Der Versuch einer Rechtfertigung
Warum brauchen wir ein weiteres Buch über Jüngerschaft? Zwei Dinge, die ich in den vergangenen Monaten gelesen, und eine Sache, die ich gesehen habe, bewegten mich schließlich dazu, mich an den Computer zu setzen und dieses Buch zu schreiben. Ron Sider schrieb das Buch The Scandal of the Evangelical Conscience — Why are Christians living just like the rest of the world? (Der Skandal des evangelikalen Gewissens — Warum leben Christen genauso wie der Rest der Welt?). Indem er sich auf Forschungsergebnisse bezog, die vor allem von George Barna stammen, zeigte er die geistliche Zerrissenheit auf, die unter dem Großteil der amerikanischen Christen des einundzwanzigsten Jahrhunderts so augenscheinlich erkennbar ist. Scheidungen sind dort innerhalb der Kirche etwas häufiger als außerhalb.[1] Die Menschen, die am ehesten Vorbehalte gegenüber Nachbarn ethnischer Abstammung haben, sind weiße Evangelikale.[2] Das sind nur zwei Statistiken von vielen, die bei mir eine tiefe Beunruhigung und fundamentale Fragen auslösten. Doch das ist nicht nur ein amerikanisches oder sogar rein westliches Problem. Der Völkermord in Ruanda, bei dem 900 000 Menschen abgeschlachtet wurden, bewirkte bei mir eine ähnliche Verwirrung. Dieses Gebiet, das im Zentrum der Erweckung Ostafrikas lag, war zu dieser Zeit theoretisch der »christlichste« Ort der Erde. Das Problem von Christen, die nicht leben, wie sie sollten, gibt es nicht nur in Amerika oder Afrika: meiner Erfahrung nach liegt es ganz in meiner Nähe. Meine eigenen persönlichen Beobachtungen im örtlichen Gemeindeleben in England und mein Dienst in der globalen Gemeinde haben diese tiefe Besorgnis verstärkt. Ich kenne christliche Leiter, die viele Jahre hindurch ein Doppelleben führten. Sie predigten regelmäßig das Wort und waren doch gleichzeitig ihren Ehefrauen ständig untreu. Ich weiß auch von anderen Christen, die gerne darüber sprachen, dass sie in manchen Situationen Steuern nicht bezahlten, die sie eindeutig hätten bezahlen sollen. Ebenso bin ich über die Tendenz von Christen besorgt, sich von anderen Christen oft wegen eher unwesentlichen Fragen absondern. Einzelne gehen anderen aus dem Weg; sie bleiben zwar in derselben Gemeinde und begegnen sich an demselben Tisch zum Brotbrechen, aber sie haben manchmal über Jahre hinweg keine Beziehung zueinander. Ich sehe diese Neigung zur Spaltung besonders in Gemeinden, die auf Grund nebensächlicher Lehrfragen wenig oder nichts mit anderen Gemeinden zu tun haben wollen. Diese Risse im Leib, ob persönlich oder als Gemeinschaft, sind manchmal lange Zeit hindurch nicht gekittet worden, obwohl die Bibel deutlich lehrt: »Die Sonne gehe nicht unter über eurem Zorn« (Eph 4,26). In meiner örtlichen Gemeinde war in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts Evangelisation immer das Thema auf unseren Tagesplänen. Die Großveranstaltungen mit Billy Graham gaben uns Auftrieb, aber in unserer eigenen Gemeinde verging viel Zeit, manchmal Jahre, bevor jemand zum Glauben an Christus kam. Das ist jetzt nicht mehr der Fall; das Thema heute ist: Wie können wir dafür sorgen, dass Gläubiggewordene zur Reife in Christus gelangen? Sind sich diejenigen, die sich entscheiden, Christen zu werden, dessen bewusst, dass dies nicht möglich ist, ohne sich zu entscheiden, als Jünger Jesu zu leben? Es bedeutet, die »Weltan- schauung« Jesu zu übernehmen, sodass sie durch ihren Wandel mit Jesus und das Studium seiner Lehren allmählich ihr Leben und die Welt mit seinen Augen betrachten. Wir können nicht auf Jesu Ruf reagieren, nur um heute ein ruhiges Gewissen und eine Art Versicherungsgarantie für unsere Zukunft zu erhalten. Die einzig zulässige Antwort auf Jesu Einladung ist der Schritt, dass wir uns ihm als dem Herrn unseres Lebens unterordnen. Dieses Unterordnen kann nur in ganzheitlich gelebter Jüngerschaft zum Ausdruck kommen.
Vieles, was für neutestamentliches Christentum gehalten wird, ist kaum mehr als objektive Wahrheit, die mit einem Lied versüßt und durch religiöse Unterhaltung schmackhaft gemacht wird. [3]
A. W. Tozer
In vielen Teilen der Erde, die ich durch meine Arbeit mit OM besuchen darf, begegnen mir ähnliche Erscheinungen. Länder, die vor einer Generation noch als vorrangige Missionsprojekte betrachtet wurden, sind inzwischen zu aussendenden Ländern geworden. Doch viele Gemeindeleiter in diesen Ländern fragen sich, ob das Wachstum, das zu beobachten ist, wirklich tief geht.
Amazing Grace (Wunderbare Gnade)
All das hat für mich fundamentale Fragen aufgeworfen: Fragen über das Evangelium, das wir predigen, über die Lehre in unseren Gemeinden und über unser grundlegendes Verständnis darüber, was es bedeutet, Christ zu sein. Aber Gott sei Dank habe ich auch das Gegenteil gesehen: Menschen, die durch die Kraft Christi völlig umgestaltet wurden. Diese Umgestaltung hat sich nicht nur auf ihre Sonntagsgestaltung, sondern auf ihr ganzes Leben ausgewirkt. 1 A. W. Tozer, zitiert in Gathered Gold, zusammengestellt von John Blanchard (Welwyn, Evangelical Press, 1984).
In meiner Jugend wurde mir einmal von einem wohlwollenden Sonntagsschullehrer gesagt, es sei egal wie mein Leben moralisch aussieht. Wenn ich ein Christ sei (definiert als jemand, der Jesus Christus angenommen hat, indem er ein spezielles Gebet gesprochen hatte), dann hätte ich Sicherheit für die Ewigkeit und könnte leben, wie ich wolle. Dieser Lehrer, eine gottesfürchtige Person, fügte dann sehr schnell hinzu, dass es nicht Gottes Wille sei, dass man ein moralisch verdorbenes Leben führe, und dass mein Leben dadurch sicherlich im Chaos enden würde . . . Diesen ersten Gedanke des Lehrers möchte ich aber hinterfragen. Ich behaupte, dass die Aussage, ein Christ könne ein moralisch verdorbenes Leben ohne Beeinträchtigung für die Ewigkeit führen, weder mit dem Evangelium übereinstimmt noch mit der Art und Weise, wie das Neue Testament die Auswirkungen der Errettung beschreibt.
Sam McKnight [4]
Ich habe gesehen, wie ganze Familien oder sogar Siedlungen tief und bleibend verändert wurden.
Beim Schreiben dieser Zeilen las ich mein tägliches E-Mail (BreakPoint genannt), das ich von Chuck Colson bekomme. Es enthielt zwei Geschichten von »eklatanter Ungerechtigkeit und unfassbarer Barmherzigkeit«. Hier eine kurze Zusammenfassung einer dieser Geschichten: Willie >Pete< Williams, ein Afro-Amerikaner aus Georgia, verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte im Gefängnis für Straftaten, die er nicht begangen hatte. Er wurde 1985 für schlimmste Sodomie, Entführung und Vergewaltigung zu 45 Jahren Gefängnis verurteilt. Williams betonte immer seine Unschuld und die Vereinigung Innocence Project griff seinen Fall auf. Nach Ermittlungen brachten sie den Fall erneut vor Gericht, und Williams wurde für unschuldig befunden.
Nachdem er einige Zeilen von dem Lied »Amazing Grace« gesungen hatte, verließ er das Gefängnis als freier Mann und ging nach Hause, um mit seiner Familie ein Steak zu essen. Einige Tage danach trat er in einer Nachrichtensendung auf und behauptete, dass er nicht zornig darüber sei, die Hälfte seines Lebens hinter Gittern verbracht zu haben. Stattdessen demonstrierte er Barmherzigkeit und Vergebung. »Jeder kann etwas falsch machen«, sagte er, »wir alle sind nur Menschen.« Williams schreibt seine bemerkenswerte Fähigkeit zu vergeben dem Umstand zu, dass er sich im Gefängnis zu Christus bekehrt hat. »Das ist mein Fels gewesen«, sagte er. Sein Glaube an Christus hat ihn die Jahre hindurch getragen, in denen er als Sextäter galt, und er schenkte ihm Hoffnung, dass eines Tages seine Unschuld ans Licht kommen würde.
Und warum sollte nun ausgerechnet ich dieses Buch schreiben? Ich kämpfte monatelang mit der Antwort. Mein Leben lang bin ich gerne gelaufen, aber ich habe nie daran gedacht, ein Buch über das Laufen zu schreiben. Wie sehr ich mich auch bemühe, ich bin kein großartiger Läufer. Ich kämpfe damit, zehn Kilometer in weniger als vierzig Minuten zu bewältigen, und einen Marathon in weniger als drei Stunden zu laufen, würde mir mein Äußerstes und mehr als das abverlangen. Ich dachte immer, ein Buch über das Laufen sollte von jemandem geschrieben werden, dessen Zeit auf der Marathondistanz näher bei zwei als bei drei Stunden liegt.
Wenn es um Jüngerschaft geht, bin ich ganz gewiss kein »Zwei-Stunden« Läufer! Ich hatte die besten Vorraussetzungen! Meine Eltern beteten, dass ich ein Nachfolger Christi würde, sobald sie wussten, dass ich unterwegs war. Sie beteten täglich und lebten mir Jüngerschaft vor. Ich hatte das Vorrecht, Mitglied einer Gemeinde zu sein, in der viele Menschen regelmäßig für mich beteten und mir Vorbild waren. Aber ich war ein Kämpfender mit viel Versagen, und ich kämpfe noch immer. Doch im Verlauf der Jahre wuchs die Sehnsucht und durch Gottes Gnade hat es Fortschritte gegeben. Ich kann aufrichtig sagen, dass ich nicht mehr bin, wie ich war. Mein Wunsch nach mehr ist groß. Ich glaube, Gott möchte, dass ich einige dieser Erfahrungen mit anderen teile, und vielleicht hat ein Jünger, der Schwierigkeiten kennt, anderen mehr zu sagen, als einer, der keine Kämpfe hatte. Das ist mein einziger Grund, warum ich dieses Buch schreibe.
Fragen
1) Wie kann es sein, dass manche glauben, sie wären Christen, und sind doch gleichzeitig den klaren Geboten Gottes eindeutig ungehorsam? Wie kommt es dazu, dass Menschen so leben und trotzdem glauben, sie wären hingegebene Christen?
2) Was solltest du tun, wenn du nach dem Lesen dieses Kapitels erkannt hast, dass es eine Beschreibung deiner selbst ist? Wirf einen Blick auf die Gemeinde in Laodizäa, wie sie in Offenbarung 3,14-22 beschrieben wird, und überlege eine Antwort.
Bücher
Ron Sider, The Scandal of the Evangelical Conscience (Grand Rapids: Baker Books, 2005).
George Barna, BoilingPoint—It only Takes One Degree (Ventura, Ca. Regal, 2001).
[1] Ronald J. Sider, The Scandal of the Evangelical Conscience (Grand Rapids, Baker Books, 2005). [2] Ronald J. Sider, The Scandal of the Evangelical Conscience (Grand Rapids, Baker Books, 2005), mit Zitat aus George Gallup Jr. und James Castelli, The People’s Religion (New York, Macmillan, 1989). [3] A.W. Tozer, zitiert in Gathered Gold, zusammengestellt von John Blanchard(Welwyn, Evangelical Press, 1984). [4] Scot McKnight, The NIV Application Commentary – Galatians (GrandRapids, Zondervan, 1995).
Auf der ganzen Welt kann man Personen sehen, die wie Pete Williams (siehe Einleitung) durch die Kraft Christi völlig umgestaltet wurden. Genauso kennen wir zweifellos auch Menschen, die ein Interesse an Christus zeigen oder eine gewisse Beziehung zum christlichen Glauben haben; aber weder sie noch ihre Bekannten, die ihr Leben kennen, würden von einer völligen Umgestaltung ihres Lebens sprechen. Manche von ihnen sind den anderen gegenüber skeptisch, deren Leben völlig umgestaltet wurde. »Ist das nicht übertrieben, was sie machen? Ich bin bereit, in die Kirche zu gehen und meine Geldspende in die Kollekte zu geben. Der Christliche Hilfsdienst wird von mir immer einen Beitrag bekommen, wenn er an meiner Tür läutet. Aber diese Leute, die von völliger Veränderung sprechen, beunruhigen mich, denn manche von ihnen reden nicht nur davon, sie leben es! Sie scheinen so viel zu geben, in manchen Fällen sogar mehr als ein Zehntel ihres Einkommens. Ich glaube nicht, dass ihr Handicap beim Golf jemals einstellig wird, weil sie mit ihrer Gemeinde und anderen christlichen Aktivitäten so beschäftigt sind, dass sie nichts damit anfangen würden, wenn sie einmal ein Wochenende frei hätten.« Die jüngsten Statistiken in Großbritannien zeigen uns, dass sich dort 72% der Bevölkerung als Christen bezeichnen. Doch für wie viele davon bedeutet das die völlige Umgestaltung ihres Lebens? Der Zweig der Kirche, der weltweit das größte Wachstum aufweist, ist jener, den wir entweder zu den Charismatikern oder Evangelikalen zählen, und viele von diesen würden mit beiden Bezeichnungen einverstanden sein. Aber die Ergebnisse von Umfragen, wie der im vorigen Kapitel erwähnten, werfen die Frage auf, in welchem Ausmaß ihre Erfahrung zu einer Lebensveränderung führt?
Wir täuschen uns, wenn wir glauben, dass es ausreicht, eine Entscheidung getroffen zu haben, und damit in Gottes Augen für immer in Sicherheit zu sein. Wir täuschen uns, wenn wir glauben, dass wir ein unmoralisches Leben führen können; dass wir Beziehungen mit Partnern eingehen können, mit denen wir nicht verheiratet sind; dass wir andere um ihr Geld betrügen können; dass wir nichts unternehmen müssen, um soziale Missstände in unserer Welt zu beseitigen, und wenn wir mit unseren Kindern und Familienmitgliedern im ständigen Konflikt leben - wir täuschen uns ... wenn wir glauben, dass wir so leben und gleichzeitig vorgeben können, Frieden mit Gott zu haben und die Rechfertigung durch seinen Sohn zu besitzen.[1]
Sam McKnight
Stehen uns also unterschiedliche Ebenen christlicher Hingabe zur Auswahl? Wenn wir die christliche Herausforderung annehmen, können wir dann zu verschiedenen Bedingungen einsteigen, je nachdem welchen Preis wir zu zahlen bereit sind? In meinem Beruf fliege ich sehr viel und momentan stehe ich gerade vor der Entscheidung, zu welchen Bedingungen ich mich einer bestimmten Flugpassagiervereinigung anschließen sollte. Der Preis, den ich zu zahlen bereit bin, wird bestimmen, welche Vorrechte ich bekomme. Ist es beim Ruf des Christus ebenso? Auch wenn es oft so scheint, trifft es nicht zu. Ich bin ernsthaft überzeugt, dass wir den Anfang der Jüngerschaft oft völlig falsch angehen. Um es klar auszudrücken: wir schulen Menschen in Jüngerschaft, die gar keine Christen sind. Es kann sein, dass sie Respekt für Jesus empfinden und sich vom christlichen Glauben irgendwie angezogen fühlen, aber — um es mit den Worten Jesu zu sagen — sie sind nicht »aus Geist geboren« (Johannes 3,5). Das ist natürlich nicht der einzige Grund, warum Menschen mit Jüngerschaft kämpfen. Bei manchen hat Gott gewiss in ihrem Leben gewirkt, und sie haben ein Verlangen, ihm zu folgen, aber sie haben nie wirklich verstanden, was alles dazu gehört, wenn man Jesus nachfolgt, und haben nie den Preis überschlagen, den man zahlen muss.
Du musst von neuem geboren sein
»Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen« (Johannes 3,3). Das war die Herausforderung, die Jesus Nikodemus stellte. Nikodemus war ein religiöser Mann. Seine Qualifikation war bemerkenswert: Er war Mitglied des Hohen Rates, ein Pharisäer und damit jemand, der für das Gesetz Gottes eiferte. Jesus nannte ihn »Lehrer Israels« (Johannes 3,10), und manche vermuten, dass er zu jener Zeit einer der prominentesten religiösen Lehrer in der Gegend gewesen sein könnte. Er war mit den Schriften des Alten Testamentes vertraut und versuchte höchstwahrscheinlich, nach diesen Prinzipien zu leben. Aber Jesus war sehr direkt. Nikodemus benötigte noch etwas mehr, wenn er je mit Gott im Reinen sein wollte: So viel mehr, dass die einzige Möglichkeit, es zu beschreiben, darin besteht, es als »von neuem geboren« zu bezeichnen. Diese Worte könnten auch als »von oben geboren« übersetzt werden.
Christliche Gemeinschaft ist mit dem Vater und dem Sohn, und er wird es vollkommen klar machen, dass sich niemand einer Beziehung mit Gott erfreuen kann, ohne sich einer Beziehung mit Jesus zu erfreuen (1. Johannes 2,23). Johannes fängt mit Gott an. Er geht nicht davon aus, dass das christliche Volk immer richtige Vorstellungen von Gott haben wird. Er sagt: »Dies ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkünden: dass Gott Licht ist« (1. Joh 1,5). Hier ist der Unterschied zwischen liberaler und biblischer Theologie. Liberale Theologie stellt immer den Menschen in den Mittelpunkt; biblische Theologie stellt immer Gott in das Zentrum.
Liam Goligher[2]
Jesus spricht von einer übernatürlichen Erfahrung, die Nikodemus nicht selbst bewirken konnte. Er spricht von einer vollkommenen und radikalen Erfahrung: nicht einer Änderung, sondern von einer totalen Revolution, sogar von einer Regeneration (Neuaufbau), einem völlig neuen Leben. Obwohl das etwas war, das Gott Nikodemus in einem Augenblick schenken konnte, würde dieser sein Leben lang brauchen, es zu schätzen und auf das ganze Wirken Gottes zu reagieren. Am Tag bevor ich das schrieb, hörte ich mir eine evangelistische Botschaft auf einer CD an. Am Ende der Botschaft sagte der Sprecher: »Das Einzige was du jetzt tun musst, ist meine Worte nachzusprechen.« Es folgte ein einfaches Gebet, und der Sprecher versicherte dann seinen Zuhörern: »Wenn du mir diese Worte nachgesprochen hast, bist du jetzt ein Christ und du musst nur einen anderen Christen finden und ihm erzählen, was du getan hast.« Es gab überhaupt keine Erklärung über den radikalen Charakter der Bekehrung und die ganze Auswirkung auf das Leben, die darauf folgen muss; keine Erläuterung vermittelte den Anwesenden, dass damit eine komplette Unterordnung unter Jesus als Herrn ihres Lebens gemeint ist. Ich glaube, dass der Redner trotz lauterer Gesinnung doch ein völlig falsches Bild davon vermittelte, was es bedeutet, Christ zu werden. Ich fürchte auch, dass die Zuhörer vielleicht sogar glauben werden, verführt worden zu sein, wenn sie allmählich von den Ansprüchen der Jüngerschaft erfahren. Wenn Jesus davon spricht »von neuem geboren zu sein« bezieht er sich auf das Wirken Gottes in unserem Leben, wodurch wir sein göttliches Wesen erhalten. Wir nehmen den Herrn Jesus Christus in unser Leben auf, sein Geist nimmt Wohnung in uns, und unser Körper wird der Tempel, in dem er wohnt.
Die große Tragödie der modernen Evangelisation liegt darin, dass viele zum Glauben aufgerufen werden und nur wenige zum Gehorsam.
Jim Wallis
Das muss zur völligen Veränderung unseres Lebens führen und zur Jüngerschaft, die unser ganzes Leben umfasst, indem wir uns seinen Regeln und seiner Autorität unterwerfen. Das wird uns am Montagmorgen an unserer Arbeitsstelle gleichermaßen verändern wie am Sonntagmorgen an unserem Anbetungsort. Es wird uns genauso verändern, während wir unser lokales Fußballteam anfeuern oder wenn wir mit unserem Partner oder unseren Eltern alleine zu Hause sind. Bei einer Gelegenheit traf Jesus jemanden, der von ihm beeindruckt war und der ihn mit den Worten »guter Lehrer« begrüßte (Markus 10,17). Dieser Mann war selbst eine ziemlich beeindruckende Persönlichkeit und wird in Bibelüberschriften manchmal als >der reiche Jüngling< bezeichnet. Als Jesus ihm fünf von den Zehn Geboten zitierte, antwortete er: »Dies alles habe ich gehalten von meiner Jugend an.« Sein Leben war wirklich gut gelaufen; er hatte gutes Geld verdient (V. 22). Aber er wusste, dass sein Leben, in dem es ihm so gut ergangen war, nicht alles sein konnte. Er sorgte sich wegen des Lebens nach dem Tod und wollte sicher sein, dass auch in Zukunft alles für ihn in Ordnung sein würde. Hatte er erkannt, dass Jesus der Schlüssel zu seinem Wohlergehen in der Ewigkeit war? Zog er in Betracht, Jesus als sein Jünger nachzufolgen? Jesus forderte ihn heraus, da er seinen wunden Punkt genau erkannte: »Eins fehlt dir; geh hin, verkaufe alles was du hast, und gib es den Armen und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach!« (V. 21).
Kein anderer Auftrag
Wenn Christus einen Menschen ruft, fordert er ihn auf, zu kommen und zu sterben.
Dietrich Bonhoeffer[3]
Bei Jesus gibt es keine halben Sachen; der Auftrag nachzufolgen, verändert jedes Gebiet unseres Lebens, und es gibt keinen anderen Auftrag. Es gibt keine unterschiedlichen Kategorien, wenn wir in sein Königreich eintreten. Obwohl Jesus es sehr deutlich sagte, dass wir die Kosten überschlagen müssen, bevor wir ihm unser Leben übergeben, wäre es falsch verstanden, wenn man glaubt, dass man in Ruhe pro und kontra abwägen kann, um dann zu entscheiden, ob man das Angebot annimmt oder nicht. Er ist der Herr des Himmels und der Erde, der uns ruft, ihm nachzufolgen. Wir müssen erkennen, dass es alles kosten wird, aber dadurch werden wir auch alles gewinnen. Die eine Frage lautet: sind wir bereit nachzufolgen, ihm alles zu geben, ihn zum Herrn unseres Lebens zu machen? Es gibt keine andere Frage zu beantworten, weil es kein anderes Angebot gibt. Der Apostel Paulus betont auch die radikale Natur der Bekehrung und der Jüngerschaft: »Wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden« (2. Korinther 5,17). Paulus hatte das erlebt. Von dem Augenblick an, als er erkannte, dass Christus den Tod besiegt hatte und für ihn gestorben war, wurde seine gesamte Weltanschauung verändert. Paulus’ Denken über sich selbst, über andere und über Christus wurde verändert. Dinge, die früher für ihn von höchstem Wert waren, betrachtete er nun als Dreck. Die einzige Sache, die er jetzt für wirklich wichtig hielt, war seine Stellung vor Gott. Eugene Peterson überträgt die Worte von Paulus so: (2. Korinther 5,16). Dieses veränderte Denken war nicht eine Veränderung, die ein für alle Mal geschah, sondern der Beginn eines lebenslangen Abenteuers. Es ist eine lebenslange Entdeckung und ein lebenslanges Kämpfen. Dieses Buch ist ein Versuch, das Abenteuer begreiflich zu machen und Hilfestellungen für die Schwierigkeiten zu geben.
Errettet, bekehrt oder entschieden?
2) »Um dich zu bekehren, brauchst du nur an Jesus zu glauben und ihn in dein Leben einzuladen.« Warum ist diese Aussage unzureichend? Lies Jakobus 3,14-26, während du über diese Frage nachdenkst.
- Was erwartet Jesus von denen, die ihm nachfolgen? Lies Lukas 14,25-33 und das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus in Johannes 3,1-21.
Bücher
[1] Scot McKnight, The NIV Application Commentary — Galatians (Grand Rapids, Zondervan, 1995). [2] Liam Goligher, The Jesus Gospel — Recovering the Lost Message (Milton Keynes, Authentic, 2006). [3] Rodney Combs, Bonhoeffer’s the Cost of Discipleship (Shepherd’s Notes ChristianClassics, B&H Publishing Group, 1999).