Anna Stothard
Die Kunst,
Schluss zu machen
Roman
Aus dem Englischen von
Hans M. Herzog
Titel der 2013 bei
Alma Books Ltd., London,
erschienenen Originalausgabe:
›The Art of Leaving‹
Copyright © 2013 by Anna Stothard
Die deutsche Erstausgabe
erschien 2013 im Diogenes Verlag
Umschlagfoto von Katarina Sundelin (Ausschnitt)
Copyright © Katarina Sundelin/
PhotoAlto/Getty Images
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2015
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 24307 9 (1. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60346 0
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] Luke erschien in der Schlafzimmertür, nackt, von dem einen Socken abgesehen, der ihm auf den Knöchel gerutscht war. Seine Bartstoppeln waren nass, weil er aus dem Wasserhahn getrunken hatte, und man sah ein wenig geronnenes Blut auf seiner Oberlippe, die bei einem Handgemenge auf einer Party früher am Abend aufgeplatzt war. Er schien Unfälle anzuziehen und neigte dazu, Brände zu entfachen, Vasen fallen zu lassen und Schlägereien schlichten zu wollen.
»Wie geht’s deiner Lippe?«, fragte Eva und streifte ihre Schuhe ab.
»Gut.« Er berührte die Wunde mit der Zungenspitze. Um sich auszuziehen, brauchte Luke eine halbe Sekunde, deshalb saß er immer wie ein Zirkusdirektor im Bett, während Eva gespielt ungezwungen um ihn herumtanzte, hinter Schränke und Türen huschte, damit er sie nicht in unvorteilhaften Stadien der Nacktheit sah. Sie spürte, dass Luke sie beobachtete, als sie ihr Kleid auszog, wobei sie kurz den Blick auf ihre hautfarbene Strumpfhose freigab, ehe sie ein Handtuch vom Boden aufhob, sich setzte und ihm nun den Rücken zudrehte. Eine hektische Motte umschwirrte die Nachttischlampe, schmiss sich gegen die Glühbirne.
[6] Der beste Moment bei jeder Party, sogar bei den guten, war es, sich nachher die Schuhe auszuziehen. Luke witzelte oft, sie sei eine von denen, die man bei einem Feuer oder einem Terrorangriff gern in seiner Nähe hat, da sie sich in jedem Raum zuerst vergewisserte, wo die Ausgänge lagen, allzeit fluchtbereit. Auf Fotos sah sie immer in die falsche Richtung, stand am Rand oder in einer Ecke und wirkte, als wolle sie gerade aus dem Bild treten. Luke hingegen wirkte überall so, als wäre er schon immer dort gewesen und würde auch für immer bleiben. Er war der Mittelpunkt jedes Fotos, in jeder Menschenmenge unübersehbar.
Für einen Mann mit einer großen Hakennase, einem schiefen Kinn und falkenartig grauen, zu tief im Schädel liegenden Augen hatte Luke mit erstaunlich vielen Frauen geschlafen. Seine drahtigen schwarzen Haare klumpten sich zusammen, je nachdem, wie er nachts zuvor gelegen hatte, und es wurde nur noch schlimmer, wenn er anfing, sie zu kämmen. Im Alter von zehn Jahren wurde er auf einem Feld in der Nähe der väterlichen Farm in Devon von einem Hund angefallen und wäre gestorben, wenn nicht ein zufällig vorbeikommender Passant das Tier von Lukes Gesicht gezerrt hätte. Auch Narben von späteren Unfällen überzogen seine Haut, doch die meisten stammten von den plastisch-chirurgischen Eingriffen, die er mit zehn Jahren über sich ergehen ließ – kleine blasse Säume unter beiden Ohren und quer über der linken Augenbraue, bei denen Eva an eine Maske dachte, wenn sie ungnädig war: Er war ein Konstrukt, über seinem Knochengerüst [7] zusammengeflickt, und sie fragte sich, wie er wohl sonst ausgesehen hätte. Er hätte immer noch eine Hakennase und ausgeprägte, für seinen Körper etwas zu breite Schultern. Und doch benahm er sich, als wäre er der bestaussehende Mann in jedem Raum, den er betrat. Wenn Eva auf Partys Frauen kennenlernte, mit denen Luke einmal etwas gehabt hatte, versuchten sie gelegentlich, sich mit Eva anzufreunden, lächelten sie an, als spielten sie auf einen gemeinsamen modischen Fehlgriff an. »Wie geht es denn Luke?«, fragten sie dann, den Kopf vielsagend schräggelegt.
Eva gähnte und kroch etwas wacklig ins Bett. Luke musterte sie noch ein Weilchen länger, offensichtlich, um zu entscheiden, ob er für Sex zu betrunken war oder nicht. Hätte sie ihm das kleinste Zeichen gegeben, hätte er es auf einen Versuch ankommen lassen, stattdessen griff sie nach dem Halbliterglas mit abgestandenem Wasser neben ihrem Bett.
»Licht aus?«, fragte Eva und drehte ihm den Rücken zu.
»Klar«, nuschelte er. Die Motte verlegte ihre Suche nach Helligkeit von Evas Nachttischlampe in Richtung des Laternenlichts, das unter dem Vorhang hereinsickerte. Dort schwebte die Kreatur in dem fahlen Streifen falschen Sonnenscheins, und Eva widerstand der Versuchung, aufzustehen und sie zu töten. Stattdessen betrachtete sie im Halbdunkel Lukes Profil und fragte sich, wie sie ihn je verlassen sollte, jetzt, wo sie zusammenlebten.
[8] Am nächsten Morgen gingen Eva und Luke schweigend im Regen durch den Regent’s Park. Der Himmel war grau, und die Bäume bildeten um den Rasen herum einen gezackten Horizont. Einige der Metallstreben in Evas Schirm waren kaputt, weshalb die glatte Schirmhaut an zwei Stellen schlaff herunterhing und ihr Tropfen in die Hacken fielen. Lukes marineblauer Schirm warb für seine Anwaltskanzlei, und er hielt ihn sehr gerade.
Eva und Luke waren die Einzigen, die über die York Bridge in Richtung des Inner Circle gingen, der Ringstraße im Regent’s Park. Von ihrer Wohnung am Silver Place waren sie durch das erschöpfte morgendliche Soho gegangen, vorbei an geschlossenen Striplokalen und Hallen mit Spielautomaten, die gerade wieder blinkend zum Leben erwachten, wichen im Regen Passanten aus, bis sie die belebte Marylebone Road erreichten. Lukes aufgeplatzte Lippe sah schlimmer aus als zuvor im Bett, geschwollen und lila verfärbt wie der Mund eines Kindes, das sich mit Blaubeeren vollgestopft hat. Seine Narben trugen nur noch zu seinem ungesunden Aussehen an diesem Morgen bei. Immer mal wieder berührte er den Riss mit der freien Hand, während sie durch das Tor den Queen Mary’s Garden mit seinen endlosen Rosenbeeten betraten. Obwohl es der erste August war, hatten der Regen und das ungewöhnlich kalte Wetter dafür gesorgt, dass nur noch wenige Blütenblätter unversehrt waren. In den Beeten steckten Metallschilder: Alchemist, Eden, Honey, Colette, Anne Boleyn.
»Rosenkrieg«, sagte Luke angesichts der lädierten Blumenbeete, die sie in matschigen Halbkreisen umgaben.
[9] Sie gingen weiter, vorbei am Freilichttheater und weiter zum See, auf dem man Boot fahren konnte. Sie überquerten die Brücke zu der großen Rasenfläche, auf der überall Torpfosten auf Fußballfeldern standen wie leere eckige Klammern. Hier waren ein paar Spaziergänger mit Hunden unterwegs, zwei Teenager, die in einiger Entfernung Fußball spielten, und noch weiter hinten eine Traube Menschen mit Schirmen. Die Schirme schienen einen aufeinander abgestimmten Tanz aufzuführen, neigten sich gleichzeitig zurück oder drehten sich. Eva dachte, es handelte sich vielleicht um einen eifrigen Yoga- oder Karatekurs, der im Regen übte, doch als sie und Luke weitergingen, entpuppte sich die Gruppe als ein Trupp Vogelbeobachter. Jeder Schirm spannte sich über einem Feldstecher oder einer Kamera mit langen Objektivrüsseln, alle absolut regungslos, bis sich Rüssel und Stielaugen verschoben – gemeinsam, langsam und synchron.
Kleine Vögel hopsten mit den Regentropfen aus den Bäumen – geradezu auffallend, dachte Eva, was aber daran liegen mochte, dass sie genauer hinsah. Es waren hauptsächlich Krähen mit eingezogenem Kopf und glänzendem Gefieder, die mürrisch in dem Gewirr aus Zweigen hockten. Dann löste sich ein Vogel mit Flügeln, die wie Ruder geformt waren, aus einem Baum und stieß herab, ehe er sich wieder nach oben schraubte und provokativ auf einem höheren Baum landete, wo er besser sichtbar und schlechter erreichbar war. Die Vogelbeobachter drehten die Köpfe und folgten seiner Flugbahn.
[10] »Was ist das? Ein Bussard?«, fragte Luke.
»Ein Steinadlerweibchen namens Regina«, sagte ein Mann mit langem Mantel in ihrer Nähe. »Sie ist heute Morgen aus dem Zoo entflogen.«
Aus den kleineren Bäumen krächzten Krähen, die nicht so recht wussten, was sie von diesem unbekannten Geschöpf auf ihrem Territorium halten sollten. Sie konnten sich kaum beruhigen, unterhielten sich mit kehligen Schnabellauten wie Höflinge, die für ihre exotische neue Königin Kutschen und Krinolinen arrangierten. Eva wusste nicht, ob Adler Krähen fraßen, aber wenn sie eine Krähe wäre, würde sie sich spätestens jetzt aus dem Staub machen. Sie dachte an die vielen Male, als sie auf der King Edward’s Bridge gestanden und auf den Regent’s Canal geschaut hatte, links Snowdon Aviary, die riesige Voliere, rechts das Bartschwein-Gehege im eigentlichen Zoo. Sie fragte sich immer, was die zynischen Stadtenten, Tauben und schmutzigen Möwen wohl von ihren fremdartigen Vettern hinter dem Gitter des Vogelkäfigs halten mochten. Oft sah man kleine Vögel um die Spitzen und Mulden des skelettartigen Aviariums flattern, die sich mit den Gefangenen im Inneren unterhielten oder sie vielleicht auch verspotteten.
Regina blieb auf dem Baumwipfel und beachtete weder das klagende Pfeifen des Tierpflegers noch den als Köder dienenden durchnässten, mageren grauen Kaninchenkadaver. Der Mann neben ihnen bot Eva sein Fernglas an, und sie hielt es sich vor die Augen, sah aber zunächst nur verschwommene Äste, Himmel, totes faltiges [11] Laub – dann erspähte sie einen Fuß in der Ecke des Objektivs und arbeitete sich zu Reginas breiten Schultern und majestätischem Körper vor. Der Vogel hatte Federn in verschiedenen Braunschattierungen und die Flügel eng an den Körper gelegt. Aus einem derben Hals schaute ein elegantes, fast unbefangenes Gesicht dort oben über die Welt, das sich gelegentlich drehte, um einen anderen Ausschnitt zu betrachten. Eva sah einen gekrümmten, halblächelnden Schnabel und Augen, verdeckt von zornigen gefiederten Brauen.
»Sie sieht aus wie die alte Queen Victoria«, sagte Eva und gab das Fernglas an Luke weiter – und während er hindurchsah, zitterte Reginas Ast, und sie hob von ihrem Hochsitz ab. Der Vogelfreund entriss Luke sein Fernglas, doch im nächsten Augenblick stieß Regina in der Mitte eines der Fußballfelder hinab und bohrte die Krallen nicht mehr als eine halbe Sekunde lang in die Erde, ehe sie sich wieder erhob und in einem viel kleineren Baum auf der anderen Seite der Rasenfläche landete. Der Tierpfleger ließ die Schultern hängen. Alle drehten sich um und folgten Regina mit Augen, Ferngläsern oder Kameras.
»Ganz schön kokett«, sagte Luke, hielt den Kopf schief und lächelte. Eva betrachtete sein Profil. Auch wenn sie schon seit drei Jahren zusammen waren, hatte er bis vor wenigen Monaten noch allein in Hackney gewohnt. Die Möbel in seinem Apartment waren durchweg weiß gewesen, und Eva hatte immer an eine Filmkulisse denken müssen, die die Junggesellenbude eines Anwalts darstellen sollte, samt japanischer Druckgraphiken im [12] Schlafzimmer und abstrakten Fotografien von Brücken und Booten an den Wohnzimmerwänden. Doch Anfang Mai platzte in dem Apartment über seinem ein Rohr, und plötzlich stand Luke in Evas Wohnungstür, eine Kiste mit durchweichten Klassik-Schallplatten, eine Flasche alten Rotweins, die sein Vater ihm zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, und einen Koffer voller Schuhe umklammernd. Als Luke seine Kisten im Flur abstellte, fiel Eva auf, dass ihr Freund bei seiner hektischen mitternächtlichen Packaktion so unverzichtbare Dinge wie Schuhputzzeug und ein Kochbuch von Starkoch Gordon Ramsay mitgenommen hatte, was ihr irgendwie unpassend vorkam. Am nächsten Tag unternahm er noch eine Fahrt und kehrte mit einem riesigen Flachbildfernseher, einem Dampfgarer und seinen minimalistischen japanischen Gemälden zurück, die verschiedene Schattierungen der Farbe Weiß erkundeten. Bald standen in Evas Bücherregalen Blackstones Strafrechtspraxis, Juristisches Fachwörterbuch, Der Vertrag: Fälle und Materialien. Eine Freundin wies Eva lächelnd darauf hin, falls Luke vorhätte, sich bald wieder eine eigene Bleibe zu suchen, hätte er wahrscheinlich nicht einen ganzen Nachmittag darauf verwandt, ihrer beider Bücher alphabetisch zu ordnen.
Ehe Luke bei ihr einzog, war Eva gar nicht bewusst gewesen, wie schwer er arbeitete. Sie wusste, dass er tagelang in Holiday Inns in der Nähe von Strafgerichtshöfen im Norden Englands zubrachte, mit ihr um Mitternacht aus leeren Geschäftszentren skypte, doch das Ausmaß seines Engagements wurde ihr erst klar, als er [13] seine Unterlagen auf ihrem Wohnzimmertisch ausbreitete, dort nachts und meist bis in die frühen Morgenstunden arbeitete und dabei auf dem alten Plattenspieler seiner Mutter Rachmaninoff und Mozart hörte. Manchmal saß Eva einfach auf der Couch und sah ihm beim Arbeiten zu, fasziniert von seinen präzisen Bewegungen, die sich so sehr von seiner Unbeholfenheit bei anderen Gelegenheiten unterschieden. In der oberen rechten Tischecke lagen immer ein roter Kuli, ein spitzer Bleistift 2B, ein Radiergummi und ein Füllfederhalter, den Eva ihm zu seinem neunundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Er mochte Post-its, aber nur die gelbe Variante in der klassischen Größe, die er mit seiner unleserlichen Handschrift vollkritzelte und anschließend hingebungsvoll auf maschinenbeschriebene Blätter klebte und glattstrich, ehe er den Papierstapel senkrecht anhob, auf Kante brachte und die letzten widerspenstigen Seiten mit seinem übergroßen Daumen gerade rückte. In Evas ruhiger Wohnung tauchten plötzlich um fünf oder sechs Uhr morgens Fahrradboten auf und brachten Luke Schriftsätze, die er noch vor der Arbeit lesen musste, Angestellte und Kollegen riefen ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit an.
Einige Wochen nach seinem Einzug hob Eva eines Nachmittags Kontoauszüge und Reklame-Speisekarten von der Fußmatte auf, als sie zwischen den bunten Coupons und Handzetteln eine schlichte weiße Postkarte entdeckte. Sie war in akkuraten Großbuchstaben an Luke adressiert, daher drehte Eva sie nur geistesabwesend um. Auf der Rückseite stand in derselben akkuraten [14] Handschrift wie die Adresse: »›Bedeckt ihr Gesicht: meine Augen sind geblendet: sie starb jung.‹ – John Webster.« Eva blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Sie las die Karte noch mehrmals auf der Treppe und dann wieder in ihrer Wohnung, drehte und wendete sie und fuhr mit den Fingern über ihre scharfen Kanten, dann über die tief eingegrabenen Tintenspuren. Später am Abend, als sie die Karte vor Luke hinlegte, zuckte der nur mit den Schultern. Offenbar hatten alle in seiner Kanzlei Drohpostkarten mit Zitaten und obskuren Einschüchterungen bekommen, seit sie einen Arzt, der sehr späte Abtreibungen vornahm, verteidigt und seinen Freispruch erreicht hatten. Luke nippte an seinem Wein, schaltete fürs Abendessen den Herd ein und murmelte, es sei nun mal sein Job, Leuten auf die Füße zu treten. Eva runzelte irritiert die Stirn und fügte seine Reaktion im Stillen der Liste mit Seltsamkeiten dieses Eindringlings in ihrem Apartment hinzu – eine Liste, auf der bereits stand, wie er beim Duschen mit voller Lautstärke Eröffnungsplädoyers vortrug und mit einem leichten Lächeln juristische Fachbücher las, während er darauf wartete, dass Wasser kochte oder er am Telefon bei einer Kunden-Hotline durchkam.
Eva wäre nie auf die Idee gekommen, dass er in ihr chaotisches Soho-Apartment einziehen wollte. Silver Place 4D hatte einmal Evas Großmutter gehört, die an einem Schlaganfall starb, als Eva achtzehn war, und ihr die Wohnung hinterließ. Sie lag in den oberen beiden Stockwerken des Hauses: ein kleiner Flur und eine Waschmaschine in der unteren Etage, oben folgten fünf [15] unordentliche Zimmer mit von Zigarettenqualm fleckigen Tapeten – zwei kleine Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche und ein Bad –, von denen keins in den letzten Jahrzehnten renoviert worden war. Die Einrichtung bestand aus Siebziger-Jahre-Teppichen und lädierten Polstermöbeln. Aus den Wohnzimmerfenstern und denen des großen Schlafzimmers sah man direkt auf das graue Backsteingebäude vis-à-vis, kaum fünf Meter entfernt, dazwischen nur eine für Soho typische schmale Gasse mit kugelförmigen Straßenlaternen, an denen Körbe voller halbtotem Efeu hingen. In dem Apartment war es nie ganz dunkel, weil diese Laternen rund um die Uhr leuchteten, dazu kam flackerndes Neonlicht von einer nahe gelegenen Bar. Für Soho war Silver Place eine ruhige Gasse. Sie lag nur wenige Straßen von Walker’s Court entfernt, wo sich die Pornokinos drängten und an jedem Ende junge Frauen in Lederminis um den Preis für Blowjobs feilschten, doch am Silver Place gab es zwei Medienagenturen, ein Antiquariat, ein Café, eine Bar namens The Pink Angel und einen Friseursalon.
Sieben Jahre lang hatte Eva das Gästezimmer vermietet, und jeder Untermieter ließ im Flur oder in den Schränken etwas aus seinem Besitz zurück: Schuhe und Farbdosen, Papierstapel, Plastiktüten voller verknäuelter Kabel und Laufwerke mit Sicherungskopien von möglicherweise wichtigen Dokumenten. Evas Großmutter hatte ein Faible für alles gehabt, was mit Zauberern oder Illusionisten zu tun hatte, darum lagen in der Wohnung überall Autogrammkarten von Varietékünstlern, Dias von Zaubershows, Anleitungen für [16] Amateurillusionisten und Spielkarten herum, die angeblich von Zauberern signiert worden waren, von denen außer Evas Großmutter keiner je etwas gehört hatte. Ein historisches Werbeplakat für eine Zaubershow im Jahr 1904 mit Harry Houdini als Attraktion hatte immer den Ehrenplatz im Eingangsbereich, doch als Luke einzog, überredete er Eva, es stattdessen ins Bad zu hängen: »Europas mitreißende Sensation, Fesselungskönig und weltberühmter Entfesselungskünstler«, verkündete das grelle gelbrosa Plakat über der Toilette. »Nichts auf dieser Erde kann Houdini gefangen halten.« Jetzt hingen die japanischen Gemälde, die verschiedene Schattierungen der Farbe Weiß erkundeten, unpassenderweise im Eingangsbereich. Diese chaotische Welt war nicht der natürliche Lebensraum eines Rechtsanwalts, der zwei Kaschmirmäntel besaß, seine Boxershorts faltete und abends Spanner in seine Schuhe steckte, und doch war er bei Eva am Silver Place, sie wohnten seit drei Monaten zusammen, kein Ende abzusehen.
Im samstagmorgendlichen Nieselregen gingen Luke und Eva ein paar Schritte hinter den Tierpflegern her, die ihr totes Kaninchen aufhoben und dem entflogenen Adler zu dessen neuem Ast folgten. Eva forderte den Vogel mit purer Willenskraft auf, die faltigen Knie zu beugen und sich wieder zu erheben, noch weiter weg. Eine Krähe flog über Evas Kopf, von einem Bäumchen zu einem anderen, und sie schrak zusammen. Lukes Augen ließen Regina in der Ferne nicht los, als sie den Pflegern hinterherliefen. In der Ferne standen noch immer Leute unter ihren Schirmen und sahen zu. Eva [17] wischte sich Regen aus dem Gesicht, und plötzlich klang die Wirkung des Nurofens vom Morgen ab. Die nach oben gewandten Gesichter schauten griesgrämig. Mindestens zwanzig feuchte Jacken, zwanzig Halbkreise aus Schirmen über zwanzig gebeugten Schulterpaaren – doch Eva hätte schwören können, dass Regina sie direkt ansah.
»In der Wildnis wird sie nicht überleben«, sagte jemand in der Nähe. »Bald wird sie Hunde angreifen.«
»Regent’s Park kann man wohl kaum Wildnis nennen«, sagte Luke.
»Trotzdem wird sie sterben«, sagte der Mann. »Sie ist ein Zootier.«
»Vorhin hat sie sich beinahe einen Pudel gekrallt«, spottete eine Frau mittleren Alters.
»Ihr Käfig wurde gereinigt. Vermutlich hatte sie den Zoo satt«, sagte wieder jemand anderes. »Kann’s verstehen.«
Luke fasste sich an den Mund und zuckte zusammen, als hätte er eine Weile seine geschwollene Oberlippe vergessen. Er befühlte mit der Zungenspitze das lädierte Fleisch, so dass man deren milchige Unterseite sah. Eva fiel ein, wie er ihr am Anfang ihrer Beziehung vergeblich versucht hatte beizubringen, mit der Zunge ihre Nase zu berühren.
Die Verlobungsparty am Vorabend fand in einem überfüllten Pub mit klebrigem Parkettfußboden in Soho [18] statt. Eva war spät und durchnässt eingetroffen, in Klamotten, die sie am Silver Place für passabel gehalten hatte, die ihr aber völlig daneben vorkamen, als sie sich in den Spiegeln hinter der Bar betrachtete. Eva sah immer aus, als stünde sie mit dem einen Fuß im Gestern und mit dem anderen im Morgen, unordentlich zwischen Augenblicken gefangen. Sie hatte schulterlanges kastanienbraunes Haar, beinahe durchscheinende Haut, auf der Sommersprossen verstreut waren, zarte Gesichtszüge, ein Lächeln, das eine Zahnlücke enthüllte, und grüne Augen, die immer irgendwie benommen dreinblickten. Menschen fragten sie oft, ob sie sich verlaufen habe oder ob es ihr gutgehe.
Die Party war für eine Freundin von Luke – die meisten Partys, die sie besuchten, wurden von Lukes Freunden gegeben: Er war geselliger als sie. Als Eva den Pub betrat, stand Luke schon in der Mitte des Tresens und unterhielt sich mit der Gastgeberin, Catherine, einer akkurat wirkenden Arbeitskollegin. Luke trug einen grauen Anzug, aus der Hosentasche baumelte ein zerknitterter Schlips. Sein dichtes schwarzes Barthaar wuchs so schnell, dass er am Ende des Tages immer stopplig war – und erschöpft. Catherine grinste, als Eva näher kam.
»Was hast du gemacht, gezielt die Pfützen angesteuert?«, sagte sie zu Eva. »Ich habe Luke gerade meinen Ring gezeigt. Ist er nicht umwerfend?« Sie streckte Eva einen großen Ring an einem mageren Finger entgegen.
»Gratuliere«, sagte Eva. »Hübsch.« Sie spähte über Catherines Schulter hinweg auf die Party, die in [19] vollem Gange war, und wünschte sich bereits, nicht erst den Abend durchstehen zu müssen, ehe sie sich irgendwann auf den befreienden Fußweg nach Hause machen konnte.
In der oberen Etage des zweistöckigen Pubs hinterließ das Wummern eines DJ-Pults benommen dreinblickende, desorientierte Tänzer, die sich auf der Treppe über Plastikbecher mit warmem Bier beugten. Im Erdgeschoss brachte man Pappteller mit Spanferkel und Apfelmus aus der Küche. Tabletts mit Tequila standen herum, und mechanisch trank Eva das eine oder andere Gläschen, was ihre Laune hob. Schließlich tauchten ein paar Bekannte auf: ein ehemaliger Kommilitone von ihr, eine junge Frau, die in einer Buchhandlung in Soho gearbeitet hatte, ein paar Schulfreunde, die sich im Lauf der Jahre mit Lukes Freunden vermischt hatten. Sie unterhielt sich kurz mit einer Pariser Ex von Luke – »Wie geht’s Luke?«, sagte sie –, und Eva lächelte nichtssagend, als man ihr »gratulierte«, weil sie und Luke mittlerweile zusammenwohnten. Gegen elf ließ der Regen etwas nach, und Eva wurde klar, dass sie Luke seit einer Weile in der Menschenmenge nicht mehr gesehen hatte. Sie verloren sich gewöhnlich auf Partys aus den Augen und fanden sich nur phasenweise wieder.
Sie quetschte sich bis in den Hof hinter dem Pub durch, um ein wenig frische Luft zu schnappen. An einem windschiefen Maschendrahtzaun lehnten bereits andere Gäste oder thronten auf einem schimmligen Picknicktisch und benutzten das Skelett eines rostigen Grills [20] oder leere Blumentöpfe aus Terrakotta als Aschenbecher. Vom Hof blickte man auf eine düstere, von grauen Apartmenthäusern gesäumte Gasse, die links in die Old Compton Street und rechter Hand in eine schmalere Straße mit einer Reihe heruntergekommener Läden mündete. Da Eva keinen Luke sah, trat sie an den Zaun, zufrieden, ein Fleckchen auf der Party zu finden, wo sie durchatmen konnte. Auf dem Gehweg band ein älterer Glatzkopf seine Schnürsenkel, und ein Teenager legte den Arm um ein Mädchen in einem lila Velours-Jogginganzug, als sie auf ein blinkendes Döner-Schild zuhielten. Über dem Apartmentkomplex gegenüber sah sie zwei Baukräne – einer rot, der andere silbrig –, die sich über Soho beugten, als verspeisten sie einige der kleineren Häuser. Ein Flugzeug flog über sie hinweg, und Eva fragte sich, wohin es unterwegs war. Auf der Hauptstraße kicherten zwei betrunkene Frauen, ein Streifenwagen fuhr langsam vorbei, und ein großgewachsener Mann in Hot Pants bückte sich, um vor einer Türschwelle Zigarettenkippen aufzuheben. Als Eva den Blick über eine Reihe schäbiger Läden zu ihrer Rechten schweifen ließ, sah sie zwanzig Meter weiter auf der anderen Straßenseite Lukes vertraute hängende Schultern. Er drehte dem Pub den Rücken zu, und eine Frau in einer roten Jacke wandte sich genau in diesem Augenblick mitten im Gespräch von ihm ab. Da Luke sie fast ganz verdeckte, sah Eva nur einen roten Ärmel und blondes Haar um die Straßenecke verschwinden.
Sie ertappte sich oft dabei, dass sie Luke beobachtete, wie er auf Partys »intensive« Gespräche mit anderen [21] Frauen führte. Sie zogen ihn in ruhige Ecken, in Flure oder Innenhöfe und gestanden ihm Dinge. Weil Luke ein wenig seltsam aussah, dachten Frauen, sie fänden ihn nicht attraktiv, und waren später verwirrt, weil er es doch war. Sie gestanden ihm ihren heimlichen Kinderwunsch oder Probleme mit ihren Müttern, und er hörte immer aufmerksam zu, worauf sie verunsichert gingen.
Eva spähte durch das Halbdunkel in Richtung Straßenecke. Luke stand reglos im Sprühregen. Die Luft roch nach nassem Rost, und Eva wölbte den Fuß über der Sohle ihrer Stilettos. Sie beobachtete ihren Freund. Vor Luke hatte Eva noch nie eine Beziehung geführt, die länger als ein halbes Jahr gehalten hatte; sie hatte mit Männern in Bahnhöfen und vor Bibliotheken Schluss gemacht, auf Kirchentreppen und spätnachts über Milchshakes bei McDonald’s gebeugt. Vor Luke hielt sie sich für begabt darin, Menschen und Orte zu verlassen. Das erste Lächeln einer Affäre war hauptsächlich Erwartung und pure Hoffnung, doch beim Abschied wusste man, woran man war: Man wusste, dass Fehler sich in nichts auflösen, Türen sich öffnen würden und dann alles wieder möglich wäre. Sogar während sie Luke liebte – ertappte sie sich häufig dabei, dass sie über ihrespätere Trennung nachdachte. Erst das Ende, behauptete Eva, verlieh einer Geschichte Bedeutung.
In drei Jahren hatte sie zweimal versucht, Luke zu verlassen, war aber beide Male auf unterschiedliche Weise gescheitert. Sie hatte zwar problemlos mit ihm Schluss [22] machen können, aber keine Trennung war von Dauer. Kaum war er weg, hatte sie eine unerwartete Panik überfallen: Sie wollte zwar nicht mit ihm zusammen sein, doch er fehlte ihr. Sie konnte zig Gründe aufzählen, warum sie ihn verlassen musste: Sie war nicht bereit für eine so feste Bindung, er trug immer zueinander passende Strümpfe (sogar wenn er morgens Milch kaufen ging), und zu seinem neunundzwanzigsten Geburtstag hatte er seine Mutter um ein Set Kochtöpfe gebeten. Sie lasen nicht dieselben Bücher. Sie las Romane und gelegentlich eine historische Biographie, um sich als Intellektuelle zu fühlen, während er ausschließlich juristische Fachliteratur las oder trocken aussehende gebundene Bücher mit griffigen Titeln wie Die Belagerung von Kohima 1944 – Die Geschichte des letzten großen Gefechts des Empires. Er hatte eine Leidenschaft für gutes Essen, während Eva mit einem getoasteten Sandwich zufrieden war. Er aß den ganzen Tag nichts, wenn er wusste, dass er abends in ein gutes Restaurant ging, und dass Eva dort das Brot aß und anschließend kein Interesse mehr am Hauptgang hatte, trieb ihn in den Wahnsinn. Er kleidete sich gut, und Eva kleidete sich schlecht. Er war ein geselliger Typ, Eva nicht. Er arbeitete selten weniger als zwölf Stunden täglich, Eva hatte einen Job in einem Verlag, wo sie den größten Teil der Woche damit verbrachte, geistesabwesend aus dem Fenster zu schauen. Er brachte sich in die Welt ein. Sie tat das überwiegend – und dezidiert – nicht. Er faltete alles auch nur ansatzweise Faltbare, manchmal sogar ihre Höschen, wenn Eva sie herumliegen ließ, während ihre Klamotten einen Wust [23] auf dem Fußboden bildeten, wo sie aus ihnen herausgestiegen war. Er mochte Feuerwerk. Für sie bedeutete es, dass man die Grippe bekam. An jedem fünften November, in der Guy Fawkes Night, schleppte er sie bei Eiseskälte auf den Primrose Hill, wo sie knatternde Farben am Himmel betrachteten, während sie murrte und nach Hause ins Warme wollte. Oft beobachtete sie ihn auf Partys oder am Wohnzimmertisch, wenn er Zeugenaussagen las, und empfand nur eine schwache Verbindung zu ihm, als wäre er jemand, den sie eigentlich kennen müsste, aber nicht recht einordnen konnte.
Natürlich musste es einige Gemeinsamkeiten zwischen ihnen geben, sonst wären sie nicht so weit gekommen. Beispielsweise konnten sie beide in einer halben Sekunde den Scrabblewert jedes Wortes nennen. Doch für ein ganzes gemeinsames Leben war das ein wenig dürftig. Sie waren (auf einmal, wie es Eva vorkam) in dem Stadium angelangt, wo alle um sie herum weitreichende Entscheidungen trafen, zu Menschen mit Hypotheken, Eheringen und Zehnjahresplänen mutierten, doch Eva wusste nicht recht, ob sie schon bereit war, sich von der Vorstellung zu lösen, alles tun und sein zu können, was sie wollte. Während sich auf dem Kaminsims Hochzeitseinladungen bedrohlich vermehrten und sich Gespräche zwischen Freunden immer öfter um die Preise von Häusern drehten, musste Eva unwillkürlich daran denken, dass sie gern noch einmal Tabula rasa machen, den Adrenalinschub eines Neubeginns erleben würde, ehe es dann »für immer« hieß.
Doch nachdem sie drei Jahre lang mit dem [24] Gedanken gespielt hatte, ihn zu verlassen, war sie nicht nur immer noch mit Luke zusammen, sondern stand auf der Verlobungsparty, beobachtete ihn aus der Entfernung und empfand etwas, das Sehnsucht glich. Eva wandte sich von ihm ab und betrachtete kurz einen Terrakottatopf voller Schlamm, einen Regentropfen, der sich nicht von der metallenen Rückenlehne eines Stuhls lösen mochte, eine junge Frau in einem Minikleid, die sich jeden Moment in einen Blumenkübel übergeben würde, und als Eva wieder zur Straßenecke schaute, war Luke nicht mehr da. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Gartentür des Pubs, um ihn zu suchen. Die jüngere Eva wäre von dieser Stagnation angewidert gewesen.
Eva reckte sich am Rande der Menge auf die Zehenspitzen, als Luke durch die Vordertür von der Straße hereinkam. Wenn er dachte, dass niemand ihn beobachtete, sah er häufig schrecklich traurig aus. Am liebsten wäre sie in seinen Kopf geklettert, hätte seine Probleme durchkämmt und bei ihm aufgeräumt. Sie winkte über die Menschen hinweg, doch er guckte starr in eine andere Richtung. Er arbeitete sich nach hinten in den Gastraum vor, wo die Pappteller mit Spanferkel verteilt wurden. Eva hörte auf zu winken und befand, er werde sich schon denken, wo sie war – weg von den vielen Leuten –, und sie finden.
»Hallo, Fremde«, sagte er, als er fünf Minuten später vorbeikam, genau wie erwartet, in den Händen einen schlaffen Pappteller mit Spanferkel und Apfelmus. Er [25] küsste sie auf den Mund, und sie lächelte, froh, ihn zu sehen.
»Amüsierst du dich?«
»Geht so«, sagte Luke. Sie schwiegen.
»Ist ein Spanferkel ein ganzes Schwein?«, fragte Eva, dachte aber eigentlich an das weghuschende Rot und Blond an der Straßenecke.
»Gewöhnlich ein junges Schwein«, sagte er und schob sich einen Happen in den Mund. Lukes Eltern hatten sich scheiden lassen, als er sechs war. Sein Vater ging nach Devon und kaufte eine kleine Farm mit Schlachthaus, während Lukes Mutter einen Investmentbanker heiratete und nach Chelsea zog. Seltsam war, dass seine Mutter und sein Vater überhaupt geheiratet hatten, doch in ihrer kurzen Zeit miteinander brachten sie glücklicherweise Luke zustande. Er hatte die großen Hände seines Vaters – Metzgerhände – und dessen kantigen Kiefer, doch sie unterschieden sich im Auftreten. Luke hatte die Eleganz und den schwarzen Humor seiner Mutter. Eva hatte Lukes große Hände immer gemocht.
»Was ist der beste Teil eines Schweins?«, fragte Eva. Einen Sekundenbruchteil lang sah sie Lukes abgearbeiteten Vater auf dem Markt von Smithfield vor einem Stand mit zerteiltem Tierfleisch stehen, wo er ihr bei ihrer ersten Begegnung ein Schweineherz zeigte. »Es ist genauso groß wie ein menschliches Herz«, hatte er stolz verkündet und den Klumpen aus lila Muskelfleisch in Evas hohle Hände gelegt.
»Ich persönlich mag die Schulter.« Luke kaute, [26] schluckte, beugte sich zu Eva und leckte unvermittelt ihre nackte Schulter. Er blickte nachdenklich drein und schmatzte mit den Lippen wie ein Weinverkoster oder ein Jurymitglied bei einer Kochsendung im Fernsehen. Er tat, als schmecke er Evas Haut. »Die ist aber ein bisschen salzig. Schmutzig im Abgang.« Im Dunkeln stieg ein Schwarm Fledermäuse von dem Apartmenthaus in der Straße hinter dem Garten auf und verschwand.
»Saurer Regen«, sagte Eva. »Ich bin kein Bioprodukt.«
»So ein Schweinebauch hat das am vielseitigsten verwendbare und zarteste Fleisch. Das zusätzliche Fett bedeutet, dass man es stundenlang braten kann, ohne die Struktur des Fleisches zu verderben. Das Fett garantiert eine gewisse Elastizität, die dem Braten eine herrlich knusprige Haut verleiht.« Während er sprach, schlüpfte Eva halb aus einem ihrer Schuhe und drückte den schmerzenden Fuß dann wieder gegen die Sohle.
Sie verspürte den Drang, die Konturen von Lukes zerklüftetem Gesicht zu berühren. »Der Schweinsfuß wird häufig weggeworfen, doch mittlerweile kreieren viele Köche Rezepte damit«, fuhr Luke fort. »Es ist Fleisch für Zeiten der Wirtschaftskrise. Angesagt und billig. Holen wir uns noch was zu trinken?«
»Lass uns bald aufbrechen«, sagte Eva.
»Nur noch einen Drink, und dann nach Hause? Noch einen Song?«, sagte Luke, obwohl er offensichtlich fix und fertig war. »Ich bring die Getränke nach draußen.« Eva reagierte nicht, ließ nur zu, dass er sie küsste und sich abwandte; in Gedanken war sie schon halb zu Hause, wich von Markisen fallenden Regentropfen aus, [27] winkte den Fahrern von Minicabs ab, fuhr mit den Fingern über die Kanten ihrer Schlüssel in der Tasche.
Luke verschwand im Partygewühl. Eva wartete im Freien auf ihn. Eine Frau kam und begann ein Gespräch über die Geschichte des Glam Rock, und Eva nickte eine Zeitlang dazu, warf gelegentlich eine Frage über David Bowie ein. Eine andere junge Frau, die früher in Evas Verlag gearbeitet hatte, tauchte im Garten auf und diskutierte mit der Glam-Rockerin darüber, wo man in London am besten Flitter fürs Gesicht kaufen könne. Zehn Minuten später war Luke immer noch nicht wieder da, also entschuldigte sich Eva und stapfte durch den Garten, zurück Richtung Party.
»Hast du Luke gesehen?«, fragte Eva einen seiner Freunde. Während Eva sich im Garten aufgehalten hatte, waren offenbar noch eine ganze Menge mehr Leute gekommen, und alle tanzten. Man sah es förmlich über ihren Köpfen dampfen.
»Ob er vielleicht vorn ist?«, bekam sie zur Antwort, und Eva schob sich durch die tanzenden jungen Frauen mit ihren weit aufgerissenen Augen und die Männer, die nur darauf warteten, sich auf sie zu stürzen. Durch die vorderen Kneipenfenster sah Eva, dass Luke draußen auf der Straße vor dem Pub stand und sich den Boden einer Bierflasche an die Lippe hielt. Grüppchen standen herum und rauchten oder versuchten, ein Taxi anzuhalten, doch Luke war allein, und sein Blick war finster. Eva hielt kurz inne, ehe sie zu ihm hinausging. Sie beobachtete, wie er die Flasche wegnahm und ein glänzender Blutfleck auf seiner Lippe sichtbar wurde. [28] Wenn Luke nüchtern war, würde man nie meinen, dass er je in Kneipenschlägereien geriete – anständig, gepflegt, beherrscht, wie er war –, aber betrunken hielt er sich oft zur falschen Zeit am falschen Ort auf. Seit Eva Luke kannte, hatte sie ihm bei mehreren Gelegenheiten irgendwann Eiswürfel und mit einem Antiseptikum getränkte Watte auf Hände oder Kopf gepresst, während er versicherte, er habe bei der Schlägerei schlichten wollen, habe mit der Schlägerei nichts zu tun gehabt, sich nicht schlagen wollen.
»Was ist passiert?« Eva trat aus der Tür des Pubs, beunruhigt, und Luke fuhr zusammen.
»Irgendein tanzender Besoffener hat mich am Tresen mit dem Ellenbogen am Mund getroffen«, sagte Luke.
»Wer war es?«, fragte Eva und drehte sich zu dem Knäuel tanzender Männer mit Halbmonden und Dreiecken aus Schweiß unter Armen und auf Rücken. Sie ging zu Luke und musterte den Riss, etwa so groß wie eine Kaulquappe. Sie küsste ihn auf die Wange. »Tut es weh?«
»Irgendein Jägermeister trinkender Idiot«, sagte Luke. »Scheiße.«
»Gehen wir heim«, sagte Eva und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Eva begegnete Luke zum ersten Mal zwei Jahre, bevor sie ein Paar wurden. Er kam auf Empfehlung eines gemeinsamen Bekannten, um sich das zu vermietende [29] Zimmer in Evas Wohnung anzusehen. Sie hatten sechs Uhr abgemacht, doch als Luke schließlich klingelte, war es halb zehn am Abend, und um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen, öffnete Eva die Tür in einer schlabbrigen Pyjamahose und alten Hotelpantoffeln, als wolle sie jeden Moment ins Bett gehen. Da der Türöffner kaputt war, musste sie Luke unten hereinlassen. Er kam offensichtlich direkt aus dem Büro und trug einen schicken grauen Anzug, aus dessen Sakkotasche die Spitze eines grauen Seidentüchleins hervorschaute. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, als wisse er, dass dies ein Pokerspiel war, das er gewinnen würde. Eva fielen mehrere fast unsichtbare Narben über seiner rechten Augenbraue und am Rand des Kiefers auf. Hinter ihm, in der Gasse, sah Eva einen schwarzen Wuschelkopf, einen Lippenstiftstrich, einen engen Rock, der sich dehnte und wieder zusammenzog, als die absatzbewehrten Schuhe der jungen Frau wütend über die Pflastersteine schritten. Sie schrie in ihr Handy: »Das sind nicht die Fotos, die ich verlangt habe – das ist so peinlich, das ist eine Katastrophe, eine Katastrophe, eine Katastrophe. Du musst die neuen per Fahrradkurier bringen lassen.«
»Ich bin wegen des Zimmers hier. Entschuldige die Verspätung«, sagte Luke mit leiser, gleichförmiger Stimme zu Eva, ohne die schreiende Frau hinter sich zu beachten; stattdessen legte er den Kopf schräg und musterte interessiert Evas karierte Pyjamahose.
»Kommt sie mit rein?«, fragte Eva. Die Frau auf der Straße hatte jetzt einen Fuß mit Stilettoabsätzen hinter dem Oberschenkel angehoben. Auf einem Bein [30] balancierend, glich sie einem tropischen Tier, das Gesicht im Halbdunkel, den langen Hals nach hinten gebogen – einem Flamingo vielleicht.
»Nein, sie hat gerade eine Krise«, sagte Luke, als die Frau in dem knappen Rock ihm mit langen Fingern rasch zuwinkte. Im gelben Licht der Straßenlaterne sah man mandelförmige Augen und einen breiten Mund mit übergroßen Zähnen. Ihr schwarzer Pony hing ihr stumpf geschnitten in die Stirn wie bei einer teuren Puppe und stand ein wenig ab, weil die Haare so kraus waren. Auf den ersten Blick war sie eher linkisch als hübsch, und Eva konnte keinen zweiten Blick auf sie werfen, da die junge Frau das Kinn von der Tür abwandte und sich wieder dem hitzigen Telefonat widmete. »Wenn sie so drauf ist, lässt man sie besser in Ruhe«, sagte er. »Ich bin Luke.«
»Eva«, sagte sie. Luke folgte ihr die vier mit Teppichboden ausgelegten Treppen nach oben in ihre Wohnung. Noch ehe er eintrat, wusste Eva, dass er das Zimmer in ihrem mottenbefallenen Soho-Apartment mit seinen schokoladenbraunen Sesseln und Siebziger-Jahre-Flokatis nicht mieten würde.
»Waschmaschine«, sagte Eva zu Beginn ihrer Führung, drehte sich von ihm weg und zeigte auf das ächzende Gerät.
»Soll die so viel Lärm machen?«, fragte er, und Eva antwortete nicht. Sie befand, dass ihr dieser Typ mit seinen teuren Klamotten gestohlen bleiben konnte. Wortlos stieg sie die Treppe hoch, vorbei an der von ihrer Großmutter stammenden Sammlung kleiner Ton- und [31] Porzellanäffchen auf dem Fensterbrett des ersten Treppenabsatzes. Eva wollte dauernd umdekorieren, doch in Wahrheit fand sie die Affenfigürchen, Art-déco-Lampen und Zauberkünstler-Erinnerungsstücke tröstlich. Als Kind war Eva mit ihren Eltern achtmal umgezogen, in vier Ländern, doch die Sommerferien verbrachte sie immer am Silver Place. Als sie fünfzehn war und ihre Eltern nach Singapur zogen, durfte sie endgültig bei ihrer Großmutter einziehen.
Auf halber Höhe änderte die staubige Treppe die Richtung um hundertachtzig Grad – noch sieben Stufen bis zur nächsten Etage, wo Luke die Stirn runzelte, als er das schrille Houdini-Plakat sah. Eva wies auf die winzige, direkt an die Treppe anschließende Kochnische. Die grünen Bodenfliesen waren geborsten, und überall lagen Cola-light-Dosen und Pizzakartons herum.
»Küche«, sagte Eva und sah einer Motte nach, die Richtung Flurlicht flog. In dieser Wohnung hatte es immer Motten gegeben. Im Lauf der Jahre waren sie bei etlichen peinlichen Gelegenheiten aus Evas Haaren oder Kleidungsstücken geflogen – einmal in der U-Bahn während des Berufsverkehrs, woraufhin eine junge Mutter mit entsetztem Blick ihren Kinderwagen bis ans andere Ende des Waggons schob, einmal während einer Vorlesung über viktorianische Spannungsromane am University College London, und einmal bei ihrem ersten Date mit einem Jungen, dessen Name Eva entfallen war, weil er natürlich nie wieder anrief, nachdem Eva in seinem Auto sexy ihre langen Haare gelöst hatte und ihm eine Motte ins Gesicht geflogen war.
[32] Luke gab vor, die Motte nicht zu bemerken, und Eva verfolgte sie nicht. Er schaute zurück in das Wohnzimmer, aus dessen großem Fenster man nach unten in die Gasse und gegenüber in die Fenster anderer Leute sah. Eva und Luke hörten beide das Klack, Klack der Highheels auf dem Kopfsteinpflaster unter ihnen. Aus dem Fenster sah Eva, dass die junge Frau eine Zigarette rauchte, die sie auf Armeslänge vom Körper abhielt, um auf die Straße zu aschen. Als sie sich wieder zu Luke umdrehte, musterte der gerade missbilligend ihre nikotinverfärbte Blümchentapete.
»Das ist das Zimmer von Ben, der nächste Woche auszieht«, sagte Eva und öffnete die Zimmertür rechts von der Treppe. Als sie jünger war, hatte sie es bewohnt, doch ihre Teenagerwelt aus Büchern und Museumspostkarten war jetzt kaum wiederzuerkennen. Bens Bett und den Fußboden bedeckte immer ein Sumpf aus Boxershorts, Sonnenbrillen, Computerspielen, Papierkram und Flugtickets. Er war älter als Eva und arbeitete als »Planungsdirektor für Schwellenländer« bei MTV, hielt sich also den größten Teil seines Lebens in Flugzeugen auf, die nach Osteuropa flogen oder von dort kamen. »Ben ist beruflich viel auf Reisen, also kaum hier. Ich habe ihn seit Wochen nicht gesehen«, sagte Eva.
»Wahrscheinlich legen sie da drin ihre Eier«, sagte Luke in Richtung des verblichenen mottenzerfressenen Teppichs unter seinen Halbschuhen. »Den solltest du mal austauschen.«
»Ich habe ihn letztes Jahr von Kammerjägern reinigen lassen – trotzdem danke«, erwiderte Eva.
[33] Als Luke nicht reagierte, merkte Eva, dass er nicht mehr hinter ihr stand. Er hatte die vierte Tür am Ende des kurzen Korridors geöffnet, die in Evas Schlafzimmer führte.
»Das ist mein Zimmer«, sagte sie rasch. Sie folgte Luke, der ohne Einladung das niedrige Zimmer betrat, das viel zu klein für ihn zu sein schien. Überall lagen Kleidungsstücke herum, quollen aus dem Schrank und aus Schubladen – ein zerknittertes Sommerkleid, eine Jeans mit Zahnpastaflecken, ein zerknülltes T-Shirt in Übergröße zwischen Decken auf einem ungemachten Bett. Nur hier hatte Eva nach dem Tod ihrer Großmutter halbwegs renoviert. In einem Secondhand-Laden hatte sie einen roten Teppich gekauft, einige Bilder an die Wand gehängt, ein paar gerahmte Fotos auf Schreibtisch und Frisierkommode gestellt. Luke machte noch einen Schritt hinein, und sie hielt ihn nicht auf, wünschte aber, sie hätte nicht ihren Schlafanzug an. Im Kräfteverhältnis zwischen ihnen war sein Anzug ihrer karierten Baumwollpyjamahose und den Pantoffeln haushoch überlegen. Außerdem hatte der Gummibund ihrer Hose an Elastizität eingebüßt, und Eva musste ständig aufpassen, dass sie nicht rutschte. Vielleicht hätte es sie unter normalen Umständen nervös gemacht, dass ein fremder Typ aus der Londoner City in ihrem Schlafzimmer stand, doch sowohl sein Aufzug als auch sein Gesicht waren ein wenig absurd. An Evas Schreibtisch angekommen, blickte er auf ihre Notizen für ein Essay über Beowulf, doch auf dem Bildschirm des Laptops war peinlicherweise ein Scrabblespiel geöffnet. Eva hatte gerade das Wort [34] »WASCHBÄR« auf zwei rosa Felder mit doppeltem Wortwert legen wollen, als Luke klingelte.
»Waschbär«, sagte Luke, zog seine schweren schwarzen Augenbrauen hoch und machte einen selbstzufriedenen Eindruck. »Du hast die Buchstaben für Waschbär.«
»Ja, ich weiß«, sagte Eva in einem Tonfall, der eisig klingen sollte, was aber nicht recht gelang, schließlich hatte er sie soeben dabei ertappt, dass sie an einem Freitagabend im Internet Scrabble spielte, also konnte sie nicht übermäßig arrogant auftreten. Eva verengte die Augen zu Schlitzen und dachte, dieser grauäugige und makellos gekleidete Mann gehörte bestimmt zu denen, die ohne zu fragen ihre Füße auf anderer Leute Möbel legten.
»Damit wäre die Führung wohl beendet«, sagte Eva und hoffte, damit das Stichwort für seinen Abgang zu geben, doch er ignorierte den Wink und blieb mitten im Zimmer, während sie am Rand herumstand. Er betrachtete ein Foto der zwölfjährigen Eva, auf dem sie mit ihren Eltern neben einem Flugzeug stand. Die drei wirkten auf der Rollbahn unsicher, im Hintergrund waren Palmen zu sehen.
»Du guckst auf dem Foto genauso böse wie jetzt gerade«, sagte Luke, was eindeutig kein Kompliment sein sollte. Evas Gesichtsausdruck auf dem Kindheitsfoto war rastlos und traurig, die Haare hingen weit den Rücken hinunter, ein Haarreif hielt sie aus dem sommersprossigen Gesicht zurück. Zu Evas Rechten hatte ihr Vater die Arme vor dem Brustkorb verschränkt, sein [35] finsterer Blick aus grünen Augen nach oben auf eine Stelle direkt über der Kamera gerichtet, als stelle er sich schon die enorme Erleichterung beim Abheben vor. Er war gern in der Luft, gern in Bewegung. Er trug die schicke Uniform eines Piloten der Singapore Airlines und hielt die Mütze in der Hand, so dass man seine hohe Stirn sah. Eva konnte noch nie so recht glauben, dass sich ihre Eltern an einem so ruhigen und soliden Ort wie einer Gemeindebücherei in Essex kennengelernt hatten (wo ihre Mutter ehrenamtlich arbeitete und ihr Vater, der in der Nähe an einem Lehrgang teilnahm, Eine illustrierte Enzyklopädie der Jagdflieger und Bomber suchte. Als Eva zur Welt kam, hatten beide schon eine tiefe goldene Bräune von Jahren in Laos und Thailand. Eva wurde im Bangkok International Hospital geboren und wuchs an allen möglichen Orten auf – Peking, Bali und Hongkong, wo ihr Vater gerade beschäftigt war. Es war zwar nicht nötig, dass er so regelmäßig umzog, doch ihre Eltern hielten sich nicht gern zu lange irgendwo auf. Auf dem Familienfoto warf Evas Mutter ihrem Mann einen besorgten Seitenblick zu.
»Dein Dad ist also Pilot?«, sagte Luke.
[36] entdeckt, dass Affen und Menschen ein ähnliches Mienenspiel hätten, wenn sie traurig waren. Man bekam einen Vorgeschmack darauf, wie Luke aussehen würde, wenn er alt war.