2011
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
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Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Umschlagfoto: Fotolia.com – Bobo Ling
ISBN 9783954621163
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
Elise war nicht gekommen. Ich wusste nicht, woher ich die Hoffnung nahm, dass sie es tun würde. Schließlich hatte sie in den letzten Wochen einiges durchmachen müssen, und da war auch noch Maria, der sie meine Wiederkehr erklären musste. Dennoch hatte ich es insgeheim gehofft. Sie selbst ahnte wahrscheinlich gar nicht, welche Kraft sie mir in diesem Prozess geben konnte. Jetzt aber war ich allein. Und das in diesem Saal, dessen Ansicht mich schon frösteln ließ. Gerichtssäle und Gerichtsgebäude strahlen diese unnahbare, nur in Paragraphen und Formeln zu fassende Kälte aus. Ihr Aussehen ist monoton, ja geradezu steril und nicht einmal das Auge wird einen Platz finden, wo es eine Weile bleiben kann.
Der Saal im Berliner Landgericht in Moabit war bis auf den letzten Platz gefüllt. Selbst meine früheren Kollegen hatten sich eingefunden, aus Neugier oder, wie ich richtig vermutete, um einen schönen Bericht über das Monster Robert Sterner zu schreiben. Ich sah schon die Schlagzeilen. Vom Schöngeist zum Serienkiller oder Perfektion eines Totgeglaubten.
Hollberg und Francke saßen in einer der vorderen Reihen. Francke redete unablässig auf Hollberg ein, der kein glückliches Gesicht hinterließ. Vielleicht, weil ihm die Zigarren fehlten.
Auch Winters Frau war gekommen. Sie saß in einem dunklen Kostüm, die Haare streng nach hinten gekämmt, in einer der ersten Reihen. Von ihrer Art des Auftritts hatte sie heute gar nichts mit Elena, meiner früheren Freundin, zu tun, eher wirkte sie steif und unnahbar. Für mich war es merkwürdig, sie hier zu sehen, sie die eigentlich mein Opfer werden sollte, wurde jetzt zu meiner Anklägerin.
Ich fühlte mich verraten und verlassen. Trebor war in all den Wochen der Voruntersuchungen und Ermittlungen nicht mehr aufgetaucht. Es gab ihn nicht, behaupteten die Kommissare und wirklich, weder ein Bild, eine Fußspur, einen Fingerabdruck oder gar eine Zeugenaussage waren von ihm zu sichern. Nicht einmal in der Waldhütte, in der wir über Wochen gemeinsam lebten, essen, tranken, schliefen, war auch nur die geringste Spur seiner Existenz, und sei es nur ein Haar, zu finden.
Und dieses Gefühl verlassen zu sein, nahm zu, weil ich spürte, dass nicht einmal der von mir ausgesuchte Verteidiger auf meiner Seite war. Er ließ keinen Zweifel an seinem Glauben, dass ich mir die Trebor-Geschichte nur einredete, um von meiner eigenen Schuld abzulenken. Verminderte Schuldfähigkeit hätte am Ende seines Plädoyers gestanden, sodass ich ihm enttäuscht kündigte und es vorzog, mich selbst zu verteidigen. Doch das Gesetz sieht in diesem Fall einen Pflichtverteidiger vor, mit dem ich zwangsläufig vorliebnehmen musste. Er war es, der mir noch vor Beginn der Verhandlung, einen Brief von Maria zusteckte.
Ich mach es nicht gern, hatte er gesagt. Aber das Mädchen hat darauf bestanden.
Was ist es?, fragte ich.
Ich weiß nicht.
Und Elise, die Mutter?
Er hob die Schultern.
Der Staatsanwalt verlas die Anklage. Ich hörte nicht zu. Dreifacher Mord, so hieß es. Mir war es egal, ob drei-, fünf- oder sogar zehnfach. Das Urteil würde hoch genug ausfallen, es sei denn, ich konnte unter den denkbar ungünstigsten Voraussetzungen meine Unschuld beweisen. Aber daran glaubte ich selbst nicht einmal. Obwohl ich davon überzeugt bin, dass es eine ewige Gerechtigkeit gibt, spürte ich, wie mir in diesen Tagen mein Anteil an dieser Gerechtigkeit unter den Fingern wegzuschmelzen begann.
Der Staatsanwalt, ein Mann mittleren Alters, wirkte überaus korrekt. Seine Sprache war klar und geschliffen und schien sein Aussehen nur zu vervollkommnen. Sein dunkelblondes Haar trug er nach hinten gekämmt, sodass es dank der reichlich aufgetragenen Pomade an einem kantigen Kopf klebte.
Ich öffnete mit zitternden Händen Marias Brief, erwartungsvoll aber auch ängstlich. Doch statt eines mit Kinderhand geschriebenen Textes oder eines gemalten Kinderbildes, wie sie mir unzählige in der Vergangenheit gemalt hatte, fielen Kraniche aus dem Umschlag. Kraniche!
Sechs Kraniche, sie hatte sie ordentlich zusammengefaltet und in das Kuvert gesteckt. Jetzt sollten sie mir helfen und jene Kraft geben, die auch dem König zuteilwurde, um seine Tochter aus dem bösen Zauberwald zu befreien. Ich starrte gerührt auf das Kuvert, nahm die Kraniche behutsam aus dem Umschlag und faltete sie auf. Dann roch ich an ihnen, weil ich mich nach dem Geruch von Marias Kinderzimmer sehnte und hoffte, dass mich dieser Duft für Sekunden aus dem nach Bohnerwachs und Aktendeckeln riechenden Saal entführen würde. Den Ausführungen des Staatsanwaltes, der wild gestikulierend zum Finale seines Vortrages schritt, folgte ich nicht mehr. Den Kranichen gehörte meine ganze Aufmerksamkeit, sie stellte ich in einer Reihe vor mir auf den Tisch.
Der Staatsanwalt beendete irritiert sein Plädoyer.
Noch bevor mein Verteidiger, ein junger, wie mir schien unerfahrener Mann, etwas sagen konnte, bat ich ums Wort. Nervös schob ich die Kraniche auf dem Tisch hin und her. Sie sollten mir Kraft geben, aber ich hatte das Gefühl, dass sie meine letzte Kraft aus mir saugten. Ich war es nicht, begann ich meine Rede unbeholfen. Nein, ich war es wirklich nicht. Da endete ich schon und starrte wie benommen auf die Kraniche.
Wer bitte, fragte der Staatsanwalt, sollte es dann gewesen sein?
Eine Antwort musste ich nicht geben. Der Richter unterbrach die Frage. Erzählen Sie mal, sagte er in einem gutmütigen Ton und schaute, indem er das Kinn an die Brust legte, freundlich über seine Brille. Er war ein stämmiger älterer Herr, dessen Bauch die Richterrobe wölbte. Sein breites Gesicht war faltig und die Glatze von einem Kranz grauer Härchen begrenzt.
Ja, antwortete ich und begann die Geschichte vom Anfang an zu erzählen. Auf die einzelnen Vorwürfe ging ich nicht ein, sondern beschränkte mich auf das von mir selbst Erlebte und das, was in meiner Erinnerung trotz der sich überschlagenden Ereignisse geblieben war. Gespannt lauschten die Zuhörer. Der Staatsanwalt machte ein zufriedenes Gesicht, war die Geschichte doch die Bestätigung seiner Darstellungen, nur, dass meine Ereigniskette immer kurz vor den Morden abbrach.
Warum brechen Sie Ihre Darstellungen kurz vorher ab?, fragte der Richter und überließ, weil ich beteuerte, nicht mehr zu wissen dem Staatsanwalt das Wort.
Ich werde Ihnen sagen, wie es weitergeht, antwortete der Staatsanwalt mit ernster Miene und hob triumphierend ein abgegriffenes Notizbuch in die Höhe. Unruhe ergriff den Saal. Laut und deutlich und mit einer gewissen theatralischen Betonung begann er, die betreffenden Passagen aus meinem alten Tagebuch vorzulesen. Ich wusste nicht, woher er mein Tagebuch hatte, aber ich konnte mich an die Eintragungen so genau erinnern, als hätte ich sie erst gestern vorgenommen. Schon als Kind hatte ich mir gewünscht, dass der Schlächter einmal so enden möge wie eines seiner Opfer. Und genau dies hatte ich detailgerecht und mit viel schmückendem Beiwerk beschrieben.
Der Staatsanwalt endete, indem er die letzten Sätze noch einmal genüsslich wiederholte: Das Blut des Mörders würde auf den Rand der Schüssel tropfen. Gerechtigkeit, denke ich, denn er wird nie mehr töten.
Ja, ich hatte dies als Kind so aufgeschrieben, denn mein Hass war grenzenlos und ich selbst nur in der Lage, ihn in meiner ganzen Hilflosigkeit meinem Tagebuch anzuvertrauen. Aber war das ein Beweis oder gar ein Geständnis?
Hören Sie auf, schrie ich, das sind doch alles alte Aufzeichnungen. Mein Verteidiger versuchte mich zu beruhigen.
Der Richter ließ den Staatsanwalt gewähren.
Ja, sagte der Staatsanwalt mit ernster Miene, er hat es uns schwarz auf weiß gegeben. Wieder hob er triumphierend das Beweisstück. Ein Tuscheln und Raunen durchlief den Gerichtssaal. Mit dem Buch in der Hand kam er auf mich zu.
Ich sprang wütend auf, aber brachte kein Wort über die Lippen.
Vielleicht sollten Sie, wenn Sie das nächste Mal untertauchen, auch die Beweisstücke verschwinden lassen. So prima Geständnisse hatten wir selten.
Geständnisse?, fragte ich, noch bevor mein Verteidiger seinen Einspruch reklamieren konnte. Doch auch der war erfolglos.
Ja, Sie haben ganz zu unserer Freude ordentlich Tagebücher geführt. Schon als Kind haben Sie gehofft, dass der Schlächter einmal wie seine Opfer sterben werde. Und von dem Direktor, naja, ich weiß nicht, wie viel Hass in einem jungen Menschen sein muss, der so etwas schreibt.
Die alten Tagebuchaufzeichnungen sind doch nicht ernst zu nehmen, verteidigte ich mich.
Warum, bitte schön, nicht?, fragte der Richter und nahm jetzt die Brille ab.
Mein Verteidiger erhob sich: Vielleicht ist das, was man schreibt, auch das, was man in bestimmten Momenten denkt und fühlt. Aber es ist noch lange kein Beweis dafür, dass man es auch tut!
Nein, man muss es nicht tun, sagte der Staatsanwalt. Aber genauso, wie der Angeklagte es beschrieben hat, sind die Morde passiert. Glauben Sie wirklich, der Mörder hätte sich in die Wohnung des Angeklagten oder in die seiner Lebensgefährtin geschlichen, die alten Tagebücher gelesen und nach den Anweisungen gehandelt? Nein, das wäre schon mehr als ein Märchen.
Ich musste jetzt an meine frühere Vermutung denken, dass es Winter war, der bei Elise meine Tagebücher fand und deshalb per Regieanweisung jene Morde beging, um mich zu erpressen. Jetzt aber war er tot und schon deshalb war diese Vorstellung wenig glaubhaft.
Ich kann es auch jemanden erzählt haben!, sagte ich trotzig, obwohl ich wusste, dass sie mir die Geschichte von Trebor auch jetzt nicht glauben würden. Aber ihm hatte ich mich anvertraut, er wusste um meine Geschichte, meine Freuden und Qualen, und er kannte meine geheimsten Wünsche und Sehnsüchte. Es gab kein Geheimnis, das ich vor ihm gehütet hätte, denn er war Beichtvater, Seelsorger, Freund und Helfer in einem. Ihm erlaubte ich in meinem Leben wie in einem Buch zu blättern. Was er auch immer wissen wollte, ich vertraute es ihm an, denn das war der Preis für meinen Neuanfang, für meine Rückkehr in jenes Leben, dem ich mich eigentlich schon ganz entzogen hatte. Ich fand, es war kein hoher Preis, um meine Seele für das Leben zu retten und um den viel beschworenen Frieden mit mir selbst zu schließen. Immerhin gewann das Leben wieder einen Wert, und dass ich jetzt für dieses Leben kämpfte, war der beste Beweis für die damalige Entscheidung. Hatte ich ahnen können, dass Trebor meine Geschichte, aber vor allem meine Gefühle, mein Sehnen und Hoffen, so missbrauchte? Zugegeben, ich war schwach genug, ihm alles anzuvertrauen, aber welcher Mensch hängt sich nicht in einer Situation wie der meinen an jeden Strohhalm freundschaftlicher Zuneigung und verstehender Nähe?
Und dieser Unbekannte hat Ihnen dann den Gefallen getan, die Menschen umzubringen, fragte der Staatsanwalt und hob die Stimme. Glauben Sie wirklich, ein Gericht der Welt würde Ihnen diese Geschichte abnehmen?
Ich schüttelte den Kopf.
Na bitte, sagte der Staatsanwalt befriedigt und begab sich wieder auf seinen Platz.
Wie erklären Sie sich dann die Morde?, fragte jetzt der Richter.
Trebor, war es, sagte ich leise. Ich habe ihm alles erzählt.
Können Sie den Namen bitte zu Protokoll geben, unterbrach der Staatsanwalt und lehnte sich auf seinem Stuhl genüsslich nach hinten.
Trebor, wiederholte ich. Ich kann mich sogar erinnern, er war im Dorf meiner Großeltern! Als wir nach unserem Besuch beim Schlächter in der Scheune übernachteten, erwachte ich nachts. Und ich war allein! Verstehen Sie, er war nicht da! Erst habe ich mich gewundert, aber doch die Zusammenhänge nicht verstanden. Trebor musste noch einmal aufgebrochen sein an das Ende des Dorfes, er wusste doch, was er zu tun hatte!
Und so war es dann auch beim Direktor Krause, fragte der Richter in einer Art, die ein deutliches Misstrauen erkennen ließ.
Ja, so ungefähr, antwortete ich, schließlich war Trebor nach unserem gemeinsamen Besuch dort, tagelang verschwunden. Eine Erklärung, wo er sei, erhielt ich nie.
Und Sie haben sich keine Gedanken gemacht? Schließlich verbrachten Sie einige Wochen mit dem mysteriösen Herrn.
Nein, warum sollte ich, er war doch immer sehr eigen. Und woher sollte ich denn vermuten, dass Trebor seine Abwesenheit zum Morden nutzte?
Gut, gut, unterbrach der Richter unwillig und leicht gereizt. Kommen wir zurück zu diesem Herrn, den Sie Trebor nennen. Was ist das für ein Name? Haben Sie keine anderen Angaben?
Ich schüttelte den Kopf. Was sollte ich auch noch erzählen, ich wusste doch nicht, wie Trebor wirklich hieß. Trebor, den Namen hatte ich ihm gegeben, weil er selbst keinen Wert auf Namen legte. Ich ahnte jetzt warum. Auch kannte ich weder sein Alter noch seinen Geburtsort.
Der Richter schob, nachdem er über die Brille hinweg einen kurzen Blick mit den Kriminalbeamten Hollberg und Francke gewechselt hatte, diese wieder vor die Augen und gab dem Staatsanwalt das Wort.
Und Sie meinen, dieser Mister X hat die Arbeit für Sie getan, fuhr der Staatsanwalt mit energischer Stimme fort.
Trebor beneidete mich um meine Motive, sagte ich. Ich hatte welche, er hatte keine.
Er hat für Sie gemordet?, fragte der Staatsanwalt und sah auf die unruhige Menschenmenge im Saal.
Nein, nicht für mich, er mordete für sich und er nahm meine Motive. Ich sah dem Staatsanwalt an, dass er mich nicht verstand.
Sie haben ihm die Motive gegeben?
Wenn Sie so wollen, ja, antwortete ich und spürte die Unruhe im Saal.
Aber was hat Ihnen denn so ein armer Schlucker wie der Schlächter getan, fragte er wieder.
Nichts, sagte ich. Ich sah den Schlächter, diese armselige Gestalt in dem Bett liegen. Und Sie werden es mir nicht glauben, ich hatte Mitleid mit ihm.
Mitleid?, fragte der Richter und stützte mit der rechten Hand seinen großen Kopf.
Ja, Mitleid, ich musste ihn weder töten, noch etwas anderes antun, so oft ich es mir als Kind auch gewünscht hatte. Aber das genau, dieses Mitleid erregte Trebor. Er verstand es nicht, wie ich für jemanden, dessen Tod ich einst wünschte, nun Mitleid haben konnte. Für ihn war der Hass eine normale Kategorie unseres Seins, der Antrieb unseres Denkens. Kein Tag würde ohne ihn vergehen, keine Stunde, kein Moment, in dem er sich nicht hinter einer der üblichen Gebärden und wohlwollend erscheinenden Reden verbergen würde. Ein riesiger Etikettenschwindel bewegt die Menschen, sagte Trebor, die in Wahrheit nur für sich und gegen alles andere sein müssen. Menschen, so war er überzeugt, sind immer Ich, niemals Wir. Ihr Denken und Fühlen hätte gar keinen Platz für den Nächsten, der durch Hass und Verachtung, Abneigung, Vergeltung, Rache, ja Schmerz und wenn ich ihn jetzt richtig verstehe, sogar durch den Tod überwunden werden musste.
Wieder entstand einige Unruhe im Saal.
So also denkt Trebor, sagte der Staatsanwalt in einem überheblichen Ton. Aber wo, bitte, soll er sein, Ihr Weltgeist, der das Leben so verachtet und offenbar genauso gut formulieren kann, wie Sie selbst? Hat er etwa keine Fußspuren und keine Fingerabdrücke?
Ich hob hilflos die Schultern.
Warum, so fragte der Richter, bringen Sie nicht einen Beweis für seine Existenz auf? Das würde die Sache für Sie grundsätzlich ändern, aber so haben wir von allen Tatorten immer nur Ihre Spuren.
Ich weiß, sagte ich, aber wie soll ich Ihnen das Gegenteil beweisen, wenn Sie doch schon alles nach seinen Spuren abgesucht haben?
Zeugen, antwortete der Richter, so einfach. Gab es denn wirklich keinen einzigen Menschen, der Sie beide gesehen hat?
Ich überlegte lange, obwohl mir der unruhige Blick meines Verteidigers nicht entging. Ich selbst war es, der die gemeinsamen Orte verließ, um in die Stadt zu fahren oder einkaufen ging, weil Trebor stets menschenscheu, jeden Kontakt zur Außenwelt ablehnte. Er verkroch sich am liebsten in der Waldhütte oder in dem verlassenen Bahnhof, und ich hatte das Gefühl, dass selbst meine Anwesenheit ihm manchmal lästig war. Woher also sollte ich Zeugen nehmen? Ich überlegte ohne die Aussicht auf einen Erfolg. Aber doch, rief ich erleichtert, weil genau in diesem Moment mich eine Idee ergriff, der Busfahrer! Wie konnte ich das nur vergessen haben. Jawohl, der Busfahrer, der uns beide in das Dorf meiner Großeltern brachte. Wir waren die einzigen Fahrgäste, er musste sich erinnern!
Der Staatsanwalt erhob sich und holte tief Luft: Die Anklage hat schon daran gedacht, Hohes Gericht. Wenn Sie es wünschen, kann der Busfahrer gehört werden.
Bei aller Abneigung, die ich gegen den Staatsanwalt hatte, so war er doch wenigstens perfekt in der Ausführung seines Amtes. Er dachte wirklich an alles und ließ mir nicht die kleinste Chance einer Fluchtmöglichkeit. Ich ahnte, was der Busfahrer aussagen würde.
Der Richter ließ den Busfahrer, den ich sofort erkannte, eintreten.
Und, fragte der Staatsanwalt triumphierend und begab sich zum Platz des Zeugen, erkennen Sie den Angeklagten wieder?
Der Busfahrer, ein älterer kräftiger Kerl mit untersetzter Statur und klobigen Händen nickte unsicher.
Also ja, antwortete der Staatsanwalt für ihn. Und mit wem, so fragte er weiter, haben Sie den Beschuldigten an jenem besagten Abend gesehen? Dabei zeigte er auf mich.
Der Busfahrer drehte sich zur Seite und schüttelte den Kopf. Soweit ich mich erinnern kann, war er allein.
Sind Sie sicher?, fragte der Staatsanwalt.
Der Busfahrer wirkte nervös. Ich denke ja, antwortete er nach einigem Zögern.
Aber überlegen Sie doch mal, rief ich gegen das Getuschel im Saal an. War da nicht noch ein anderer, ein Mann, etwas größer als ich, so eine dunkel gekleidete Gestalt, der sich, als ich die Fahrkarten bezahlte, bereits ganz hinten auf die letzte Bank in Ihren Bus setzte? Vielleicht konnten Sie ihn gar nicht sehen, weil die Scheibe hinter Ihrem Fahrerhäuschen ganz beschlagen war?
Ruhe, fuhr jetzt der Richter dazwischen, schon um der unruhigen Zuschauermenge entgegenzutreten. Das Wort erteile immer noch ich, aber wenn Sie möchten, und er wendete sich an den verunsicherten Zeugen, können Sie auf die Frage des Angeklagten antworten.
Der Mann schüttelte den Kopf. Mir entgeht nichts, sagte er mit pflichtbewusster Stimme.
Sie haben es gehört, sagte der Richter und wandte sich mir zu. Seine Stimme wirkte gereizt. Es gibt keinen Beweis, keinen mündlichen und keinen schriftlichen, keine Aussage und nicht einmal ein, von mir aus, noch so kleines auf den Namen Trebors hinweisendes Schriftstück. Und noch deutlicher fügte er hinzu: Nicht einmal ein noch so kleines Indiz für das Leben dieses Menschen ist zu finden und wenn es nur eine Fahrkarte wäre! Also, ersparen Sie uns weitere Beweisaufnahmen. Damit war der Busfahrer entlassen.
Nein, rief ich, geben Sie mir noch eine Chance.
Und die wäre, fragte der Richter neugierig und legte das Kinn wieder an die Brust, um über seine Brille zu schauen.
Ich habe einen Vertrag mit Trebor, rief ich fast triumphierend. Dieser Vertrag wird seine Existenz beweisen, denn er hat selbst seine Unterschrift gegeben.
Erstaunt schaute der Staatsanwalt von seinen Akten auf. Selbst mein Verteidiger stutzte.
Ich wusste nicht, warum ich erst jetzt auf diese Idee kam. Aber der Hinweis des Richters, dass es kein noch so kleines Schriftstück gäbe, das die Existenz Trebors bewies, löste jetzt eine Lawine aus, die eine Erinnerung freigab, die den gesamten Prozess auf den Kopf stellen konnte. Oder besser, vom Kopf auf die Füße. Nicht einmal in den vielen Tagen der Untersuchungshaft hatte ich an diesen Vertrag gedacht. Warum nur hatte ich das alles verdrängt und mich nur auf die Morde konzentriert? Die Vorstellung, damit mein Schicksal zu wenden, ergriff mich umgehend, denn genau dieser Zettel, den ich damals im Bahnhofsgebäude unterschrieb, konnte meine Rettung sein. Es war wie ein Befreiungsschlag, davon war ich fest überzeugt. Er war der Beweis von Trebors Dasein und vielleicht erklärte er all das, was geschehen war.
Wo ist denn dieser Vertrag?, fragte der Richter interessiert und beobachtete mich über seine Brille.
Im verlassenen Bahnhofsgebäude, dort wo ich Trebor nach dem Zugunglück das erste Mal traf, antwortete ich erregt. Er hat ihn in eine Art Kuvert gesteckt und im alten Wartezimmer durch die kleine ovale Luke der Schalterscheibe geschoben. Dort muss er noch immer liegen, denn man müsste schon die dicke Scheibe einschlagen, um in den dahinter liegenden Dienstraum zu gelangen oder gar die Tür von außen aufbrechen. Aber beides ist unwahrscheinlich, also muss der Vertrag noch da sein!
Ein ungewöhnlicher Ort, um einen Vertrag aufzubewahren, stellte der Richter fest und beobachtete über seine Brille hinweg den Staatsanwalt, der sich schon erhob.
Ich weiß, sagte ich, aber Trebor wollte es so. Der Vertrag war die Bedingung für seine Hilfe. Und ich brauchte ihn. So hätte ich alles unterschrieben.
Auch einen Mordvertrag?, fragte der Staatsanwalt auf einen Fingerzeig des Richters.
Verdutzt schaute ich ihn an und musste schlucken. Ich wusste nicht, auf was ich mich einließ, antwortete ich schließlich. Verstehen Sie doch, ich war am Ende und hätte auch mit dem Teufel einen Vertrag geschlossen!
Hauptkommissar Hollberg, dem nach diesem Satz mein erster Blick galt, schüttelte ungläubig den Kopf.
Und Sie wollen, dass wir den Vertrag herbeischaffen und hier zur Beweisaufnahme zulassen?, fragte der Richter.
Natürlich will ich das!, rief ich voller Empörung über die Frage. Der Vertrag wird meine Unschuld beweisen!
Der Staatsanwalt erhob sich: Einspruch! Wir haben soeben den Busfahrer gehört, wir haben die Waldhütte, in der dieser Trebor über Wochen gelebt haben soll, das Internat, in dem die Leiche des Herrn Krause gefunden wurde, die verschiedenen Objekte im Dorf der Großeltern, die Waschanlage, Winters Wohnung und sogar die Wohnung der ehemaligen Freundin des Angeklagten nach Spuren abgesucht, nirgendwo gab es auch nur den Verdacht einer fremden, bisher unbekannten Spur. Kein Fußabdruck und kein Fingerabdruck bewies die Anwesenheit dieses Mannes und ich behaupte, dass diese Kunstfigur, ja Sie haben richtig gehört, diese Kunstfigur, nur eine Gestalt der Fantasie des Angeklagten ist. Eine Vertagung des Prozesses erscheint mir deshalb ganz und gar abwegig.
Nervös spielte ich mit den Kranichen auf dem Tisch. Schon um das Nicken der Zuschauer im Saal nicht sehen zu müssen, die keinen Hehl aus ihrer Haltung machten.
Mein Verteidiger erhob sich. Angesichts der Schwere des Falles begann er zögerlich, immerhin haben wir es hier mit dreifachem Mord zu tun, erscheint der Verteidigung eine Vertagung dringend geraten. Schließlich könnte sie zur notwendigen Erhellung des Tatvorwurfs beitragen und die Unschuld meines Mandanten unter Beweis stellen.
Der Richter überlegte kurz. Dann erhob er sich und strich die Robe über dem dicken Bauch glatt. Wir werden eine sofortige Durchsuchung und Spurensicherung des beschriebenen Ortes veranlassen. Der Prozess ist vertagt, die Sitzung geschlossen.
Erleichtert erhob ich mich und drückte meinem Verteidiger zum ersten Mal die Hand. Mir war, als hätten wir den Sieg errungen.
Es hatte so gut begonnen. Elise saß in einer der hinteren Reihen im Saal. Sie trug ein schwarzes enges Kleid und hatte die blonden Haare hochgesteckt, so wie ich es immer mochte. Ihr Gesicht war braun und die blauen aufgeweckten Augen gingen unruhig hin und her. Dass sie schön war, fiel nicht nur mir auf, auch einige der anwesenden Herren schauten sich unauffällig nach ihr um.
Ich weiß nicht genau, was es war, aber ein merkwürdiges Gefühl, eine Mischung aus Stolz und Eifersucht, machte sich in mir breit. Männer sind immer stolz auf schöne Frauen, von denen sie behaupten, dass sie die ihren wären. Vielleicht war das auch mein Problem, dabei gab es gar keinen Grund des Stolzes. Die schöne blonde Frau mit dem auffälligen Lächeln, dem schmalen makellosen Gesicht und den blauen aufgeweckten Augen hatte sich von mir losgesagt. Sie war zu einem Mann gegangen, dessen Qualitäten ich zunächst nur an den großen glänzenden Autos maß, die er fuhr. Was konnte dieser Mann, so war ich überzeugt, schon von Philosophie, Theologie, Geschichte und Kunst wissen, durch deren Brille ich auf die Welt sah. Es war, so wurde mir später klar, die Arroganz des Geistes, mit der ich sein Dasein missachtete, obwohl ich mir nur einmal die Frage hätte stellen müssen, warum Elise ausgerechnet zu ihm gegangen war. Hatte er jemals, so fragte ich mich damals, um gleichfalls eine Bestätigung meiner Annahme zu finden, die Welt mit den Augen eines Leidenden gesehen, dessen Dasein zwischen Sein und Nichtsein an einem seidenen Faden hing? Hatte er jemals auch nur so viel Herzblut in einen der Liebesbriefe fließen lassen, wie ich sie zu Dutzenden schrieb? Nein, das war kein ernsthafter Konkurrent, redete ich mir ein, und dennoch litt ich um sie.
Später überraschte mich seine Kälte, als hätte ich nie wirklich an meine abwertende, zugegeben auch zuweilen ungerechte Haltung geglaubt. Spätestens, als er mich zum Mörder machen wollte, fand ich unerwarteterweise die Bestätigung meiner Einschätzung. Das, so bestärkte ich mich in meiner Rechtfertigung einer gescheiterten Beziehung, sprach auch nicht für Elise, bestimmt nicht.
Doch es nutzte nichts, so oft ich mir auch einredete, dass sich Elise schon wegen dieses Verhältnisses für meine Liebe disqualifizierte, begehrte ich sie umso mehr. Ihre Anwesenheit machte mich unruhig und nervös, denn ich war mir nicht sicher, ob sie wegen mir hier war oder weil sie Aufklärung über den Tod des Geliebten erhoffte. Was es auch war, ich wollte vor allem vor ihr bestehen.
Nach und nach wurde mir klar, dass ich allein mit dem vermeintlichen Wissen der Welt, das ich so oft vor und zwischen unsere Beziehung schob, auch diese, wie die Welt selbst infrage stellte. Die Liebe erklärt sich nicht aus den noch so rationalen Elementen des Lebens, die Liebe ebenso wenig wie die Leidenschaft und die Lust und noch viel weniger der Schmerz. Das Irrationale hatte die Herrschaft da, wo der Geist das Leben bestimmte, ein Geist der keine Gesetze kannte. Das war es, was ich gelernt hatte in all den Monaten und Wochen. Aber es nützte nichts, wie so viele späte Einsichten und verpasste Chancen.
Der Richter und seine Beisitzer betraten den Saal. Die Anwesenden erhoben sich. Jetzt konnte ich Elise in ihrer ganzen Größe bewundern.
Das Gericht nahm Platz, während mich der Richter über sein Brillengestell hinweg nur eines kurzen Blickes würdigte. Das war kein gutes Zeichen, schien mir, und ich sollte recht behalten.
Der Richter rief einen mit der Untersuchung des Bahnhofgebäudes beauftragten Beamten in den Zeugenstand. Der junge Mann in einem dunklen Anzug und mit einem modischen Binder wirkte steif und unbeholfen, so wie Beamte immer in der Öffentlichkeit wirken. Er stand da wie ein Soldat beim Appell, der auf den nächsten Befehl wartete.
Nun, begann der Staatsanwalt die Befragung. Sie also waren als verantwortlicher Leiter einer kleinen Arbeitsgruppe an dem besagten Bahnhof.
Ja, nickte der Mann.
Sie wussten, wonach Sie suchen sollten?
Ja, antwortete der Mann.
Und haben Sie einen Zettel, ein Kuvert, einen handschriftlich geschriebenen Vertrag oder irgendetwas Ähnliches gefunden?
Der Mann schaute zu mir herüber, als müsste er sich vor mir entschuldigen, jedenfalls empfand ich dies. Der Wirkung der folgenden Aussage war er sich sehr wohl bewusst. Nein, antwortete er mit klarer Stimme. Nichts dergleichen, nur ein paar alte Quittungsbögen und einige abgelaufene Fahrkarten.
Und nirgendwo einen Hinweis auf ein Schriftstück, das auch nur einen handschriftlichen Vermerk trug? Bei den letzten Worten hob der Staatsanwalt bedeutungsvoll die Stimme.
Nirgendwo!, wiederholte der Mann.
Das Publikum im Saal begann, unruhig zu tuscheln.
Aber der Zettel hinter der Schalterscheibe muss doch da gewesen sein!, rief ich gegen die allgemeine Unruhe an und begann vor Erregung am ganzen Körper zu zittern.
Wir haben nichts gefunden, wendete sich der Beamte irritiert mir zu.
Er muss da gewesen sein!, rief ich außer mir vor Erregung und sprang auf. Bestimmt war er da!
Nein, er war nicht da, sagte der Beamte nun umso bestimmter.
Doch, doch, ich habe ihn doch selbst unterschrieben!, schrie ich und ließ mich auch nicht von meinem Verteidiger abhalten.
Der Richter mahnte zur Ruhe. Der Beamte zuckte mit den Schultern.
Sie haben es gehört, Angeklagter! Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln.
Ich ließ mich kreidebleich auf meine Anklagebank fallen. Verloren, dachte ich, alles ist verloren! Nicht einmal einen Hilfe suchenden Blick auf die schöne Elise wagte ich. Eine Welt brach zusammen und es gab keine Rettung. Die Beweislast war so erdrückend, dass ich selbst unsicher wurde, ob ich nicht doch das Monster war, das die Zeitungen erst am nächsten Tag aus mir machen sollten.
Ich wusste, dass mich nur einer retten konnte, aber der war nicht da. Wer war dieser Trebor? Warum ließ er mich hier vor aller Augen in die Tiefe stürzen?
Ich brabbelte etwas Unverständliches und starrte auf die Tischplatte. Sollte es wirklich keinen Vertrag geben, es ihn nie gegeben haben? Genauso wenig, wie es Trebor gegeben hat! Hatte ich mir das alles nur eingebildet oder gar nur geträumt? War er wirklich nur eine Kunstfigur meiner Fantasie, wie der Staatsanwalt ihn bezeichnete?
Der Staatsanwalt erhob sich und bat um Aufmerksamkeit. Er hatte eine Tafel in den Gerichtssaal tragen lassen und forderte mich nun auf, in Großbuchstaben den Namen des vermeintlichen Vertragspartners aufzuschreiben.
Ich nannte ihn Trebor, sagte ich leise.
Dann schreiben sie!
Mit zitternder Hand schrieb ich das Wort mit weißer Kreide auf die schwarze Tafel: T-R-E-B-O-R. Dann schrieb der Staatsanwalt meinen Vornamen ebenfalls mit Großbuchstaben darunter. Unter jeden der sechs Buchstaben setzte er dabei die sechs Buchstaben meines Vornamens.
Fällt Ihnen etwas auf, fragte er in den Saal hinein. Der Richter runzelte die Stirn, doch dann hellte sich sein erstauntes Gesicht auf. Auch die Zuschauer legten jetzt, einer nach dem anderen, die Hände vor die Münder. Sie hatten verstanden. Der Staatsanwalt ging zurück zu seinem Stuhl, aber nein, er schwebte fast zurück, wie auf einem Triumphzug. Dann nahm auf seinem Stuhl Platz und richtete sein glänzendes Haar.
Mir wurde schwindlig.
Ist Ihnen nicht gut, fragte der Richter.
Ich rang nach Luft. Um mich verschwammen die Bilder. Der Staatsanwalt erzählte jetzt etwas von Gutachten, psychiatrischen Gutachten. Ich hörte nicht mehr zu.
Wer bist du?, fragte ich mich leise, ohne eine Antwort zu erwarten und hielt mir die Hände vors Gesicht. Oder bist du nur das Böse in mir, was nach Rache sinnt, weil alle Lebensgier versiegte? Habe ich mir dies alles eingeredet, um vor mir selbst bestehen zu können?
Warum?, rief ich jetzt laut, mitten in die Rede des Staatsanwaltes hinein. Warum? Ich bin doch nur ein Teil, ein winziger Teil der grauen Eingeweide dieser fluchbeladenen Welt. Ich bin nur ein kleiner Teil des Hasses und der Liebe. Ich bin nur ein Teil ihrer Sünde.
Der Staatsanwalt schaute sich Hilfe suchend um.
Ich habe mich vor dir versteckt, du mein anderes Ich, fuhr ich fort und hob die Hände wie zur Beschwörung, weil dein Lohn die Hölle ist. Und doch hast du mich gefunden, weil ich dem Leben abgeschworen hatte.
Die Zuschauer schüttelten ungläubig ihre Köpfe.
Verloren, dachte ich und dieser Gedanke hämmerte in meinem Kopf. Verloren! Es wurde dunkel um mich. Ich sah mich in die Hölle hinabstürzen, in die ewige Nacht. Mir wurde so heiß, als ginge es dem Fegefeuer entgegen. Wasser rief ich, Wasser!
Ich griff nach einem Glas Wasser, das mir der Verteidiger mit entsetztem Blick reichte. Am ganzen Leib zitternd, versuchte ich es auszutrinken, aber ich verschüttete es, auf Hemd, Hose, Schuhe. Ein Mann hielt mich jetzt fest. Ich spürte seine starken Arme um meine Brust. Trebor, rief ich, Trebor, wo bist du? Noch einmal riss ich die Augen auf.
Endlich, da war er! Ich sah ihn ganz deutlich, er saß in seinem abgeschabten dunklen Anzug zwischen den Zuhörern. Sein unrasiertes Gesicht war weiß und kantig und aus der breiten Nase schauten graue Haarbüschel hervor. Seine Augen funkelten unter den dichten Augenbrauen, wenn er den Kopf leicht senkte. Es gab keinen Zweifel, er war es. Vor Aufregung begann ich zu winken. Trebor!, rief ich.
Trebor nahm keine Notiz von mir. Er schaute mich wie all die anderen Zuhörer entgeistert an.
Aber Trebor, schrie ich, siehst du mich denn nicht, ich bin hier!
Trebor verzog keine Miene.
Du kannst alles aufklären, Trebor, sag doch was!
Die Unruhe im Saal nahm zu. Der Richter stand auf und hob hilflos die Schultern.
Machen Sie doch was, rief jetzt auch der Staatsanwalt, nachdem sich die Unruhe im Saal zum offenen Tumult steigerte.
Zwei Männer versuchten mich festzuhalten, aber ich sprang auf. Trebor, schrie ich unentwegt. Aber der hörte nicht, nein, er stand jetzt auf, hinkte durch die Reihen und setzte sich neben Elise. Ja, er nahm sie sogar in den Arm, als müsste er sie trösten. Und sie tat nichts, gar nichts und ließ ihn gewähren.
Sieh dich vor Elise, schrie ich, er ist es! Aber war er es wirklich, war er jetzt nicht neben mir und hielt mich fest. Woher hatte er die Uniform! Lass mich los, kreischte ich, dass mir der Schaum aus den Mundwinkeln lief. Aber er lachte, er lachte immer lauter. Auch der Richter begann mit ganzer Inbrunst zu lachen, dass ich nur den weit geöffneten Mund sehen konnte. Darin glänzten seine Goldzähne. Der dicke Bauch vibrierte unter der Robe, dass er ihn mit seinen Händen halten musste. Aber es waren keine Hände, Schlangen glitten aus den langen Ärmeln hervor. Jetzt sah ich sein Gesicht, es war Trebors Gesicht.
Nein, schrie ich aus Leibeskräften, lass mich. Doch da wurde es wieder dunkel, die Nacht hatte den Raum erfasst und alles in ein unendliches Schwarz getaucht. Nur noch vereinzelt drangen Stimmen aus dem Äther an mein Ohr.
Drei Jahre hatte ich gewartet. Drei Jahre, drei lange Jahre. Drei Mal zwölf Monate, drei Mal 365 Tage. Genau genommen war es der 1 104. Tag und der war ein Sonntag.
Es war mein erster Ausgang. Freigang nannte man das, auch im geschlossenen Vollzug. Freiheit für zwölf Stunden, auch wenn der junge Mann, der mich begleitete und nicht viel älter als ich war, seine Bewacherfunktion sehr ernst nahm und mir damit die Begrenztheit dieser Freiheit aufzeigte. Er hieß Werner Richter und so deutsch wie sein Name war auch sein Aussehen. Werner war ein stattlicher blonder Kerl, wie ihn Breker nicht besser hätte modellieren können. Er war ein bisschen einfältig, aber gutmütig. Ich nannte ihn lakonisch Bodyguard, obgleich ein deutscher Begriff wie Schutz- oder Wachmann besser zu ihm gepasst hätte, und dies nicht nur, weil er, wie konnte es anders sein, nur zu meinem Schutz eingesetzt wurde. Mir war es egal, und schon allein die Aussicht, in den nächsten Jahren und Monaten in regelmäßigen Abständen die psychiatrische Klinik verlassen zu können, ließ mich, wenn auch zähneknirschend, die Ansichten jener akzeptieren, die mich ganz in ihrer Hand hatten oder, besser gesagt, auf deren Wohlwollen ich angewiesen war.
Ich sei noch immer gefährlich, hieß es, auch wenn mir selbst nicht bewusst war, worin meine Gefährlichkeit begründet lag. Offensichtlich bemühten sich die Psychologen und Psychoanalytiker immer wieder, Anzeichen von Schizophrenie nachzuweisen, als müssten sie ihre alte Diagnose noch nach Jahren vor sich selbst bestätigen.
Dass meine Bewusstseinsspaltung gefährlich sei, sahen Maria und Elise anders. Beide waren gekommen, obgleich ich nicht damit gerechnet hatte. Vielleicht, so fragte ich mich, hatte sie die Unzurechnungsfähigkeit des vermeintlichen Mörders versöhnt. Wäre ich nur wie ein Schwerverbrecher behandelt worden, so vermutete ich, hätte sie diese Nachsicht mit mir nicht geübt. Vielleicht aber war es auch ein Stück Mitleid, das ihr Verhältnis zu mir bestimmte, Mitleid mit jenem Irren, der der Vater ihres Kindes war. Aber auch das war reine Spekulation.
Meine Briefe waren in all den Jahren der einzige Kontakt zu Elise und Maria. Ich schrieb täglich. Möglicherweise waren es diese fünfzig, hundert oder hundertfünfzig Worte, die besser als alles andere meine momentanen Stimmungen und Gefühle nachzeichneten und die keinesfalls den Eindruck hinterließen, als schriebe hier einer, der von der Welt weggesperrt gehörte. Vor allem aber gaben sie meinem Leben noch einen Sinn und schützten mich vor der Verzweiflung. Ich hatte eine Aufgabe, vor mir selbst, aber vor allem vor Maria bestehen zu müssen. Sie hatte in den Wochen meines vermeintlichen Todes, während der Gerichtsverhandlung und in den Jahren danach tapfer zu mir gehalten. Ich war mir der Verantwortung bewusst, die ich als Briefschreiber, als Dokumentarist, Kommentator, Mahner, ferner Erzieher, Vater und Freund gerade gegenüber der nun elfjährigen Maria eingegangen war. Elise ließ mich gewähren, obwohl sie wusste, wie schwierig es sein würde, Marias kindlichem Verständnis meine Situation und die Vorgänge zu erläutern, die mich selbst bis auf den tiefsten Grund erschütterten. Jedes Wort musste abgewogen, jeder Satz gedreht, umgestellt oder in dieser oder jener Variante neu formuliert werden, schon um jede Art von Missverständnis auszuschließen. Ich saß manchmal Stunden über einzelnen Passagen, verwarf erste, zweite und dritte Fassungen und schmiedete neue Kombinationen und Satzverbindungen. Das Schreiben dieser Briefe nahm mich so sehr in Anspruch, dass ich meinen Tagesablauf ganz darauf ausrichtete.
Jeden anderen Kontakt zur Außenwelt lehnte ich ab, nicht, weil ich eine Abneigung gegen die Außenwelt entwickelte, nein, ich hatte mit mir selbst zu tun. Wer bin ich?, fragte ich jene Frage, die auch schon Generationen von Gelehrten beschäftigte. Doch quälte mich wohl mehr die Negation dieser Frage. Wer bin ich nicht? Und wer ist der andere neben mir und in mir?