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Titel

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ISBN 978-3-7751-7171-7 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5489-5 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2013
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

Copyright © 2013, Focus on the Family, Colorado Springs, CO 80995 U.S.A. All Rights Reserved.
International Copyright Secured. Originally published in English under the title, Castaway Kid.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Übersetzung: Doris C. Leisering
Redaktionelle Mitarbeit an der gekürzten Ausgabe: Anja Schäfer
Umschlaggestaltung: joussenkarliczek.de
Titelbild: Inkje Drescher, Wolfenbüttel
Satz: Satz & Medien Wieser,
Bilder im Innenteil: R. B. Mitchell





Für alle Einsamen, die sich selbst verletzt haben oder durch die Misshandlung oder Gleichgültigkeit anderer verletzt wurden – und für alle, die nicht aufhören zu beten und Hoffnung ins Dunkel bringen wollen.

Inhalt

Danksagung

Ist diese Geschichte wahr?

1 Verlassen

2 Bei den kleinen Jungen

3 Wie ein Wirbelsturm

4 Anders

5 Entführt

6 Die Ärzte

7 Gigis Geschenk

8 Die Entscheidung

9 Atlanta

10 Darf ich bleiben?

11 Warum?

12 Geld verdienen

13 Wiedersehen

14 Männer und Vorbilder

15 Der Rebell

16 Rettungsschwimmer

17 Bist du wahr?

18 Neustart

19 Zuhause

20 Offenbarung

21 Vergeben?

22 Pauline

23 Mein Vater

24 Meine Mutter

25 Jungen wie ich

26 Susan

27 Die Beziehung

28 Getrennt

29 Angst vor Familie

30 Der Kreis schließt sich

Nachwort

Zum Weiterlesen

Über den Autor

Danksagung

Mein Dank geht an:

Gott, der mich weiter führt, als ich mir vorstellen kann, wenn ich auf ihn höre.

Susan, meine Frau und Gefährtin – noch größer als deine äußere Schönheit ist deine kluge, einfühlsame und liebevolle innere Schönheit, die mir auf unserer gemeinsamen Reise immer wieder Kraft gibt.

Alicia und Luke – euer Vater zu sein, ist die größte Freude meines Lebens.

Paul – erst nur Gast, jetzt ein Bruder.

Meine Crew aus Rockford: Art, Paul, Marge und »die Girls«.

Joe und Mary Davis (bereits verstorben) – Susans Eltern und wunderbare Schwiegereltern.

Ein Dankeschön auch an alle Leute aus Princeton, die nicht in diesem Buch erwähnt sind, sich aber ebenfalls um mich bemüht haben: Carol, Colleen, George, Helen, John, Ralph und Tim sowie die Swansons und die Malms.

Aus dem College: Die Eds, Barbie, David, Doug, Gerry, Jimmy, John, Kate und die New-Garden-Jugendgruppe.

Die Missionare Ruth und Brad Hill und Jan und Bob Thornbloom. Mbote!

Die Männer, die mich immer wieder an meine Verantwortung erinnern: Barry, Jay, Pete und Steve.

Die Männer von CBMC, besonders Pat O'Neal.

Die Cathys von Chick-fil-A und ihre Organisation für gefährdete Kinder, WinShape.

Die Mitglieder von Kiwanis, die sich um gefährdete Kinder kümmern und mich einladen, ihnen dabei zu helfen.

Die Red Pen Partners von Massachusetts.

Dotty Hoots und ihre Studenten in der Abschlussklasse 2004 der Wesleyan Academy – die Besten.

Phil Downer von DNA Ministries und unseren Kumpel Ken Walker, für die Ermutigung.

Ronda, Ruth und Vivien, die alles am Laufen halten.

Nanci und John, die mich bei Focus on the Family betreuen.

Und Barbara Winslow Robidoux, mein Schreibcoach und inzwischen eine gute Freundin.

Ist diese Geschichte wahr?

Dieses Buch ist ein Buch der Hoffnung. Bei all dem Aufruhr in letzter Zeit über Memoiren voller zweifelhafter »Fakten« ist die Frage berechtigt, ob dies wirklich eine wahre Geschichte ist.

Als ich Anfang der 1990er-Jahre bei einer Spendenveranstaltung für das Covenant Children's Home einen Vortrag hielt, erfuhr ich vom Direktor, dass ich, da ich nie in Obhut des Staates gewesen war, vollen Zugriff auf meine Fürsorgeakten hatte. Ich kopierte etliche Dokumente für meine Unterlagen und dachte dabei oft: Solltest du jemals ein Buch schreiben, werden die Leute glauben, du hättest dir das alles nur ausgedacht.

Aber alles ist so passiert. Nicht nur ich habe mir die Ereignisse so gründlich wie möglich in Erinnerung gerufen, sondern sie sind auch in den Notizen meiner Sozialarbeiter, in protokollierten Gesprächen und im Tagebuch meiner Großmutter Gigi dokumentiert.

Damit die anderen Kinder aus dem Waisenhaus ihre eigene Geschichte erzählen können, wem und wann sie wollen, werden sie hier nicht erwähnt – nur einen nenne ich mit ausdrücklicher Erlaubnis. Kein Name in diesem Buch ist erfunden, einige sind aber Spitznamen.

Manche haben mir schon gesagt, dass ich mich ungewöhnlich präzise an die Dinge erinnern kann. Natürlich hat kein Mensch ein perfektes Gedächtnis, aber die Dialoge geben den Kern der jeweiligen Situation wieder und sind so wortgetreu wie möglich erzählt. Alle noch lebenden Erwachsenen, die beteiligt waren und die ich erreichen konnte, haben meine Beschreibung der Ereignisse bestätigt.

Ja, diese Geschichte der Hoffnung ist wahr. Weitere Einzelheiten finden sich auf der englischsprachigen Website www.amillionlittleproofs.com.

 





Nicht die Umstände machen einen Menschen aus,
sondern sein Charakter.


Booker T. Washington
Pädagoge und ehemaliger Sklave

 

Kopf 1 Verlassen








Die Erinnerungen an meine frühe Kindheit sind größtenteils dunkel und undeutlich. Aber ein Bild habe ich deutlich vor Augen. Die Angst hat es unauslöschlich in mein dreijähriges Gehirn gebrannt: Mutter und ich stehen vor einem großen Gebäude. Hohe Schneehaufen säumen den Gehweg. »Komm schon, Robby«, sagt sie und zerrt mich die Stufen zur Eingangstür hinauf. »Sie warten auf uns.«

Bald darauf übernachten wir in einem fremden Zimmer. Ich weiß nicht, warum. Als ich nachts aufwache, höre ich unheimliche Geräusche und Schatten und beginne zu wimmern. Meine Mutter ermahnt mich, still zu sein.

Wir erwachen von einem lauten Glockenschlag. Die Sonne scheint und die furchterregenden Schatten sind verschwunden. Die ungewohnten Laute der letzten Nacht weichen dem Lärm rennender Füße und Gelächter.

Wir frühstücken in einem großen Raum voller Kinder, aber sie scheinen uns nicht zu bemerken. Als wir fertig sind, bringt Mutter mich nach oben. Eine namenlose Dame in einem langen dunklen Kleid empfängt uns. »Geh dort hinüber und spiel ein bisschen«, sagt sie und deutet auf eine Ecke, wo ein Junge Bauklötze aufeinanderstapelt.

Ich bewege mich nicht.

»Tu, was sie sagt, Robby!«, befiehlt Mutter.

Ich klammere mich ans Bein meiner Mutter. Sie windet sich aus meiner Hand, packt mich am Arm und zerrt mich zur Spielecke. Sie lässt mich so auf den Boden plumpsen, dass ich den Jungen anblicke und mit dem Rücken zu ihr sitze. Ich will einen Bauklotz nehmen, aber der Junge greift ihn sich schneller. Als er das ganze Spielzeug zu sich hinschiebt, drehe ich mich um und will mich beschweren.

Nur die fremde Dame steht noch da. Meine Mutter ist weg.

»Mami musste ins Krankenhaus, Robby«, sagt die Frau. »Sie ist mit dem Zug zurück nach Chicago gefahren. Sie wird dich wieder besuchen, wenn es ihr besser geht.«

Ihr Mund bewegt sich weiter, aber ich nehme ihre Worte nicht mehr wahr. Als mir endlich klar wird, dass meine Mutter mich verlassen hat, fange ich an zu weinen.

»Hör auf damit, Robby«, befiehlt die Frau. »Spiel weiter.«

»Ich will zu Mami!«, schreie ich. »Ich will zu Papi, ich will zu Oma Gigi, ich will nach Hause!« Meine Schreie gehen in lautem Schluchzen unter und ich renne zur Tür. Ich versuche sie zu öffnen, aber die Türklinke lässt sich nicht bewegen.

»Hör auf zu weinen, Robby, oder ich versohle dir den Hintern!«, warnt mich die Frau.

»Ich will nach Hause! Ich will nach Hause!«, heule ich, werfe mich zu Boden und strample mit den Füßen.

Mein Wutanfall überschreitet die Grenzen ihrer Geduld. Sie reißt mich vom Boden hoch und schlägt mir immer wieder auf den Po. Schließlich beiße ich die Zähne zusammen, damit die Schreie nicht mehr herauskommen. Sie hört auf, aber ich schniefe immer weiter.

Die anderen Kinder ignorieren mich.

Am nächsten Morgen wache ich in einem nassen Bett auf. Die Frau schimpft. Nach dem Frühstück bezieht sie die Matratze mit einem braunen Gummilaken und legt ein weiteres braunes Gummilaken dazu. Den ganzen Vormittag muss ich zwischen diesen beiden Laken liegen bleiben. Sie sind sehr warm und quietschen, wenn ich mich bewege.

»Pipi-Baby«, grölen einige Jungen. »Der Neue ist ein Pipi-Baby!« Ich schäme mich, habe aber zu viel Angst, um etwas zu sagen.

Die quietschenden braunen Gummilaken stempeln mich als schlechten Jungen ab, ich bin anders.

Anders als die anderen Jungen an dem Ort, an dem Mutter mich zurückgelassen hat.

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In den folgenden Wochen und Monaten hörte ich nichts mehr von meiner Mutter. Aber Oma Gigi meldete sich! Ich weiß nicht, wie oder wann sie herausfand, wo ich war, aber sobald sie es wusste, kam sie jeden Samstag mit dem Zug aus Chicago und besuchte mich in der kleinen ländlichen Stadt Princeton in Illinois.

Gigi war über sechzig, geschieden und arm. Sie wohnte allein in einer winzigen Wohnung und arbeitete im großen Marshall Field's-Kaufhaus im Stadtzentrum. Meine Mutter, Joyce Mitchell, war ihr einziges Kind und ich war Gigis einziges Enkelkind.

Mich zu besuchen, war nicht leicht für sie. Sie musste dafür ihre Wohnung im Norden der Stadt frühmorgens verlassen, vier Straßen weiter zur Howard Street laufen und den Bus zum Howard-Bahnhof nehmen. Von dort fuhr sie mit der Hochbahn nach Belmont, stieg dort in eine andere Bahn und lief mehrere Straßen weit zur Union Station. Von dort fuhr sie noch einmal zwei Stunden nach Princeton. Kam sie um zehn Uhr morgens dort an, musste sie bis zum Covenant-Kinderheim noch einmal eine lange Strecke laufen.

Wenn sie mich endlich sah, kniete sie sich hin und wartete darauf, dass ich ihr entgegenrannte. Irgendwie schaffte sie es, auf den Beinen zu bleiben, wenn ich mich in ihre Arme warf. Sie umarmte mich fest – und roch dabei so gut. Immer sah sie aus wie eine Dame – ein schlichtes, aber schmeichelhaftes Kleid umspielte ihre mittelgroße Figur, und sie trug Ohrringe, eine Halskette, Nylonstrümpfe, hohe Schuhe und einen Hut, unter dessen Rand kurze dunkle Locken hervorlugten.

»Was hast du Neues gelernt, seit ich das letzte Mal hier war?«, fragte sie immer. Ich erzählte ihr dann alles, was mir einfiel. Danach zog ich sie stolz zum Spielplatz, um ihr mein neuestes Kunststück vorzuführen. Ich strahlte, wenn sie andere Jungen mit »Hallo« begrüßte und mit Namen anredete. Wir Heimkinder fühlten uns als etwas Besonderes, wenn jemand sich daran erinnerte, wer wir waren.

Mittags besuchten wir immer ein kleines Restaurant in der Nähe. Sie bestellte sich einen Kaffee, aß aber selten etwas. Sie ließ mich in die Speisekarte schauen und sagte dann: »Wie wär's mit einem Hamburger und einem schönen Glas Milch? Und zum Nachtisch essen wir Eis.« Das klang gut für mich.

Aber es war immer viel zu schnell zwei Uhr nachmittags. Gigi musste sich verabschieden, um den Drei-Uhr-Zug zurück in die Stadt zu erreichen.

»Gigi, nimm mich mit«, bettelte ich jedes Mal. »Bitte, Gigi, bitte nimm mich mit!«

Dann kniete sie sich immer mit Tränen in den Augen vor mich hin und sagte: »Robby, Schatz, du bist mein lieber Enkelsohn. Es tut mir leid, dass ich dich nicht zu mir holen kann. Es tut mir leid, dass deine Eltern zu krank sind, als dass du bei ihnen bleiben kannst. Halte meine Liebe ganz fest in deinem Herzen. Sie wird immer bei dir sein.«

Ich verstand nicht, was sie meinte. Ich wusste nur, dass ich jeden Samstag, wenn sie bei mir war, von Liebe erfüllt war. Wenn sie ging, fühlte ich mich leer und allein.

Jedes Mal stand ich vor der Eingangstür des Kinderheims, wenn sie ging. Mit verschränkten Armen, die Hände fest in die Achselhöhlen gepresst, wiegte ich mich leicht von links nach rechts.

Warum nimmst du mich nicht mit nach Hause?, rief ich ihr in Gedanken nach. Ich werde brav sein, Gigi. Ich versprech's. Ich werde nicht viel essen! Bitte, bitte lass mich nicht hier!

Schließlich verschwand sie aus meinem tränenverschleierten Blick. Und der Einzige, der noch da war, um mich zu umarmen, war ... ich selbst.

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Der zwei Jahre alte Robby umarmt seine Mutter, Joyce Mitchell (April 1957). Sechs Monate später versucht sein Vater Robert (re.), sich das Leben zu nehmen.

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Großmutter Gigi mit dem zweieinhalb Jahre alten Robby

 

Kopf 2 Bei den kleinen Jungen








Ich weiß nicht genau, wie viele Monate vergingen, bevor das Bettnässen aufhörte, aber die Gummilaken verschwanden, kurz bevor Nola kam. Unsere neue Gruppenleiterin war neunundzwanzig Jahre alt, nicht verheiratet und eine geradlinige Frau mit strahlendem Lächeln und funkelnden Augen.

Sie trug fast immer lange, einfarbige Kleider oder eine Bluse und Dreiviertelhosen, eine Hornbrille im Stil der Fünfziger-Jahre und keinen Schmuck. Ihr welliges dunkles Haar war kurz geschnitten. Wenn man sie nach dem Grund dafür fragte, lachte sie: »Ich hab keine Zeit, mich mit meinen Haaren und einem Dutzend Jungs herumzuschlagen!«

Ich war völlig hingerissen von ihr!

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Nola, Hausmutter im Kleine-Jungen-Schlafraum, trifft ein Jahr nach Robby ein.

Nola lachte viel und umarmte gern. Sie zog uns den Hosenboden stramm, wenn es nötig war, aber nur, wenn es einen guten Grund dafür gab, und nie lieblos. Die Wärme, die sie ausstrahlte, half, einen Teil meiner inneren Leere zu füllen.

So konnte ich mich darauf konzentrieren, meine neue Umgebung kennenzulernen.

Das Covenant-Kinderheim befand sich am nordöstlichen Rand von Princeton. Auf der einen Seite lagen Mais- und Sojafelder, auf der anderen war offenes Weideland.

Das Hauptgebäude beherbergte die Schlafsäle, die Personalbüros, einen Speisesaal und eine Besucherlounge. Daneben gab es noch ein kleineres Gebäude mit einer Wäscherei in der oberen und einem Heizungsraum in der unteren Etage. Etwas abseits lagen noch eine Scheune, ein Hühnerstall und Gemüsegärten.

In sicherem Abstand von der Straße hatten wir einen riesigen Spielplatz mit hohen Schaukeln, einem Karussell, Rutschen, einem Basketball- und einem Baseballfeld. Mich faszinierte vor allem das riesige, feuerrote Klettergerüst mit Ringen, Reck, Kletterstangen und großen Leitern. Aber ich traute mich noch nicht, so hoch zu klettern.

Wir waren in vier Gruppen unterteilt: kleine und große Jungen und kleine und große Mädchen.

Auf der zweiten Etage des kleineren Gebäudes waren die großen Jungen untergebracht, die kleinen Jungen bewohnten die zweite Etage und die Mädchen teilten sich die dritte Etage im Hauptgebäude.

In unserer Gruppe waren wir acht bis sechzehn Jungen unter zehn Jahren. Nola wohnte bei uns auf der Etage und hatte ein kleines privates Schlaf- und Badezimmer.

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Das schwedische Covenant-Kinderheim in Princeton, Illinois, wie es damals aussah. Im Hauptgebäude gab es Schlafsäle, Personalbüros, einen Speisesaal und eine Halle für Besucher.

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Zwölf Bewohner des Kleine-Jungen-Schlafraums sitzen bei einem Imbiss zusammen. Robby ist gerade vier Jahre alt und ganz links zu sehen.

Unser Waschraum hatte nichts Privates. Von allem gab es zwei Exemplare und alles war weiß: die Holzkabinen, die Toiletten, die Bodenfliesen, die Badewannen und die niedrigen Kinderwaschbecken.

Wir hatten ein großes Wohnzimmer mit einem robusten Teppichboden, zwei strapazierfähigen Sofas, ein paar abgewetzten Stühlen und zwei großen Tischen, an denen wir unsere Hausaufgaben erledigten, malten und spielten. Der braune Fernseher war größer als ich und hatte eine Zimmerantenne, mit der wir die wenigen damals verfügbaren Fernsehsender empfangen konnten.

In unseren vier Schlafzimmern standen schwarze Eisenbetten, in einem Zimmer drei, in den anderen beiden jeweils vier.

Eine Kommode aus Eichenholz mit mehreren Schubladen vervollständigte in jedem Zimmer die Einrichtung. Jedes Kind hatte eine Schublade. Sie wurden je nach Größe zugeteilt. Da ich mit drei Jahren der Kleinste war, bekam ich die unterste Schublade.

Die Schubladen waren, wie ich bald merkte, für geheime Schätze reserviert. Wer in die Schublade eines anderen Jungen auch nur hineinspähte, wurde von den anderen windelweich geprügelt. In meiner Schublade lagen hauptsächlich hübsche Steine und Federn, die ich auf dem Spielplatz fand. Wenigstens einmal am Tag schaute ich sie mir an, nur um sicher zu sein, dass sie noch da waren. Manche Kinder öffneten ihre Schublade nie.

Da die Kinder häufig kamen und gingen, war kaum Zeit, um Freundschaften zu schließen. Manche blieben nur für ein oder zwei Tage, andere ein paar Monate oder auch länger. Am Anfang waren die Kinder oft wütend, verwirrt und frustriert. Teil einer großen Gruppe zu sein, half uns kaum. Wir lebten zwar mit vielen anderen zusammen, aber jeder von uns fühlte sich allein.

Das Personal musste mit unserer großen Bandbreite an Hintergründen und Gefühlen klarkommen. Damit einigermaßen Ordnung herrschte, wurden strenge Regeln durchgesetzt, und es gab einen festen Tagesablauf.

Wir durften morgens zum Beispiel nicht aufstehen, bis eine Glocke läutete. Wir durften uns hinsetzen, uns unterhalten, unsere Beine über die Bettkante baumeln lassen – aber wir durften auf keinen Fall einen Fuß auf den Boden setzen. Wenn Nola an unserem Zimmer vorbeilief und auch nur einen Zeh auf dem Boden sah, bekamen wir Schwierigkeiten.

Die Glocke läutete um exakt sieben Uhr. Wir sprangen alle gleichzeitig auf, machten unsere Betten, wie Nola es uns beigebracht hatte, und rannten ins Badezimmer, wo die meisten erst einmal zappelnd vor den wenigen Klos warten mussten. Wir putzten uns die Zähne, wuschen uns die Gesichter – zu zweit oder zu mehreren am Waschbecken – und zogen uns dann eilig an. Es war eine wilde Szene, wenn acht bis sechszehn Jungen gleichzeitig in den Umkleideraum stürmten und ihre Mühe hatten, die Sachen anzuziehen, die Nola schon vor jeden Spind gelegt hatte.

Unsere Spinde hatten keine Türen, nur hölzerne Seitenwände, die in die Wand eingebaut und in einer Farbe gestrichen waren, die mich an Erbsensuppe erinnerte. Sie waren so breit und tief, dass wir hineinklettern und uns hinter der Kleidung verstecken konnten. Unter dem Spind war noch Platz für ein oder zwei Paar Schuhe. Da viele Kinder nur mit den Sachen, die sie am Leib trugen, zu uns kamen, hing nur wenig eigene Kleidung darin.

Wir hatten fast nur gebrauchte Kleidung, manchmal bekamen wir Geschenke von Bekleidungsgeschäften oder Kirchengruppen. Die Hosen passten uns nur selten, also trugen wir meistens Hosenträger. Zu lange Hosenbeine krempelte Nola einfach hoch.

Wenn wir morgens endlich angezogen waren, stellten wir uns mit Schubsen und Drängeln, wie eine bunt zusammengewürfelte Armee in einer Reihe hinter Nola auf und marschierten die Treppe hinunter in den Speisesaal zum Frühstück – das gab es immer um halb acht. Das Essen im Kinderheim war eine reine Pflichtveranstaltung. Die meisten schaufelten das Essen schnell in sich hinein. Aus Gründen, die uns nie erklärt wurden, mussten wir aber mindestens zehn Minuten lang am Tisch sitzen bleiben.

Nach dem Frühstück wurden die Highschool-Schüler in einem hässlichen gelben Bus mit dem peinlichen Schriftzug COVENANT CHILDREN'S HOME (Covenant-Kinderheim) an der Seite nach Princeton gefahren. Die Grundschule lag nur zwei Straßen weiter und die jüngeren Kinder wurden zu Fuß hin- und zurückgebracht.

Ich war das jüngste Kind, das seit Langem aufgenommen worden war, und daher meist der Einzige, der noch nicht zur Schule ging.

Ich fand es herrlich, Nola für mich allein zu haben. Wie ein hüpfendes blondes Hündchen folgte ich ihr überall hin und half ihr, schmutzige Kleidung für die Wäscherei zu sortieren. Sie steckte einige Kleidungsstücke in einen Kissenbezug und ich trug oder zog ihn dann stolz die Treppe hinunter, zur Tür hinaus, über den Basketballplatz und eine weitere Treppe hinauf zur Wäscherei mit den großen Waschmaschinen und Trocknern.

Dort setzte mich Nola auf einen Tisch, wo ich zusehen konnte, wie das Wäschereipersonal Kleidung und Bettwäsche für die sechzig Kinder und Angestellten wusch. Frauen aus der Covenant-Kirche arbeiteten hier ehrenamtlich; sie nannten sich selbst die »Covy«-Frauen. Ich sah zu, wie sie mit beiden Armen heiße Kleidung und Bettwäsche aus den Trocknern zogen und dann Wäschekörbe auf Rädern beluden und sie zu langen Tischen fuhren, wo alles sortiert und zusammengelegt wurde.

Die Gruppenleiter kümmerten sich sonst nicht um die Wäsche, aber Nola bestand darauf, unsere Sonntagshemden zu bügeln. Wenn andere Mitarbeiter fragten, warum Nola das nicht eine »Wäschedame« tun ließ, antwortete sie schlicht: »Es macht mir nichts aus. Einige der Jungen sind allergisch gegen Stärke und andere mögen viel davon, also gebe ich jedem, was er mag. Es ist kein Aufwand, und sie brauchen ein paar Besonderheiten in ihrem kleinen Leben.«

Wenn die Wäschedamen gute Laune hatten und die meiste Arbeit getan war, wartete ich, bis Nola nicht hinsah – und tauchte dann kopfüber in einen Korb mit frischer, warmer Bettwäsche.

»Wo bist du, Robby?«, fragte sie dann mit gespielter Verwunderung. »Wo bist du hin? Ach, Menschenskind, wo ist dieser Junge bloß hin?« Sie wühlte aus Show in der Bettwäsche und der ganze Berg wackelte, wenn ich versuchte, mein Kichern zu unterdrücken.

Schließlich packte sie mich an den Knöcheln und zog mich kopfüber hinaus. Dabei quietschte ich wie ein glückliches Ferkel. »Da bist du ja, kleiner Mann«, rief sie vergnügt. »Ich dachte schon, ich finde dich nie!«

Wenn die anderen Jungen aus der Schule kamen, gehörte Nola mir nicht länger allein. Sie polterten herein, ließen ihre Bücher fallen und setzten sich mit Keksen und Saft an den Tisch. Während Nola Schulaufgaben und Mitteilungen von den Lehrern kontrollierte, spielten die Jungen oder machten ihre Aufgaben. Meist tadelte sie ein oder zwei Kinder, die sich mit einem Lehrer angelegt oder sich auf dem Schulhof geprügelt hatten.

Um siebzehn Uhr wuschen wir uns Gesicht und Hände und marschierten wieder in den Speisesaal. Ungefähr sechzig Kinder und sechs Erwachsene standen auf den schwarzen und roten Linoleumquadraten und beteten vor jeder Mahlzeit: »Alle guten Gaben und alles, was wir haben, kommt, o Gott, von dir, wir danken dir dafür. Amen.« Unser Singsang verriet, wie oft wir diesen Satz schon gesprochen hatten.

Darauf folgten Lärm und Durcheinander. Jungen stießen sich gegenseitig in die Rippen oder schnitten den Mädchen Grimassen. Ich schaffte es gerade, meinen schweren Eichenstuhl so weit vom Tisch zurückzuschieben, dass ich hinaufklettern konnte, aber weil ich zu klein war, um meinen Stuhl an den Tisch heranzurücken, musste ich frustriert und beschämt warten, bis Nola herüberkam. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich groß genug war, um meinen Stuhl selbst heranrücken zu können – oder, besser noch, um wie die großen Jungen ein Bein über die Stuhllehne zu schwingen und mich fallen zu lassen wie ein Cowboy, der aufs Pferd steigt.

Nach dem Abendessen setzte sich die Routine fort. Die älteren Jungen erledigten in ihren Zimmern ihre Hausaufgaben, während Nola uns Jüngere bettfertig machte. Mittwoch- und samstagabends mussten wir baden. Wir murrten; zweimal in der Woche war uns mindestens einmal zu viel.

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Im Speisesaal des Heims; Robby sitzt vorne rechts.

Aber Meckern half nicht, Nola blieb hart. Es gab nur zwei Wannen und sie versuchte, sechs von uns sauber zu bekommen, bevor sie das Wasser wechselte. Das hieß, dass immer zwei von uns in eine Wanne kamen. Das erste Paar wurde sauber, das zweite Paar wurde ein bisschen Schmutz los und das dritte Paar hatte einfach seinen Spaß.

Spätestens um neunzehn Uhr steckten wir in unseren Schlafanzügen und Nola sammelte uns im Wohnzimmer um sich wie eine Henne ihre Küken. Es war Zeit für die biblische Geschichte.

Nola setzte sich mitten auf die schwere Eichencouch in der Ecke, legte den Arm um mich und die Jüngsten setzten sich neben sie. Die Älteren setzten sich im Schneidersitz auf den Boden oder streckten sich auf dem Bauch aus. Nola verlangte ungeteilte Aufmerksamkeit – niemand durfte reden oder andere ablenken. Ich wusste nicht viel von der Bibel, aber ich wusste, dass dies eine besondere Zeit war.

Dann ging es ab ins Bett. Nola kniete sich an jedes Bett, flüsterte ein Gebet, das nur der jeweilige Junge hören konnte, gab ihm einen Gutenachtkuss und sagte ihm, dass sie ihn lieb hatte.

Als ich einmal aufwachte und über den Flur zur Toilette tappte, stand die Tür zu Nolas kleinem Zimmer offen. Ich hörte undeutlich, wie sie betete. Dabei nannte sie die Namen von verschiedenen Jungen. Als ich zurücktappte, rief sie: »Spül die Toilette, Robby!« Ich habe nie kapiert, wie sie jeden von uns am Gang erkennen konnte.

Als ich zum zweiten Mal an ihrer Tür vorbeikam, blieb ich stehen und klopfte an.

Nola öffnete in ihrem schlichten rosafarbenen Bademantel die Tür. »Ja?«, fragte sie.

»Wofür betest'n du?«, fragte ich. »Dass wir uns benehmen?«

»Nein, Robby«, antwortete sie ernst. »Ich bete darum, dass Gott mir hilft, an jedem von euch etwas zum Liebhaben zu sehen.«

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Bevor mir eine Antwort einfiel, hob sie mich hoch und drückte mich fest. Als sie mich zurück ins Bett trug, flüsterte sie mir grinsend ins Ohr: »Aber du könntest ein extra Gebet brauchen, damit du dich benimmst!«

Als es wieder Winter wurde, setzte Gigi ihre wöchentlichen Besuche fort. An Nolas fürsorglicher Aufmerksamkeit mangelte es nie. Aber die Einsamkeit blieb.

Ich wusste wenig über »normale« Kinder, aber ich sehnte mich danach, das Kinderheim verlassen zu dürfen und ein eigenes Zuhause und eine eigene Familie zu haben.

Aus einem Jahr wurden zwei. Noch immer hörte ich nichts von Mutter; inzwischen war sie kaum mehr als eine Erinnerung. Doch dann veränderte sich die Lage plötzlich. Die Frau, die mich bei Fremden gelassen hatte, war wieder da und brachte wirbelsturmartig Chaos in mein Leben.

 

Kopf 3 Wie ein Wirbelsturm








Beinahe zwei Jahre waren vergangen, seit meine Mutter mich verlassen hatte. Ich war fünf. Eines Tages brachte mich Nola ohne Erklärung hinunter ins Besucherzimmer. Dort stand meine Mutter.

Ich rannte zu ihr und schlang die Arme um ihr Bein. Ich gehe nach Hause, sagte ich mir. Mami ist aus dem Krankenhaus zurück und ist hier, um mich nach Hause zu holen. Ich gehe nach Hause!

»Hallo Robby«, sagte sie ungerührt. »Wie geht es dir?«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.

Sie kniete sich nicht hin und umarmte mich wie Gigi, also packte ich sie bei der Hand. »Komm mit zum Spielplatz wie Gigi, Mami. Ich zeig dir alle Kunststücke, die ich auf der Schaukel und am Klettergerüst gelernt habe.«

»Das ist nicht wichtig, Robby!«, sagte sie kalt. »Wir haben Wichtigeres, über das wir reden müssen.«

Ich fühlte mich wie ein Hündchen, dem man gerade einen Tritt versetzt hatte. Ich ließ ihre Hand los und den Kopf hängen und schwieg.

»Wir gehen in der Stadt mittagessen«, erklärte meine Mutter. Sie packte mich an der Hand und ging zur Tür. Weil ich nicht so schnell laufen konnte wie sie, zerrte sie mich vorwärts.