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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel » 7 ans après « bei XO Éditions, Paris.

Übersetzung aus dem Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Bettina Runge, Kollektiv Druck-reif

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96395-4

© XO Éditions 2013

Deutschsprachige Ausgabe:

© 2013 Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Verwendung mehrerer Fotos von Getty Images

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Erster Teil

Ein Loft in Brooklyn

Only one is a wanderer.

Two together are always going somewhere.

Einer allein fährt manchmal ohne Ziel herum.

Zwei zusammen haben meistens ein Ziel.

Alfred Hitchcock, Vertigo

Kapitel 1

Eingekuschelt in ihr Bett, beobachtete Camille die Amsel, die auf der Fensterbank saß. Der Herbstwind strich durch die Baumkronen, die Sonne spielte mit dem Laub, dessen Schatten auf das Glasdach fielen. Obwohl es die ganze Nacht geregnet hatte, war der Himmel tiefblau und kündigte einen schönen Oktobertag an.

Am Fuß des Bettes hob ein Golden Retriever mit cremefarbenem Fell den Kopf in ihre Richtung.

»Komm her, Buck, komm her«, rief Camille und klopfte auf ihr Kissen.

Der Hund ließ sich nicht zweimal bitten. Mit einem Satz war er bei ihr und nahm seine morgendlichen Streicheleinheiten entgegen. Das junge Mädchen kraulte seinen Kopf und seine hängenden Ohren, dann gab sie sich einen Ruck.

Na los, meine Liebe!

Widerwillig verließ sie ihr warmes Bett, hatte aber im Handumdrehen Trainingsanzug und Turnschuhe angezogen und ihr Haar zu einem lockeren Knoten gebunden.

»Auf geht’s, Dicker, ab zum Joggen!«, rief sie und rannte die Treppe ins Wohnzimmer hinunter.

Die um ein zentrales Atrium angelegten drei Stockwerke des Hauses lagen im Sonnenlicht. Das elegante Brownstone-Gebäude war seit drei Generationen im Besitz der Familie Larabee.

Modern und minimalistisch eingerichtet, erinnerte es trotz der wertvollen Bilder aus den 1920er-Jahren – signiert von Marc Chagall, Tamara de Lempicka und Georges Braque – mehr an die Wohnungen von Soho und TriBeCa als an die der sehr konservativen Upper East Side.

»Papa? Bist du da?«, fragte Camille, in der Küche angelangt.

Sie schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein und sah sich um. Ihr Vater hatte bereits gefrühstückt. Auf der lackierten Küchentheke standen eine halb leere Tasse und ein Teller mit einem Bagelrest, daneben lagen das Wall Street Journal, das Sebastian Larabee jeden Morgen durchblätterte, und ein Exemplar des Strad Magazine, einer Fachzeitschrift für Saiteninstrumente.

Camille lauschte und hörte aus dem ersten Stock das Rauschen der Dusche. Ihr Vater war offensichtlich im Badezimmer.

»Hey!«

Sie gab Buck einen kleinen Klaps und schloss die Kühlschranktür, damit ihr Hund nicht das halbe Brathähnchen stibitzen konnte.

»Du bist erst später dran, du Vielfraß.«

Sie setzte ihre Kopfhörer auf, verließ das Haus und lief die Straße hinauf.

Der Wohnsitz der Larabees lag in der baumbestandenen 74th Street zwischen Madison und Park Avenue. Trotz der frühen Stunde war das Viertel bereits belebt. Taxis und Limousinen fuhren an den herrschaftlichen Stadthäusern und den luxuriösen Villen vorbei. Uniformierte Portiers überschlugen sich geradezu vor Eifer, um Yellow Cabs herbeizuwinken, Wagentüren zu öffnen, Gepäck ein- und auszuladen.

Camille bog in die Fifth Avenue, lief die Millionaires’ Mile, den Boulevard der Millionäre, hinauf, an der sich, entlang dem Central Park, die berühmtesten Museen der Stadt reihten – Met, Guggenheim, Frick Collection ...

»Komm, mein Süßer, ohne Fleiß kein Preis!«, feuerte sie Buck an und beschleunigte den Schritt, als sie den Joggingweg erreicht hatte.

Sobald er sicher sein konnte, dass seine Tochter gegangen war, verließ Sebastian Larabee das Bad. Er betrat Camilles Zimmer zu seiner wöchentlichen Inspektion, die er eingeführt hatte, als seine Tochter in die Pubertät gekommen war.

Er blickte finster drein, hatte die Stirn gerunzelt, denn er beobachtete seit mehreren Wochen, dass Camille verschlossener war und sich weniger auf die Schule und ihren Geigenunterricht konzentrierte.

Sebastian blickte sich um: ein geräumiges Mädchenzimmer, ganz in Pastelltönen gehalten, das eine beruhigende und romantische Atmosphäre ausstrahlte. An den Fenstern schimmerten duftige Vorhänge im Sonnenlicht. Auf dem großen Bett lagen farbige Kopfkissen und eine zusammengerollte Decke. Ganz automatisch schob er die Decke beiseite und setzte sich auf die Matratze.

Er griff nach dem Smartphone, das auf dem Nachtkästchen lag. Ohne zu zögern, gab er die Pin ein, die er eines Tages, als seine Tochter arglos neben ihm telefonierte, aufgeschnappt hatte. Der Apparat schaltete sich ein, und Sebastian spürte, wie ihm das Adrenalin in die Blutbahnen schoss.

Jedes Mal, wenn er in die Intimsphäre seiner Tochter eindrang, fürchtete er sich vor dem, was er entdecken könnte.

Auch wenn das Ergebnis bislang negativ war, setzte er seine Kontrollen fort.

Er überprüfte sämtliche Anrufe. Er kannte alle Nummern. Die der Freundinnen aus der St. Jean Baptiste High School, der Geigenlehrerin, der Tennispartnerin ...

Kein Junge. Kein Eindringling. Keine Bedrohung. Erleichterung!

Er ging die vor Kurzem empfangenen Fotos durch. Nichts Besonderes. Aufnahmen vom Geburtstagsfest der kleinen McKenzie, der Tochter des Stadtteilbürgermeisters, mit der Camille zur Schule ging. Um nichts dem Zufall zu überlassen, zoomte er die Flaschen heran und prüfte, dass sie keinen Alkohol enthielten. Es waren nur Coca-Cola und Fruchtsäfte.

Er setzte seine Nachforschungen fort, indem er die Mails und SMS öffnete und den Internetverlauf überprüfte. Auch da war alles nachvollziehbar und der Inhalt der Gespräche ohne Bedeutung.

Seine Angst ließ ein wenig nach.

Er legte das Smartphone an seinen Platz zurück und nahm die Gegenstände und Papiere auf dem Schreibtisch in Augenschein. Der Laptop interessierte ihn nicht weiter.

Er hatte vor einem halben Jahr einen Keylogger im Computer seiner Tochter installiert. Eine Software zum Ausspähen von Daten, mithilfe derer er eine genaue Auflistung der besuchten Websites sowie eine Wiedergabe ihrer elektronischen Post und ihrer Chat-Gespräche auf seinem Computer lesen konnte. Natürlich wusste niemand etwas davon. Die Besserwisser würden ihn garantiert als besitzergreifend verdammen. Doch Sebastian ignorierte das. Seine Rolle als Vater bestand darin, potenzielle Gefahren, denen sie ausgesetzt sein könnte, von seiner Tochter fernzuhalten. In diesem Fall heiligte der Zweck die Mittel.

Da er fürchtete, Camille könne vorzeitig zurückkommen, warf er rasch einen Blick durch das Fenster, bevor er seine Recherchen fortsetzte. Er ging um das Kopfende des Bettes herum, das als Trennung zwischen Schlaf- und Ankleidezimmer diente, und öffnete die Schränke. Er inspizierte jeden Kleiderstapel, verzog missbilligend den Mund angesichts der Schneiderpuppe mit dem Bustierkleid, das er viel zu sexy für ein Mädchen ihres Alters fand.

Er öffnete die Tür des Schuhschranks und bemerkte ein nagelneues Paar Stuart-Weitzman-High-Heels aus Lackleder! Besorgt begutachtete er die Pumps – schmerzhafte Anzeichen dafür, dass seine Tochter allzu früh flügge werden wollte.

Als er sie wütend zurückstellte, fiel sein Blick auf eine elegante rosa-schwarze Shoppingtasche, verziert mit dem Logo einer bekannten Dessousmarke. Er öffnete sie vorsichtig und entdeckte zu seinem Entsetzen ein Ensemble, bestehend aus einem Balconnet-BH und einem Spitzenslip.

»Das geht jetzt aber wirklich zu weit!«, schimpfte er laut und warf die Tasche in die hinterste Schrankecke. Er knallte die Schiebetür zu, fest entschlossen, seiner Tochter gehörig die Meinung zu sagen. Dann, ohne recht zu wissen, warum, trat er ins Badezimmer. Er nahm den Inhalt ihres Reisenecessaires unter die Lupe und zog eine Schachtel mit Tabletten heraus. Eine der beiden Reihen war bereits angebrochen. Er spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. Sein Zorn verwandelte sich in Panik, je offenkundiger die Tatsachen wurden: Seine fünfzehnjährige Tochter nahm die Pille.

Kapitel 2

»Komm, Buck, ab nach Hause!«

Nach zwei Runden auf dem Joggingweg hing dem Golden Retriever die Zunge aus dem Maul. Er brannte darauf, ins Wasser des Reservoirsees zu springen, der sich hinter dem Zaun befand. Camille beschleunigte noch einmal den Schritt und setzte zum letzten Sprint an. Um in Form zu bleiben, kam sie dreimal die Woche her und joggte hier, im Herzen des Central Park, auf der zweieinhalb Kilometer langen Strecke rund um den See.

Nachdem sie ihre Runde beendet hatte, atmete sie, die Hände in die Taille gestemmt, tief durch und bahnte sich dann ihren Weg zwischen den Radfahrern, Skatern und Kinderwagen hindurch zurück in Richtung Madison Avenue.

»Hallo, keiner zu Hause?«, rief sie, als sie die Eingangstür öffnete.

Ohne die Antwort abzuwarten, stürmte sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.

Los, los schnell, sonst komme ich zu spät ... dachte sie und sprang unter die Dusche. Als sie fertig war, ging sie ins Ankleidezimmer, um ihre Garderobe auszuwählen.

Der wichtigste Moment des Tages ...

Ihr Gymnasium, die St. Jean Baptiste High School, war eine katholische Mädchenschule. Eine Eliteschule für die New Yorker Jeunesse dorée mit äußerst strengen Regeln, wie zum Beispiel der Pflicht, eine Uniform zu tragen: Faltenrock, Blazer mit aufgenähtem Wappen, weiße Bluse, Haarreif.

Zum Glück aber waren bei aller klassischen Schmucklosigkeit einige etwas kühnere Accessoires erlaubt. Camille band sich eine Künstlerschleife um den Hals und tupfte mit dem Zeigefinger einen Hauch von himbeerfarbenem Lipgloss auf.

Sie gab ihrem adretten Schulmädchenlook einen letzten Schliff, indem sie sich mit der It-Bag in knalligem Rosa, die sie zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, ausstaffierte.

»Hallo, Papa!«, rief sie und nahm an der Küchentheke Platz.

Ihr Vater antwortete nicht. Camille musterte ihn. Er wirkte elegant in seinem dunklen Anzug. Übrigens hatte sie ihm zu diesem italienischen Modell geraten: ein leicht tailliertes Sakko mit tief angesetzten Schultern, das tadellos passte. Doch jetzt stand er mit finsterer Miene und ausdruckslosem Blick vor der Fensterfront.

»Alles in Ordnung?«, fragte Camille besorgt. »Soll ich dir noch einen Kaffee machen?«

»Nein.«

»Na, dann nicht ...«, erwiderte sie leichthin.

Ein köstlicher Geruch von geröstetem Toast hing in der Luft. Sie schenkte sich ein Glas Orangensaft ein, faltete ihre Serviette auseinander, aus der ... ihre Pillenschachtel fiel.

»Kannst ... kannst du mir das bitte erklären?« Ihre Stimme zitterte.

»Wer hier was zu erklären hat, bist du!«, knurrte ihr Vater.

»Du hast in meinen Sachen herumgeschnüffelt!«, rief sie empört.

»Schweife bitte nicht vom Thema ab! Was hat eine Antibabypille in deinem Reisenecessaire zu suchen?«

»Das ist mein Privatleben!«, protestierte sie.

»Mit fünfzehn Jahren hat man kein Privatleben.«

»Du hast kein Recht, mich auszuspionieren!«

Sebastian trat näher und richtete drohend den Zeigefinger auf sie.

»Ich bin dein Vater, ich habe alle Rechte!«

»Du lässt mir nicht die geringste Freiheit. Du kontrollierst alles: meine Freunde, meine Verabredungen, meine Post, die Filme, die ich mir ansehe, die Bücher, die ich lese ...«

»Hör zu, ich erziehe dich ganz allein – seit sieben Jahren, und ...«

»Weil du es so gewollt hast!«

Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch.

»Antworte auf meine Frage: Mit wem schläfst du?«

»Das geht dich nichts an! Ich brauche dich nicht um Erlaubnis zu bitten! Das ist nicht dein Leben! Ich bin kein Kind mehr!«

»Du bist zu jung für sexuelle Beziehungen. Das ist purer Leichtsinn! Was willst du eigentlich? Wenige Tage vor dem Tschaikowsky-Wettbewerb dein Leben versauen?«

»Ich hab die Nase voll vom Geigenspiel! Und übrigens auch von dem Wettbewerb! Ich trete gar nicht erst an. Das hast du jetzt davon!«

»Sieh mal einer an! Das ist ja auch viel einfacher! Du müsstest gegenwärtig zehn Stunden täglich üben, um eine kleine Chance zu haben, beim Vorspiel zu glänzen. Stattdessen kauft sich die Lady Reizwäsche und Schuhe, so teuer wie das Bruttosozialprodukt von Burundi.«

»Hör auf, mir dauernd in alles reinzureden!«, schrie sie.

»Und du hör auf, dich anzuziehen wie eine Nutte! Wie ... wie deine Mutter!«, brüllte er und verlor völlig die Fassung.

Überrascht von der Härte seiner Worte, ging sie zum Gegenangriff über.

»Du hast ja nicht mehr alle Tassen im Schrank! Du bist krank!«

Das war zu viel. Außer sich holte er aus und versetzte ihr eine so heftige Ohrfeige, dass sie das Gleichgewicht verlor. Der Hocker, auf den sie sich stützte, schwankte und kippte um.

Perplex richtete sich Camille auf, verharrte einen Augenblick reglos, noch völlig benommen von diesem Ausbruch. Dann kam sie wieder zu sich, griff nach ihrer Tasche, fest entschlossen, keine weitere Sekunde mehr in der Nähe ihres Vaters zu bleiben. Sebastian versuchte, sie zurückzuhalten, doch sie stieß ihn fort und rannte aus dem Haus, ohne die Tür zu schließen.

Kapitel 3

Das Coupé mit den getönten Scheiben bog in die Lexington Avenue ein und erreichte die 73th Street. Sebastian klappte die Sonnenblende herunter. Das Wetter in diesem Herbst 2012 war besonders schön. Noch erschüttert von der Auseinandersetzung mit Camille, war er völlig ratlos. Es war das erste Mal, dass er die Hand gegen sie erhoben hatte. Ihm war bewusst, wie demütigend es für sie gewesen sein musste, und er bereute die Ohrfeige zutiefst. Die Heftigkeit seiner Reaktion aber hatte dem Grad seiner Enttäuschung entsprochen.

Die Tatsache, dass seine Tochter eine sexuelle Beziehung haben könnte, versetzte ihm einen Stich ins Herz. Das war viel zu früh und stellte die Pläne infrage, die er für sie hatte. Die Geige, die Ausbildung, die möglichen Berufe: Alles war bis ins Letzte durchdacht, strukturiert wie Notenpapier, da war kein Platz für etwas anderes ...

Er atmete tief durch, um zur Ruhe zu kommen, und versuchte, im Schauspiel des Herbstes Trost zu finden. An diesem windigen Vormittag waren die Bürgersteige der Upper East Side mit Laub in flammenden Farben bedeckt. Sebastian liebte dieses aristokratische und zeitlose Viertel, in dem die High Society von New York lebte. In dieser Enklave mit diskretem Komfort war alles maßvoll und beruhigend. Eine Nische abseits von Hektik und stressigem Geschäftsleben.

In seine Gedanken vertieft, erreichte er die 5th Avenue und fuhr Richtung Süden, am Central Park entlang. Zweifellos war er etwas besitzergreifend, aber war das nicht eine – wenn auch etwas ungeschickte – Art, die Liebe zu seiner Tochter zum Ausdruck zu bringen? Vielleicht könnte er ja einen Mittelweg zwischen seiner Pflicht, sie zu beschützen, und ihrem Wunsch nach Selbstständigkeit finden? Einen Augenblick lang war er geneigt zu glauben, alles sei ganz einfach, und er würde sich ändern. Dann fielen ihm wieder die Pillen ein, und alle guten Vorsätze lösten sich in Luft auf.

Seit seiner Scheidung hatte er Camille allein erzogen. Er war stolz, ihr alles gegeben zu haben, was sie brauchte: Liebe, Aufmerksamkeit, Anerkennung, eine gute Ausbildung. Er war immer für sie da gewesen, hatte seine Rolle sehr ernst genommen und sich täglich um alles gekümmert, von der Beaufsichtigung der Hausaufgaben, über den Reitunterricht bis hin zu den Geigenstunden.

Sicher hatte er so einiges versäumt, manche Ungeschicklichkeit begangen, aber er hatte sein Bestes gegeben. In dieser dekadenten Zeit hatte er sich vor allem bemüht, ihr Werte zu vermitteln. Er hatte sie vor schlechtem Umgang, Überheblichkeit, Zynismus und Mittelmaß bewahrt. Jahrelang war ihre Beziehung eng und einvernehmlich gewesen. Camille hatte ihm alles erzählt, ihn häufig nach seiner Meinung gefragt und seine Ratschläge befolgt. Sie war der Stolz seines Lebens: ein intelligentes, feinsinniges und strebsames junges Mädchen, das in der Schule glänzte und vielleicht am Beginn einer großen Karriere als Geigerin stand. Seit einigen Monaten gab es jedoch immer häufiger Streit, und er musste zugeben, dass er sich zunehmend überfordert fühlte, sie in dieser gefährlichen Übergangszeit, die von den Ufern der Kindheit an die Klippen des Erwachsenenalters führt, zu begleiten.

Ein Taxi hupte, um ihm zu bedeuten, dass die Ampel auf Grün umgeschaltet hatte. Sebastian stieß einen tiefen Seufzer aus. Er verstand die Menschen nicht mehr, er verstand die Jugend nicht mehr, er verstand die Welt nicht mehr. Alles brachte ihn zur Verzweiflung und erschreckte ihn. Die Welt tanzte am Rand des Abgrunds, überall lauerte Gefahr.

Natürlich musste man mit der Zeit gehen, sich ihr stellen und nicht aufgeben, aber die Menschen glaubten ja an nichts mehr. Orientierungen lösten sich auf, Ideale verschwanden. Wirtschaftskrise, Umweltkrise, Gesellschaftskrise. Das System rang mit dem Tod, und seine Akteure – Politiker, Eltern und Lehrer – hatten den Kampf aufgegeben.

Was mit Camille geschah, stellte alle seine Prinzipien infrage und verstärkte seine natürliche Ängstlichkeit noch mehr.

Sebastian hatte sich zurückgezogen, sich eine Welt nach seinen Vorstellungen geschaffen. Inzwischen verließ er sein Viertel nur noch selten und Manhattan noch weniger.

Als berühmter Geigenbauer, der die Einsamkeit liebte, vergrub er sich immer öfter in seiner Werkstatt. Tagelang arbeitete er, die Musik als einzige Gesellschaft, an seinen Instrumenten, an ihrer Klangfarbe und -fülle, um sie zu Unikaten zu machen, auf die er stolz sein konnte. Seine Geigenbauwerkstatt war auch in Europa und Asien bekannt. Was jedoch seinen Umgang betraf, so beschränkte er sich auf einen kleinen Kreis von Kennern, im Wesentlichen auf Leute aus dem Milieu der klassischen Musik oder Abkömmlinge bürgerlicher Familien, die seit Jahrzehnten in der Upper East Side lebten.

Sebastian schaute auf seine Armbanduhr und gab Gas. Auf Höhe der Grand Army Plaza fuhr er an der hellgrauen Fassade des Park Savoy Hotel vorbei und zwischen den Autos und Touristenkutschen hindurch zur Carnegie Hall. Er parkte in der Tiefgarage gegenüber dem legendären Konzertsaal und nahm den Aufzug hinauf in seine Werkstatt.

Die Firma Larabee & Son war von seinem Großvater, Andrew Larabee, Ende der 1920er-Jahre gegründet worden. Im Lauf der Zeit hatte sich der bescheidene Laden einen internationalen Ruf erworben und war schließlich eine der ersten Adressen im Bereich des Geigenbaus und der Restaurierung alter Instrumente geworden.

Sobald Sebastian seine Werkstatt betreten hatte, entspannte er sich. Hier herrschten Ruhe und Frieden. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Der angenehme Geruch nach Ahorn, Weide und Fichte vermischte sich mit dem der Lacke und Lösungsmittel.

Er liebte die besondere Atmosphäre dieses Handwerks aus einer anderen Zeit. Im achtzehnten Jahrhundert hatte die Schule von Cremona die Kunst des Geigenbaus perfektioniert. Seither hatten sich die Techniken kaum weiterentwickelt. In einer Welt des permanenten Wandels hatte diese Beständigkeit etwas Wohltuendes.

Hinter ihren Werktischen arbeiteten Geigenbauer und Lehrlinge an verschiedenen Instrumenten. Sebastian begrüßte Joseph, seinen Werkstattleiter, der gerade die Wirbel einer Bratsche einstellte.

»Die Leute von Farasio haben wegen der Bergonzi angerufen. Der Verkauf wurde zwei Tage vorgezogen«, erklärte er und klopfte sich die Späne von seiner Lederschürze.

»Das darf doch nicht wahr sein! Es wird für uns schwierig sein, diesen Termin zu halten«, erwiderte Sebastian besorgt.

»Übrigens, sie hätten dein Echtheitszertifikat gern heute im Lauf des Tages. Meinst du, das ist möglich?«

Sebastian war nicht nur ein begabter Geigenbauer, sondern auch ein anerkannter Sachverständiger.

Er verzog resigniert das Gesicht. Dieser Verkauf war der wichtigste dieses Jahres. Undenkbar, darauf zu verzichten.

»Ich muss noch meine Recherchen abschließen und meinen Bericht verfassen, aber wenn ich gleich anfange, werden sie ihn bis zum Abend bekommen.«

»Gut. Ich gebe das so weiter.«

Sebastian begab sich in den großen Empfangsraum, dessen Wände mit purpurrotem Samt ausgeschlagen waren. Rund fünfzig Geigen und Bratschen, die von der Decke hingen, verliehen ihm seine Besonderheit. Da er über eine ausgezeichnete Akustik verfügte, waren hier bereits herausragende Interpreten aus aller Welt zu Gast gewesen, um ein Instrument zu kaufen oder reparieren zu lassen.

Sebastian nahm an seinem Arbeitstisch Platz und setzte eine kleine Brille auf, bevor er nach dem Instrument griff, für das er eine Expertise erstellen sollte. Ein recht seltenes Exemplar: Es hatte Carlo Bergonzi gehört, dem begabtesten Schüler Stradivaris. Es stammte aus dem Jahr 1720 und war erstaunlich gut erhalten. Das berühmte Auktionshaus Farasio war entschlossen, bei der nächsten großen Herbstauktion über eine Million Dollar dafür zu erzielen.

Als weltweit angesehener Experte konnte Sebastian sich nicht den kleinsten Fehler bei der Bewertung eines so bedeutenden Objektes erlauben. Wie ein Önologe oder Parfümeur hatte er Tausende von Nuancen über jede Geigenbauschule im Kopf: Cremona, Venedig, Mailand, Paris, Mirecourt. Trotz all dieser Erfahrung war es jedoch schwierig, mit absoluter Sicherheit die Echtheit eines Instruments zu bestätigen, und Sebastian setzte bei jeder Expertise seinen Ruf aufs Spiel.

Vorsichtig klemmte er sich das Instrument zwischen Schlüsselbein und Kinn, hob den Bogen und spielte die ersten Takte einer Partita von Bach. Die Klangfülle war außergewöhnlich. Zumindest so lange, bis plötzlich eine Saite riss und ihm wie ein Gummiband um die Ohren flog. Erschrocken legte er das Instrument ab. Seine ganze Nervosität und Anspannung hatten in seinem Spiel mitgeklungen! Unmöglich, sich zu konzentrieren. Der Vorfall vom Morgen vergiftete seinen Geist. Camilles Vorwürfe hallten immer lauter in seinem Kopf nach. Er konnte nicht umhin, zuzugeben, dass ein Teil ihrer Worte der Wahrheit entsprach. Dieses Mal war er zu weit gegangen. Er hatte schreckliche Angst, sie zu verlieren, und wusste, dass er möglichst schnell wieder mit ihr ins Gespräch kommen musste. Ihm war jedoch auch klar, dass dies nicht leicht werden würde. Er schaute auf seine Armbanduhr, dann zog er sein Handy heraus. Die Schule hatte noch nicht begonnen, mit etwas Glück ... Er versuchte, sie zu erreichen, wurde jedoch sofort auf die Mailbox umgeleitet.

Mach dir keine Illusionen ...

Er kam zu der Überzeugung, dass eine frontale Strategie zum Scheitern verurteilt war. Er musste die Zügel ein wenig locker lassen, zumindest dem Anschein nach. Und dafür brauchte er einen Verbündeten. Jemanden, der es ihm ermöglichte, Camilles Vertrauen zurückzugewinnen. Wenn er dieses Einvernehmen erst einmal wiederhergestellt hätte, würde er sich daran machen, die Angelegenheit zu klären und seine Tochter wieder zur Vernunft zu bringen. Aber wen konnte er um Hilfe bitten?

Er ging in Gedanken die verschiedenen Optionen durch. Freunde? Er hatte wohl einige »Bekannte«, aber niemanden, der ihm nah genug stand und vertrauenswürdig war, um ein so intimes Problem zu besprechen. Sein Vater war im letzten Jahr gestorben, seine Mutter war nicht wirklich ein Vorbild an Fortschrittlichkeit. Seine Freundin Natalia? Sie war mit dem New York City Ballet in Los Angeles.

Blieb Nikki, Camilles Mutter ...

Kapitel 4

Nikki ...

Nein, das konnte er nicht ernsthaft in Erwägung ziehen. Seit sieben Jahren hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Und außerdem, lieber krepieren, als Nikki Nikovski um Hilfe bitten!

Bei genauerer Überlegung konnte er nicht ausschließen, dass sie es war, die Camille zur Pille geraten hatte! Das würde ihr ähnlich sehen. Nikki hatte eine äußerst lockere Auffassung von Moral und war für all diese sogenannten fortschrittlichen Prinzipien: Man musste den Kindern, die sich emanzipieren sollten, blind vertrauen, sie nicht bestrafen, jegliche Autorität verbannen, also leidenschaftlich für Toleranz eintreten, für eine absolute Freiheit, die ebenso leichtfertig war wie naiv.

Er überlegte. War es möglich, dass Camille eher ihre Mutter als ihn um Rat gefragt hatte? Selbst bei einem so intimen Thema wie der Empfängnisverhütung erschien ihm dies wenig wahrscheinlich. Erstens, weil Nikki und Camille sich selten sahen, und auch, weil Nikki – freiwillig oder nicht – sich stets aus Camilles Erziehung herausgehalten hatte.

Jedes Mal, wenn Sebastian an seine Exfrau dachte, empfand er eine Mischung aus Bitterkeit und Wut. Eine Wut, die sich gegen ihn selbst richtete, so sehr schien das Scheitern ihrer Beziehung vorprogrammiert gewesen zu sein. Diese Heirat war der größte Fehler seines Lebens gewesen. Er hatte dadurch seine Illusionen, seine Heiterkeit und seine Lebensfreude verloren.

Sie hätten sich niemals begegnen, sich niemals verlieben dürfen. Weder bei ihrer sozialen Herkunft noch bei ihrer Bildung, nicht einmal bei ihrer Religion gab es Gemeinsamkeiten. Ihre Temperamente, ihre Charaktere waren absolut gegensätzlich. Und doch hatten sie sich geliebt!

Nikki, die es aus ihrem New Jersey nach Manhattan verschlagen hatte, hatte eine Karriere als Model begonnen und von Rollen am Theater und in Musicals am Broadway geträumt. Sie hatte in den Tag hineingelebt, sorglos und ungezwungen.

Temperamentvoll, extrovertiert und passioniert, verstand sie es, ihr Gegenüber zu fesseln und ihren Charme einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Aber sie lebte exzessiv, im Rausch von Gefühlsausbrüchen. Von dem zwanghaften Bedürfnis angetrieben, die Blicke der Männer anzuziehen, spielte sie ständig mit dem Feuer, bereit, sehr weit zu gehen, um ihre Verführungskraft unter Beweis zu stellen.

Das genaue Gegenteil von Sebastian.

Er war das Produkt einer elitären, bürgerlichen Erziehung, war zurückhaltend und reserviert. Er liebte es, sein Leben langfristig zu planen, sich an Zukunftsprojekte zu halten.

Seine Eltern, Freunde und Bekannten hatten ihn sehr bald gewarnt und ihm zu verstehen gegeben, dass Nikki kein Mädchen für ihn sei. Doch Sebastian hatte nicht auf sie gehört. Beide fühlten sich von einer unwiderstehlichen Macht zueinander hingezogen und ließen sich von dem naiven und beliebten Mythos »Gegensätze ziehen sich an« mitreißen.

Sie hatten an ihre Chance geglaubt, hatten aus einer Laune heraus geheiratet. Nikki war unmittelbar danach schwanger geworden und hatte Zwillinge zur Welt gebracht: Camille und Jeremy. Nach einer chaotischen Jugend war Nikki auf der Suche nach Stabilität und Mutterschaft gewesen. Eingeengt durch eine konservative Erziehung, hatte er wiederum geglaubt, durch diese Beziehung dem belastenden Dünkel seiner Familie zu entkommen. Jeder hatte diese Liebe wie eine Herausforderung erlebt und die Trunkenheit ausgekostet, ein Verbot zu überschreiten. Der Rückschlag aber war brutal gewesen. Die Unterschiede, die anfangs ihrem Leben Würze verliehen hatten, wurden schon bald Anlass für Gereiztheit, gefolgt von endlosen Streitereien.

Selbst nach der Geburt der Zwillinge war es ihnen nicht gelungen, sich auf grundlegende Werte zu einigen, die es ihnen erlaubt hätten, ein gemeinsames Leben aufzubauen. Die Notwendigkeit, Prinzipien für die Erziehung ihrer Kinder festzulegen, hatte die Konflikte eher noch verschärft. Nikki bestand auf Freiheit und Autonomie in der Erziehung. Sebastian war ihr auf diesem Weg, den er für gefährlich hielt, nicht gefolgt. Er hatte versucht, sie davon zu überzeugen, dass nur strenge Regeln der Persönlichkeit eines Kindes Struktur geben konnten. Ihre Standpunkte waren unvereinbar geworden, und jeder hatte auf seiner Position beharrt. So war es eben. Man kann die Menschen nicht verändern. Man kann die Grundpfeiler einer Persönlichkeit nicht umformen.

Schließlich hatten sie sich nach einer schmerzlichen Episode, die Sebastian als Verrat empfunden hatte, getrennt. Nikki hatte die Grenze des für ihn Erträglichen überschritten. Wenn die Ereignisse ihn auch innerlich zermürbt haben, waren sie zugleich doch das zwingende Signal für ihn gewesen, diese Ehe, die keinen Sinn mehr hatte, zu beenden.

Um seine Kinder vor diesem Schiffbruch zu retten und das Sorgerecht zu erhalten, hatte Sebastian einen Fachanwalt für Ehe- und Familienrecht engagiert. Einen Staranwalt, der sich dafür eingesetzt hatte, Nikki in die Knie zu zwingen, damit sie auf den Großteil ihrer elterlichen Rechte verzichtete. Die Dinge aber waren weit schwieriger gewesen, als er erwartet hatte. Schließlich hatte Sebastian seiner künftigen Exfrau eine eigenartige Vereinbarung vorgeschlagen: Er überließ ihr praktisch das alleinige Sorgerecht für Jeremy im Austausch gegen das für Camille. Um nicht womöglich alles zu verlieren, wenn sie sich auf einen Rechtsstreit einließ, hatte sie diese Aufteilung akzeptiert.

Seit sieben Jahren lebten Camille und Jeremy also in verschiedenen Wohnungen unter der Verantwortlichkeit von zwei Erwachsenen, die ihnen eine diametral entgegengesetzte Erziehung angedeihen ließen. Die Besuchshäufigkeit beim »anderen Elternteil« war gering und streng geregelt. Camille sah ihre Mutter nur jeden zweiten Sonntag, während Sebastian in dieser Zeit Jeremy bei sich hatte.

Zwar war seine Ehe mit Nikki die reine Hölle gewesen, doch jetzt war diese Zeit längst vorüber. Im Lauf der Jahre hatte Sebastian wieder Ordnung in sein Leben gebracht, und Nikki war lediglich eine ferne Erinnerung. Er erfuhr von Camille nur wenig über ihr Leben. Ihre Karriere als Model war gar nicht erst in Gang gekommen, geschweige denn die als Schauspielerin. Der letzten Information nach hatte sie mit den Fotoshootings und Castings aufgehört und mit ihren Träumen vom Theater abgeschlossen, um sich der Malerei zu widmen. Wenn ihre Gemälde auch gelegentlich in zweitklassigen Galerien von Brooklyn ausgestellt wurden, wollte ihr doch der große Durchbruch nicht gelingen. Die Männer in ihrem Leben gaben sich die Klinke in die Hand. Nie dieselben, nie die Richtigen. Sie schien ein besonderes Talent dafür zu haben, jene anzuziehen, die sie leiden ließen, ihre Schwäche, ihre Zerbrechlichkeit erahnten und versuchten, sie auszunutzen. Mit zunehmendem Alter schien sie jedoch ihr Gefühlsleben stabilisieren zu wollen. Camilles Berichten zufolge hatte sie seit einigen Monaten ein Verhältnis mit einem Beamten vom New York Police Department. Einem zehn Jahre jüngeren Mann offenbar. Bei Nikki war eben nie etwas einfach.

Das Klingeln des Telefons holte Sebastian in die Realität zurück. Er schaute auf sein Handy und riss verwundert die Augen auf. Durch ein eigenartiges Spiel des Schicksals sah er in ebendiesem Moment auf seinem Display den Namen »Nikki Nikovski« aufleuchten.

Spontan wich er zurück. Er hatte praktisch keinerlei Kontakt mehr zu seiner Exfrau. Im ersten Jahr nach der Scheidung hatten sie sich jeweils beim »Austausch« der Kinder gesehen, aber heute beschränkte sich ihre Beziehung auf einige informative SMS, um die zweiwöchentlichen Besuche der Kinder zu organisieren. Wenn Nikki sich die Mühe machte, ihn anzurufen, musste etwas Schwerwiegendes geschehen sein.

Camille ... dachte er und nahm das Gespräch an.

»Nikki?«

»Guten Tag, Sebastian.«

Er hörte sofort die Unruhe in ihrer Stimme.

»Was ist los?«

»Es ist wegen Jeremy. Hast du ... hast du in den letzten Tagen etwas von deinem Sohn gehört?«

»Nein, warum?«

»Ich fange an, mir Sorgen zu machen. Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Wie das?«

»Er war nicht in der Schule. Weder gestern noch heute. Auf dem Handy ist er nicht zu erreichen, und er hat nicht zu Hause geschlafen seit ...«

»Du machst wohl Witze!«, fiel er ihr ins Wort. »Er hat nicht zu Hause geschlafen?«

Sie antwortete nicht sofort. Sie hatte seine Wut und seine Vorwürfe vorausgeahnt.

»Seit drei Nächten ist er nicht heimgekommen«, gestand sie schließlich.

Sebastian hielt die Luft an. Seine Hand umklammerte das Handy.

»Hast du die Polizei benachrichtigt?«

»Das wäre, glaube ich, keine gute Idee.«

»Warum?«

»Komm her, dann erkläre ich es dir.«

»Ich komme«, sagte er und beendete das Gespräch.

Kapitel 5

Sebastian fand an der Ecke Van Brunt/Sullivan Street einen Parkplatz. Wegen des dichten Verkehrs hatte er fast eine Dreiviertelstunde für die Fahrt bis Brooklyn gebraucht.

Seit der Scheidung wohnte Nikki mit Jeremy im Westen von South Brooklyn, im Viertel Red Hook, der ehemaligen Hochburg der Hafenarbeiter und der Mafia. Die Enklave, die einst schlecht an die öffentlichen Verkehrsmittel angebunden gewesen war, hatte lange unter ihrer Abgeschiedenheit und ihrem schlechten Ruf gelitten. Diese düstere Vergangenheit war jedoch längst vorüber. Das heutige Red Hook hatte nichts mehr mit dem gefährlichen Underground-Viertel der 1980er- und 1990er-Jahre zu tun. Wie viele andere Ecken Brooklyns war es zu einem Stadtteil geworden, der sich mitten im Wandel befand und jetzt hype und unkonventionell war, sodass sich hier immer mehr Künstler und Kreative niederließen.

Sebastian kam nur sehr selten hierher. Hin und wieder ergab es sich, dass er Camille samstags vorbeibrachte, allerdings hatte er noch nie einen Fuß in die Wohnung seiner Exfrau gesetzt. Bei jedem seiner Abstecher nach Brooklyn war er überrascht von der Geschwindigkeit, mit der dieses Viertel sich veränderte. Baufällige Lagerhallen und die Docks wichen von heute auf morgen Kunstgalerien und Biorestaurants.

Sebastian sperrte sein Auto ab und lief die Straße entlang bis zur roten Backsteinfassade einer ehemaligen Papierfabrik, die in ein Wohnhaus umgewandelt worden war. Er betrat das Gebäude und eilte die Treppe bis zur vorletzten Etage hinauf. Nikki erwartete ihn an der Schwelle einer Brandschutztür, die zur Wohnung führte.

»Guten Tag, Sebastian.«

Er betrachtete sie, ernsthaft bemüht, seine Gefühle im Zaum zu halten. Sie hatte sich ihre sportlich-schlanke Figur bewahrt: breite Schultern, schmale Taille, lange Beine, straffer, knackiger Po.

Ihr Gesicht war noch immer auffallend hübsch: hohe Wangenknochen, schmale Nase, Raubkatzenblick. Sie tat jedoch alles, um diese Anmut hinter einer trügerisch lässigen Art zu verbergen. Ihr langes, rot gefärbtes Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, die sie zu einem unförmigen Knoten hochgesteckt hatte. Ihre mandelförmigen grünen Augen waren mit zu viel Kajal umrandet, ihr gertenschlanker Körper verschwand in einer Pumphose, die Brust war in ein übertrieben ausgeschnittenes T-Shirt gezwängt.

»Hallo, Nikki«, antwortete er und betrat unaufgefordert die Wohnung.

Er konnte nicht umhin, sich neugierig umzusehen. In der ehemaligen Fabrik verbarg sich ein weitläufiges Loft, das stolz seine industrielle Vergangenheit zeigte: abgebeizter, gekalkter Parkettboden, Sichtbalken, Dachstuhl und Stützen aus Gusseisen, Mauerstücke aus alten Backsteinen. Überall standen zum Trocknen an den Wänden große abstrakte Gemälde, die Nikki gemalt hatte. Sebastian fand die Einrichtung völlig ausgeflippt. Bunt zusammengewürfeltes Mobiliar, wahrscheinlich vom Flohmarkt, vom alten Chesterfieldsofa bis zum Wohnzimmertisch, der aus einer großen verrosteten auf zwei Böcken ruhenden Tür bestand. Wahrscheinlich folgte alles einer ästhetischen Logik, die sich ihm allerdings nicht erschloss.

»Also, was ist das für eine Geschichte?«, fragte er in herrischem Ton.

»Wie ich dir schon erklärte: Seit Samstagmorgen habe ich von Jeremy nichts mehr gehört.«

Er schüttelte den Kopf.

»Samstagmorgen? Wir haben bereits Dienstag!«

»Ich weiß.«

»Und Sorgen machst du dir erst jetzt?«

»Ich habe dich angerufen, damit du mich unterstützt, und nicht, um mir deine Vorwürfe anzuhören.«

»Hör mal, in was für einer Welt lebst du? Du weißt ja wohl, wie es um die Wahrscheinlichkeit steht, ein Kind achtundvierzig Stunden nach seinem Verschwinden zu finden?«

Sie unterdrückte einen Schrei, packte ihn heftig am Mantelkragen, um ihn aus der Wohnung zu schieben.

»Verzieh dich! Wenn du nicht gekommen bist, um mir zu helfen, fahr heim!«

Überrascht von der Heftigkeit ihrer Reaktion, befreite er sich, ergriff Nikkis Hände und hielt sie fest.

»Erkläre mir, warum du mich nicht früher benachrichtigt hast.«

Sie sah ihn eindringlich an. Ihre Augen hatten einen trotzigen Ausdruck.

»Wenn du etwas mehr Interesse für deinen Sohn zeigen würdest, hätte ich vielleicht nicht so lange gezögert!«

Ohne seine Betroffenheit zu zeigen, fuhr Sebastian mit ruhigerer Stimme fort: »Wir werden Jeremy finden«, versprach er. »Aber du musst mir alles erzählen. Von Anfang an.«

Noch immer argwöhnisch, brauchte Nikki eine Weile, bis sie ihren Widerstand aufgab.

»Setz dich, ich koche Kaffee.«

Kapitel 6

»Ich habe Jeremy am Samstagmorgen gegen zehn Uhr zum letzten Mal gesehen, kurz bevor er zum Boxen gegangen ist.« Nikki sprach mit zitternder Stimme.

Sebastian runzelte die Stirn. »Seit wann geht er boxen?«

»Seit über einem Jahr. Kommst du vom Mond oder was?«

Er sah sie ungläubig an. Das Bild von Jeremy, einem spindeldürren Jungen, tauchte vor seinem inneren Auge auf. Er konnte sich seinen Sohn nur schwer im Boxring vorstellen.

»Wir haben zusammen gefrühstückt«, fuhr Nikki fort. »Dann haben wir unsere Sachen gepackt. Es war alles etwas hektisch. Lorenzo wartete unten auf mich. Wir wollten das Wochenende über in die Catskills fahren und ...«

»Lorenzo?«

»Lorenzo Santos, mein Freund.«

»Ist das immer noch der Bulle oder schon wieder ein Neuer?«

»Verdammt, Sebastian, was soll das?«, ereiferte sie sich.

Er entschuldigte sich mit einer Handbewegung.

Sie fuhr fort: »Kurz bevor ich die Wohnung verlassen habe, bat Jeremy mich um die Erlaubnis, bei seinem Freund Simon zu übernachten. Ich habe Ja gesagt. Das war für einen Samstagabend normal, fast schon Gewohnheit, dass sie mal bei uns, mal dort übernachteten.«

»Das Neueste, was ich höre.«

Sie ging nicht darauf ein. »Er gab mir einen Kuss und war weg. Er hat sich das ganze Wochenende nicht gemeldet, aber ich habe mir deshalb keine Gedanken gemacht.«

»Also, wie kann man nur ...«

»Er ist fünfzehn Jahre alt und kein Baby mehr. Und Simon ist fast volljährig.«

Sebastian verdrehte die Augen, enthielt sich aber jeglichen Kommentars.

»Sonntagabend bin ich zurückgekommen. Da es schon spät war, habe ich bei Santos übernachtet.«

Er warf ihr einen kalten Blick zu, bevor er fragte: »Und Montagmorgen?«

»Ich habe gegen neun Uhr zu Hause vorbeigeschaut. Um diese Zeit ist er in der Regel in der Schule. Es war normal, dass er nicht da war.«

Sebastian wurde ungeduldig. »Und dann?«

»Ich habe den ganzen Tag für meine Gemäldeausstellung im BWAC gearbeitet, das ist ein Gebäude in der Nähe der Kais, in dem ein Künstlerkollektiv ...«

»Okay, Nikki, erspare mir die Einzelheiten!«

»Am Nachmittag fand ich auf meinem Anrufbeantworter eine Nachricht vom College, Jeremy habe die Schule geschwänzt.«

»Hast du bei den Eltern von dem anderen Burschen angerufen?«

»Ich habe gestern Abend mit Simons Mutter gesprochen. Sie sagte mir, ihr Sohn sei bereits seit mehreren Tagen auf einer Studienreise. Jeremy hat also am Wochenende gar nicht dort übernachtet.«

Sebastians Handy vibrierte in seiner Tasche. Er schaute auf das Display: Es waren die Typen von Farasio, die sich vermutlich um die Expertise für ihre Geige sorgten.

»Da bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun«, fuhr Nikki fort. »Ich wollte zur Polizei gehen, aber ... ich war mir nicht sicher, ob die mich ernst nehmen würden.«

»Warum?«

»Um ehrlich zu sein, es ist nicht das erste Mal, dass Jeremy nicht nach Hause kommt ...«

Sebastian fiel aus allen Wolken und seufzte.

Nikki erklärte: »Letztes Jahr im August habe ich zwei Tage lang nichts von ihm gehört. Ich war völlig aufgelöst und habe das Polizeirevier Bushwick über sein Verschwinden informiert. Am dritten Tag tauchte er schließlich wieder auf. Er hatte lediglich eine Wanderung im Adirondack Park unternommen.«

»So ein kleiner Idiot!«, schimpfte Sebastian.

»Du kannst dir die Reaktion der Beamten sicher vorstellen. Sie haben sich ein Vergnügen daraus gemacht, mich ins Gebet zu nehmen, haben mir vorgeworfen, ich hätte ihre Zeit gestohlen und hätte meinen Sohn nicht im Griff.«

Sebastian konnte sich die Szene vorstellen. Er schloss die Augen, fuhr sich über die Lider und schlug vor: »Dieses Mal werde ich sie benachrichtigen, aber nicht irgendeinen kleinen Angestellten. Ich kenne den Stadtteilbürgermeister. Seine Tochter geht in dieselbe Klasse wie Camille, und ich habe die Geige seiner Frau repariert. Ich werde ihn bitten, einen Kontakt herzustellen mit ...«

»Warte, du weißt noch nicht alles, Sebastian.«

»Was gibt es denn noch?«

»Jeremy hatte schon mal ein kleines Problem: Er ist vorbestraft.«

Er starrte seine Exfrau ungläubig an. »Machst du Witze? Und davon hast du mir nie etwas gesagt?«

»Er hat in letzter Zeit einige Dummheiten gemacht.«

»Welche Art von Dummheiten?«

»Er wurde vor sechs Monaten von einer Patrouille dabei erwischt, wie er einen Lieferwagen in der Ikea-Halle mit Graffiti besprüht hat.« Sie trank einen Schluck Kaffee, schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Als hätten diese Idioten nichts Besseres zu tun, als Kinder zu verfolgen, die die Kunst lieben!«, schimpfte sie.

Sebastian fuhr hoch. Graffiti sollten Kunst sein? Nikki hatte wirklich eine ganz spezielle Art, die Dinge zu sehen.

»Kam er vor Gericht?«

»Ja. Er wurde zu zehn Tagen gemeinnütziger Arbeit verdonnert. Aber vor drei Wochen wurde er wegen Diebstahls aus der Auslage eines Geschäfts festgenommen.«

»Was wollte er klauen?«

»Ein Videospiel. Warum? Wäre dir ein Buch lieber?«

Sebastian ging auf die Provokation nicht ein. Eine zweite Verurteilung war dramatisch. Aufgrund der Nulltoleranzstrategie konnte ein unbedeutender kleiner Diebstahl seinen Sohn ins Gefängnis bringen.

»Ich habe mir in dem Laden alle Mühe gegeben, sie von der Anzeige abzubringen«, versuchte Nikki, ihn zu beruhigen.

»Guter Gott! Was hat der Bursche nur im Kopf?«

»Das ist doch kein Weltuntergang«, erwiderte Nikki beschwichtigend. »Irgendwann hat doch jeder von uns mal etwas mitgehen lassen. In der Jugend ist das normal ...«

»Es ist normal, zu stehlen?« Sebastian explodierte erneut.

»Das gehört zum Leben. Als ich jung war, habe ich Unterwäsche, Klamotten, Parfüm geklaut. Genau dabei haben wir uns übrigens auch kennengelernt, wenn ich dich daran erinnern darf.«

Das war nicht das Beste, was uns passiert ist, dachte er.

Sebastian erhob sich. Er versuchte, Bilanz zu ziehen. Mussten sie sich wirklich Sorgen machen? Wenn Jeremy schon öfter verschwunden war ...

Als könnte Nikki seine Gedanken lesen, sagte sie beunruhigt: »Dieses Mal ist es ernst, Sebastian, da bin ich mir sicher. Jeremy hat gesehen, dass ich mir letztes Mal große Sorgen gemacht habe, und versprochen, mich nicht mehr ohne Nachricht zu lassen.«

»Was sollen wir dann tun?«

»Keine Ahnung. Ich habe bei den Notfallabteilungen der wichtigsten Krankenhäuser nachgefragt, ich ...«

»Hast du beim Durchsuchen seines Zimmers nichts Verdächtiges gefunden?«

»Wie, beim Durchsuchen seines Zimmers?«

»Hast du oder hast du nicht?«

»Nein, das ist seine Intimsphäre. Das ist ...«

»Seine Intimsphäre? Aber er ist seit drei Tagen verschwunden, Nikki!« Mit diesen Worten ging er zu der Treppe, die nach oben führte.