
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2013
Copyright der deutschen Ausgabe © 1994 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg // Copyright © 1992 by thynKER Ltd.
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ISBN 978-3-644-21091-2
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-21091-2
Für Jane
Dass das Beste, was ich schreiben konnte, immer nur philosophische Bemerkungen bleiben würden; dass meine Gedanken bald erlahmten, wenn ich versuchte, sie, gegen ihre natürliche Neigung, in einer Richtung weiterzuzwingen. – Und dies hing freilich mit der Natur der Untersuchung selbst zusammen. Sie nämlich zwingt uns, ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen.
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen
Es ist noch Zeit für Zeugung, Mord, und Zeit
Für Werke und Tage der Hand, die sich erhebt
Und eine Frage auf den Teller schneit;
T. S. Eliot, J. Alfred Prufrocks Liebesgesang, übers. von K. G. Just
«Das bedauernswerte Opfer, die fünfundzwanzigjährige Mary Woolnoth, wurde nackt im Keller des Bürogebäudes der Firma Mylae Shipping Co. in der Jermyn Street aufgefunden, wo sie seit drei Jahren als Empfangsdame gearbeitet hatte. Der Täter hatte ihr das Gesicht mit einem Splitthammer eingeschlagen.
Die Schläge waren so heftig, dass der Unterkiefer an sechs Stellen gebrochen und fast alle mit Porzellankappen versehenen Zähne ausgeschlagen waren. Losgelöste Fragmente des Schädelknochens und Hirngewebe des Opfers waren um die Leiche über eine Entfernung verteilt, die dem erworbenen kinetischen Impuls entspricht. Nach Sicherstellung der Tatwaffe kann eine Gleichung aufgestellt werden, aus der sich die Bewegungsenergie des Schlags ergibt. Diese wird berechnet, indem man die Masse der Waffe mit dem Quadrat der Geschwindigkeit multipliziert und das Ergebnis durch zwei dividiert. Ausgehend von der Bewegungsenergie der einzelnen Hammerschläge, der Tiefe der einzelnen Bruchstellen im Schädel und dem jeweiligen Einfallswinkel, hat der Computer berechnet, dass der Mörder 1,82 Meter groß ist und ungefähr 85 Kilogramm wiegt.
Der bedauernswerten Frau war der rotseidene Strumpfhalter um den Hals geschnürt worden, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Eine Tragetasche der Supermarktkette Simpson wurde dem Opfer später so über den Kopf gezogen, dass sein zerstörtes Gesicht verhüllt war. Dies fand möglicherweise vor Ausübung des Geschlechtsverkehrs statt. Mit einem Lippenstift der Farbe Crimson Lake von Christian Dior, der aus der Handtasche des Opfers stammt, schrieb der Mörder obszöne Ausdrücke auf ihre nackten Oberschenkel und den Bauch. Unmittelbar über der Schamlinie stand das Wort FICKEN, auf der Rückseite der Oberschenkel und Gesäßbacken stand das Wort SCHEISSE. Quer über beiden Brüsten stand TITTEN. Zuletzt malte der Mörder ein glücklich lächelndes Gesicht auf die weiße Plastiktragetasche. Ich benutze bewusst den Ausdruck ‹zuletzt›, weil das Beweismaterial darauf hindeutet, dass der Lippenstift bei Anfertigung dieser Zeichnung stärker zerbröckelt war.
Die Vagina des bedauernswerten Opfers enthielt Spuren eines Spermizids auf Latexbasis, was der Annahme entspricht, der Mörder habe beim Geschlechtsverkehr ein Kondom benutzt. Zweifellos war er sich der Notwendigkeit bewusst, eine DNS-Identifizierung zu verhindern. Das erwähnte Spermizid gehört einem Typ an, der hauptsächlich von den Herstellern der Präservativmarke RIMFLY verwendet wird, einer Marke, die wegen ihrer größeren Stärke üblicherweise von Homosexuellen verwendet wird. In den letzten Jahren haben wir festgestellt, dass es sich aus den gleichen Gründen auch um die bevorzugte Marke bei Vergewaltigungen handelt.»
Jake schlug die Akte auf, die vor ihr auf dem Tisch lag, und sah sich die Fotos an. Bevor sie hinsah, holte sie tief Luft. Sie bemühte sich, es vor den vier Männern zu verbergen, die mit ihr am Konferenztisch saßen. Drei von ihnen waren Kriminalbeamte. Sie hätte es nicht nötig gehabt, Gleichmut vorzuspiegeln, denn einer der Kriminalbeamten machte sich gar nicht erst die Mühe, seinen Fotosatz anzuschauen. Jake fand das ungerecht. Ein Mann konnte jederzeit irgendwelche Sprüche machen, etwa, er habe keine Lust, sich so kurz vor dem Essen den Appetit zu verderben, oder so etwas. Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden, aber für sie galten so einfache Ausreden nicht. Jake war sicher, wenn sie sich die Fotos jetzt nicht ansah, würde man sagen, das komme davon, dass sie eine Frau war. Da machte es nichts aus, dass sie die Leiche schon gesehen hatte, als sie entdeckt worden war. Außer dem Kriminalbeamten, der sich geweigert hatte, die Bilder anzusehen, hatten sie alle die Leiche gesehen.
Der vierte Mann am Tisch, ein Spezialist von der Spurensicherung namens Dalglish, fuhr in seiner seltsam systematischen Darlegung fort.
«Es wird Ihnen aufgefallen sein, dass das rechte Bein des armen Mädchens unter das linke gekreuzt wurde, dass die Handtasche ordentlich neben dem rechten Ellbogen abgestellt war und dass die Brille ein kleines Stück von der Leiche entfernt liegt.»
Jake warf einen knappen Blick auf die Fotos, die in numerischer Reihenfolge angeordnet waren: Die Reihe von weißen toten Körpern erinnerte sie an eine Tarotkarte: den Gehenkten.
«Der Inhalt der Tragetasche ist säuberlich auf dem Boden angeordnet worden. Es handelt sich um einen halbseidenen Rock und eine Flasche Parfüm der Marke Synthetic, die beide aus dem Supermarkt stammen, sowie einen Kriminalroman aus dem Mystery Bookshop in der Sackville Street in Piccadilly. Der Titel ist Alibi. Aber das spricht nicht gegen sie.»
«Gegen wen? Mary Woolnoth oder Agatha Christie?»
Dalglish blickte von seinen Notizen auf und sah sich am Tisch um. Da er nicht feststellen konnte, von wem die Bemerkung stammte, spitzte er missbilligend den Mund und schüttelte langsam den Kopf.
«Also gut», sagte er schließlich, «wer bietet als Erster?»
Nach einer kurzen Pause hob der Beamte rechts von Jake, der, von dem die Frage stammte, einen schmutzigen Zeigefinger.
«Ich glaube, das ist meiner», sagte er vorsichtig. «Da haben wir schon einmal den M.O. des Mörders …» Er zuckte die Achseln, als sei das alles, was es zu sagen gab.
Dalglish fing an, seinen Laptop zu bedienen. «Sie sind …?»
«Der Hammermörder von Hackney», sagte der Besitzer des schmutzigen Zeigefingers.
«Gut», sagte Dalglish nachdenklich. «Ein Punkt für den Hammermörder von Hackney.» Aber schon schüttelte ein zweiter Kriminalbeamter den Kopf.
«Das können Sie nicht ernst meinen», sagte er zu dem ersten Beamten. «Überlegen Sie mal. Jermyn Street ist ein ganzes Stück von den Jagdgründen Ihres Mannes entfernt, meilenweit sogar. Nein, das ist einer von meinen Fällen, da bin ich sicher. Das Mädchen war doch Empfangsdame? Also, wir wissen, dass der Motorradbote schon ein paar Empfangsdamen getötet hat, und meiner Meinung nach gibt es gar keinen Zweifel daran, dass Mary Woolnoth sein jüngstes Opfer ist.»
Dalglish fing wieder an zu schreiben. «Also», sagte er. «Sie wollen sie für sich?»
«Das kann man wohl sagen.»
Der erste Kriminalbeamte verzog das Gesicht.
«Also ich weiß wirklich nicht, warum Sie sie haben wollen. Der Motorradbote verwendet immer eine Klinge. Das ist nun mal sein M.O. Wieso sollte er plötzlich einen Hammer verwenden? Das verstehe ich nicht.»
Der zweite Kriminalbeamte zuckte die Achseln und sah aus dem Fenster. Der Wind schlug heftig gegen die Scheibe, und ausnahmsweise war Jake froh, dass sie an einer Sitzung in New Scotland Yard teilnehmen musste.
«Schön, und wieso sollte der Hammermörder plötzlich beschließen, sein Tätigkeitsfeld in den Westen zu verlegen? Können Sie mir das erklären?»
«Wahrscheinlich weiß er, dass wir ganz Hackney beobachten. Wenn er sich da drüben auch nur auf den eigenen Daumen haut, haben wir ihn.»
Jake beschloss, dass sie jetzt sprechen musste.
«Sie haben beide unrecht», sagte sie energisch.
«Sie wollen den Fall wohl für sich haben», sagte der zweite Kriminalbeamte.
«Natürlich will ich das», sagte sie. «Selbst ein Vollidiot müsste kapieren, dass hier der Lippenstiftmann am Werk war. Wir wissen, dass er sich auf Mädchen stürzt, die roten Lippenstift tragen. Wir wissen, dass er ihren Lippenstift benützt, um Obszönitäten auf die Leiche zu schreiben. Wir wissen, dass er aus irgendeinem Grunde die Handtasche seiner Opfer immer neben den rechten Ellbogen stellt und dass er RIMFLY-Kondome benutzt. Natürlich halte ich Mary Woolnoth für meinen Fall.» Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. «Ich kann nur einfach nicht verstehen, wie ihr euch um das arme Mädchen streitet, als wäre sie der erste Preis in einem Wettbewerb. Mein Gott, ihr müsstet euch einmal selber zuhören, aber wirklich!»
Der Kriminalbeamte, der mit dem Versuch beschäftigt war, mit dem Daumen einen Schmutzflecken vom Zeigefinger zu reiben, sah sie kopfschüttelnd an. «Wann hat der Lippenstiftmann je einen Hammer benützt, um seine Opfer umzubringen? Wann hat er ihnen je eine Plastiktüte über den Kopf gezogen? Noch nie! Das ist der modus operandi meines Mannes!»
«Und seit wann gibt es irgendwelche Indizien dafür, dass der Hammermörder überhaupt schreiben kann, geschweige denn mit einem Lippenstift?»
«Vielleicht hat er das ja aus der Zeitung.»
«Also wirklich», sagte Jake. «Das sollten Sie besser wissen. Alle besonderen Merkmale im modus operandi eines Mörders werden genau deshalb nicht an die Presse weitergegeben.»
Sie erwartete Einwände von dem zweiten Kriminalbeamten, wandte sich ihm zu und sagte: «Die Tatsache, dass das Mädchen auch noch Empfangsdame war, ist der reine Zufall.»
«Vielleicht passt es Ihnen in den Kram, die Sache so zu sehen, Chefinspektorin Jakowicz», sagte der. «Aber wenn Sie noch einen Augenblick darüber nachdenken, werden Sie sich vielleicht an das erinnern, was Sie uns sonst ständig einhämmern. Serientäter neigen dazu, einen bestimmten Typ von Mordopfer auszusuchen und dabei zu bleiben. Dabei kann der modus operandi, je nachdem, wie sicher sich der Mörder fühlt, beträchtliche Variationen aufweisen, und sein Sicherheitsgefühl selbst hängt von der Zahl seiner bisherigen Opfer ab.»
«Ich glaube nicht, dass man einen Opfertyp mit letzter Gewissheit auf einen Beruf festlegen kann», wandte Jake ein. «Alter und Aussehen sind die eigentlich entscheidenden Faktoren. Und letzten Endes hat mich Ihre Theorie nie ganz überzeugt, dass der Motorradbote dazu neigt, nur Empfangsdamen zu ermorden. Wenn ich mich richtig erinnere, war eines seiner ersten Opfer eine Büroputzfrau. Außerdem hat er noch nie den Versuch zur Penetration bei einem seiner Opfer gemacht, mit oder ohne Kondom.»
Jake merkte, wie sie vor Zorn rot wurde. Sie ballte die Faust und versuchte sich zu beherrschen. Ihren beiden Kollegen schien die Tatsache nichts zu bedeuten, dass Mary Woolnoth einmal eine schöne junge Frau gewesen war, die ihre Zukunft noch vor sich hatte: Grimmig starrte sie den dritten Beamten an, der sich geweigert hatte, die Fotos aus dem gerichtsmedizinischen Institut anzusehen, und der bis jetzt kein Wort gesagt hatte.
«Und Sie?», fragte sie kurz angebunden. «Bieten Sie mit oder nicht? Sie sollten jetzt bieten oder aussteigen!» Ein wenig erinnerte sie das Ganze an ein gespenstisches Pokerspiel.
Der Mann hob die Hände, als wolle er sich ergeben.
«Nein», sagte er, «meiner ist es nicht.» Er sah sich am Tisch um und fügte hinzu: «Aber im Großen und Ganzen glaube ich, dass Chefinspektorin Jakowicz recht hat. Mir kommt es auch vor, als sei der Lippenstiftmann am Werk gewesen.»
«Also, ich bin der gleichen Meinung», sagte Dalglish.
Der erste Beamte verzog wieder das Gesicht.
«Lass gut sein, George», sagte Dalglish. «Hör mal, ich weiß, dass du verzweifelt nach einer Spur suchst. Aber das hier ist sie nicht. Da bin ich sicher. Dein Hammermörder hat noch nie außerhalb von Hackney zugeschlagen.»
Der zweite Kriminalbeamte war entschlossen, sich nicht überzeugen zu lassen.
«Empfangsdamen, Stenotypistinnen, Putzfrauen», sagte er mürrisch, «letzten Endes arbeiten sie alle in Büros. Wir wissen, dass der Motorradbote seine Opfer so auswählt. Er bringt sie um, während er eine Sendung abliefert.»
Er hielt einen Augenblick inne und ergänzte dann: «Also, ich würde Mary Woolnoth immer noch gerne als möglichen Fall haben.»
Dalglish warf Jake einen Blick zu; die zuckte mit den Achseln.
«Sofern mein Mann als Erster für den Mord in Frage kommt, habe ich nichts dagegen», sagte sie. «Und wenn sich irgendetwas Neues ergibt, informiere ich Sie auf alle Fälle.»
Dalglish wandte sich wieder seinem Computer zu. «Also gut», sagte er, «wir sind uns einig. Das ist Nummer …?»
«Sechs», sagte Jake.
«Nummer sechs für den Lippenstiftmann.»
Nach der Sitzung hielt Jake den Beamten, der sie unterstützt hatte, auf, um sich zu bedanken.
«Nichts zu danken, gnädige Frau», sagte er.
«Kriminalinspektor Stanley, nicht wahr?»
Er nickte.
«Entschuldigung», sagte sie, «aber als Leiterin des Dezernats für Frauenmord sollte ich eigentlich über alle Mordserien informiert sein, wenn es sich um Frauen handelt …»
Stanley senkte die Stimme und blickte über die Schulter. «In Wirklichkeit bin ich vom männlichen Morddezernat, gnädige Frau», sagte er. «Ich hätte eigentlich gar nicht dabei sein sollen, aber irgendetwas ist durcheinandergekommen. Aus irgendeinem Grund hat man uns gesagt, es sei ein Mann gefunden worden und nicht eine Frau. Ich suche nach einem Serientäter, der sieben Männer ermordet hat. Ich wollte nur nichts sagen, um mich nicht zu blamieren.»
Jake nickte. Deshalb hatte er sich nicht die Mühe gegeben, die Fotos anzusehen.
«Übrigens kam mir das Ganze recht spannend vor», fügte Stanley hinzu. «Geht es bei den Sitzungen immer so zu?»
«Sie wollen wissen, ob wir uns jedes Mal darum streiten, ob eine Leiche zu diesem oder zu jenem Fall gehört? Nein, meistens nicht. Normalerweise ist alles etwas klarer als heute.»
Beim Sprechen dachte Jake an die Bilder von Mary Woolnoth und an das, was das Skalpell des Gerichtsmediziners ihr angetan hatte. Klarer konnten die Schnittlinien kaum sein. Einen Augenblick spürte sie etwas in der Kehle. Kein Mord konnte je so brutal sein wie das, was auf dem Tisch im Leichenschauhaus geschah. Ein klarer Schnitt vom Kinn zum Becken, dann wurden die inneren Organe aus dem Fleisch gezerrt, wie man bei der Zollabfertigung am Flugplatz einen Koffer durchsucht. Sie unterdrückte ihre Gefühle und stellte eine zweite Frage:
«Ein Serientäter, der sich Männer als Opfer aussucht. Ist das nicht ungewöhnlich?»
Kriminalinspektor Stanley stimmte ihr zu.
«Ich nehme an, wir sprechen vom Lombroso-Mörder?»
Er nickte.
«Ich dachte, Kriminalhauptkommissar Challis leitet in dem Fall die Untersuchung.»
«So ist es», sagte Stanley. «Er hat mich zu dieser Sitzung geschickt. Nur um sicher zu sein, dass es keiner von unseren Fällen ist.»
«Was hat er für einen M.O?»
«Wer? Der Lombroso-Mörder? Ach, nichts besonders Auffälliges. Er schießt immer in den Hinterkopf. Sechsmal. Wie die Mafia. Warum fragen Sie?»
Jake schüttelte den Kopf. «Aus keinem besonderen Grund. Ich war wohl nur neugierig.» Sie sah auf die Uhr. «Ich muss gehen. Ich muss ein Flugzeug erwischen. Und natürlich meinen eigenen Serientäter.»
Ich ziele immer auf den Kopf, und das nicht nur, weil ich sichergehen will. Eher, glaube ich, weil der Kopf – ihr Kopf und meiner – der Ort ist, wo die ganzen Schwierigkeiten angefangen haben – ihre und meine.
Ich glaube nicht, dass sie viel davon spüren. Natürlich kann man das nicht so einfach sagen, aber sie geben fast nie einen Laut von sich. Da kann ich sicher sein, weil die Pistole so leise ist. Sechs Kugeln in sechs Sekunden, und kein größeres Geräusch als ein kurzer Hustenanfall. Das stimmt nicht ganz. Denn es gibt auch noch das charakteristische scharfe Knacken eines erfolgreichen Kopfschusses, ganz anders als das Geräusch, das eine Kugel verursacht, wenn sie ins Ohr trifft. Ich nehme an, das ist eins von den Dingen, die einem gar nicht erst auffallen, wenn man eine konventionelle Pistole benützt. Die sind viel zu laut.
Bei der Arbeit neige ich dazu, auf den Hinterkopf zu feuern. Wenn Sie ein wenig mit dem menschlichen Gehirn und seiner Topologie vertraut sind, werden Sie wissen, dass die Ausgänge der Hirnrinde über eine so große Fläche verteilt sind, dass keine Hirnverletzung, die nicht von einer Dampfwalze stammt, sie vollständig zerstören kann. Es gibt aber eine Menge medizinischer Berichte, die beweisen, dass Verletzungen der vorderen Hirnregion sehr viel häufiger überlebt werden als Verletzungen im hinteren Hirnbereich. Einen Beleg dafür stellen die vielen Boxer dar, die nicht an einem kräftigen Hieb auf die Stirn sterben, sondern daran, dass sie mit dem Hinterkopf im Ring aufprallen. Sie können mir glauben, dass das stimmt. Ich habe viel darüber gelesen, was unter den obwaltenden Umständen ja kaum anders zu erwarten ist. Gesehen habe ich auch einiges davon.
Man kann das menschliche Gehirn mit einem Schachbrett vergleichen. Die Bauern stehen in der vorderen Reihe und die Türme, Läufer, Springer, König und Dame, die sogenannten Figuren, in der achten Reihe am Rand des Bretts. Man könnte also sagen, dass ich die Bauern im großen Ganzen ignoriere und versuche, so viele Figuren wie möglich auszuschalten. Eine Strategie, die gut zu funktionieren scheint. Dennoch hat eines meiner Opfer mehrere Tage im Koma überlebt, bevor es starb. Gegen zerebrale Asymmetrie ist man nun einmal machtlos.
Meistens führe ich die Hinrichtungen nachts durch oder wann sonst es mir meine Arbeitszeit erlaubt. Die Hinrichtung folgt auf eine kurze Überwachungsperiode, in der ich die Identität des Opfers und seine Lebensgewohnheiten feststelle. Dass ich mich im Besitz eines bequemen Fahrzeugs mit Musikanlage und Mikrowelle befinde, reduziert die Unbequemlichkeiten einer derartigen Operation auf ein Mindestmaß.
Es ist erstaunlich, wie regelmäßig die Ortsveränderungen im Leben der meisten Menschen sind. Infolgedessen geht es normalerweise nur darum, meinem auserwählten Opfer ein Stück weit von seiner Wohnung weg zu folgen und es dann an einem geeigneten Ort zu töten.
Aus naheliegenden Gründen vermeide ich es, Wörter wie Verbrechen, Mord oder gar Meuchelmord zu verwenden. Wörter können mehr als eine Bedeutung haben. Die Sprache verbirgt den Gedanken so erfolgreich, dass es unmöglich werden kann, die geistige Tätigkeit zu identifizieren, die den Sprechakt ausgelöst hat. Also werde ich vorläufig nur sagen, dass es sich um Hinrichtungen handelt. Gewiss, sie sind nicht offiziell durch irgendein Gesetz im Sinne des Gesellschaftsvertrags legitimiert. Dennoch kann das Wort ‹Hinrichtung› einiges dazu beitragen, dass das, was nun einmal meine Aufgabe im Leben ist, nicht in herabsetzender Weise beschrieben wird.
Als ich ihm näher kam, merkte ich, dass er etwas größer war, als ich gedacht hatte. Fast zwei Meter groß. Er hatte sich für den Abend noch einmal umgezogen. Aber das allein war es nicht. Er schien im Laufe eines Tages so vielen verschiedenen Modeströmungen zu folgen, dass die Vorstellung verständlich gewesen wäre, er müsse einen oder zwei Brüder haben. Aber sein Gang war charakteristisch, zu charakteristisch, als dass man ihn mit jemand anderem hätte verwechseln können. Er ging ein wenig auf den Zehenspitzen, was ihm einen Anflug von Ruchlosigkeit verlieh, als entferne er sich eilig vom Ort einer schändlichen Tat.
Oder eher, als beeile er sich, eine Schandtat zu begehen, dachte ich damals. Für ihn wie für mich ist es nur eine Zeitfrage, wann das neuronale Netz sich bemerkbar macht. Freiheit beruht auf der Unmöglichkeit, Handlungen vorauszuwissen, die noch in der Zukunft liegen. Aber keiner von uns beiden war wirklich von seinem eigenen Willen bestimmt. Und die Tatsache, dass alles, was ich mir erträumen kann, gerade jetzt geschieht, kann nur so etwas wie ein Geschenk des Schicksals sein. Wenn ich etwas verändern kann, so können es nur die Grenzen der Welt sein, die ich verändern kann, indem ich ihn aus ihr entferne.
Er bog in die High Street ein, und für einen kurzen Moment verlor ich ihn aus den Augen. Was hätte er wohl gesehen, hätte er wie Tam o’Shanter in der Ballade hinter sich geblickt? Nein, das ist viel zu prosaisch. Es ist ja nicht so, dass ich ihm einen Schrecken einjagen oder ihn in die Hölle zerren will. Es geht um etwas, das ohne bösen Willen getan werden muss. Es entspricht nur der Logik. Selbst Gott kann nichts tun, das den Gesetzen der Logik zuwiderläuft; und die Anwendung logischer Methoden verleiht eine gewisse Befriedigung, weil sie Sinn verleiht.
Ich holte ihn ein, als er mit tänzelndem Schritt nach rechts in eine lange gepflasterte Gasse einbog und sich auf die Kneipe zubewegte, in der er üblicherweise mehrere Liter von einem Gebräu zu sich nahm, das er für trinkbar hielt. Aber diesmal führte sie zu dem Moment, der kein Ereignis seines Lebens sein würde und den er nie erfahren sollte.
Als ich die Gasdruckpistole auf seinen Hinterkopf richtete, fühlte sie sich in meiner Hand schwer und mächtig an. Ich verstehe zu wenig von den kinetischen Eigenschaften dieser Waffe, um mehr zu sagen, als dass sie für etwas, das ohne Waffenschein frei über den Ladentisch verkauft werden darf, beachtlich sind. Keine Ähnlichkeit mit dem Luftgewehr, das ich als kleiner Junge hatte.
Zwei Schüsse waren abgefeuert, bevor er auch nur in die Knie ging. Ich wartete, bis er auf dem Boden lag, bevor ich aus nächster Nähe den Rest des Magazins auf ihn abfeuerte. Nicht viel Blut, aber ich wusste sofort, dass der Mann, den das Lombroso-Programm als Charles Dickens identifiziert hatte, tot war. Dann steckte ich die Waffe ins Halfter unter meine Lederjacke und entfernte mich schnell.
Ich habe Dickens nie besonders gemocht. Ich meine den wirklichen Dickens, den größten Romanautor des englischen Sprachraums. Ich würde an jedem Tag der 168-Stunden-Woche Balzac, Stendhal oder Flaubert vorziehen. Aber eigentlich meide ich Romane überhaupt und lese lieber über das Wesen der Welt, über die relative Unwichtigkeit des Einzelfalles und die Möglichkeiten, die er dennoch birgt, über das, was zwischen dem Empirischen und dem Formalen liegt, über die Erklärung von Aussagen. Und darüber findet sich bei Charles Dickens nicht viel. Überhaupt gibt es da nicht viel außer dem Tod der kleinen Nell und Nancys und Dora Copperfields und der beiden Mütter von Pip und Oliver. Es ist recht gefährlich, eine Dickens’sche Frauengestalt zu sein. Aber vielleicht wird jetzt, wo der andere Charles Dickens tot ist, die Welt ein bisschen weniger gefährlich für Frauen. Natürlich werden sie das nie erfahren. Das ist bedauerlich. Aber wovon wir nicht sprechen können, darüber müssen wir schweigen.
Drittes Symposion der Europäischen Gemeinschaft über Methoden des Gesetzesvollzugs und der Verbrechensaufklärung, Herbert-Marcuse-Zentrum, Frankfurt, Großdeutsches Reich. 13. Februar 2013, 13.00 Uhr:
Rednerin: Chefinspektorin Isidora Jakowicz, M.Sc., Städtische Kriminalpolizei London
Mitgliedsland: GB
Vortragstitel: Die Zunahme des Hollywood-Mordes
Es ist ein Samstagabend zu Beginn des Jahrtausends. Die Frau ist im Bett. Kinder gibt es nicht. Sie schalten die Nicamvision ein, setzen die Brille auf die Nase und suchen eine Videokassette aus. Chinesische Fertiggerichte und ein paar Flaschen japanisches Pils haben Sie in genau die richtige Stimmung versetzt. Die nikotinfreien Zigaretten liegen in Reichweite, die Futonkissen unter Ihnen sind weich und bequem, die Zentralheizung arbeitet, und die Luft ist warm und angenehm entionisiert. Was für eine Diskette wollen Sie sich unter diesen erfreulichen Umständen ansehen? Natürlich eine über einen Mordfall. Aber was für eine Art von Mord?
Vor sechzig Jahren hat George Orwell das beschrieben, was vom Standpunkt einer englischen Zeitung aus der «perfekte Mord» wäre. «Der Mörder», schrieb er, «sollte ein kleiner Mann aus dem Mittelstand sein. Er sollte durch eine verbotene Leidenschaft für seine Sekretärin oder die Ehefrau eines Konkurrenten aus dem Mittelstand vom Pfad der Tugend gelockt werden, und er sollte sich erst nach langen und schweren Gewissenskämpfen zum Mord entschließen. Nachdem er sich zum Mord entschlossen hat, sollte er das Verbrechen äußerst gerissen planen und über eine winzige unvorhergesehene Kleinigkeit stolpern. Die Mordwaffe, zu der er greift, sollte natürlich Gift sein.»
Orwell, der vom Niedergang dieses, des klassischen englischen Mords sprach, wies auf den Fall eines gewissen Karl Hulten hin, eines amerikanischen Deserteurs, der, von den falschen Werten der amerikanischen Filmindustrie inspiriert, mutwillig einen Taxifahrer ermordete und dabei acht Pfund – den Gegenwert von EG-$ 3,00 – erbeutete.
Dass dieser Mord – man sprach vom Mörder mit der Kinnspalte – zum meistdiskutierten Mord der letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs wurde und dass er von einem Amerikaner begangen wurde, verursachte dem auf seltsame Weise patriotischen Orwell einiges Unbehagen. Für ihn ließ sich Hultens «sinnloses» Verbrechen in keiner Hinsicht mit dem typischen englischen Mord messen, «dem Produkt einer stabilen Gesellschaft, deren allgegenwärtige Scheinheiligkeit zumindest dafür sorgte, dass ein so schweres Verbrechen, wie es Mord ist, von starken Gefühlen getragen wurde».
Heute dagegen sind Verbrechen, wie sie Hulten beging, erbärmliche, schmutzige und weitgehend gefühllose Taten, verhältnismäßig häufig. «Gute Morde», wie sie der Leser der News of the World zu Orwells Zeit genießen konnte, werden weiterhin begangen. Aber das große Publikum bringt ihnen im Vergleich zu dem anscheinend motivlosen Mord, der inzwischen zum Normalfall geworden ist, wenig Interesse entgegen.
Heutzutage werden Menschen mit kalter Routine und oft ohne ersichtlichen Grund ermordet. Gut fünfzig Jahre nach Orwells Tod ist die Gesellschaft einer wahren Epidemie von Freizeitmorden ausgesetzt, den Taten eines Mördertyps, der anscheinend noch sinnloser zuschlägt als der verhältnismäßig unschuldige Karl Hulten. Hätte sich der Fall heute zugetragen, wäre er einer Lokalzeitung kaum mehr als ein paar Zeilen wert. Im Jahre 2013 mag es uns unverständlich erscheinen, dass der Fall Hulten, wie Orwell berichtet, zur «bedeutendsten cause célèbre der Kriegsjahre» wurde.
Vor diesem Hintergrund kann man, so wie es damals Orwell getan hat, das konstruieren, was für den heutigen Leser der News of the World ein «guter Mord» wäre. Er könnte uns auf die Videokassette verweisen, die er sich Samstagabend angesehen hat. Der Mörder wäre dann ein unzureichend angepasster junger Mann, der mitten unter seinen ahnungslosen potenziellen Opfern irgendwo in den Vorstädten lebt. Irgendeine Verfehlung seiner Mutter sollte unseren erwählten Mörder auf die schiefe Bahn gebracht haben, sodass klar feststeht, dass die wahre Schuld für die Morde bei einer Frau liegt. Wenn er sich einmal zum Mord entschlossen hat, sollte sich der Täter nicht auf ein Tötungsdelikt beschränken, sondern so viele Opfer wie möglich liquidieren. Seine Vorgehensweise sollte extrem gewalttätig und sadistisch sein und wenn möglich eine sexuelle, rituelle oder vielleicht sogar kannibalistische Komponente enthalten. Die Mordopfer sollten meist attraktive Frauen sein und den Tod finden, während sie sich ausziehen, duschen, masturbieren oder Sexualverkehr ausüben. Nur vor diesem Hintergrund, einem Hintergrund im Hollywoodstil, kann ein Mord die dramatischen, ja sogar tragischen Aspekte annehmen, die ihn heutzutage bemerkens- und erinnernswert machen.
Nicht von ungefähr weist ein beachtlicher Teil der Morde, die im modernen Europa verübt werden, Elemente dieser Hollywoodstimmung auf.
Eines der traditionellen Motive des Hollywood-Mords – und hier komme ich zum eigentlichen Thema meines Vortrags – stellen die maskulinen Bindungen dar, die häufig zwischen männlichen Angehörigen der Vollzugsbehörden und ihrer mörderischen Jagdbeute entstehen. Gerade da diese Konferenz hier in Frankfurt im Herbert-Marcuse-Zentrum stattfindet, sollten wir auf das zurückgreifen, was die Frankfurter Schule und Marcuse selbst über derartige Verhaltensmuster gesagt haben.
Für Marcuse wurde die eindimensionale patriarchalische Gesellschaft durch das charakterisiert, was er die «Vereinheitlichung der Gegensätze» nannte: eine Vereinheitlichung, die sozialen Wandel auf der intellektuellen Ebene durch die Abschließung des Bewusstseins unter männlichen und damit eindimensionalen Aspekten verhindert. Die historisch nachweisbare Dominanz männlichen Personals im Polizeidienst ist nur ein Aspekt dieser monolithisch homogenen Weltanschauung. Bis vor verhältnismäßig kurzer Zeit verließ man sich bei der Ermittlung in Mordfällen normalerweise wenig oder überhaupt nicht auf spezifisch weibliche Fähigkeiten.
Verhaltenswissenschaftler und Psychologen berichten, dass der Hormonhaushalt zweifellos eine größere Rolle bei der Ausbildung männlicher und weiblicher Charakteristika im Gehirn spielt. Während beispielsweise Männer eher räumlich in Begriffen wie Entfernung und Messung denken, neigen Frauen dazu, sich an Landmarken und Wendepunkten zu orientieren. Frauen können sich erheblich besser als Männer auf ihre unmittelbare Umgebung konzentrieren, was ihnen in der Detailbeobachtung unter Umständen eine echte Überlegenheit gegenüber Männern verleiht. Infolgedessen sollte der Nutzen weiblichen Personals bei der Verbrechensaufklärung als offensichtlich betrachtet werden, insbesondere da, wo wie beim Mord im Hollywoodstil eine Vielzahl gerichtlich verwertbaren Materials vorliegt. Auch andere spezifisch weibliche Qualitäten wie Gewaltlosigkeit, Einfühlungsvermögen und Aufnahmebereitschaft können unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit für die Verbrechensaufklärung erwähnt werden.
In den frühen neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnten Kriminologen auf der Grundlage computerunterstützter Analysen von polizeilichen Ermittlungen bei Serienmorden im zwanzigsten Jahrhundert feststellen, dass diejenigen Ermittlungen, an denen Frauen in gehobener Stellung teilgenommen hatten, eine wesentlich höhere Erfolgsrate aufwiesen als Ermittlergruppen, denen keine weiblichen Kriminalbeamten höheren Ranges angehörten.
Auf diese Untersuchung hin legte ein Sonderausschuss des Innenministeriums dem Polizeipräsidenten von London, Sir MacDonald McDuff, eine Reihe von Empfehlungen vor, durch die die Mitwirkung weiblicher Polizeibeamter an allen Ermittlungen in schweren Fällen, besonders aber beim Frauenmord im Hollywoodstil, verstärkt werden sollte. Vor fünf Jahren sind diese Empfehlungen angenommen worden, sodass heute ein weiblicher Beamter mindestens im Rang eines Kriminalsekretärs verantwortlich leitend tätig werden muss, was einen verbesserten, zweidimensionalen Zugang zum Untersuchungsvorgang schafft.
Die Erfolge sprechen für sich. In den Achtzigern, als es noch keine derartigen Richtlinien gab und Frauen weniger als 2 Prozent des leitenden Ermittlungspersonals bei Morden im Hollywoodstil ausmachten, kam es nur in 46 Prozent aller Fälle zu einer Verhaftung. In den späten Neunzigern und im ersten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts, als eine Quotenregelung in Kraft war und 44 Prozent des leitenden Ermittlungspersonals in Frauenmordfällen dieses Typs weibliche Kriminalbeamte waren, kam es in 73 Prozent aller Fälle zur Verhaftung.
Natürlich hat in den vergangenen zehn Jahren auch eine wesentliche Verbesserung der Technologie auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung stattgefunden, was eine teilweise Erklärung für diesen dramatischen Anstieg der Erfolgsquote britischer Morduntersuchungen bietet. Eine wichtige Rolle spielt hier die Einführung von Personalausweisen mit Strichkodierung und genetischem Fingerabdruck im gesamten Gebiet der EG. Aber selbst wenn man derartige Entwicklungen statistisch nicht einbezieht, scheint es wahrscheinlich, dass die experimentelle Einführung von geschlechtsorientierten Richtlinien bei polizeilichen Ermittlungen in Großbritannien für eine Gesamtzunahme erfolgreicher Verhaftungen von mindestens 20 Prozent verantwortlich war.
Vermutlich messen Sie den Erfolg der geschlechtsorientierten Richtlinien an der Tatsache, dass nur 44 Prozent des leitenden Polizeipersonals Frauen sind. Vielleicht fragen Sie sich, warum eigentlich nicht 100 Prozent? Nun, der neue zweidimensionale Zugang zur Verbrechensbekämpfung ist durch die geringe Anzahl von Frauen in höheren Diensträngen behindert worden. Zu meiner Freude kann ich allerdings berichten, dass sich diese Situation infolge von Rekrutierungskampagnen unter den Frauen Großbritanniens, neuen Besoldungsordnungen, Bereitstellung von Kindergartenplätzen und verbesserten Aufstiegsmöglichkeiten im Wandel befindet. Es besteht die Hoffnung, dass in der näheren Zukunft eine Polizeibeamtin im Range eines Kriminalsekretärs oder in höherem Rang an allen Ermittlungen in Fällen von Frauenmord im Hollywoodstil teilnehmen wird.
So stellt sich die Lage von der Kommandobrücke aus dar. Meine eigenen Erfahrungen habe ich im Wesentlichen an Deck gesammelt. George Orwell hat neun Fälle aufgezählt, die seinen Kriterien für einen klassischen Mord gerecht wurden und sich den Anfechtungen der Zeit gewachsen erwiesen haben. Zufälligerweise habe ich bisher mit neun Morduntersuchungen zu tun gehabt. Ich bezweifle, dass auch nur eine davon etwas so Mythologischem wie den Anfechtungen der Zeit gewachsen sein wird. Ich hoffe im Gegenteil darauf, dass sie ihnen nicht gewachsen sein werden. Aber einen Fall möchte ich Ihnen als Beispiel für die Zweidimensionalität der Ermittlung schildern, von der ich gesprochen habe.
Auf den ersten Blick hatten wir es mit einem einigermaßen typischen Fall von Frauenmord im Hollywoodstil zu tun. Ein Geisteskranker versetzte die Frauen einer Universitätsstadt im Süden Englands in Furcht und Schrecken. In acht Monaten hatte er ebenso viele Frauen umgebracht. Sein modus operandi sah folgendermaßen aus: Er schlug sein Opfer bewusstlos, schleppte es an einen abgeschiedenen ruhigen Ort, erwürgte es dann und befriedigte sich in seinem leblosen Mund. Das auffälligste Merkmal des Falles, das ihn in gewisser Hinsicht von anderen, üblicheren Fällen von Freizeitmorden unterschied, bestand darin, dass er zuletzt immer zwei Batterien in die Vagina der toten Frau schob.
Männliche Kollegen, die an dem Fall arbeiteten, entwickelten eine typisch phallokratische Einstellung zu dieser Verhaltensauffälligkeit. Das ging deutlich aus dem Spitznamen hervor, den sie dem Mörder gaben: Herr Immerbereit. Mit pornographischer Literatur vertraut, in der regelmäßig Fremdkörper als Penisersatz in die Vagina einer Frau eingeführt werden, erblickten die männlichen Kollegen wenig besonders Bedeutsames in den zwei Trockenzellen-Alkalibatterien. Und außer ein paar Routinenachfragen bei den Elektrohändlern der Stadt unternahmen sie keinen wirklichen Versuch, dieses auffälligste Merkmal in der Vorgehensweise des Täters zu verstehen. Es herrschte sogar stillschweigendes Einverständnis darüber, dass die Batterien jeweils leer waren. Der Hintergedanke zu diesem Einverständnis war die Annahme, dass niemand eine funktionsfähige Batterie an die Vagina einer toten Frau verschwenden würde.
Die Ersten, die daran dachten, zu überprüfen, ob es sich um neue oder alte Batterien handelte, waren weibliche Ermittlungsbeamte, die an dem Fall arbeiteten. Später stellte sich übrigens heraus, dass sie jeweils extra für den Mord gekauft worden waren. Unsere Theorie, die sich nach der Verhaftung des Mörders bestätigen sollte, besagte weiterhin, dass die Einführung der Batterien in die Vagina der Toten nichts Phallisches an sich hatte, sondern dass der Mörder, der der Frau zur Erreichung seiner sexuellen Ziele das Leben geraubt hatte, anschließend versuchte, ihr wieder neues Leben zu schenken, ihr, wie man das bei einem tragbaren Plattenspieler tun würde, mit Hilfe einer frischen Stromquelle neue Energie zuzuführen.
Ein weiterer auffälliger Zug des Falles, der wiederum die Zweidimensionalität weiblicher Untersuchungen bei Serienmorden an Frauen illustriert, lag in der Bedeutung der Tatzeit, zu der alle Opfer ermordet wurden. Es geschah immer nachts zwischen 22.30 Uhr und 23.30 Uhr.
Ich werde gleich auf diese Tatsache zurückkommen. Aber lassen Sie mich zunächst auf den Anfang der Ermittlungen eingehen, als routinemäßig die Namen aller Sexualtäter der letzten zwölf Monate in der Gegend im Computer aufgerufen wurden. Polizeibeamte befragten die Männer, um ihr Alibi zu überprüfen. (Ich sollte ergänzend erwähnen, dass der Fall sich vor der Aufnahme genetischer Fingerabdrücke in die Personalausweise ereignete.) Besonders einer der Befragten, ein neunundzwanzigjähriger Mann, der in dem Park, in dem später eines der Mordopfer aufgefunden wurde, versucht hatte, eine Frau zu vergewaltigen, erregte die Aufmerksamkeit des männlichen Beamten, der die Ermittlungen leitete. Inzwischen führte ich gemeinsam mit einem weiteren Beamten zusätzliche Ermittlungen unter den wegen Sexualdelikten auffällig gewordenen Männern der Gegend durch.
Bei der Befragung eines zweiundvierzigjährigen Junggesellen namens David Boysfield, der wegen exhibitionistischer Handlungen in einem Kaufhaus vorbestraft war, fielen mir mehrere Exemplare einer bestimmten Nummer einer Frauenzeitschrift auf. Vielleicht ist es bedeutsam, dass mein männlicher Kollege sie nicht bemerkte. Nicht dass Sie meinen, ich hätte etwas dagegen, wenn Männer Frauenzeitschriften lesen. Aber ich wurde neugierig und wollte ein wenig mehr über Boysfield wissen. Und als ich seine Strafakte nachlas, stellte sich heraus, dass seine unzüchtige Zurschaustellung in der Elektroabteilung des Kaufhauses stattgefunden hatte. Noch interessanter war die Aussage eines Zeugen, aus der hervorzugehen schien, dass Boysfield sich nicht vor dem weiblichen Verkaufspersonal, sondern vor einer Anzahl von Fernsehschirmen entblößt hatte.
Jetzt war ich wirklich neugierig, und bei Durchsicht der alten Programmhefte der Fernsehgesellschaft stellte ich fest, dass am Tattag etwa zu der Zeit, zu der sich Boysfield im Laden aufhielt, eine Sendung mit der bekannten Nachrichtensprecherin Anna Kreisler ausgestrahlt worden war. Bei der Sendung war es darum gegangen, Geldspenden für wohltätige Zwecke einzusammeln, und an einem Punkt des Programms hatte sich Anna Kreisler auf eine telefonische Spendenzusage in Höhe von einer Million EG-Dollar hin nackt ausgezogen. Anna Kreisler war auch auf dem Titelbild der Zeitschrift zu sehen, die ich in Boysfields Wohnung entdeckt hatte. Genauere Nachprüfungen ergaben, dass sie an jedem Abend, an dem der Mörder zugeschlagen hatte, die Zehnuhrnachrichten verlesen hatte.
Ich ließ einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung des Verdächtigen ausstellen und fand eine Anzahl pornographischer Magazine, in denen ausgeschnittene Bilder von Frau Kreislers Gesicht auf die nackten Rümpfe anderer Frauen aufgeklebt waren. Ich fand auch eine persönliche Videokassette, die Boysfield benutzt hatte, um seine hausgemachten Pornofilme anzusehen, in die Aufnahmen von Frau Kreisler beim Verlesen der Nachrichten eingeblendet waren, außerdem eine Sexpuppe mit Frau Kreislers vom Fernsehapparat aufgenommener Stimme und einer batteriebetriebenen saugfähigen Vagina. Sowohl der Videorecorder als auch die Puppe waren mit Batterien der gleichen Marke ausgerüstet, die im Körper aller acht Mordopfer gefunden worden waren. Boysfield war offenbar das, was man, in Ermangelung einer besseren Bezeichnung, einen Maschinenbesessenen nennen kann. Seine Wohnung war voll von elektrischen Geräten jeder nur denkbaren Art, vom elektrischen Flaschenöffner bis hin zur elektrischen Kleiderbürste und einem elektrischen Fischausnehmmesser. Es war klar, dass in Boysfields von Geräten beherrschter Welt Frauen auf den Status elektrisch betriebener Haushaltsgeräte reduziert waren.
Die gerichtsmedizinische DNS-Identifizierung ergab bei Boysfield Polymorphismen der Restriktionsfragmentlänge, die mit denjenigen des Mörders identisch waren. Er hat später gestanden, dass er alle acht Frauen getötet hatte, nachdem er Anna Kreisler beim Verlesen der Fernsehnachrichten gesehen hatte. Von ihr besessen, hatte er sich längere Zeit selbst befriedigt, indem er sich vor dem Gesicht von Anna Kreisler auf seinem hochauflösenden Fernsehschirm entblößt hatte. Er hatte Phantasievorstellungen, in denen er oral mit ihr verkehrte, und als er sich nach einiger Zeit nicht mehr zurückhalten konnte und anfing, Frauen zu überfallen, versuchte er, in den Mund seiner Opfer zu ejakulieren. Boysfield entging der Verurteilung zum Strafkoma, weil die Einführung der Batterien in die Vagina seiner Opfer als Beweis dafür gewertet wurde, dass er nicht die Absicht gehabt haben könne, sie endgültig ums Leben zu bringen. Er wurde auf unbestimmte Zeit in eine Heilanstalt für gemeingefährliche Geisteskranke eingewiesen.
Natürlich wirkt sich Zweidimensionalität in beiden Richtungen aus. Für den Fall, dass einige von Ihnen den Eindruck gewonnen haben sollten, ich hielte nicht allzu viel von meinen männlichen Kollegen, möchte ich eines sagen: Erst vor ein paar Wochen hat mich in einer Situation, die ich vollkommen falsch beurteilt hatte, nur die schnelle Reaktion eines männlichen Kollegen vor dem Tod oder einer schweren Verletzung gerettet. Übrigens war es der gleiche Kollege, der mich in Boysfields Wohnung begleitet und dort die Frauenzeitschriften übersehen hatte.
Ich habe vorhin das Auftreten von Hollywood-Morden als eine Art von Epidemie bezeichnet. Das war keine Übertreibung. Die Statistiken des Europäischen Kriminalamts beweisen, dass die Zahl sexuell motivierter Serienmorde in der EG dramatisch zugenommen hat; seit 1950 um mehr als 700 Prozent. Im vergangenen Jahr haben in der Gemeinschaft schätzungsweise 4000 derartige Morde stattgefunden, das sind 20 Prozent der Tötungsdelikte in Europa. Nicht nur dies, sondern das EK nimmt auch an, dass sich derzeit mindestens 25, möglicherweise aber bis zu 90 aktive Mörder dieses Typs in der EG aufhalten.
Man spricht heute noch von Peter Sutcliffe, dem Yorkshire Ripper, der in den siebziger Jahren dreizehn Frauen getötet hat, und von Jack the Ripper, der sechs ermordet hat. Aber da draußen gibt es jetzt Leute, die zwanzig, dreißig oder noch mehr Menschen umbringen. Und solange die Opfer weiterhin überwiegend weiblich sind, steht es Frauen überall auf der Welt nicht an, die Versuche, dem ein Ende zu setzen, allein den Männern zu überlassen.
Von den übrigen siebzehn Mitgliedstaaten der Gemeinschaft machen nur Dänemark, Schweden, Holland und Deutschland Anstalten, das britische Modell der zweidimensionalen Frauenmordermittlung zu übernehmen. Den übrigen Mitgliedstaaten, deren Polizeikräfte weiterhin entschieden patriarchalisch, um nicht zu sagen machistisch bleiben, habe ich nur eins zu sagen: Wenn Sie Frauen nicht für alle Zukunft als potenzielle Opfer einstufen wollen, müssen Sie ihnen gestatten, die Unterwerfungsrollen aufzugeben, in die sie historisch gezwungen wurden, sodass sie gemeinsam mit den Männern zu Hütern der zukünftigen Gesundheit unserer Gesellschaft werden können. Ich danke Ihnen.
Jake beendete ihren Vortrag, und das Publikum applaudierte höflich. Sie bedankte sich nicht länger für den Applaus, als es angemessene Bescheidenheit erlaubt, verließ das Podium und kehrte an ihren Platz zurück. Der Tagungsvorsitzende, ein fetter deutscher Bürokrat, der den Versuch machte, mit Hilfe eines teuren rosa Anzugs einen Teil seiner Körpermasse zu verbergen, trat wieder ans Mikrophon.
«Thank you, Chief Inspector», sagte er auf Englisch. Ein paar Frauen im Publikum, die Jakes Feminismus begeistert hatte, spendeten noch eine weitere Minute Applaus, was den Vorsitzenden zwang, eine Pause einzulegen, bevor er hinzufügen konnte: «Das war höchst informativ.»
«Das war es wirklich», sagte Mark Woodford, als sie ihren Platz neben ihm wieder einnahm. «Stellenweise vielleicht etwas harsch, aber ich nehme an, bei dem Thema war das zu erwarten.» Er ließ den Blick etwas ungewiss über das Publikum schweifen und sagte leise lachend: «Es war wohl sogar angebracht.»
«Wie bitte?»
Woodfords glatte englische Züge nahmen einen verschlagenen Ausdruck an, als er die Hände vor der Brust kreuzte und zum Mosaik der Deckenkuppel aufblickte. Es hatte ein wenig Ähnlichkeit mit einer frühchristlichen Basilika, nur dass es sich um ein Werk der Moderne handelte und Persönlichkeiten der Frankfurter Geschichte darstellte: Karl der Große, Goethe, die Rothschilds und Marcuse versammelten sich in ungewisser Komposition vor einem himmelblauen Hintergrund, als warteten sie darauf, dass Gott erscheine und seinen Richtspruch spreche.
Jake betrachtete Woodfords leicht dekadentes Adlerprofil. Hat er nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem König?, fragte sie sich.
«Es ist erfreulich, wenn man den Franzosen, den Italienern und den Spaniern zeigen kann, dass sie in irgendeinem Punkt hinter uns herhinken», murmelte er. «Patriarchalisch, um nicht zu sagen machistisch. Doch, das hat mir gefallen.» Er neigte den Kopf und versuchte, aus dem Augenwinkel einen Blick auf seine Staatssekretärin zu werfen.
«Und jetzt ist die Staatssekretärin dran. Das klingt vielversprechend, meinen Sie nicht?» Er zeigte auf den Vortragstitel, wie ihn das Programm auf seinen Knien aufführte. «‹Vergeltung: Ein Thema für das neue Jahrhundert.› Das sollte ihnen imponieren.»
Jake nickte schweigend. Sie hielt nicht viel von den alttestamentarischen Auffassungen der Staatssekretärin, wo es um Schuld und Sühne ging. Genauso wenig hielt sie vom Privatsekretär der Staatssekretärin.
Woodford warf einen Blick auf den leeren Platz neben sich. Inzwischen nahm die Staatssekretärin, eine gutaussehende Schwarze in elegant geschnittenem violettem Kostüm, ihren Platz am Mikrophon neben dem Vorsitzenden ein. In ihrer teuren pastellfarbenen Kleidung sahen sie aus wie zwei exotische Ziervögel.
«Wenn Gilmour nicht aufpasst, wird er den Vortrag verpassen», bemerkte Woodford.
Jake lehnte sich in ihrem Sessel vor und warf einen Blick über Woodfords kaum vorhandenen Bauch hinweg. Sie hatte noch gar nicht gemerkt, dass Gilmour nicht an seinem Platz war.
«Wo ist er?», fragte sie.
PC