Sepp Forcher
Einfach glücklich
Sepp Forcher
Einfach glücklich
Was im Leben wirklich zählt
EINFACH GLÜCKLICH
Ja, sie gehören zusammen, die Einfachheit und das Glücklichsein. Und sie haben auch eines gemeinsam, sie sind nicht erlernbar.
„Einfach glücklich“ ist die Summe von unzähligen, meist kleinen, selten großen Momenten, Begegnungen, Erfahrungen, Erlebtem und Erträumtem. Es ist eine Art Lebensleiter, die man Sprosse für Sprosse erklimmt. Kommt man in die Nähe der obersten Sprossen, breitet sich – so geht es mir zumindest – ein schönes Gefühl der Zufriedenheit aus, deren reinstes Destillat man Glück nennen kann.
ROM
Mit unserem Freund, dem Künstler, fuhren wir nach Rom. Eine schöne Zeichnung von ihm, mit der Engelsburg als Motiv, wird ein Auslöser für diese Reise gewesen sein. Wir mieden die Autobahn, und nach zwei erlebnisreichen Reisetagen bezogen wir unser Quartier in der Via Clitunno in Rom.
Es war dies mein insgesamt vierter Aufenthalt in der ewigen Stadt. 1930 Geburt, 1972 mit Zelt, 1985 mit lieben Freunden und schließlich als Abschluss 2010. Fast achtzig Jahre nach meiner Geburt. Vor der Abreise habe ich meinen Taufschein herausgesucht, weil ich in Rom endlich jene Kirche besuchen wollte, in der mir das Sakrament der Taufe zuteil wurde.
Ein ganzer Tag war für die Suche vorgesehen, aber zu unserer Überraschung stellte sich heraus, dass meine Taufkirche lediglich fünf Gehminuten von unserer Wohnung entfernt war. In den 1950er Jahren musste das Gotteshaus einem Neubau weichen, aber das alte, steinerne Taufbecken blieb erhalten. Viele Gedanken schwirren einem da durch den Kopf. Ich dachte an unseren verstorbenen Sohn Peter, der in der Hietzinger Kirche in Wien, und an Karl, der in Oberalm bei Salzburg die Taufe erhielt. Wie mag es wohl meiner Mutter ergangen sein? Meiner Tante, die damals als Tiroler Kindermädchen in Rom Dienst tat? Acht Tage nach meiner Geburt waren meine Mutter und ich wieder zurück in Südtirol. Mit Johann, dem Künstler, fuhren auch wir nach acht Tagen wieder zurück nach Salzburg.
Das Gefühl, am Abend seines Lebens dem Anfang desselben gegenüberzustehen, lässt sich schwer in Worte fassen.
KINDHEIT
Wenn man dem Seelenzustand des Glücklichseins auf den Grund kommen will, erreicht man mit Sicherheit die frühesten Kindheitsjahre. Die Großmütter sind es, die, zumindest in meiner Kindheit war es so, das Wesen des kleinen Menschen prägen. Meine Großmutter, die einige Jahre über mein Fortkommen wachte, war die Tochter einfacher Bauersleute. Streng katholisch, wie sie selber erzogen war, gab sie ihre Grundsätze auch dem kleinen Enkel weiter. Sie war eher wortkarg, aber sehr geduldig, streng war sie nur, wenn es um die Einhaltung religiöser Sitte und Ordnung ging. Das Wort „Glück“ oder „glücklich sein“ habe ich von ihr nie gehört. Die Armut, in der wir lebten, ließ solche Fantasien nicht zu, und dennoch bleibt die Zeit, die ich unter dem Schirm meiner Großmutter verbringen durfte, obwohl ich mich bemühe, sie nicht zu verklären, eine schöne und unbekümmerte.
Jetzt bin ich selber Großvater und glücklich, weil mein Enkel eine, wie man heute sagt, wohlbehütete Kindheit erleben darf. Seine Zeit ist – im Gegensatz zu meiner Kindheit – eingeteilt, denn alles muss seine Grenzen haben: Sport, Spiele, Schule, Religion und Freunde. Es ist ein beneidenswertes Leben, das mein Enkel führen kann, seine Eltern hüten ihn sorgsam und mit zarter Hand. Ich habe ihm das Schachspiel beigebracht und er bemüht sich nach Kräften, mich zu besiegen. Manchmal gelingt ihm das. Im Vergleich zu meinen frühen Jahren bin ich mir nicht ganz sicher, wer von uns beiden das bessere Los gezogen hat. Was wir gemeinsam haben, ist eine reiche Fantasie.
GERUCH UND GESCHMACK
Mein Großvater schnitzte in seiner kleinen Werkstatt Krippenfiguren aus Zirbenholz und bemalte sie dann mit Ölfarben. Der Geruch, der seine Werkstatt durchzog, blieb mir genauso in Erinnerung wie der Geschmack der zerlassenen braunen Butter, die, mit Zimt und Zucker vermischt, das Mehlmus zu einer Köstlichkeit werden ließ. An üble Gerüche kann ich mich hingegen nicht erinnern.
Mein Enkel hat eine feine Nase und einen ausgeprägten Geschmackssinn. Wir Alten freuen uns darüber und tun alles, um diese Gabe der Natur nicht verkümmern zu lassen.
Ich glaube, es ist kein Irrtum, wenn ich die Feinheit der Geruchswahrnehmung mit dem Gefühl des Hungers in Zusammenhang bringe. Speziell aus der Nachkriegszeit sind mir da etliche Empfindungen präsent geblieben. Der Geruch nach frischen Bauernkrapfen zog sich in der Winterszeit oft weit über die Felder hin, man wusste von der Unerreichbarkeit des Genusses, und gerade deshalb denkt man gerne daran zurück. Unerfüllte Wünsche und Begierden haben eben ein langes Leben. Brot, frisch aus dem Backofen, Mehl von den Mühlsteinen, Tabak aus Pfeifen und Zigarren – das alles sind Traumgerüche, unterschiedlich duftend und riechend, machen sie doch eine Welt aus. Frisches Heu, ein Kuhstall, Pferde und immer wieder Blumen – in meiner Nase vorwiegend Alpenblumen – kommen mir da in den Sinn: etwa die Goldprimel oder die Königin der Geruchsspender in den Bergen, das Kohlröschen, eine kleine Orchideenpflanze; und immer wieder Essbares wie Schweinsbraten, Leberknödel, Kalbsgulasch, Apfelstrudel, Buchteln und Kasnocken. Vieles davon hat an Ansehen verloren, vor allem deshalb, weil wir kein natürliches Hungergefühl mehr kennen. Gehungert wird jetzt nur mehr, wie man meint, dem Körper zuliebe, tatsächlich empfinde ich diese Art des Eitelkeitshungerns als Frevel und Hemmnis für jegliches Glücksgefühl.
Prägend für meine Jugendzeit war die Wonne des Sattessens. Sie wurde mir nur selten zuteil, vor allem aber dann, wenn ich bei Bauern in Oberösterreich zum Mitessen eingeladen wurde. Die Worte „Bua, iss nur“ bekam ich dort oft zu hören. Zu spüren, wie sich die Gastgeber über meinen riesigen Appetit freuten, das war einfach Glück, in einer reinen, animalischen Form.
WÜNSCHE
Sehnsüchte und Wunschgedanken suchten mich als Fünf- bis Sechsjährigen erst heim, als mir bewusst wurde, dass ich mit meiner Kleidung, meinen Schuhen – Spielzeug hatte ich keines – Sachen an meinem Körper trug, die schon einige Lebensstationen durchgemacht hatten. Einmalbekam ich einen gebrauchten Pullover geschenkt und ich freute mich darüber, empfand keine Spur von Beschämung.
Wenn ich sah, wie andere Kinder mit Spielzeug verwöhnt wurden, regte sich in mir schon manchmal zaghaft der Wunsch, ein Spielzeugauto aus Blech, eine elektrische Eisenbahn oder gar einen Baukasten oder ein Schiffzubesitzen. Die Unerfüllbarkeit dieses Träumens konnte ich einsehen, das Wünschen blieb. Aus den Baumrindenstücken, die ich im Bächlein treiben ließ, wurden in meinen Gedanken große, stolze Schiffe, ein Ameisenhaufen verwandelte sich in eine mächtige, uneinnehmbare Burganlage – so verdrängte die Natur zeitweise das bunte Blech. Sind die Kinder heute, in der Zeit der Kinderzimmer, des Plastikspielzeugs, der Überfülle an elektronischen Reizen, besser dran? Ich glaube nicht. Aber wenn ich manchmal sehe, was eine Baumrinde, ein Fichtenzapfen, ein Ameisenhaufen, ein kleines Bächlein an Begeisterung auszulösen vermögen, werde ich sehr zufrieden. Es sind die kleinen Dinge, die unauffälligen, die unscheinbaren, denen man die ersten Hinweise auf dem Weg zum Glücklichsein verdankt.
RÜCKBLICK
Der Rückblick vom Hochsitz des über Achtzigjährigen findet wenig Bejammernswertes. Die Kirche zum Beispiel ließ uns alle in schöner Gleichheit zur Erstkommunion, zur Messe und zur Firmung schreiten. Die erste Tasse Kakao meines Lebens trank ich als Gast mit allen anderen Kindern beim Kooperator, der uns im Religionsunterricht betreute.
Ganz anders war es in der Schule, denn was uns da heimsuchte, war die vollkommene Verständnislosigkeit, die sich daraus erklären lässt, dass damals, im Südtirol der faschistischen Zeit, die Lehrer ausschließlich Italienisch sprachen und wir deutschsprachigen Kinder natürlich kein Wort davon verstanden. Wenn ich das mit der schulischen Betreuung meines Enkels vergleiche, frisst mich heute noch der Neid.
Zu allen Zeiten waren die Alten mit der heutigen Jugend unzufrieden. Das betraf vor allem die bürgerliche Welt, denn bei den Bauern und Arbeitern gab es für die Jugend wenig Gelegenheit zum Übermut. Die Strenge des Ablaufs der Arbeitstage ließ im wahrsten Sinn des Wortes keinen Spiel-Raum zu. Der Wohlstand, wie wir ihn heute kennen, wird uns als solcher gar nicht bewusst, wir brauchen den Vergleich mit jenen Abschnitten unseres Lebens, in denen dieser Begriff noch fremd war. Sicher, die Jugend unserer Tage wirkt auf den ersten Blick recht verwöhnt und privilegiert. Sie dürfen so vieles, an das wir nicht einmalzu denken wagten, aber sie müssen auch vieles tun und in Kauf nehmen, das uns erspart geblieben ist.
Das größte Geschenk, von dem die heutige Jugend unwissentlich zehrt, ist der Frieden, der in Europa herrscht.
DIE NEUE HEIMAT
Die einzige Uniform, die ich in meinem Leben tragen musste, war jene der Hitlerjugend. Ich trug sie weniger aus Überzeugung, sondern mehr vor lauter Freude, ein neues Hemd und eine neue Hose zu haben. Politisches Denken einem Zehn- bis Fünfzehnjährigen zu unterstellen, wäre in meinem Fall zu hoch gegriffen.
Was man in jenen Jahren Disziplin und Ordnung nannte, erfuhr ich zwischen 1940 und 1944 im Schülerheim in Salzburg. Meine Eltern hatten als Südtiroler für das Deutschtum optiert, wir mussten die Heimat verlassen und fanden eine neue, gute Heimat im Salzburger Land. Meine Deutschkenntnisse waren verhältnismäßig umfangreich, fanden jedoch nur in meinem Pustertaler Dialekt hörbaren Ausdruck. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich auf die neue Ausdrucksweise einstellte, bis ich mich an Disziplin und Ordnung im Heim gewöhnte. Sondermeldungen, Ansprachen des Führers, Absingen des Deutschland- und des Horst-Wessel-Liedes waren Höhepunkte in unserem Heimleben.
Von dort kommt höchstwahrscheinlich auch mein Unabhängigkeitsstreben: dass ich es einmal so weit bringe, dass ich nicht mit der Trillerpfeife geweckt werde, dass mir niemand etwas anschaffen kann.
Glücksgefühle? Keine bekannt! Was ja auch kein Wunder ist, denn mein schulischer Erfolgsweg begann mit einer Rückstufung in die dritte Volksschulklasse. Damals wurde noch kurrent geschrieben, eine Schreibweise, die mir völlig fremd war und deren mühsames Erlernen mir vor allem den Nachteil einbrachte, dass ich mich für einen schlechten Schüler hielt. Ein Gefühl der Minderwertigkeit suchte mich heim, und als ich im ersten Trimesterzeugnis in Heimatkunde einen Dreier bekam, war mir das genauso peinlich wie meine Unfähigkeit beim Turnen, wo es mir nicht gelang, mich an der Kletterstange emporzuquälen.
Für meine Eltern waren meine Schulergebnisse, so empfand ich es damals, vollkommen bedeutungslos. Ich hörte auch in späteren Jahren weder Lob noch Tadel von ihnen. In ihrer Jugend, als sie Zeugnisse erhielten, wird es ihnen genauso ergangen sein; das denke ich mir halt.
Zu meiner Überraschung konnte ich am Ende des Schuljahres mit dem besten Zeugnis aufwarten. Obwohl der Dreier in Heimatkunde blieb, suchte mich erstmals ein Gefühl heim, zu dem ich heute „kleines Glück“ sagen würde.
HERR UND FRAU HOFRAT
Das Hofratsehepaar durfte ich einmal in der Woche besuchen, die Heimleitung erteilte die Erlaubnis für den zweistündigen Ausflug, und als ich das erste Mal die vornehme Wohnung betrat, wagte ich mich kaum zu rühren. Da stand ein Klavier, Regale, angefüllt mit Büchern, auf dem Boden Teppiche, Möbel, die ich nicht zu betasten wagte. Scheu und staunend stand ich in einer Welt, die mir fremd war.
Die Frau Hofrat, Tochter eines altösterreichischen Generals, konnte mit Kindern nicht besonders gut umgehen, und nach meinem Gefühl sah sie in mir so etwas wie einen Gruß aus den Bergen, denn die Berge liebte sie. Zu meinem Glück. Ich hatte einen Heidenrespekt vor ihr, ich habe mich auch nie getraut, sie zu bitten, auf dem Klavier, diesem schwarzen Ungetüm, das damals wohl zum feinbürgerlichen Standard gehörte, etwas zu spielen. Dass ein Klavier weiße und schwarze Tasten hat, habe ich dort nie gesehen.
Der Herr Hofrat, ein feiner, milder und hochgebildeter Herr, schenkte mir einen Taschenkalender. Der war zwei Jahre alt.
Heute denke ich noch oft an die beiden Herrschaften und ich tue es in Dankbarkeit, nicht nur weil sie mich eine Zeitlang zwei Stunden in der Woche in ihrer Wohnung ertrugen. Sie gingen mit mir armen Wesen in Salzburger Geschäfte, um für mich die vom Schülerheim geforderte Grundausstattung zusammenzubetteln. Dass ich nicht die schönsten und besten Stücke bekam, störte mich nicht, weil ja alles neu war. Ich wusste auch nicht, was ein Pyjama ist.
Aber heute weiß ich, was sie für mich getan haben, ohne sich den Mantel der Barmherzigkeit umzuhängen, ohne Dankbarkeit zu erheischen – das werde ich den beiden nicht vergessen.
DER LEHRER
Von der vierten bis in die siebte Volksschulklasse wurden ich und meine Mitschüler von einem Lehrer betreut, dessen Andenken mir heute noch teuer ist. Er hieß Alois Sending, war älteren Jahrgangs, streng, manchmal jähzornig und unerbittlich in der Einhaltung seiner Lehrziele. Außerdem war er – und das war für die Zeit zwischen 1938 und 1945 ungewöhnlich und auch nicht ungefährlich – überzeugter Österreicher. Vor allem im Geschichtsunterricht brachte er uns tröpfchenweise Österreich-Denken bei und ich bin überzeugt, dass kein anderer so viel zu meiner Österreich-Liebe beigetragen hat wie er. Tatsache ist, so sehe ich das heute, für ein Österreich-Bewusstsein ist das richtige oder falsche Absingen der Bundeshymne zuwenig.
Gleichzeitig war er auch der erste Mensch in meinem Leben, der mein Selbstbewusstsein – an dem ich bis heute keinen Mangel leide – geweckt und gefördert hat. Leider konnte ich ihm meine Dankbarkeit in späteren Jahren nur dadurch erweisen, dass ich bei jedem Gang durch den Salzburger Petersfriedhof sein Grab besuchte.
So wird man sich im Leben oft erst spät des Weichenstellers bewusst, der dafür gesorgt hat, dass man sich auf dem richtigen Schienenstrang fortbewegt.
WASSER
Die Söldenhütte – heute Dr.-Heinrich-Hackel-Hütte – im Tennengebirge liegt auf über 1500 Meter und wurde von meinen Eltern ab dem Jahre 1940 bewirtschaftet. Der Vater starb 1957 und die Mutter führte den Betrieb bis 1960 weiter. Die Hütte bot damals Platz für ungefähr dreißig Personen und neben der Hütte floss jahraus, jahrein klares Wasser aus dem kleinen Brunnen, der so zum Mittelpunkt meiner körperlichen Hygiene wurde; Zähne putzen, waschen, immer mit eiskaltem Wasser. Wenn meine Mutter im Winter die Leintücher wusch, erstarrten sie schon beim Aufhängen in der Kälte zu steifen Gebilden. Sobald große Schneemengen fielen, musste der Brunnen ausgeschaufelt werden, genauso wie das Häuschen mit dem Herzerl in der Tür.