenn sie ein entsprechendes Freizeichen ihrer Gattinnen erhalten.

Mochten die Gefühle der Zuhörer oder Leser bei derartigen Nachrichten noch gemischt gewesen sein, so dürften sie unter dem Eindruck der mitgeteilten Mengenangaben aus dem Staunen nicht herausgekommen sein. Alles im Umfeld des Großkhans war riesig. Im Kampf gegen Nayan hatte er im Handumdrehen dreihunderttausend Reiter aufgestellt. Allein seine Leibwache bestand aus zwölftausend Gardesoldaten. An seinem Geburtstag huldigten ihm zwanzigtausend Fürsten. Und als Präsent bekam er »nicht weniger als hunderttausend Pferde«. Jahr für Jahr!

Die Begeisterung des »weit ausgreifenden Wanderers« – wie ihn Goethe 1819 in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans nannte – an immensen Summen setzte sich fort, als er im Auftrag des Großkhans durch dessen Reich zog, um zu berichten, was außerhalb des Hofes ›draußen im Lande‹ geschah. Über fünfundzwanzigtausend Dirnen waren in Peking am Werk. Mehr als zweihunderttausend Pferde beschäftigte die Post. Und die Tibeter hielten ihre Töchter erst dann für heiratsfähig, nachdem sie karawanenweise von durchziehenden Händlern (hört! hört!) beschlafen worden waren. »Eine schmähliche Gewohnheit« … und ein attraktives Skandalon.

Annähernd siebzehn Jahre blieben die Polos bei Kublai Khan. Bis dahin streiften sie durch China, Vietnam, Korea (= Karli), Burma (= Mien) und 1284 – möglicherweise – durch Ceylon. Dabei notierte Marco Polo wie auf seiner Anreise, was er gesehen und gehört hatte. Er war überrascht von Erdbrocken, die gleich Kohle brennen: »Diese Steine haben keine Flamme, außer dass sie ein wenig auflodern, wenn sie angezündet werden, aber während ihres Brandes strömen sie viel Hitze aus.« Er hielt fest, welche Waren wo gehandelt wurden und wie praktisch die Erfindung des Papiergeldes ist – nicht zuletzt für den Großkhan: »In der Stadt Kambalu befindet sich die Münze des Großkhans, von dem man in Wahrheit sagen kann, dass er das Geheimnis der Alchimisten besitze […].« Über ähnliche Zauberkraft muss der König von Japan (= Zipangu) verfügt haben, dessen Palast ein Traumschloss war. »Das ganze Dach ist mit Gold plattiert, gerade so wie wir die Häuser, oder richtiger die Kirchen, mit Blei decken.« Freilich, den märchenhaften Reichtum dieser Insel in Augenschein zu nehmen war Marco Polo nicht vergönnt. Daher malte er ihn aus. In blendenden Neonfarben.

Wo alles so anders war, als es Marco aus Venedig gewohnt war, konnten sich die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung allzu leicht verschieben: Denn dass Niccolò und Maffeo Polo zur Belagerung von Xiangyang (= Sa-jan-fu) beispielsweise Katapulte, »wie man sie im Abendlande brauche«, konstruiert hätten, ist eine entschieden falsche Nachricht. Die Erbauer der Apparate hießen laut Auskunft chinesischer Quellen Ala-ud-din und Ismail und waren ergo Muslims (ganz zu schweigen davon, dass die Blockade schon 1274, ein Jahr vor dem Eintreffen der Polos in China, beendet worden war).

Mag sein, dass Marco Polos Flunkerei ein Fingerzeig auf eine gewisse Überfütterung mit Eindrücken ist. Darum war es vielleicht auch die Furcht der Polos, den Bezug zur Realität zu verlieren, zu ihrer Wirklichkeit, ihrer Heimat, ihren Familien, die sie schon seit Langem daran denken ließ, den Großkhan um ihren Abschied zu bitten. Zweifellos maßgeblich aber war: Als Kaufleute konnten sie rechnen. Daher fürchteten sie, dass sie nach dem Tod ihres Wohltäters Kublai, der auf die achtzig zuging, in die Ränkespiele seiner Erben verstrickt werden könnten. Sie kannten schließlich die mongolische Historie und erinnerten sich an die Wirren nach dem Ende Cinghis Khans.

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Marco Polo in mongolischer Tracht, Darstellung von 1754

Da ergab sich eine günstige Gelegenheit.

Argon, der König eines in Persien ansässigen Tataren-Stamms, war kürzlich Witwer geworden. Deshalb hatte er sich an den Großkhan gewendet, er möge ihm eine Angehörige aus dem Clan seiner ersten Gemahlin schicken, auf dass er mit ihr eine zweite Ehe eingehen könne. Da Kublai bereit war, dieser Bitte zu entsprechen, übernahmen es die Polos, die junge Braut zu ihrem Gatten in spe zu geleiten.

Die Reise von Quanzhou führte anfangs um das südostasiatische Festland herum, schlängelte sich dann durch die Malakkastraße zwischen Sumatra und Malaya, berührte die Nikobaren und Andamanen und daneben, im Westen des Golfs von Bengalen, Ceylon, arbeitete sich Hafen für Hafen die Malabarküste hinauf, überquerte das Arabische Meer und erreichte nach einundzwanzig Monaten die noch wohlvertraute Schiffbauerstadt Hormus. Dort stellte sich heraus, dass Argon in der Zwischenzeit selbst gestorben war, worauf die Braut von Nordchina kurzerhand dessen Filius angetraut wurde und die Polos befreit vom Ballast ihrer Entourage Kurs auf die Heimat nehmen konnten. Nach Stationen in Trabzon (= Trebisond) und Konstantinopel sowie auf der Insel Euböa (= Negropont) gelangten sie schließlich »frisch und gesund und mit großen Reichtümern« 1295 in Venedig an. Sie hatten ihre Familien seit vierundzwanzig Jahren nicht gesehen.

Dass sich um eine Rückkunft nach derart langen Irrfahrten Legenden bilden mussten – wen wundert’s? Und so wurde um die Männer alsbald ein Szenario nach dem Motto ›Heimkehr des Odysseus‹ erfunden. Keine Commedia dell’Arte hätte eine frappantere Metamorphose von drei Zerlumpten aufführen können: Beim Finale begannen Niccolò, Maffeo und Marco Polo gestenreich ihre Kleider aufzutrennen, und hervorkollerten »kostbare Geschmeide in großer Zahl, als da sind Rubine, Saphire, Karfunkel, Diamanten und Smaragde«. Hinter solchen Phantasien verlor Marco Polo für die Zukunft jede Kontur.