Christoph
Poschenrieder
Die Welt ist
im Kopf
Roman
Die Erstausgabe erschien 2010 im Diogenes Verlag
Covermotiv: Gemälde von John Singer Sargent, ›A Gust of Wind‹,
ca. 1883 – 1885 (Ausschnitt)
Für Daniela: vbb
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2018
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24086 3 (1. Auflage)
ISBN eBook 978 3 257 60112 1
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Inhalt
In diesem durchweg zweideutigen Leben
Ein höchst interessanter Kopf [9]
Vielleicht machen Sie von einliegender Karte Gebrauch [18]
Poeta inglese stravagante [28]
Die Welt ist meine Vorstellung
Gleichmut [35]
Adele [38]
Blaurot steht seinen Mann [45]
Carbonari und Satelliti [58]
Don Juan [61]
Kein Glück ohne Freiheit [66]
Schnippschnapp [79]
Brahmanen [83]
Lido [91]
Tagliamento [94]
Die Gehilfin des Buchbinders [98]
Depeschen [103]
Die Welt ist mein Wille
In ein fremdes Land versetzt [109]
Damnatur [114]
Ciccio [120]
Factotum nicht länger [129]
Macaroni, Makkaroni, Maccheroni [132]
Serenissima [139]
[6] Vertraute Fremde [144]
Teresa [153]
Katzenfleisch [166]
Hier sind die Löwen [172]
Meide den Dorn [182]
Pflücke die Rose [185]
Karoline [199]
Begegnungen [210]
Der Held schämt sich aller Klagen [217]
Orion [225]
Hornhaut [230]
La note xe bela [236]
Laster alter Herren [242]
Ich will und will doch nicht
Das, dünkt mich, muss Dich freuen [255]
Admittitur [263]
Hochwasser [266]
Rausch [275]
Nur nichts bewundern [278]
Sei so glücklich, als du kannst [283]
Das Schwein [286]
Masken [296]
Ist zu lassen [301]
Ist zu fassen [306]
Wenn es das Herz nicht erwartet [318]
Triumph der Zeit und der Ernüchterung [327]
Sonnen und Milchstraßen [337]
Notiz zur Geschichte der Geschichte [340]
Übersetzungen der fremdsprachigen Zitate [341]
[7] In diesem durchweg zweideutigen Leben
Alles was man schriftlich ins Publikum bringt
gleicht einer Arzenei die man Jemanden eingiebt:
bisweilen wirkt sie gleich, bisweilen gar nicht,
geht ab ohne Wirkung, bisweilen wirkt sie sehr spät,
und zeigt bisweilen ihre Wirkung an Theilen
wo man es nicht vermuthete und auf eine Art
an die man nicht dachte.
Arthur Schopenhauer
[9] Ein höchst interessanter Kopf
Schopenhauer war wütend. Einen Veitstanz hatte er aufgeführt; am Ende hatten ihn die beiden Druckerlümmel verlacht und ihm mit schwarzen Pfoten eine lange Nase gedreht. Nachdem er das Haus des Verlegers verlassen hatte, war er losgelaufen, ohne Ziel, der Doktor der Philosophie, zum glimmenden Fünkchen verrauchter Kugelblitz, als welcher er hatte einschlagen wollen.
Es war himmelschreiend. Den ganzen Sommer hatte er wie ein verhungerter Lohnschreiber an der Reinschrift des Manuskripts gearbeitet, um nur ja den Termin zu halten. Der Verleger hatte versucht sich herauszureden, ihn lange vertröstet und schließlich alle Schuld auf die Druckerei geschoben.
Schimpfend stapfte Schopenhauer zwischen den Buden umher, die seit dem Morgen errichtet wurden; windige Gestelle, schnell gezimmert, mit Segeltuch überzogen. Zweirädrige Karren und Schlitten mit eisenbeschlagenen Kufen schlingerten über das Pflaster; Träger, Kärrner, Zimmerleute, alle plärrten durcheinander, dazu Gehämmer und Sägen, Streitereien zwischen Markthändlern und Messeadjunkten, die Ordnung ins Chaos zu bringen versuchten.
Ein Stofffetzen verfing sich an seinem Stiefel. Schopenhauer begann wie auf einen unsichtbaren Gegner einzutreten. [10] Mit der Hand zog er den Lumpen endlich ab und schleuderte ihn auf das Pflaster. Ein paar Handwerker ließen ihre Werkzeuge sinken und besahen das Schauspiel mit Interesse. Die Aufmerksamkeit war ihm unangenehm. Es reicht, dachte er, es reicht jetzt.
Eine Uhr schlug neun, zehn, elf und – drei dünne Schläge der Viertelstundenglocke folgten. Drei viertel zwölf.
Er ließ eilends das Budengewirr des Marktes hinter sich und trat auf die Straße hinaus, die geradewegs zur Leipziger Hauptpost führte. Mit etwas Glück entkäme er noch vor dem Zwölfuhrläuten dieser von Stunde zu Stunde enger und lauter werdenden Stadt. Wie würde das hier in wenigen Tagen aussehen, wenn all die Buden bestückt waren, dazwischen Käufer, Verkäufer, Schaulustige, Musikanten, Bettler und bewegliche Viktualienhändler sich tummelten? Hier ließ sich ein Bauersmann einen Zahn ausreißen, dort, im Abnormitätenkabinett, erschauerten Bürgerstöchter beim Anblick missgestalteter Säuglinge, die still in gläsernen Zylindern trieben. Rostbratwurst, Kasperltheater, Affen-, Floh- und Hundezirkus für die Plebs, ein Konzert im Gewandhaus, ein Gelage bei Alippi oder Pimavesi für die bessere Welt. In den Kellern und Handelshöfen lag die Ware hoch gestapelt: Stoffballen, Rauchwerk, Seide, Leder, Spielkram, Irdenware, Porzellan, Musikalien, Kunsthandwerk und Gemälde, Uhren, Werkzeuge, Maschinen, Wolle und Baumwolle, Schuhe, Hüte, Hosen, Jacken, Mäntel, Kleider, Handschuhe, Erden und Drogen, Glas und Gläser, Papiere, Druckerpressen und Druckfarben, Schrifttypen und Bücher, Bücher, Bücher. Nur seines nicht.
Schopenhauer zwängte sich zwischen aufgetürmten [11] Kisten und einem Ochsengespann durch, passierte den Naschmarkt, auch Auerbachs Keller, aus dem fröhlich blinzelnde Gestalten ins Licht tasteten.
Tags zuvor, frühmorgens halb fünf, war er aufgebrochen, hatte die erste Fahrpost gerade noch erreicht und war mit dieser gegen zwei Uhr morgens in Leipzig angekommen. Den Rest der Nacht hatte er in der Poststation auf einer Bank ausgestreckt zugebracht. Die Hotels in der Nähe waren belegt und er zu müde, um noch auf Herbergssuche zu gehen. Ochs und Esel hatte er ohnehin zur Gesellschaft – zwei stinkende und furzende Tabuletkrämer, die am anderen Ende der Stube über ihre Bauchläden gefaltet schliefen. Drei Stunden später polterten die beiden aus dem Raum; Schopenhauer folgte ihnen bald. Im Wirtshaus nebenan trank er dünnen Kaffee und aß zwei Brötchen, die dampften, als er sie aufriss und eine dicke schwarze Konfitüre in die Höhlung tropfen ließ.
Der Verleger musste über einen Hintereingang in sein Büro geschlichen sein; vorne hatte Schopenhauer seit Anbruch der Dämmerung gewartet. Ein Wort, ein Wort nur hätte er gebraucht von ihm – aber die zu seiner Bändigung ausgeschickten Drucker ließen ihn nicht aus den Augen, schon gar nicht, nachdem er begonnen hatte, auf Kisten zu schlagen und wütend nach dem Verleger zu schreien, er solle gefälligst seinen Teil des Kontrakts einhalten, so wie er das getan hatte.
Der Geruch von Pferdeäpfeln kündigte die Poststation an. Ein Gespann stand auf dem Hof, vier abgekämpfte, nass geschwitzte Pferde. Durchs Stadttor rauschte eine weitere Kutsche herein. Der Postillion produzierte ein Krächzen auf [12] dem Horn und zog die Zügel an. Steifbeinig ließen sich sechs Passagiere einer nach dem anderen vom Trittbrett herab.
Schopenhauer stieß das Tor zum Postbureau auf. Am anderen Ende des niedrigen, von mächtigen Säulen gestemmten Gewölbes thronte ein Postbeamter hinter einem brusthohen Pult.
Wann geht die nächste Post nach Dresden?, fragte Schopenhauer.
Gewöhnliche oder Eilpost?
Pardon? Schopenhauer beugte sich vor und hielt die Hand hinter sein linkes Ohr. Sogleich nahm er sie wieder weg; er hasste diese Angewohnheit; als ob sie zu viel über ihn verriete.
Egal.
Der Beamte blickte auf die Wanduhr und sagte: In sechs Stunden planmäßig. Retourkutsche, für Sie, früher. Vier Taler, achtzehn gute Groschen und neun Pfennige, Trinkgeld für den Postillion inklusive. Dieser dort.
Ein kursächsischer Postillion im gelben Rock mit blauen Kragenaufschlägen, nicht mehr weißen Lederhosen und hohen Stiefeln lehnte an der Wand, rauchte eine Porzellanpfeife und nickte seinem prospektiven Fahrgast verbindlich zu.
So viel?, sagte Schopenhauer und dachte: Egal, nur raus, nur weg von hier.
Vor der Station stand eine leichte sechssitzige Kutsche. Der Postillion öffnete den Schlag und warf einen verplombten Postsack hinein. Schopenhauer kletterte hinterdrein und legte die Füße auf die Sitzbank. Wie gerne hätte er jetzt ein druckfrisches Exemplar seines Buches in der Hand gehalten: die gefalzten und gebundenen Bögen einen nach dem [13] anderen sorgfältig getrennt, jede einzelne Seite gleichsam abgenabelt, Papier und Druck geprüft, das Titelblatt immer wieder betrachtet, sich an der Wahl des bei Goethe gefundenen Mottos erfreut: Ob nicht Natur zuletzt sich doch ergründe?
Wie gerne hätte er das Buch gewogen, seinen Geruch in die Nase eingesogen und mit unendlicher Befriedigung darin geblättert. Dass der Verleger ihn um dieses Vergnügen gebracht hatte, ihn zwang, die Reise mit einer großen Ungewissheit anzutreten – das war das Übelste an der ganzen Angelegenheit.
Zuwarten hieße den Winter in den Alpen herausfordern, anstatt ihn im milden Süden hinter sich zu lassen. Nein, es war schon richtig: jetzt oder erst sehr viel später. Freund Quandt übernahm den Versand der Vorzugsexemplare, und der Verleger – nicht aus Sympathie, aber aus kaufmännischem Interesse – würde die eine oder andere Rezension in eigenen und anderen Journalen lancieren. Alles andere würde geschehen, wie es geschehen musste: Aus dem italienischen Frühling würde der Philosoph Arthur Schopenhauer zurückkehren in ein spätwinterliches Deutschland, die Philosophieprofessoren als verschlafene Wespen in ihren Nestern aufstochern, sie mit grundfesten Argumenten erschlagen und von da an mit starker und lauter Stimme ein gewichtiges Wörtchen mitreden.
Ist er weg?, fragte der Mann hinter dem Schutzwall von Akten auf seinem Schreibtisch.
Der Sekretär schlich an die Tür, lauschte hinaus und nickte.
Beim heiligen Maculatius, keine größeren Toren als [14] Autoren, stöhnte Friedrich Arnold Brockhaus, Verleger des überaus erfolgreichen Konversationslexikons, das soeben in fünfter Auflage über die Pressen ging.
Er rückte seine Brille zurecht, zwei kreisrunde Gläser in einer Hornfassung. Brille, runde Backen, rundes Gesicht mit knolliger Nase, alles auf ein wulstiges Doppelkinn gelagert: Dies gab dem Verleger ein weiches, nachgiebiges Aussehen. Doch Brockhaus war ein zäher Geschäftsmann; musste es wohl sein, um Autoren wie diesen Philosophen ertragen zu können. Obwohl er bitter bereute, den Kontrakt unterzeichnet zu haben, würde er ihn erfüllen; bis zum wahrscheinlich ebenso bitteren (und in der Tat etwas verzögerten) Ende.
Dabei hatte es vielversprechend begonnen. Der junge Mann war von einem gemeinsamen Bekannten als höchst interessanter Kopf empfohlen worden, welcher vielleicht an Denkkraft und ernstem Willen und Tiefe des Studiums von keinem Lebenden überboten wird. Und, auch nicht reizlos, auf großes Honorar mache er angeblich keinen Anspruch. Er stammte aus gutem Hause (die Teegesellschaften seiner Mutter hatte Goethe regelmäßig besucht) und trug einen nicht unbekannten Namen. Brockhaus hatte gefällig geschriebene Reiseberichte der Johanna Schopenhauer verlegt und ordentliches Geld damit verdient.
Ein philosophisches Werk also: warum nicht?
Hegel (anderen Verlegern verpflichtet), Fichte (tot) und Schelling (jüngst wenig produktiv) – diesem Dreigestirn stand in der zeitgenössischen deutschen Philosophie nichts entgegen, niemand, der Unruhe stiftete, die Großen herausforderte.
[15] Da war der höchst interessante Kopf gerade recht gekommen.
Im März hatte Brockhaus frohgemut unterschrieben.
Anfang August begann der Autor den Verleger mit Briefen in durchaus gereiztem Ton zu drangsalieren: Die ersten sechs Aushängebogen seien nicht eingetroffen, wohl weil Brockhaus nicht genügend Setzer beschäftige; deswegen sei der Druck des Werkes gefährlich in Verzug. Ein paar Tage später schrieb der Philosoph: So könne man mit ihm nicht umgehen, er sei keiner von Brockhaus’ Konversations-Lexikons-Autoren und ähnlich schlechten Skriblern, mit denen er nichts als den Gebrauch von Tinte und Feder gemein habe.
Als endlich der erste Aushängebogen einging, zählte der Verfasser fünfunddreißig anstatt der verabredeten dreißig Zeilen pro Seite und schrie sofort Zeter und Mordio: Inzwischen fühle er sich zum Narren gehalten. Wort und Tat, Versprechen und Einlösen seien bei Brockhaus wohl zweierlei, er verlange unverzüglich sein Honorar, denn er könne ihm nicht länger trauen. Er brauche es (im Betrag ohnehin nur symbolischen Charakters) für seine Reise nach Italien, vor allem aber zum Beweis, dass es Brockhaus ernst damit sei, das Werk zu drucken. Überdies habe er von mehreren Seiten gehört, der Verleger lasse sich mit dem Honorar viel Zeit – wenn er überhaupt bezahle.
Das Lexikon, murmelte Brockhaus, bringt das Geld ins Haus, und natürlich geht es, verdammt noch mal, mit Vorrang in Druck, und nicht ein obskures philosophisches Werk.
Die vereinbarten vierzig Dukaten hatte er gezahlt, als er die letzten Manuskriptseiten erhielt, so, wie es im Kontrakt [16] stand. Dann herrschte für eine Weile Ruhe. Bis zum heutigen Morgen.
Einen Brief noch, sagte der Verleger, den allerletzten.
Der Sekretär ging an das Stehpult, hob die Schreibfläche und zog aus dem Fach einen Bogen Papier, überprüfte den Sitz seiner Ärmelschoner und tunkte die Feder ein.
Allerknappste Anrede, sagte Brockhaus.
Mein Herr –, schrieb der Sekretär.
– ich hatte in Ihrem letzten Brief vor allem einen Beweis für Ihre beleidigenden Behauptungen oder einen Widerruf derselben erwartet, – Brockhaus holte tief Luft – und da sich weder das eine noch das andere darin befindet, und ich Sie also fortan für keinen Ehrenmann halte, so kann künftig kein Briefwechsel zwischen uns stattfinden. Punkt. Daher werde ich Ihre etwaigen Briefe, die ohnehin in ihrer… göttlichen Grobheit – wie ist das? –
Treffend, sagte der Sekretär.
– und Derbheit eher auf einen Lohnkutscher als auf einen Philosophen schließen lassen, gar nicht annehmen, wenn ich Ihre Handschrift auf der Adresse erkenne. Punkt.
Der Verleger blies eine Wimper vom Brillenglas.
Ist er wirklich weg?
Der Sekretär ging hinunter in die Eingangshalle und kehrte grinsend zurück.
Gedankenstrich.
Ich hoffe nur, dass meine Befürchtung, an Ihrem Werke bloß Makulatur zu drucken, nicht in Erfüllung gehen werde.
Punkt.
[17] Nach zwölf drei viertel kursächsischen Postmeilen, gegen zwei Uhr morgens, kam Schopenhauer in Dresden an – mit ihm der Postsack, der von Kutsche zu Kutsche weitergereicht worden und sein liebster, weil schweigender Begleiter gewesen war. Zwischen Zwinger und Schlosskirche hing tief die Mondsichel, ein schönes Bild und einen Moment des Verweilens wert, doch Schopenhauer sah nicht hin.
Auf der Schwelle seiner Tür fand er den Brief, den er seit langem erwartete. Er öffnete vorsichtig, ohne das Siegel zu beschädigen, den Umschlag und zog ein zweifach gefaltetes Blatt heraus. Eine beigelegte Karte fiel zu Boden. Er hob sie auf, überflog die Zeilen und las sie noch einmal.
Was, dachte Schopenhauer, hat Goethe nur auf diese Idee gebracht? Und warum hat dieser Brief so verdammt lange von Karlsbad nach Dresden gebraucht?
Auf einmal fühlte er sich klein, sehr klein.
[18] Vielleicht machen Sie von einliegender Karte Gebrauch
Nun wäre eigentlich Zeit, sich der unerledigten Korrespondenz zu widmen, dachte Goethe.
Den ganzen heißen Sommernachmittag hatten er und Stadelmann Mineralien gesucht – der Kammerdiener natürlich nichts gefunden, wohl wissend, dass er die Ausbeute in einem schweren Korb aus der Gegend um den Hügel des ewigen Lebens zu Tal schleppen würde. Goethes Ertrag fiel umso reichlicher aus. Vom Finderglück berauscht, hatte er die ersten Anzeichen missachtet; bald aber hinkte Goethe mit seinem immer stärker schmerzenden Fuß dem Kammerdiener hinterher, missgestimmt vom Hügel des ewigen Abstiegs grummelnd. Dabei war das feste Paar Schuhe mit den genagelten Sohlen bestens bewährt, es hatte schon manche Expedition in die Schluchten und Felsbrüche um Karlsbad mitgemacht.
Goethe ruhte in seinem Zimmer auf dem Diwan, die Wade durch ein Polster unterstützt, damit die wundgeriebene Ferse keinen Druck litt. Er überlegte kurz, ob er sich von Stadelmann Schreibzeug und Unterlage bringen lassen solle, knuffte dann lieber einige Kissen zurecht und langte von der Konsole Madame de Staëls Über Deutschland herüber.
Er öffnete das Buch, sah hinein und schlug es gleich wieder [19] zu. Gut, wenn schon keine Korrespondenz jetzt: Dem Doktor Schopenhauer würde er zuerst antworten. Sein Brief lag immerhin schon zwei Monate unbeachtet. Und war darin nicht die Rede von einer Reise gewesen? Morgen, in aller Frühe schreibe ich ihm, dachte Goethe und suchte sein Lesezeichen.
Die Staël unternahm hier eine Exkursion in die deutsche Philosophie. Nicht, dass Philosophie ihn sonderlich interessiert hätte, aber solcherart präsentiert war sie erträglich, bisweilen amüsant. Der philosophische Geist, schrieb Madame, kann seiner Natur gemäß in keinem Lande allgemein verbreitet sein. Indes gibt es in Deutschland eine solche Neigung zum Grübeln, dass die deutsche Nation vorzugsweise als metaphysische Nation betrachtet werden kann.
Goethe überflog die Zeilen nur, hoffend, das eine oder andere Satzbild möge ihn packen, kurz unterhalten und weiterziehen lassen.
Die Philosophie ist die Schönheit des Denkens, sie beurkundet die Würde des Menschen, der sich mit dem Ewigen und Unsichtbaren beschäftigen kann, wiewohl alles Rohe seiner Natur ihn davon entfernt.
Er legte das Buch einen Moment nieder. Schönheit des Denkens? Tat und Wort würde er dem jederzeit vorziehen. Er gähnte, setzte ein Glimmerblättchen als Lesezeichen und klappte das Buch zu. Stadelmann würde ihn schon rechtzeitig wecken.
Paul?
Angelica Catalani erhielt keine Antwort. Ihr Agent und Ehemann, Paul Valabrègue, stellte sich taub. Wie immer.
Paul.
[20] Valabrègue saß ein Zimmer weiter behaglich auf dem Sofa und rauchte eine Pfeife.
Paul!
Wenn die Catalani schrie, dann schrie sie mit der Kraft einer ausgeformten Stimme. Und bevor die Dienstboten zusammenliefen und die Menschen auf der Straße vor dem Hotel stehen blieben, trat sogar ein Phlegmatiker wie Valabrègue ohne weiteren Verzug an.
Was ist, meine Liebe?, fragte er, als er in der Tür zu Madames Zimmer erschien. Seit je rollte sein linker Augapfel lose in der Höhle, kullerte herum wie eine Murmel in einer Schüssel, ohne Verständigung mit dem anderen Augapfel aufs Geratewohl in die Welt zielend. Die meisten Menschen wussten nicht, wo sie bei Valabrègue hinsehen sollten, die Catalani aber blickte ihm zwischen die Augen, auf die Nasenwurzel und ignorierte die senkrechte Falte, die dort aufstieg.
Was soll sein? In einer Stunde singe ich beim Fürsten, und du sitzt in deinem allerschäbigsten Anzug und bläst Rauchkringel.
Valabrègue hasste diese Auftritte.
Sie sang – und keiner bezahlte für das Vergnügen. Doch, einer – er selbst, Valabrègue, jedes Mal, wenn er Konversation machen musste mit den herablassenden Durchlauchtigstkeiten, hochwohlgeborenen Von und Zus und Um und Aufs, die für den Gegenwert einiger Gläser Champagner, eines Essens und eines schlecht gestimmten Klaviers den Auftritt einer weltberühmten Diva allzu billig einkauften. Valabrègue musste auf die Stimmbänder der Sängerin achten (wohl bedenkend, dass sie im achtunddreißigsten Jahr stand): Ein reguläres Konzert, bitte sehr!, aber ein Fürstenvorsingen, nur weil sich alle [21] Welt in Karlsbad zur Kur traf? Zu besseren Zeiten hätten sie hier allenfalls für die Dauer eines Pferdewechsels verweilt. Oder selbst gekurt. In diesen Zeiten aber zogen sie von Stadt zu Stadt, Dorf zu Dorf, Valabrègue klebte seine Zettel, Catalani la diva sang auf knarrenden Bühnendielen vor rülpsenden, immerhin zahlenden Biertrinkern. Und leider viel zu oft vor adligen Champagnerschlürfern, die ihre Titel als Eintrittsbillett vorzeigten. Doch nicht mehr lange: Ein paar Monate, dann könnte das Geld reichen für das Gut in den Marken und eine lange Pause; oder sogar für das Ende einer Tournee, die vor bald zwanzig Jahren einmal in Venedig begonnen, in Neapel, Lissabon, Paris und London zu Ruhm und nunmehr in diese Niederungen geführt hatte.
Dosen, dachte Valabrègue, wenn ich die Stimme meiner Catalani in Dosen oder Flaschen füllen könnte, so wie es die Karlsbader mit ihrem Sprudelsalz machen, wenn sie das Heilwasser eindampfen.
Paul.
Paul-Punkt. Valabrègue kappte den Gedankengang und zog sich unter Andeutung einer Verbeugung zurück.
Angelica Catalani begann mit Stimmübungen.
Natürlich hatte Stadelmann ihn zu spät geweckt, und wegen der schmerzenden Ferse war er von seinem Quartier ins Pupp’sche Grandhotel viel zu lange unterwegs gewesen und entsprechend düsterer Laune, als er den Saal betrat und kurz innehielt.
Einen Raum voller Menschen benutzte Goethe wie eine Bibliothek – so wie er ein Buch aus dem Regal zog, nach Belieben darin blätterte und es, bereichert oder gelangweilt, [22] zurückstellte. Ein Goethe konnte sich das erlauben; selbst aber ließ er sich von niemandem lesen, wenn er es nicht wollte. Die Bibliothek war nicht schlecht sortiert. Gut, die Gräfin Bombelles, die vor allem redete wie ein Buch, die war zu meiden; dort den Grafen Paar, den kannte er in- und auswendig; beim Erdöd-Palffy fand er immer eine Pointe; die beiden Prinzessinnen Reuß-Köstritz, reizend illustriert und koloriert, ein wahrlich zierliches Format, das stets das Blättern lohnte; drüben, beim Podium, die Gewichtigen in Goldschnitt: Klemens Fürst Metternich, österreichischer Staatsminister, neben dem Gastgeber Fürst Schwarzenberg, einem der Sieger der Völkerschlacht von Leipzig, und dem russischen Außenminister Capo d’Istria. Und ein düster vor sich hin stierender, schlecht rasierter Mann, der einen Stoß Notenblätter unter den Arm geklemmt trug.
Als Goethe zu der Gruppe um Metternich trat, die seidig raschelnden Prinzessinnen im Schlepptau, erwachte Valabrègue aus der Starre und ließ sein loses Auge über die Mädchen rollen. Das ruhige heftete er auf Goethe, der dem Fürsten Metternich einen fragenden Blick sandte.
Wir sprachen zuletzt von Byron, sagte Metternich mit einer leichten Verbeugung.
Byron!, quiekten die Prinzessinnen und wurden trotz erheblicher Puderschichten rot um die Nasen. Goethe sah zu Capo d’Istria.
Von wegen der Unruhen in Norditalien, erklärte der Außenminister, nicht der Unruhe wegen, die der Dichter in den Herzen junger Damen stiftet, verehrte Hoheiten.
O ja, seufzten die zwei Reuß-Köstritz.
[23] Es liegt uns ferne, diese niederzuschlagen, sagte Metternich galant, jene anderen jedoch – nach Kräften.
Goethe war nicht entgangen, dass sein höchstpersönliches Erscheinen bei den Prinzessinnen nicht annähernd den Effekt gehabt hatte wie die bloße Nennung des anderen. Er nickte Metternich zu.
Byron, sagte der Fürst, agitiert ein wenig, seitdem er im Palazzo wohnt, für die Griechen, die Italiener im Allgemeinen, die aufständischen Carbonari im Besonderen.
Valabrègue stieß Luft zwischen zusammengepressten Lippen aus:
Agitation? Ich sah ihn im Winter in Venedig. Ist dick und feist geworden. Als Poet ist er durch, meine Meinung. Skandale im Dutzend. Nur noch hinter den Röcken her.
Ich muss doch bitten, zischte Goethe und hielt eine Hand hoch, zwischen Valabrègue und die Prinzessinnen, als könnte er sie gegen die groben Worte schützen. Was redete da dieser armselige, bestoßene Pappband denn drein? Den Valabrègue hatte er gar nicht aufgeschlagen. Dessen fixer Blick klebte nach wie vor an Goethe, und der rollende tastete weiter die Prinzessinnen ab, die nicht sonderlich schockiert schienen von einem Dichter, der sich nicht der Dichtung allein widmete. Sie kicherten und zirpten und raschelten mit ihren Seidenkleidern und ihre Gesichter leuchteten wie frisch entzündete Lampions, sie warfen Verse Byrons in die Runde und aus Illustrierten zusammengelesenen Klatsch, den die Gräfin Bombelles eifrig ergänzte.
Zwischen all dem konnte Goethe dem Metternich noch ein paar Einzelheiten über das venezianische Dasein des englischen Dichters entlocken, dann wurde es ihm zu [24] lästig, den immer wieder aufklappenden Valabrègue mit kurzen Worten und scharfen Blicken zuzuklappen. Die Ferse schmerzte von neuem und vom Auftritt der Catalani hatte er nur die letzten Takte mitbekommen. Höchste Zeit, die Bücher ins Regal zu stellen, fand er, das Goldschnitt-Folio eines Fürsten Metternich genauso wie das eselsohrige Duodez eines Valabrègue; Zeit, das Licht in der Bibliothek zu löschen und zu Bett zu gehen.
Aber noch hing ein Misston in der Luft. Ihn mit Wohlklang zu überlagern, das konnte wohl nur Madame Catalani gelingen. Goethe räusperte sich und sagte:
Würden Sie uns, gnädige Madame Catalani, vielleicht noch einmal die Ehre geben wollen, ein Lied zur guten Nacht?
Sie schloss die Augen und sang. Es war still im Saal, im ganzen Haus, still in Karlsbad. Catalanis Stimme trug weit durch die geöffneten Fenster, und manch einer, der sich am Morgen die Augen rieb, fragte sich verwundert, was ihn traurig, aber köstlich und tröstlich im Schlaf besucht hatte:
Lascia la spina, cogli la rosa;
tu vai cercando il tuo dolor.
Canuta brina, per mano ascosa,
giungerà quando nol crede il cor.
Ein Windstoß bauschte die Vorhänge und blies einige Kerzen aus. Die Damen rafften die Tücher um ihre bloßen Schultern etwas enger. Man schloss die Fenster und die Gesellschaft zerstreute sich bald.
Die verklecksten Wortanfänge, verursacht von erst übersättigt tropfender, dann so lange übers Papier geführter Feder, [25] bis sie nur mehr einen dünnen, aussetzenden Strich hergab, dann eiligst ins Tintenfass eingetaucht, kaum abgestrichen und mit Nachdruck den unwillig unterbrochenen Schreibfluss fortgesetzt, dazu eine Spur feiner Tintentröpfchen, die den Weg an die Anschlussstelle verriet; zwischendrin wenige, ungeniert und heftig ausgestrichene Wörter, das Blatt vom linken bis zum rechten Rand genutzt: Die Schrift eines jungen Mannes, die ausgreifenden Bögen und Schleifen, die krummen Haken der Kommas, die auskeilenden Gedankenstriche – eine einzige Geste der Ungeduld.
Der Brief datierte vom dreiundzwanzigsten Juni des Jahres.
Er, Schopenhauer, habe lange nichts hören lassen; auch nichts zu vermelden gehabt. Er kündige mit diesem Schreiben seine bevorstehende, längst überfällige Reise nach Italien an, nachdem das Werk der vergangenen vier Jahre vollbracht sei, jenes nämlich, das zur Leipziger Michaelismesse unter dem Titel Die Welt als Wille und Vorstellung erscheinen werde und von dem Goethe baldmöglichst ein schönes Exemplar erhalten werde. Es sei nichts weniger als die Frucht seines ganzen Lebens, und er glaube nicht, jemals Besseres oder Gehaltvolleres zustande bringen zu können.
Goethe schüttelte den Kopf. War das der Ungestüm eines Dreißigjährigen oder schon der Rausch ersehnter Größe?
Es folgten Bemerkungen zur Farbenlehre, zum Ausbleiben jeglicher Resonanz auf Schopenhauers eigene kleine Schrift – so wie der Stein, den man in einen Sumpf wirft, keine Ringe macht. Dennoch sei er guter Dinge, weil er glaube, das Echte und Wahre schaffe sich zu guter Letzt immer Recht und Platz.
Das hat es bereits, und zwar in meiner Farbenlehre, [26] verehrter Doktor, brummte Goethe mit säuerlicher Miene – dass der junge Mann keine Ruhe geben wollte in der Sache. Er setzte an:
Endlich einmal wieder von Ihnen zu hören war mir sehr angenehm: Sie gehen rasch Ihren Weg mit Freudigkeit, wozu ich Ihnen Glück wünsche. Das angekündigte Werk lese ich gewiss mit allem Anteil. Möge die italienische Reise glücklich sein!
Goethe nahm den Brief Schopenhauers zur Hand. Er erlaube sich anzufragen, stand da, ob der Geheimrat ihm nicht über das in der Italienischen Reise Beschriebene hinaus irgendeinen Rat erteilen möge oder Bücher empfehlen könne, ihn gar durch ein Empfehlungsschreiben würdigen wolle, eine Empfehlung, die ihm eine interessante oder wichtige Bekanntschaft auf der Reise verschaffen werde?
Goethe knetete ein Stückchen Siegelwachs, bis es weich zwischen seinen Fingern klebte, und erinnerte sich an den Abend bei Schwarzenberg.
Dem Manne kann geholfen werden, dachte er: Wenn du dich schon messen willst, Arthur, dann mit den Besten. Einen wahren Sesam-öffne-dich werde ich dir geben.
Er griff nach einer Karte aus steifem Papier und schrieb einige Zeilen in schöner, schwingender Schrift und unterzeichnete sorgfältig. Dann vollendete er den Brief in zwei Sätzen –
Vielleicht machen Sie von einliegender Karte Gebrauch.
Das Beste wünschend,
Goethe.
– und mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
[27] Etwas später packte der Kammerdiener Stadelmann die Sendung zuoberst auf den Stoß der Korrespondenz. Als er die Tür öffnete, fuhr ein Luftzug zwischen die Umschläge, einige fielen zu Boden; der Brief an Schopenhauer glitt unbemerkt unter einen Schrank. Nach Wochen, zum Ende der Goethe’schen Sommerfrische in Karlsbad, suchte Stadelmann die Räume noch einmal ab, fand den Umschlag und gab ihn in aller Stille zur Post, die ihn innerhalb zweier Tage nach Dresden trug.
[28] Poeta inglese stravagante
Lord Byron lag bäuchlings auf dem Billardtisch und sandte eine Kugel über die kurze Bande von der linken in die rechte Hand, von der rechten in die linke, wieder und wieder. Das Haus war still, nur der Wolf heulte ab und an ein ängstliches Liedchen. Die letzte Kerze war vor einiger Zeit erloschen, der Kanal spiegelte ein wenig Mondlicht durch die beiden Fenster an die Decke. Hier und da schimmerte ein Fleckchen Gold ins bläuliche Weiß der Mondbeleuchtung.
Was für ein Tag.
Gegen drei Uhr nachmittags – als Byron gerade aus dem Bett gekrochen war – stürmte Percy Shelley herein, der alte Freund, keineswegs mehr der heitere Poet, sondern ein aufgelöstes Bündel, mit nassen roten Augen, wirrem Haar; Shelley, der halb schreiend, halb weinend erzählte: Von Byrons Sommervilla in Este seien er und seine Frau im Gewitter aufgebrochen, sie hatten keinen Gondoliere gefunden, der sie in dem wütenden Wetter über die Lagune rudern wollte; die Frau hielt all die Zeit das immer stiller werdende Kind in dem beschmutzten Tuch an der Brust geborgen, das Kind, das leichter und leichter zu werden schien; und dann, als endlich ein williger Gondoliere bereitstand: ein Eklat, da ein Militärposten sie wegen fehlender Papiere nicht übersetzen ließ – und Percy Shelley dem unverständigen Manne [29] bald an die Gurgel gegangen wäre, und dann doch mit Geld erreichte, was irgendeine Vorschrift vereitelte; und als er, der Hysterie nahe, in den Palazzo Mocenigo eindrang – an der tobenden Menagerie vorbei, vorbei an dem zähnebleckenden Wolf, durch Gestank und Staub, der aus den Käfigen stieg, heiser verbellt vom Fuchs und beschimpft von keifenden Affen –, da erhoffte er sich Hilfe von Byron, der die Stadt und ihre Menschen kannte, dem aber, schlaftrunken am frühen Nachmittag, nur einfiel, einen Gondoliere erst zu seinem Arzt zu senden, und dann alle beide, Shelley und den Doktor, in das Hotel zu bringen, in dem Shelleys Frau wartete – nein, auf nichts mehr wartete, denn das Kind war tot, gestorben, kurz nachdem Shelley zu Byron gehastet war, auf der Suche nach einem, der die Ruhr kurieren könne.
Byron gab die unbequeme Stellung auf (die Kinnspitze hatte zu kribbeln begonnen) und setzte sich auf die Kante des Billardtisches. Er stellte die Arme seitlich aus, um seinen wie ein Metronom pendelnden Oberkörper zu stabilisieren.
Er zündete ein paar Kerzen an, genug, um eine Flasche Wein aufzustöbern, nahm einen tiefen Schluck und ging auf die Tür zum schmalen Balkon zu. Er blieb kurz vor einem der wandhohen Spiegel stehen.
Zu hell, sagte er und löschte die Kerzen.
Das Wasser roch stärker nach Meer als sonst; und wenn er genau hinuntersah an die blau-weißen Pfähle, dann konnte er um sie herum kleine Wirbel entdecken, von der einströmenden Flut in die Wasseroberfläche gerührt. In keinem der Häuser gegenüber brannte Licht, nicht im Palazzo Dolfin, nicht im Giustinian Persico. Die Laternen neben den Wassertoren leuchteten kläglich wie müde [30] Glühwürmchen auf einem schmutzigen Blatt Papier. Eine Gondel strich träge vorüber. Der Wolf unten im Durchgang begann wieder zu heulen.
Bei meiner Seele! Was war das?, rief eine Frau, unter der niedrigen Gondelkabine unsichtbar. Der Ruderer beugte sich herab und sagte halblaut: Hier wohnt der verrückte englische Poet, poeta inglese stravagante.
Byron lauschte. Übers Wasser trugen Stimmen weit. Der Gondoliere flüsterte weiter: Er verwandelt sich in solchen Nächten in einen Wolf. Mein Bruder hat gesehen, wie er über die Dächer und in einem gewaltigen Satz über den Rio di Ca’ Santi sprang…
Byron hörte die Frauenstimme ungläubig Ma dai! ausrufen, und es wurde so still wie zuvor. Schön, dachte er, wieder eine Legende. Wie lange läuft der Wolf, über die Alpen und den Ärmelkanal, bis er in die englischen Zeitungen findet?
Er verließ den Balkon und machte ein paar Schritte in den Mittelsaal, blieb unschlüssig stehen. Gleich links hinter der ersten Tür schlief Margarita Cogni, genannt die Fornarina.
Er ging zurück an den Billardtisch und schob lustlos ein paar Kugeln herum. Vor ein paar Tagen hatte er den ersten Teil einer neuen Dichtung vollendet, ein Werk, wie ihm zuvor noch keines gelungen war, und das vielleicht sein bestes bleiben würde. Es würde einschlagen, einigen Herrschaften auf der Insel gehörig in den Ohren dröhnen. Sein Verleger würde jammern: Das dürfe er nicht drucken, dieses wolle er nicht und jenes schon gar nicht. Seine Freunde würden seufzend ihre Bedenken vermelden – wenn sie sich überhaupt um ihn kümmerten.
[31] Den ganzen Sommer hindurch hatte er Brief auf Brief nach England gesandt, bittende, betrübte, zürnende Briefe. Aber sie antworteten nicht, oder mit großer Verspätung, oder sie vergaßen das dringend gewünschte Zahnpulver, das Macassar-Öl, Magnesia und Soda mitzusenden.
Jeden Tag musste Nachricht von seinem Advokaten eintreffen, dem Mann, der sich so zierte nach Venedig zu reisen, um die Verträge über den Verkauf des Byron’schen Familienschlosses vorzulegen. Nun nahte der Winter; die Passage über Simplon oder Gotthard war bald unmöglich. Der Lord hatte jüngst ernstlich zu vermuten begonnen, dies alles sei eine Verschwörung, um ihn nach England zu zwingen. Aber keine zehn Pferde würden ihn aus Venedig zerren – wie auch? In dieser Stadt gab es nur acht: Byrons vier, eingestallt auf dem Lido, und die vier bronzenen Renner über dem Portal der Markuskirche.
Das Geld, am Ende geht es immer ums Geld, murmelte Byron.
Er versuchte eine Kugel in eines der Kugelsäckchen zu blasen. Sie rührte sich nicht von der Stelle, und von dem angestrengten Blasen wurde ihm schwindlig.
Ohne den Erlös aus dem Verkauf wäre sie zu Ende, seine venezianische Existenz, wäre Schluss mit der komfortablen Residenz am Canal Grande, der Landvilla, wäre es aus mit der Horde von Dienstboten, den Gondolieri, dem luxuriösen Haushalt, der exotischen Menagerie, den Pferden, den Frauen, dem Glücksspiel, Wein und Rauch – dahin wäre das Privileg zu leben als George Gordon Noël, sechster Lord Byron, Baron von Rochdale, Mitglied des Englischen Oberhauses; er wäre nicht länger frei zu tun, was immer ihm [32] beliebte – ob das die Freiheit war, ein freches und anzügliches Gedicht zu publizieren, oder die Freiheit, mit seiner auserwählten Geliebten zu schlafen.
Er ließ die kühlen Billardkugeln und tappte hinüber in das Schlafzimmer der Fornarina, die schlaftrunken die Finger ausstreckte, sobald milordo unter dem Leintuch fühlbar wurde. Was zu beweisen war, dachte Byron und wehrte doch ihre Berührungen sanft ab. Er fühlte sein Herz schwer pumpen, als ob es nassen Sand durch das Aderngeflecht zu pressen hätte, Sand, der sich im Kopf zu einem Stein verdichtete. An einem anderen Tag wäre er nun an den Schreibtisch gegangen. Dies war die Zeit, in der ihm das Schreiben am leichtesten fiel, die Ideen schneller flossen, als er die Feder nachtränken konnte.
Reden, dachte er, kann es sein, dass ich jemanden zum Reden brauche?
[33] Die Welt ist meine Vorstellung
Zum Proviant für die Lebensreise
gehört auch ganz vorzüglich
ein guter Vorrath von Resignation,
den man erst (und zwar je früher je besser für den Rest der Reise)
aus fehlgeschlagnen Hoffnungen abstrahiren muß.
A. S.
Gleichmut
An den Beginn der Reise konnte sich Schopenhauer später kaum mehr erinnern. Um so vieles früher war er in Gedanken bereits fortgegangen, hatte die Stadt, das Land, die Menschen hinter sich gelassen, als dass er sich des Zeitpunktes und der eigentlichen Abreise im Nachhinein entsinnen konnte oder mochte. In stoischer Haltung wollte er es überstehen, sich mit Gleichmut wappnen, Widrigkeiten, Gefahren, Verdruss und unvermeidliche Langeweile abperlen lassen: so wie die Regentropfen von seinem Filzhut rollten.
Er gähnte und streckte sich, lehnte sich an die Postsäule und ließ die Sonne wirken. Die Pferdeknechte spannten gemächlich aus. Auf der anderen Seite des Platzes trat der Wirt der Weißen Rose aus dem Tor, um lautstark seinen Mittagstisch anzupreisen.
Er schloss die Augen. Wäre jemand vorbeigegangen, er hätte einen Mann von dreißig Jahren mit dunkelblonden, gelockten Haaren gesehen; in einem Schnitt, der die Ohren frei ließ und auch den hohen Haaransatz auf der Stirn und seitlich nicht verdeckte; ein glattes Gesicht ohne die Schattierung des Bartes; die Augenbrauen im selben hellen Ton des Haarschopfs, schmal und mäßig dicht, von der Form flache Achtelkreisbögen; auf der Stirn die Andeutung einer senkrechten Falte in Verlängerung des Nasenrückens, die [36] Haut dünn und weiß, jedenfalls ohne eine Spur von Sonnenbräune, dafür über den hohen, gewölbten Wangenknochen eine leichte Rötung; die Nase lang, schmal, im Profil betrachtet zeigte sich ein leichter Höcker. Die Lippen voll, geschwungen – der Beobachter hätte sich vielleicht mangels treffender Adjektive an die F-Löcher einer Violine erinnert, um die Kurvaturen des Mundes zu beschreiben. Markant war die kleine, vertikale Vertiefung, die unterhalb der Nase in eine V-förmige Einbuchtung der Oberlippe mündete; sie gab seinem Gesicht etwas Kindliches. Dies verschwand nicht, wenn er die Augen öffnete, aber das helle, blasse Blau der Iris minderte die Weichheit, und es war durchaus möglich, sich auch einen durchdringenden, zornigen Blick vorzustellen. Die Figur stämmig; die Hände wiederum waren auffallend schmal, hellhäutig. Er trug eine graue Wollfilzhose über den Stiefeln; ein Leinenhemd, ein dunkelgrünes Seidenhalstuch, eine schwarze Weste mit Perlmuttknöpfen, darüber einen Reisemantel nach englischer Art mit hohem Kragen und Schultercape; und, zusammengerollt in einer der Manteltaschen, einen Filzhut. Der silberne Knauf seines Stockes war drehend zu entriegeln und fest verbunden mit einer blanken, scharfen Klinge.
In der linken Innentasche der Weste ruhten Karte und Brief von Goethe, im Umschlag wieder sorgsam verschlossen. Das Dokument lag wie ein Schild über seinem Herz; und obwohl er allen Aberglauben verabscheute, gefiel ihm die Vorstellung, es könne ihm auf der Reise ein Talisman sein.
Pünktlich auf den Glockenschlag war die Kutsche losgerollt, immer elbaufwärts und bald in weitem Abstand vom [37] Fluss auf Pirna zu. Er hatte sich nicht umgedreht, nicht ein einziges Mal, nicht aus dem Fenster geblickt, nicht an der Unterhaltung teilgenommen, kerzengerade hatte er gesessen, die Arme verschränkt und nicht gewillt, die Stadt, die vier Jahre verschiedene Annehmlichkeiten, darunter eine Art Heimat und vor allem eine ordentliche Bibliothek geboten hatte, von seiner Abreise durch Winken oder seufzende Wehmut in Kenntnis zu setzen. Es gab niemanden, der ihn zur Poststation begleitet hätte, ihn zurückgehalten hätte, außer, vielleicht – aber Karoline hätte ihm keine Träne nachgeweint, warum auch; genauso wenig, wie er zu ihr gegangen war, um sich zu verabschieden. Ein Leben war zu Ende, ein anderes begann; und es würde nicht derselbe Mann zurückkehren, der an diesem Herbstmorgen Dresden hinter sich ließ.
[38] Adele
Schopenhauers Schwester war gewandt, empfindsam und klug, nur hübsch nicht; manche fanden sie hässlich: viel zu große schwarze Augen, wie zwei Stückchen Kohle von frechen Buben ungeschickt ins Gesicht eines unrunden Schneemannkopfes gesetzt; auch die etwas krumme Nase steckte nicht am richtigen Platz, ihre Stimme klang schneidend; in Haltung und Bewegung erschien Adele Schopenhauer alles andere als pläsierlich und zierlich.
Das erleichterte es vielen Männern, auf sie hinabzublicken; wenn auch der wahre Grund des Unbehagens, das sie in ihrer Nähe spürten, mit ihrem Äußeren wenig, mit ihrer Klugheit viel zu tun hatte. Sie träumte vom Heiraten, aber auf dem Weimarer Heiratsmarkt war Adele kaum nachgefragt; selbst wenn sie ab und an mit diesem oder jenem Kavalier in Verbindung gebracht und viel getuschelt und geklatscht wurde, selbst wenn man glaubte, ihre Mutter sei wohlhabend und ihre Mitgift werde anständig ausfallen. Sie hätte auch nicht jeden genommen.
An den Liebschaften ihrer Freundinnen nahm Adele Schopenhauer mit Leidenschaft teil. Ihr konnte man sich anvertrauen, ihre Aufmerksamkeit war gesucht und stets parat. Niemand nahm es übel, dass ihr Rat aus Romanen angelesen war und zusammengetragen aus dem, was sie als [39] Zaungast erlebte. Nur wenn es um Enttäuschungen ging, sprach sie mit der Autorität eigener Erfahrung. Sie fühlte die Widerwärtigkeiten, die nahestehende Menschen ertragen mussten, als würden sie ihr selbst zugefügt. Waren handfeste Nachrichten spärlich, glich die Vorstellungskraft den Mangel aus und flößte ihr Furcht und Sorge ein. Oft griff sie nach Dingen, die sie nicht halten konnte oder durfte, die Liebe (oder was sie im Schwärmen dafür hielt) das bedeutendste darunter.
Vom Aufbruch ihres Bruders hatte sie erst am Morgen von Quandt gehört, der auf dem Weg nach Frankfurt in Weimar Station machte. Quandt, ein wohlhabender Kaufmann, lebte in Dresden, wo er Schopenhauer häufig getroffen hatte, in der Hofbibliothek, in den besseren Gasthäusern. Das, dachte Adele, musste ein seltsames Paar gewesen sein: der gutmütige, weltgewandte, redselige Quandt und ihr ungeduldiger, spöttischer, eigenbrötlerischer Bruder.
Der Kaufmann, ein schwerer, quadratisch gebauter Mann, hielt Adeles Hände, als sie unten in der Toreinfahrt sprachen – der Kutscher stand wartend neben den Pferden –, und sagte mit viel Pathos, wie es seine Art war:
Die Menschen sind ungeschickt mit ihm umgegangen, liebe Adele. Schwache haben ihn, den Starken, leiten wollen, Egoisten haben mit seinem arglosen Herzen grausames Spiel getrieben.
Eigentlich hatte Quandt nur wenige Minuten bleiben wollen, und Adele hätte ihm in der Stube gerne ein Frühstück bereitet. Nun sang er das Lob ihres Bruders und wollte gar nicht mehr aufhören.
Argloses Herz?, dachte Adele, alles, nur das nicht; [40] Dummheit allerdings will Arthur weder ertragen noch übergehen.
Endlich ließ Quandt ihre Hände los und trat einen Schritt zurück.
Adele, glauben Sie nicht auch: Arthur wird so leicht keinen Freund finden, weil er nicht leicht einen Menschen achtet.
Hast auch du das spüren müssen, du guter Quandt, wen hat Arthur denn nicht verletzt? Sie unterdrückte einen Seufzer.
Quandt wandte sich zum Gehen, hielt inne und setzte seine Eloge fort:
Soll unser Freund zu den Menschen zurückkehren, so müssen wir einen Magneten finden, der ihn in den Kreis des Lebens herüberzuziehen und festzuhalten vermag.
Vielleicht kann ja Italien dieses Wunder wirken, sagte sie und hob die Hand ein Stück, kraftlos, hilflos, und dann ein wenig höher, um Quandt zuzuwinken.
Sie sah dem Wagen eine Weile nach. Dann ging sie die Treppe hinauf, in die Wohnung. Ihre Mutter stand am offenen Fenster.
Meiner Treu, dieser Quandt ist allzu sentimental, sagte Johanna Schopenhauer. Nach Italien also?
Ja, sagte Adele, ich weiß nicht warum, mir ist bang um ihn.
Johanna blickte weiter aus dem Fenster und flüsterte: Dein Bruder hat nur Händel, keinen Handel mit der Welt, er nimmt nicht, also gibt er nicht.
Sein philosophisches Buch ist vollendet, sagte Adele, es soll Michaeli bei Brockhaus erscheinen.
Philosophisch, dachte Johanna, so wie das erste, die [41] Doktordissertation, das Werk mit dem unaussprechlichen Titel, der irgendetwas von einer vierfachen Wurzel verhieß. Sie hatte ihn damit aufgezogen, aber er verstand oft keinen Spaß, besonders nicht auf seine Kosten, schon gar nicht zur Erheiterung der Mutter, und es war wieder einmal zu einem furchtbaren Streit gekommen, den Adele, nach einem zaghaften, von beiden barsch zurückgewiesenen Vermittlungsversuch mit erlitt, die Hände auf die Ohren gepresst, in ihrer Kammer, für beide Streitenden fühlend. Adele fürchtete sich vor diesem Buch.
Mit uns hat er gebrochen, und jetzt bricht er mit allen anderen, sagte sie.
Johanna wandte sich um, und Adele erkannte in der Miene ihrer Mutter eine allzu bekannte Spottlust.
Auf Arthurs Buch, sagte sie, hat die Welt gewartet, sie wird es ihn jedenfalls wissen und spüren lassen, dessen bin ich mir sicher.
Vom Ende des Platzes kam eine Kutsche gefahren. Als sie das Schopenhauersche Haus passierte, sah Johanna einen Mann aus dem Kutschfenster herauslugen: einen mächtigen Schädel, einen Schopf fransiger Haare. Sie kannte ihn nicht, hatte aber eine vage Ahnung, zumal der Wagen Richtung auf den Frauenplan nahm, wo Goethe wohnte.
[42] Konversation ins Gedächtnis rief, fiel Johanna ein, wer der Mann in der Kutsche sei.